Der Vampir - Ladislaus St. Reymont - E-Book

Der Vampir E-Book

Ladislaus St. Reymont

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Beschreibung

Ein Vampir-Roman nicht im klassischen Sinne. Religiöser Wahn, Spiritismus und unerklärbare Phänomene schaffen ein dichtes, atmosphärisches Werk, das in der Vampir-Literatur absolut einzigartig ist. W_adys_aw Stanis_aw Reymont war ein polnischer Schriftsteller. Er erhielt 1924 für seinen vierbändigen, nach Jahreszeiten unterteilten Roman Die Bauern den Literatur-Nobelpreis. 2. Auflage Umfang: 327 Buchseiten bzw. 283 Normseiten Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 342

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Władysław Stanisław Reymont

Der Vampir

Władysław Stanisław Reymont

Der Vampir

(Wampir)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Leon Richter 3. Auflage, ISBN 978-3-954184-52-1

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Inhaltsverzeichnis

Au­tor

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr Jür­gen Schul­ze

99 Welt-Klas­si­ker

Der Tee der drei al­ten Da­men

Arme Leu­te und Der Dop­pel­gän­ger

Der Vam­pir

Der selt­sa­me Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Der Idi­ot

Jane Eyre

Effi Briest

Ma­da­me Bo­va­ry

Ili­as & Odys­see

Ge­schich­te des Gil Blas von San­til­la­na

und wei­te­re …

Autor

Wła­dysław Sta­nisław Rey­mont (* 7. Mai 1867 in Ko­bi­e­le Wiel­kie bei Ra­doms­ko; † 5. De­zem­ber 1925 in War­schau), ei­gent­lich Rej­ment, war ein pol­ni­scher Schrift­stel­ler.

Rey­mont ließ sich 1893 in War­schau als Schrift­stel­ler nie­der, wo er 1896 sei­nen ers­ten Ro­man Die Ko­mö­di­an­tin ver­öf­fent­lich­te. Rey­mont ge­hör­te zum Kreis der Dich­ter der Mło­da Pols­ka (Jun­ges Po­len).

Er er­hielt 1924 für sei­nen vier­bän­di­gen, nach Jah­res­zei­ten un­ter­teil­ten Ro­man Die Bau­ern den Li­te­ra­tur-No­bel­preis. Der Wła­dysław-Rey­mont-Flug­ha­fen Łódź wur­de ihm zu Ehren be­nannt.

Werks­aus­zug:

Ko­me­di­ant­ka (Die Ko­mö­di­an­tin, 1896)

Fer­men­ty (Die Her­rin, 1897)

Zie­mia obie­ca­na (Das ge­lob­te Land, 1898 und öf­ter), ver­filmt durch An­drzej Wa­j­da

Rok 1794 (Tri­lo­gie Das Jahr 1794 1914--1919)

Band 1: Ostat­ni Sejm Rzec­zy­pos­po­li­tej (Der letz­te pol­ni­sche Reichs­tag)

Band 2: Nil de­spe­ran­dum

Band 3: In­su­rek­cja (Der Auf­stand)

Wam­pir (Der Vam­pir, 1911)

Bunt (Die Em­pö­rung, 1924)

Erstes Kapitel

Alle Lich­ter wa­ren er­lo­schen, nur durch die Fens­ter­schei­ben schim­mer­te in ei­ner grün­li­chen Kris­tall­ku­gel ein kaum sicht­ba­res, scheu­es Flämm­chen, wie ein Glüh­würm­chen in dunk­ler Nacht. -- Ganz plötz­lich trat Stil­le ein, eine Stil­le voll quä­len­der Er­war­tung.

Sie sa­ßen da, lau­ernd, in sich ver­sun­ken, wie tot, voll pei­ni­gen­der Un­ru­he und voll ei­nes kaum zu zäh­men­den Er­zit­terns der Angst.

Die Zeit floß lang­sam da­hin, in er­schre­cken­dem Schwei­gen, in der läh­men­den, ent­setz­li­chen Stil­le ban­ger Vorah­nun­gen; nur hin und wie­der hör­te man in der Dun­kel­heit müh­sam un­ter­drück­te Seuf­zer, oder die Die­le knarr­te, daß sie hef­tig zu­sam­men­schra­ken; dann wie­der summ­te et­was Un­de­fi­nier­ba­res um ihre Köp­fe, wie der Flug ei­nes Vo­gels, schwirr­te im Zim­mer um­her und kühl­te mit ei­sig­kal­tem Hauch ihre er­hitz­ten Ge­sich­ter, um schließ­lich im neb­li­gen Dun­kel, lei­se wei­nend gleich­sam, zu erster­ben ... Und wie­der ver­flos­sen lan­ge Au­gen­bli­cke, eine Ewig­keit, Au­gen­bli­cke quä­len­den Schwei­gens und der Er­war­tung.

Plötz­lich er­beb­te der Tisch, ge­riet in ge­walt­sam schau­keln­de Be­we­gun­gen, er­hob sich in die Luft und sank dann ohne je­des Geräusch wie­der auf den Bo­den. Ein ei­si­ger Schau­er er­schüt­ter­te die Her­zen ... Ei­ner schrie auf ... ein and­rer schluchz­te ner­vös... wie­der ein and­rer sprang em­por, als wol­le er flie­hen. Der hei­ße Hauch der Angst war im Dun­kel ver­weht und ver­grub sich mit ei­nem schmerz­haft mar­tern­den Be­ben in die See­len; doch bald war al­les er­lo­schen, un­ter­drückt durch das schreck­li­che Ver­lan­gen nach Wun­dern. Ein Wun­der er­fleh­ten ihre Angst­ge­füh­le und ihre See­len, die, wie auf die Fol­ter­bank ge­spannt, in schmerz­li­cher Sehn­sucht beb­ten.

Das Schwei­gen wur­de noch tiefer, man hielt den Atem an, dämpf­te das ängst­li­che Schla­gen der Her­zen, spann­te alle Wil­lens­kraft, um nicht zu er­zit­tern, nicht zu flüs­tern, noch sich zu be­we­gen, um nicht ein­mal auf­zu­schau­en und in ei­ner Stil­le zu er­star­ren, so tief, daß das lei­se Ti­cken ei­ner Uhr an den Her­zen bohr­te, mit un­auf­hör­li­chem Tick­tack, und in den Schlä­fen häm­mer­te mit schwe­ren Häm­mern.

Ein dump­fes, kla­gen­des, ver­we­hen­des und fer­nes Schäu­men, wie das Schäu­men der Mee­res­flut, braus­te ein­tö­nig hin­ter den Fens­tern, der Re­gen schlug un­auf­hör­lich an die feucht­grau­en Schei­ben, ließ sie lei­se er­klin­gen, floß an ih­nen in lan­gen Per­len­ket­ten her­ab und flüs­ter­te wie im Trau­me, flüs­ter­te bang; der Wind zerr­te an den La­den und sank mit un­ter­drück­tem kla­gen­dem Schrei wie tot an den Mau­ern her­ab. Und Bäu­me, die aus­sa­hen wie Wol­ken­fet­zen, blin­de, stum­me Bäu­me neig­ten sich still zu den Fens­tern, beb­ten als kaum faß­ba­re Schat­ten, -- wie ein Traum, des­sen man sich nicht mehr er­in­nern kann, und ver­schwan­den im Ne­bel wie ein Traum.

Und das Zim­mer war im­mer noch dumpf, stumm und ab­grund­tief, nur das grün­li­che Flämm­chen zit­ter­te un­auf­hör­lich, gleich ei­nem Stern, der sich in ei­nem schwar­zen, tie­fen See wi­der­spie­gelt; oder ir­gend­ein Blick flamm­te plötz­lich auf und erstarb gleich wie­der im trü­ben Dun­kel, das voll war von un­faß­ba­rem Be­ben, un­fer­ti­gen Be­we­gun­gen, be­un­ru­hi­gen­dem Zit­tern, erster­ben­dem Flüs­tern, ver­glim­men­dem Schil­lern und ei­ner kau­ern­den, frös­teln­den Angst.

Der Tisch riß sich wie­der un­ter den Hän­den los, stieß die Sit­zen­den aus­ein­an­der, er­hob sich ge­walt­sam und fiel mit lau­tem Ge­pol­ter auf sei­nen Platz zu­rück... Die Ket­te der Hän­de wur­de un­ter­bro­chen, Schreie wur­den laut, je­mand sprang seit­wärts, zum Licht.

»Still! ... Auf die Plät­ze! ... Still!« er­tön­te eine be­feh­len­de Stim­me.

Die Hän­de ver­floch­ten sich wie­der zu ei­ner un­zer­reiß­ba­ren Ket­te, alle ver­stumm­ten plötz­lich, doch nie­mand mehr ver­moch­te das ner­vö­se Zit­tern zu un­ter­drücken, die Hän­de beb­ten, die Her­zen poch­ten, und die See­len durch­weh­te ein Sturm hei­li­ger Angst; man neig­te sich über den Tisch, wie über ein un­er­klär­li­ches, ge­heim­nis­vol­les We­sen, des­sen kleins­te Be­we­gung ein sicht­ba­res, le­ben­di­ges Wun­der wäre.

Yoe, der den Vor­sitz führ­te, be­gann ein Ge­bet zu flüs­tern, und nach sei­nem Bei­spiel be­gan­nen sie mit be­ben­den Lip­pen die Wor­te nach­zu­spre­chen, im­mer schnel­ler, im­mer stär­ker, daß das Dun­kel er­füllt wur­de von lei­den­schaft­li­chem, gleich­sam aus dem Her­zen, aus der Tie­fe ver­blen­de­ter See­len ge­ris­se­nem Ge­flüs­ter ... Glü­hend wa­ren ihre Wor­te in ih­rem Ver­lan­gen, ih­rer Sehn­sucht nach dem Wun­der.

Plötz­lich er­tön­ten aus dem an­de­ren Zim­mer oder aus ir­gend­ei­ner Tie­fe her­vor die ge­dämpf­ten Klän­ge ei­nes Har­mo­ni­ums. Das Jam­mern erstarb in den ge­preß­ten Keh­len, die See­len ver­fie­len in traum­haf­te Schau­er, wie vor dem Tode; denn nie­mand hat­te die­se Mu­sik er­war­tet, nie­mand wuß­te, wo­her die­se Töne kämen, nie­mand war sich klar dar­über, ob das wirk­li­che, le­ben­di­ge Töne wä­ren, oder nur eine süße Täu­schung.

Sie san­ken mit der Brust auf den Tisch, denn nie­mand mehr hat­te Kraft, sie hiel­ten sich krampf­haft an den Hän­den, hat­ten Angst da­vor, ein­an­der los­zu­las­sen, hat­ten Angst, in die Ein­sam­keit zu ver­sin­ken ... sie dräng­ten sich mit den Schul­tern fes­ter an­ein­an­der und ver­tief­ten sich zu­sam­men­ge­drängt, zit­ternd in die­se wun­der­sa­men Töne, die wie ein lieb­ko­sen­der Wind über die Sai­ten ei­ner un­sicht­ba­ren Har­fe da­hing­lit­ten.

Und so sehr ver­ga­ßen sie al­les, daß nie­mand wuß­te, ob dies nun Wirk­lich­keit oder nur ein zau­ber­schö­ner Traum wäre.

Und die Mu­sik füll­te das Dun­kel mit dem Op­fer­be­ben ei­nes in­brüns­ti­gen Ge­be­tes, mit dem Tau sil­ber­hel­ler Töne, dem Hauch ei­ner so sü­ßen Me­lo­die, daß die See­len in se­lig­keittrun­kne Träu­me ver­san­ken, gleich den Blu­men in ei­ner Mond­nacht.

Und die Mu­sik ließ ein fei­er­li­ches, ge­wal­ti­ges, weit­hin­schal­len­des Lied er­tö­nen, als sän­ge die gan­ze Welt.

Und mit dem Schrei der See­le, die im Wel­tall irrt, schluchz­te sie trau­rig.

Und sie er­hob sich hö­her, -- bis zu den Hym­nen se­li­ger Ver­zückung und in die Fer­nen ei­ner Sehn­sucht, als wäre sie die Ema­na­ti­on ei­nes neu­en Seins, das aus dem Ge­heim­nis und der Sehn­sucht ge­bo­ren wird.

Noch wa­ren die Men­schen im Ban­ne der Töne, noch wieg­ten sich die See­len im Rhyth­mus der lei­se erster­ben­den Klän­ge, als die Tür des Vor­zim­mers weit auf­ging, ein brei­ter Licht­strei­fen über den Fuß­bo­den fiel und auf der Schwel­le eine hohe leuch­ten­de Ge­stalt er­schi­en.

Sie spran­gen von ih­ren Plät­zen em­por, doch ehe noch ei­ner zu schrei­en ver­moch­te, be­weg­te sich jene Ge­stalt und schritt lang­sam über den Licht­strei­fen da­her. Sie ging steif und schwer, mit aus­ge­streck­ten Ar­men, je­den Au­gen­blick ste­hen­blei­bend und sich leicht wie­gend.

Die Tür schloß sich ohne Geräusch, und wie­der herrsch­te tie­fes Dun­kel.

»Wer bist du?« so er­zit­ter­te eine ge­preß­te Fra­ge.

»Dai­sy«, er­klang ein Flüs­tern, das nichts Kör­per­li­ches mehr an sich hat­te.

»Wirst du lan­ge bei uns ver­wei­len?«

»Nein ... Nein.«

»Wo ist dein Kör­per?«

»Dort ... Im Zim­mer ... Ich schla­fe ... Du riefst ... Ich kam ... Guru ...«

Das Flüs­tern ver­wirr­te sich und wur­de so lei­se, daß nur klang­lo­se ab­ge­ris­se­ne Töne in der Dun­kel­heit wis­per­ten ...

Mr. Yoe drück­te auf den Knopf, und das gan­ze Zim­mer wur­de von elek­tri­schem Licht über­flu­tet.

»Dai­sy!« schrie ei­ner, ihr nach­stür­zend, blieb aber plötz­lich ste­hen, wie vom Blitz ge­trof­fen, denn sie hat­te ihm ihr blin­des Ge­sicht zu­ge­wen­det und ver­such­te et­was zu sa­gen, ihre Lip­pen be­weg­ten sich.

»Nein, nein, Dai­sy ... Die­sel­be und doch fremd, eine an­de­re zu­gleich.« Er neig­te sich ver­wun­dert vor und um­fing mit lau­ern­dem, ängst­li­chem Blick ihr Ge­sicht und ihre gan­ze Ge­stalt ... »Das­sel­be Ge­sicht, und doch die Züge an­ders, fremd ... Fremd ... Dai­sy! Nein ... Nein ...« schrie es in ihm; das Er­stau­nen und die Erin­ne­rung ver­floch­ten sich in sei­nem Hirn mit dem Blit­zen des Wahn­sinns, der Angst und ei­nes grau­en­haf­ten Ent­set­zens.

Er ver­stand nichts, er konn­te die­sen wun­der­li­chen Wech­sel nicht ver­ste­hen, es schi­en ihm, daß er tief träu­me, daß ein Spie­gel­bild Dai­sys vor ihm ste­he und bald zer­flie­ßen wür­de, ver­schwin­den wie eine Er­schei­nung, so­fort ... Er schloß die Au­gen und öff­ne­te sie gleich wie­der, aber Dai­sy stand an der al­ten Stel­le, sie war da, er sah sie in den kleins­ten Ein­zel­hei­ten: da wich er plötz­lich zu­rück, denn sie schau­te ihn mit ei­nem trau­ri­gen, ab­grund­tie­fen, frem­den Blick an, der so schreck­lich war, daß er tief, auf den tiefs­ten Grund der Angst, hin­ab­stürz­te.

Alle stan­den in der glei­chen ei­si­gen Er­stat­tung da.

Mr. Yoe aber nä­her­te sich Dai­sy ängst­lich und be­rühr­te mit den Fin­gern ihre Au­gen­li­der, -- sie zuck­ten hef­tig und san­ken dann schlaff her­ab. Dann be­rühr­te er der Rei­he nach ihre Schlä­fen, ihre Hän­de, ihre Arme, mach­te ei­ni­ge Stri­che über ih­rem Kop­fe, trat zu­rück und sag­te be­feh­lend: »Komm!«

Sie rühr­te sich nicht von der Stel­le.

»Komm!« rief er fes­ter, lang­sam zu­rück­wei­chend, doch ohne sei­nen Blick von ihr zu las­sen ...

Sie zuck­te plötz­lich und be­gann, als kos­te es sie viel Mühe, sich von dem Fuß­bo­den los­zu­rei­ßen, ihm nach­zuglei­ten, mit stei­fen au­to­ma­ti­schen Be­we­gun­gen, in die Tie­fe des be­nach­bar­ten Zim­mers hin­ein, das hell er­leuch­tet war ... Nie­mand hat­te sich wäh­rend die­ser Zeit be­wegt, noch lau­ter ge­seufzt, noch auch nur ge­zuckt; alle Au­gen folg­ten ihr.

Mr. Yoe nahm sie bei der Hand und führ­te sie zu ei­nem großen Sofa, das mit­ten im Zim­mer stand; auf die­ses fiel sie kraft­los hin.

»Kannst du spre­chen?« frag­te er und neig­te sich über sie.

»Ich kann ...«

»Bist du Dai­sy selbst?«

»Fra­ge nicht ...!«

»Stört viel­leicht je­mand von uns?«

»Nein ... Nein ... Was könn­te den Wil­len des ›A‹ stö­ren!« sag­te sie.

Sie sprach mit ei­ner Stim­me, die nicht ihre Stim­me war, son­dern fremd war und manch­mal, als käme sie aus ei­nem Gram­mo­phon, wie die Stim­me ei­ner Lei­che; sie drang mit leb­lo­sem Ge­flüs­ter di­rekt aus der Keh­le her­vor, denn Dai­sy be­weg­te ihre Lip­pen nicht, noch ir­gend­ei­nen Mus­kel ih­res Ge­sichts.

»Also dür­fen alle im Zim­mer blei­ben?« frag­te Mr. Yoe wie­der.

Sie ant­wor­te­te nicht, son­dern mach­te eine un­ge­dul­di­ge Be­we­gung, wäh­rend sie die schwe­ren Li­der hob, so daß das Wei­ße der Au­gäp­fel sicht­bar wur­de; ein Lä­cheln husch­te über ihr krei­de­blei­ches Ge­sicht, sie streck­te ihre Hand in die Lee­re, als woll­te sie ir­gend­ei­nen Un­sicht­ba­ren be­grü­ßen, und be­gann et­was halb­laut zu flüs­tern.

Mr. Yoe horch­te auf­merk­sam, doch ver­ge­bens be­müh­te er sich, et­was zu ver­ste­hen, -- sie sprach in ei­ner ganz frem­den Spra­che.

»Was sprichst du?« sag­te er nach ei­ner Wei­le, sei­ne Hand auf ihre Stirn le­gend.

»Sar­wa­tas­si­da!«

»Der Ma­h­at­ma?«

»Der, wel­cher ist, wel­cher al­les aus­füllt, wel­cher ist das ›A‹, mein Geist ...«

»Will er durch dich spre­chen?«

»Quä­le mich nicht ...«

»Wird heu­te et­was ge­sche­hen? Die Brü­der sind ver­sam­melt, sie war­ten in Angst, har­ren fle­hend auf ein Zei­chen, ein Wun­der ...«

»Kei­ner der Leib­be­haf­te­ten ist ei­nes Wun­ders wür­dig! Kei­ner ...!« dröhn­te eine star­ke, ge­wal­ti­ge, männ­li­che Stim­me, die so laut war, als käme sie aus ei­ner eher­nen Po­sau­ne.

Yoe wich ent­setzt zu­rück, ließ sei­ne Au­gen rings­um­her schwei­fen, doch im Zim­mer war nie­mand; Dai­sy lag starr da, ohne sich zu be­we­gen, die Lich­ter brann­ten hell, und die gan­ze Grup­pe der Ver­sam­mel­ten stand im an­dern Zim­mer, ihm ge­gen­über.

»Er soll spie­len, er!« flüs­ter­te sie und er­hob sich und wies auf Ze­non, doch fiel sie gleich wie­der nach hin­ten zu­rück, aus­ge­streckt, steif, und so blieb sie lie­gen.

Ver­ge­bens be­müh­te sich Yoe, sie zum Spre­chen zu zwin­gen, -- sie lag leb­los da wie eine Lei­che; ihre Hän­de wa­ren kalt, ihr Ge­sicht mit ei­si­gem Schwei­ße be­deckt.

»Eine voll­stän­di­ge Ka­ta­lep­sie, ich ver­ste­he nichts mehr«, flüs­ter­te er ängst­lich.

»Was wer­den wir an­fan­gen?« frag­te ei­ner.

»Wir wol­len be­ten und war­ten.«

»Ist das wirk­lich Dai­sy?« frag­te Ze­non.

»Dai­sy ... Ich weiß nicht, es kann sein ... Aber ich weiß nicht.«

Die Tür des run­den Zim­mers, wo sie lag, schlug mit hef­ti­gem Kra­chen zu.

»Set­zen, Ruhe ... Wir fan­gen an! ...«

Ze­non setz­te sich an das Har­mo­ni­um, das in ei­ner tie­fen Ni­sche rechts stand, ge­gen­über den Fens­tern, und be­gann lei­se zu spie­len.

Da er­lo­schen plötz­lich die Lich­ter, sie flim­mer­ten noch eine Wei­le, aber dann glänz­te nur noch die kris­tal­le­ne Ku­gel in ei­nem grün­li­chen zit­tern­den Licht.

Sie setz­ten sich an die Wand, ei­ner ne­ben den an­dern, doch jetzt bil­de­ten sie kei­ne Ket­te mehr.

Ze­non spiel­te eine er­he­ben­de Hym­ne; die ge­dämpf­ten Töne klan­gen in einen sü­ßen Cho­ral zu­sam­men, der aus wei­ter Fer­ne zu kom­men schi­en, als flös­se er von dem Grun­de un­end­lich tiefer Mee­re em­por; dann ver­rann er im un­durch­dring­li­chen Dun­kel.

Yoe aber knie­te hin und be­gann halb­laut zu be­ten, eine Wei­le hör­te man das Rücken der Stüh­le, das Knar­ren der Die­le, es wa­ren wohl alle hin­ge­kniet, denn das Flüs­tern der be­ten­den Stim­men wur­de lau­ter, glü­hen­der und hör­te sich an wie strö­men­der Re­gen, es schi­en die er­grei­fen­den Wel­len der Mu­sik zu be­glei­ten.

Ze­non spiel­te im­mer lei­ser, die Klän­ge erstar­ben lang­sam, ver­stumm­ten und fie­len schwer her­ab wie er­starr­te Per­len, so daß nur ver­ein­zel­te Ak­kor­de, gleich ver­lo­re­nen Seuf­zern, durch die Stil­le irr­ten, dann wie­der zu­rück­kehr­ten und hart­nä­ckig schluchz­ten, -- er­grei­fend.

Nach ei­ner lan­gen Wei­le to­ten Schwei­gens er­ho­ben sie sich wie­der, wie ein Schrei in der Wüs­te, -- ein plötz­li­cher, durch­drin­gen­der, schreck­li­cher Schrei.

Und wie­der sank Gra­bes­s­til­le her­ab, aus der sich hin und wie­der irre, ein­sam schluch­zen­de Ak­kor­de her­aus­ris­sen ... Das Ge­bet ver­stumm­te, doch die­se mo­no­to­ne Stim­me er­hob sich je­den Au­gen­blick, wur­de lei­ser ... starb ... und kam wie­der ... und klag­te wie­der ... wie­der irr­te sie um­her; ein Schau­er ließ alle er­zit­tern, denn die Stim­me war wie Verzweif­lung, wie der Schrei von Men­schen, die in einen Ab­grund stür­zen.

Yoe konn­te sich nicht mehr be­herr­schen und dreh­te das Licht an.

Ze­non saß wie leb­los da, sei­ne Au­gen wa­ren ge­schlos­sen, sein Kopf war auf die Leh­ne des Stuh­les ge­beugt, die rech­te Hand lag re­gungs­los auf dem Knie, und die lin­ke be­weg­te er me­cha­nisch, ab und zu eine Tas­te an­schla­gend ...

»Er ist im Tran­ce«, flüs­ter­te Yoe, das Licht wie­der ab­dre­hend. Im Zim­mer wur­de es ge­ra­de­zu schreck­lich, sie sa­ßen schwei­gend wie in ei­nem Gra­be, zu­sam­men­ge­kau­ert un­ter der schmerz­haf­ten An­span­nung der Angst und der Er­war­tung, ihre Au­gen irr­ten im Dun­kel um­her und klam­mer­ten sich an das eine Flämm­chen, wie an die Er­lö­sung.

Eine merk­wür­di­ge Küh­le weh­te von den Wän­den, so daß alle, trotz­dem sie durch die Er­re­gung er­hitzt wa­ren, vor Käl­te zit­ter­ten.

Die Stil­le war nicht mehr zu er­tra­gen, und die­ser im­mer wie­der­keh­ren­de mo­no­to­ne Ak­kord durch­rie­sel­te sie mit im­mer glü­hen­de­rer Qual.

Plötz­lich schi­en im Dun­kel et­was zu wer­den. Zu­erst be­gan­nen die Schie­fer­ta­feln, die auf dem Ti­sche la­gen, sich zu er­he­ben und wie­der zu fal­len, als wer­fe sie je­mand in die Luft; schließ­lich schlu­gen sie ge­gen die De­cke an, und die zer­schla­ge­nen Scher­ben stürz­ten klir­rend auf den Fuß­bo­den.

Nach ei­ner Wei­le be­gan­nen sich im Dun­kel un­zäh­li­ge zit­tern­de Fun­ken zu ver­streu­en, die je­doch so klein, so win­zig warm, daß sie phos­pho­res­zie­ren­dem Mo­der gli­chen; sie fie­len als glän­zen­der Tau her­ab, glit­ten an den Wän­den her­un­ter, wur­den lang­sam dich­ter und leuch­te­ten im­mer stär­ker, wäh­rend sie das Zim­mer mit ei­ner leuch­ten­den, fla­ckern­den Wol­ke er­füll­ten, wie mit bläu­lich glän­zen­dem Schnee, der ohne Geräusch in großen flau­mi­gen Flo­cken zur Erde fällt.

»Om!« so er­dröhn­te durch die Stil­le eine hel­le, kris­tal­le­ne Stim­me, und sie neig­ten ihre Köp­fe und be­gan­nen im Chor voll scheu­er De­mut und Rüh­rung mit ge­dämpf­ten Stim­men fle­hend zu stöh­nen: »Om! Om! Om!« Der Fun­ken­re­gen wur­de noch stär­ker, das Zim­mer sah jetzt ei­ner dun­kelblau­en Grot­te gleich, durch die ein Strom von St­ern­stäub­chen fließt, -- so leuch­tend, daß die Wän­de, die Tü­ren, die Bil­der, die Mö­bel und die fah­len, ver­ängs­te­ten Ge­sich­ter deut­li­cher zu se­hen wa­ren durch die­ses zit­tern­de, un­auf­hör­lich nie­der­sin­ken­de Ge­we­be von Fun­ken. Die ne­bel­haf­ten Um­ris­se ei­ner Ge­stalt, ein leuch­ten­des Trug­bild, ein Ge­s­penst aus Licht ge­webt er­schi­en plötz­lich in der Tür des Zim­mers, wo die Ein­ge­schlä­fer­te lag.

»Om! Om!« flüs­ter­ten alle im­mer lei­ser, wäh­rend sie an die Wand zu­rück­wi­chen; und an die­se ge­drängt, er­starr­ten sie in hei­li­gem Grau­en.

Die Er­schei­nung hob sich, wie eine Blu­me aus zer­sto­be­nen Flam­men, in die Höhe; es war, als sei sie aus dem Licht em­por­ge­stie­gen, aus dem sich im­mer­fort die Um­ris­se ei­ner mensch­li­chen Ge­stalt bil­de­ten, um wie­der in un­zäh­li­ge Fun­ken zu zer­stie­ben.

Der Fun­ken­re­gen er­losch, das Zim­mer wur­de fins­ter, nur die Er­schei­nung er­hob sich lang­sam, in ei­ner stark leuch­ten­den, gelb­li­chen Wol­ke, be­weg­te sich ei­ni­ge Fuß über der Erde, wur­de zu­wei­len in ih­rer mensch­li­chen Ge­stalt so deut­lich, daß man ge­nau das Ge­sicht ei­ner Frau se­hen konn­te, von lan­gen Haa­ren um­rahmt, die Um­ris­se der Schul­tern und der gan­zen Ge­stalt; und für ganz, ganz kur­ze Au­gen­bli­cke schim­mer­te auch ein bläu­li­ches, von Flam­men er­leuch­te­tes Kleid, doch war es nicht mög­lich, die Züge zu er­ken­nen, denn die­ses im­mer nur Au­gen­bli­cke wäh­ren­de Zu­sam­men­schie­ßen des Lichts, die­ser blen­den­de Licht­stoff, aus dem sie be­stand, die­se leuch­ten­den to­ten Zu­ckun­gen ver­misch­ten sich im­mer wie­der, ver­schwam­men wie in ei­nem Stru­del, so daß al­ler Au­gen­bli­cke die Um­ris­se sich in leuch­ten­den Staub auf­lös­ten und wie­der von neu­em her­vor­tra­ten.

Für eine län­ge­re Wei­le wur­de die Er­schei­nung zu ei­ner voll­kom­me­nen mensch­li­chen Ge­stalt, sie rück­te so nahe her­an, daß ein wahn­sin­ni­ger Schreck gleich ei­nem Blitz­strahl in die Ver­sam­mel­ten fuhr, sie glitt dicht vor ih­nen da­hin, wäh­rend sie mit ih­rem ent­setz­li­chen Ant­litz nä­her kam; ein blin­des Ant­litz, ohne Züge, wie eine Ku­gel, nur grob be­hau­en, mit schwar­zen Lö­chern, eine Lar­ve, ähn­lich ei­nem neb­li­gen Fun­ken­knäu­el, -- die Frat­ze ei­nes quä­len­den Trau­mes und des Ent­set­zens.

Sie husch­te von ei­nem zum an­de­ren, mit lee­ren Au­gen­höh­len in ihre er­stor­be­nen, vor Angst er­kal­te­ten Au­gen star­rend; und glat­te, feuch­te Hän­de, wie aus er­wärm­ten Kaut­schuk, schreck­li­che Hän­de, die Lei­chen­hän­de ei­nes un­sag­ba­ren Ent­set­zens be­rühr­ten alle Ge­sich­ter.

Je­mand seufz­te schwer auf, wie in ei­nem quä­len­den Trau­me, und die Er­schei­nung zer­floß in dem­sel­ben Au­gen­blick zu einen schim­mern­den Ne­bel­schwa­den.

Doch ehe die Ver­sam­mel­ten sich noch von die­sem Schre­cken er­holt hat­ten, er­schi­en sie wie­der in der Ni­sche ne­ben Ze­non.

»Dai­sy!« schrie Yoe, ohne es zu wis­sen.

Alle üb­ri­gen hat­ten sie gleich­falls er­kannt; ja, sie stand dort, man konn­te es ge­nau se­hen; je­der Zug ih­res Ge­sich­tes trat scharf her­vor in die­ser wun­der­ba­ren Hel­lig­keit, die sie selbst aus­strahl­te, jede Ein­zel­heit ih­rer Ge­stalt, so­gar die Far­be ih­rer Haa­re, die ih­nen so gut be­kannt war. Sie wa­ren der tiefs­ten Über­zeu­gung, sie selbst ste­he dort in dem sanf­ten Lich­te der Auss­trah­lun­gen, wie in ei­ner lich­ten Wol­ke.

Sie neig­te sich über den Schla­fen­den, als wol­le sie ihm et­was ins Ohr flüs­tern, und er er­hob sich und reich­te ihr mit ei­nem nicht in Wor­te zu klei­den­den Lä­cheln die Hand; und plötz­lich zer­fiel er wie ein vom Blitz­strahl ge­spal­te­ner Baum in zwei Per­so­nen ... Er saß in der frü­he­ren Hal­tung, den Kopf auf die Leh­ne des Stuh­les ge­senkt, und stand zu­gleich in zwei­ter Per­son ge­bückt vor ihr.

Ein Schrei der Ver­blüf­fung ent­fuhr al­len, erstarb aber so­fort, denn plötz­lich ging die Tür des run­den Zim­mers auf, und man er­blick­te Dai­sy, die auf dem Sofa lag. Ihre bei­den Kör­per la­gen in tie­fem Schla­fe, und gleich­zei­tig be­weg­ten sich ge­ra­de vor ih­nen in der Dun­kel­heit zwei Er­schei­nun­gen, zwei Ge­s­pens­ter oder zwei See­len, in sicht­ba­re Ge­stalt gehüllt, von Licht über­flu­tet, -- Spie­gel­bil­der gleich­sam von Dai­sy und Ze­non.

Wie lan­ge das währ­te? ... Ei­nen Au­gen­blick, oder eine Ewig­keit ... Das wuß­te nie­mand, nie­mand dach­te dar­über nach, nie­mand konn­te es ver­ste­hen.

In hei­li­ge Ver­zückung ver­fie­len die See­len, und alle knie­ten sie da im hei­li­gen Grau­en des Wun­ders ...

In die­sem hei­li­gen Au­gen­blick der Gna­de hat­te Isis den Saum des Vor­hangs vor de­nen ge­lüf­tet, die nach dem Lich­te ver­lang­ten, die Träu­me wur­den mehr denn Wirk­lich­keit, denn sie wur­den zu ei­nem Wun­der, ei­nem un­ver­ständ­li­chen, ge­heim­nis­vol­len, aber ei­nem Wun­der, das mit le­ben­di­gen Au­gen ge­se­hen wur­de.

Alle fühl­ten sich am Ran­de des Uner­kenn­ba­ren hän­gend, wie in den Tie­fen des Wer­dens selbst und ei­nes nie ge­dach­ten Seins und je­ner Din­ge, die der Men­schen blin­de Au­gen nie ver­ste­hen wer­den.

Ver­sun­ken war jede Erin­ne­rung des Er­den­le­bens, al­ler Er­den­staub war von den See­len ge­wi­chen, je­der Ge­dan­ke zu Asche ver­brannt, so daß sie ein­zig und al­lein im Kei­me des Seins selbst ver­blie­ben, vor dem sich alle Ge­heim­nis­se ent­hül­len; denn, sie­he, dort, ei­ni­ge Schrit­te von ih­nen ent­fernt, schweb­ten zwei leuch­ten­de Ge­stal­ten, und das un­faß­ba­re Wun­der währ­te ... Die Schat­ten zeich­ne­ten Um­ris­se, bil­de­ten einen Rah­men, in dem die Licht­er­schei­nun­gen um so deut­li­cher strahl­ten, wie Säu­len von er­stor­be­nen Fun­ken, die sich von Ort zu Ort be­weg­ten, ohne je­des Geräusch und in sol­chem Schwei­gen, daß alle das be­schleu­nig­te Schla­gen ih­rer eig­nen Her­zen hör­ten.

Lang­sam, in ei­nem un­greif­ba­ren Au­gen­blick, be­gan­nen die Vi­sio­nen zu erb­las­sen, zu er­lö­schen, un­sicht­bar zu wer­den, wur­den sie von der Dun­kel­heit auf­ge­so­gen; die Köp­fe nur blie­ben et­was län­ger sicht­bar, wie Licht­blu­men, von Schat­ten­wel­len ge­schau­kelt, stets wa­ren sie bei­ein­an­der; mit zö­gern­den, zit­tern­den Be­we­gun­gen fort­wal­lend, ver­schwan­den sie auf Au­gen­bli­cke in zer­stie­ben­den Lichtgar­ben und tauch­ten wie­der auf, aber jetzt schon blas­ser, ver­schwin­den­der, durch­sich­ti­ger, neb­li­gen Ge­stal­ten auf Glas­bil­dern ver­gleich­bar; noch leuch­te­ten die Au­gen mit der frü­he­ren Kraft, dem frü­he­ren Le­ben, doch schon ver­schwam­men die Züge, schon erstarb die mensch­li­che Ge­stalt, -- bis auch die Bli­cke ge­trübt er­lo­schen, als wä­ren sie plötz­lich in den Ne­bel un­ter­ge­taucht; dann ver­schwan­den sie, lös­ten sich in weiß­li­che Stäub­chen auf, die lang­sam erb­li­chen.

Al­les war zu Ende, wie­der um­fing die Men­schen Nacht und Schwei­gen, doch nie­mand rühr­te sich von sei­nem Plat­ze, die ohn­mäch­ti­gen Her­zen schlu­gen kaum, die Ge­dan­ken schlepp­ten sich trä­ge und un­gern fort, er­ho­ben sich wie aus der Lethar­gie der Ver­zückung und des Zau­bers.

Ach, wie­der das Le­ben, wie­der die dum­me Wirk­lich­keit, wie­der der­sel­be All­tag, der Tag der nie en­den­wol­len­den Qual und der Sehn­sucht, -- wie­der! ...

Das dump­fe, fer­ne Brau­sen der Stadt schlug mit ein­tö­ni­gem Geräusch an die Fens­ter, der Re­gen trom­mel­te an die Schei­ben, und das Flämm­chen in der Kris­tall­ku­gel fla­cker­te mit sei­nem grün­li­chen, ge­heim­nis­vol­len Auge, wie die nie zu er­grün­den­de Sehn­sucht, wie die Erin­ne­rung an ver­gan­ge­ne, nie wie­der­keh­ren­de Din­ge.

Erst nach ge­rau­mer Zeit hat­te Yoe sich wie­der in der Ge­walt und mach­te Licht.

Die Tür zum run­den Zim­mer war ge­schlos­sen, Ze­non aber saß ein­ge­schlä­fert an sei­nem al­ten Plat­ze vor dem Har­mo­ni­um.

»Man soll­te ihn we­cken, -- es wird ihn zu sehr er­schöp­fen.«

Doch ehe man dies ge­tan, wach­te er von selbst auf und er­hob sich.

»Mir scheint, daß ich ge­schla­fen habe«, flüs­ter­te er, sei­ne Au­gen rei­bend.

»Du bist gleich ein­ge­schla­fen.«

»Nein --, ich spiel­te doch et­was; mir scheint: Bach.«

»Du spiel­test auch spä­ter.«

»Im Traum?«

»Du warst im Tran­ce.«

»Und ich spiel­te! Rich­tig, ich er­in­ne­re mich an eine Me­lo­die ... So­fort ... Ich kann sie nicht fest­hal­ten ... In mei­ner Erin­ne­rung ja­gen sich ir­gend­wel­che ver­spreng­te Töne, -- aber das ist doch merk­wür­dig, noch nie bin ich in einen der­ar­ti­gen Traum ver­fal­len ...«

»Erin­nerst du dich an nichts mehr als an die­se Me­lo­die?«

»Nein, -- und Dai­sy? ...«

»Sie schläft noch ...«

Ze­non öff­ne­te die Tür zum run­den Zim­mer und stand ganz ver­blüfft da.

»Aber da ist sie ja ... Ich schlief doch nicht. Was re­det ihr mir ein? Vor ei­nem Au­gen­blick sprach ich noch mit ihr ... Wir gin­gen zu­sam­men durch einen Park ... Ja ... Ich er­in­ne­re mich ... Blaue Bäu­me ... sag­te sie ... So­fort ... Wo war das ...«

Er schau­te sich plötz­lich ängst­lich um.

Alle stan­den sie da und starr­ten ihn an, neu­gie­rig und schwei­gend.

»Es ist et­was mit mir ge­sche­hen, wor­an ich mich nicht mehr er­in­nern kann ... Ich habe so merk­wür­di­ges Kopf­weh.«

Er wank­te, daß Yoe ihn um­fas­sen und auf einen Stuhl set­zen muß­te.

Lan­ge saß er un­be­weg­lich, in sich ver­sun­ken, als schaue er in wei­te, un­sicht­ba­re Fer­nen, voll von Traum­vi­sio­nen, de­ren man sich nicht mehr er­in­nern kann, und be­müh­te sich ver­ge­bens, auch nur ein Bild zu­sam­men­zu­set­zen, auch nur einen Ge­dan­ken her­aus­zu­schä­len aus die­sen wirr um­her­flat­tern­den Fet­zen un­ter sei­ner Schä­del­de­cke; er ver­sank im im­mer dich­teren Ne­bel des Ver­ges­sens; der Rest der blas­sen, ver­schwin­den­den Erin­ne­rung zer­stob, als er ihn fas­sen woll­te, die­se letz­ten Strah­len er­lo­schen, es blieb nur eine dump­fe, schmerz­li­che Sehn­sucht nach dem, was ver­sun­ken war in un­ge­kann­te Tie­fen, so daß er die Au­gen weit öff­ne­te, als wäre er von neu­em er­wacht, dann alle an­schau­te und auf­stand.

»Ich bin so merk­wür­dig müde und er­schöpft, daß ich mich kaum auf den Bei­nen zu hal­ten ver­mag«, klag­te er trau­rig.

»Geh, leg dich schla­fen«, flüs­ter­te ihm Yoe zu.

»Wahr­haf­tig, das wird das bes­te sein.«

»Ich will dich nach dei­ner Woh­nung be­glei­ten.«

»Ja, aber ich wer­de doch nicht auf der Trep­pe ein­schla­fen.«

Er lach­te fröh­lich auf und ging ins Vor­zim­mer hin­aus; doch als er schon im Be­griff war, auf den Flur hin­aus­zu­ge­hen, kehr­te er um und frag­te lei­se:

»Schläft Dai­sy noch?«

»Sie schläft, doch ich will sie so­fort we­cken ge­hen.«

»Ist die Sean­ce ge­lun­gen?«

»Au­ßer­or­dent­lich; mor­gen wer­de ich dir die Ein­zel­hei­ten er­zäh­len.«

»Aber warum bin ich ein­ge­schla­fen? Ich kann mir das nicht ver­zei­hen.«

Er ging lang­sam die Trep­pen her­un­ter, ganz au­to­ma­tisch, bei­na­he, als wüß­te er nichts da­von; dann im ers­ten Stock­werk blieb er ste­hen, schau­te sich auf­merk­sam um und er­wach­te gleich­sam zum drit­ten Male ...

Er er­in­ner­te sich plötz­lich, daß er auf ei­ner Sean­ce ge­we­sen war, und daß er ge­spielt hat­te.

Er schüt­tel­te sich, ein ei­si­ger Schau­er ging ihm durch und durch, er fühl­te sich un­sag­bar müde und merk­wür­dig schmerz­lich be­un­ru­higt, ir­gend­ei­ne Me­lo­die be­gann sich in sei­nem Ge­dächt­nis zu spin­nen, so daß er an­fing, sie lei­se vor sich hin­zu­sum­men.

Der Kor­ri­dor war breit, mit ei­nem ro­ten Tep­pich be­legt, still und voll­stän­dig leer, doch hell er­leuch­tet, denn eine Rei­he von Opal­blu­men an der De­cke ver­brei­te­te elek­tri­sches Licht; die wei­ßen Wän­de, die nur hier und da von Tü­ren un­ter­bro­chen wur­den, zo­gen sich in lan­ger, ein­tö­ni­ger Li­nie da­hin, voll Lan­ge­wei­le.

Ir­gend­wo schlug eine Uhr lang­sam die Stun­de an.

»Schon sie­ben! Gan­ze zwei Stun­den hat die Sean­ce ge­dau­ert«, flüs­ter­te er ver­wun­dert und er­hob die Au­gen, um es auf der Uhr fest­zu­stel­len; doch da er eine Dame sah, die vom an­de­ren Ende des Flurs kam, ging er ihr schnel­ler ent­ge­gen, -- ehe er sie noch er­reicht hat­te, blieb er wie ver­stei­nert ste­hen.

»Dai­sy?« schrie er, an die Wand zu­rück­wei­chend.

Miß Dai­sy ging vor­bei und grüß­te ihn mit ei­ner leich­ten Nei­gung des Kop­fes, höf­lich und et­was er­ha­ben wie im­mer; ein klei­ner Groom folg­te ihr mit ei­ner großen Schach­tel in der Hand. Er stand eine Wei­le mit ge­schlos­se­nen Au­gen da, über­zeugt, es sei dies eine Ein­bil­dung oder Hal­lu­zi­na­ti­on; denn wie wäre et­was an­de­res mög­lich ge­we­sen? Vor ei­ner Wei­le hat­te er sie dort schla­fend in je­nem Zim­mer ver­las­sen, wo die Sean­ce statt­fand, er hat­te sie mit sei­nen ei­ge­nen Au­gen ge­se­hen, er er­in­ner­te sich des­sen ... Und sie soll­te jetzt hier sein, zum Aus­ge­hen ge­klei­det, von der ent­ge­gen­ge­setz­ten Sei­te kom­mend ... Nein, das war eine Hal­lu­zi­na­ti­on.

Er öff­ne­te plötz­lich die Au­gen. Miß Dai­sy war schon am Ende des Kor­ri­dors und bog ge­ra­de zur Haupt­trep­pe ab.

Mit ei­nem über­mensch­li­chen Sprun­ge war er plötz­lich dort und sah, auf die Brüs­tung ge­stützt, wie sie die brei­ten Stu­fen hin­un­ter­ging ...

Sie ging lang­sam, die Schlep­pe des Klei­des schleif­te über die brei­ten Mar­mor­stu­fen, ein re­se­da­far­be­ner pelz­ver­bräm­ter Man­tel hüll­te ihre hohe, schlan­ke Ge­stalt ein, die hel­len Haa­re fie­len in ein­zel­nen, wir­ren Sträh­nen un­ter ei­nem großen schwar­zen Hut her­vor ... Er sah die­se Ein­zel­hei­ten ge­nau, er hör­te je­den ih­rer Schrit­te ... fühl­te jede ih­rer Be­we­gun­gen.

Und an der Bie­gung zum Vor­flur wen­de­te sie ih­ren Kopf, ihre Bli­cke kreuz­ten sich wie Blit­ze, schlu­gen zu­sam­men und sto­ben wie­der aus­ein­an­der, so daß er ganz un­be­wußt in den Schat­ten zu­rück­wich ... Doch er hör­te ihre Stim­me ... das Zu­schla­gen der Tür ... ihre Schrit­te auf den Flie­sen im Flur ... das dump­fe Ge­trap­pel der Pfer­de auf dem As­phalt der Ein­fahrt ... das glei­ten­de Geräusch des fort­rol­len­den Wa­gens ...

»Wer ist hier ge­ra­de fort­ge­fah­ren?« frag­te er nach ei­ner Wei­le den Pfört­ner.

»Miß Dai­sy!«

Er ent­geg­ne­te schon nichts mehr, denn er spür­te plötz­lich, daß ihn eine schwe­re, un­be­zwing­ba­re Schlaf­sucht be­fal­len hat­te. Er kehr­te zum ers­ten Stock zu­rück und fand me­cha­nisch sei­ne Woh­nung; lan­ge irr­te er dar­in um­her und stieß fort­wäh­rend an die Mö­bel an, lan­ge tas­te­te er um­her, ohne zu wis­sen, was er tun wol­le, was mit ihm ge­sche­hen wäre, wo er sei ...

Er sank auf einen Stuhl und blieb un­be­weg­lich, steif vor Ent­set­zen, hat­te er sie doch wie­der bei­de zu­gleich ge­se­hen, jene, die auf dem Sofa schlief, und die­se hier, wie sie die Trep­pen hin­un­ter­ging ... Mit ei­ner letz­ten be­wuß­ten Be­we­gung dreh­te er das Licht an und schell­te.

Das Zim­mer­mäd­chen trat ein.

»Ist Miß Dai­sy schon wie­der da?« frag­te er nach lan­gem Schwei­gen, nur völ­lig bei Be­wußt­sein.

»Die Miß ist erst vor ei­nem Au­gen­blick aus­ge­fah­ren.«

»Aber ist sie schon lan­ge vor die­ser Aus­fahrt zu­rück­ge­we­sen?«

»Sie ist nir­gends ge­we­sen, -- sie hat­te sich ge­gen Abend hin­ge­legt und ge­schla­fen. Ich habe sie vor kur­z­er Zeit selbst ge­weckt.«

»Sie hat ge­schla­fen und ist nicht fort­ge­we­sen ... nir­gends?«

»Ja, ganz be­stimmt nicht ...«

»Sie war im zwei­ten Stock bei Mr. Yoe.«

»Nein, ich ver­si­che­re Ih­nen, daß sie nicht fort­ge­we­sen ist.«

»Das ist nicht wahr!« schrie er in ei­nem plötz­li­chen Wu­t­an­fall.

»Aber si­cher, ganz si­cher«, flüs­ter­te sie ver­wun­dert und wich vor sei­nem ir­ren Blick und sei­nem ganz ver­än­der­ten Ge­sicht zu­rück.

»Ich muß krank sein, ich habe of­fen­bar Fie­ber«, sag­te er laut und sah sich miß­trau­isch im Zim­mer um; doch es war nie­mand da, das Mäd­chen war fort­ge­lau­fen, alle Tü­ren stan­den of­fen.

In al­len Zim­mern brann­ten die Lich­ter, die Mö­bel stan­den in ro­hen, wuch­ti­gen Um­ris­sen da, die Spie­gel fun­kel­ten wie strah­len­de, lee­re Au­gen, die Blu­men in den Va­sen prang­ten in ru­hi­gen Far­ben, die schwe­ren Vor­hän­ge ver­hüll­ten die Fens­ter, und von den Wän­den schau­ten ei­ni­ge düs­te­re Por­träts her­nie­der.

Al­les dies kann­te er, er er­kann­te es, er­in­ner­te sich dar­an ... Er fühl­te, daß er bei sich in sei­ner Woh­nung war, und doch ... und doch ... Durch die­se Mö­bel und Wän­de, durch die­se Spie­gel und Blu­men lug­ten die Um­ris­se der Erin­ne­rung her­aus, die ne­bel­haf­ten Um­ris­se ir­gend­wel­cher an­de­rer Din­ge, von Din­gen, de­ren er sich auf kei­ne Art ent­sin­nen konn­te, und die doch ir­gend­wo exis­tier­ten ... von Din­gen, die in zar­ten Schat­ten, in un­faß­ba­ren Vi­sio­nen auf­er­stan­den ...

»Ich ver­ste­he nichts ... gar nichts!« rief er und ver­grub sei­nen Kopf in den Hän­den.

Zweites Kapitel

»Ein scheuß­li­cher Tag«, rief Ze­non und schüt­tel­te sich vor Käl­te.

»Ein schreck­li­cher, wi­der­li­cher, ekel­haf­ter Tag«, wie­der­hol­te mit necki­scher Lus­tig­keit ein rei­zen­des hell­blon­des Mäd­chen, als es mit ihm die ge­wal­ti­ge Säu­len­hal­le von St. Paul ver­ließ und die brei­ten, feuch­ten und glat­ten Stu­fen be­trat.

»Ein drei­mal ekel­haf­ter Tag, es ist kalt, feucht und neb­lig, ich habe bei­nah schon ver­ges­sen, wie die Son­ne scheint und wärmt.«

»Das ist Über­trei­bung und Exal­ta­ti­on, wie Tan­te El­len zu sa­gen pflegt.«

»Also Sie ha­ben in die­sem Jah­re schon ein­mal Son­ne in Lon­don ge­sehn?«

»Aber es ist doch erst Fe­bru­ar.«

»Ha­ben Sie denn über­haupt schon ir­gend ein­mal Son­ne in Eng­land ge­sehn?«

»Oh Mr. Zeno, daß nur Tan­te Dol­ly nicht sagt: Hüte dich, Bet­sy, denn die­ser Mensch be­tet die Son­ne an, wie ein Par­se, -- er scheint ein Hei­de zu sein«, droh­te sie ihm lä­chelnd und ahm­te die ko­mi­sche Stim­me der Tan­te nach.

»Aber hat es denn seit No­vem­ber auch nur auf einen Au­gen­blick Son­nen­schein in Lon­don ge­ge­ben? Nichts als Ne­bel, Re­gen, Sturm und Schmutz, und ich habe doch kei­ne Gum­mi­haut, -- ich füh­le manch­mal, wie ich zu Gal­lert wer­de, mich in Ne­bel- und Was­ser­strö­me ver­wand­le.«

»Aber in Ih­rer Hei­mat gibt es doch auch nicht im­mer Son­ne«, flüs­ter­te sie lei­se.

»Ja, Miß Bet­sy, sie ist fast täg­lich da, und jetzt an die­sem Tage, heu­te, leuch­tet sie be­stimmt, ihre Strah­len fun­keln zau­ber­haft schön und glit­zern in den Schnee­mas­sen«, sprach er, sei­ne Stim­me sen­kend, als schaue er in die Fer­ne plötz­li­cher blen­den­der Erin­ne­run­gen.

»Die Sehn­sucht«, sag­te sie ganz lei­se und merk­wür­dig trau­rig.

»Ja, die Sehn­sucht, die wie ein Gei­er her­un­ter­schießt und mit schar­fen Kral­len die See­le schmerz­haft zer­fleischt, die wie ein Schrei aus der See­le dringt, aus dem tiefs­ten Grun­de längst ver­mo­der­ter Tage, die uns wie ein Or­kan da­hin­trägt ... wie ein Or­kan. Lan­ge schon, gan­ze Jah­re, ist sie nicht mehr zu mir ge­kom­men; ich dach­te, ich trü­ge nur tote Schat­ten in mir, wie je­des ge­stor­be­ne Ges­tern sie wirft. Doch die heu­ti­ge An­dacht, die Kir­che, die Ge­sän­ge ha­ben den Staub ver­gan­ge­ner Zei­ten zu neu­em Le­ben er­weckt, ha­ben ihn be­lebt.«

»Mr. Zen ...« flüs­ter­te sie und er­griff zärt­lich sei­ne Hand.

»Was, Bet­sy, was?«

»Ein­mal wirst du mich dort­hin brin­gen, wir wer­den zu die­sen Schnee­mas­sen fah­ren, die in der Son­ne glit­zern, zu je­nen Ta­gen der Son­ne wol­len wir fah­ren, zu je­nem war­men Lich­te.«

»Des Glückes, Bet­sy, zu den er­sehn­ten Ta­gen des Glückes«, rief er lei­den­schaft­lich, in­des sei­ne fie­be­rig glän­zen­den Au­gen ihr hel­les Köpf­chen um­fin­gen, so daß sie sich voll glück­li­chen Er­be­bens, voll Freu­de über je­nes glän­zen­de ›mor­gen‹ ab­wand­te, daß ihre Lip­pen zit­ter­ten und das wei­ße Ge­sicht­chen sich, wei­ßen Ro­sen­blät­tern ähn­lich, strah­lend er­hell­te, daß sie ro­sig und freu­de­duf­tend wie der Mor­gen wur­de und wie ein heiß­er­sehn­ter Kuß ver­lo­ckend.

Sie ver­stumm­ten, denn sie merk­ten plötz­lich nach die­ser freu­di­gen Er­re­gung, daß die Gra­nit­stu­fen merk­wür­dig glatt und steil wa­ren, daß wun­der­sa­me Ge­sän­ge im­mer noch aus der Ka­the­dra­le dran­gen, daß rings um sie her eine Men­ge Leu­te mit stren­gen, rü­gen­den Bli­cken wa­ren. Sie be­gan­nen ei­lig die Trep­pen hin­un­ter­zu­ge­hen, dem Plat­ze, den grau­en trau­ri­gen Stra­ßen ent­ge­gen, un­ter schwe­re, nie­der­drücken­de Wöl­bun­gen, in den Ne­bel hin­ein, der in zer­ris­se­nen, schmut­zi­gen, grau­gel­ben Fet­zen her­un­ter­hing, in die­sen be­weg­li­chen, kleb­ri­gen, kal­ten, scheuß­li­chen Ne­bel, aus dem schmut­zi­ger Re­gen troff.

Da es Sonn­tag war, wa­ren die Stra­ßen fast leer und ganz still, sie er­schie­nen wie schwar­ze Tun­nel, zu­ge­deckt vom Ne­bel, der, wie Wat­te, die man von Wun­den ge­nom­men, gleich­sam von Ei­ter durch­tränkt schi­en, und der in schwam­mi­gen Knäu­eln im­mer tiefer in die Stra­ßen hin­ab­fiel, die Häu­ser über­schwemm­te und mit sei­ner schmut­zi­gen Flut die gan­ze Stadt er­säuf­te.

Die Ge­schäf­te wa­ren ge­schlos­sen, alle Tü­ren ver­ram­melt, die Bür­ger­stei­ge fast leer, und die schwar­zen Häu­ser stan­den trau­rig und wie in To­des­star­re da, -- ein Ge­wirr von stei­ner­nem Elend, voll von be­en­gen­dem Schwei­gen, völ­lig er­blin­det, denn alle Fens­ter wa­ren ver­hüllt; nur hier und dort in den hö­he­ren Stock­wer­ken, die ganz im Ne­bel ver­schwan­den, fla­cker­te ein ver­lo­re­nes Licht. Die Au­gen irr­ten ver­zwei­felt in die­ser trau­ri­gen Ne­belö­de, denn so­gar die Far­ben der un­zäh­li­gen Schil­der leuch­te­ten nur matt, in aus­ge­so­ge­nen, to­ten Far­ben.

Die Luft war drückend schwer, von Feuch­tig­keit durch­tränkt, von ei­nem Ge­ruch nach Schmutz und auf­ge­weich­tem As­phalt ge­füllt; und von al­len den im Ne­bel un­sicht­ba­ren Dä­chern, von al­len Bal­ko­nen, von al­len Schil­dern er­gos­sen sich Strö­me auf­sprit­zen­den Was­sers, es tropf­te von al­len Sei­ten, die Trau­fen dröhn­ten dumpf und un­auf­hör­lich, als bär­gen sie un­zäh­li­ge Gieß­bä­che.

»Wel­chen Weg wol­len wir ge­hen?« frag­te er und spann­te den Schirm auf.

»Am Strand, denn das ist der nächs­te.«

»So ei­lig ha­ben Sie’s, nach Hau­se zu kom­men?«

»Mir ist kalt, das ist der Grund.«

»Also wer­den wir heu­te nicht auf die Tan­ten war­ten?«

»Wir wer­den ih­nen we­nigs­tens ein­mal eine Über­ra­schung be­rei­ten, -- sie wer­den uns su­chen und nicht fin­den.«

»Ohne sehr bis­si­ge Kom­men­ta­re wird es da nicht ab­ge­hen.«

»Ich wer­de sa­gen, es wär’ Ihre Schuld, ätsch ...!«

»Es ist gut, ich wer­de mich weh­ren, und zwar tüch­tig; das ist doch schon lang­wei­lig, so je­den Sonn­tag wie von Amts we­gen in die Kir­che lau­fen zu müs­sen.«

»Ach, und wie lang­wei­lig, wie lang­wei­lig das ist! Nur er­wäh­nen Sie nichts da­von zu Hau­se, alle Tan­ten wä­ren ge­gen Sie!« rief sie fröh­lich und schmieg­te sich an sei­nen Arm.

»Wür­den Sie mich in Schutz neh­men, wie?«

»Nein, nein, denn auch ich bin schul­dig, denn auch mich lang­weilt das ...«

»Wes­we­gen ge­hor­chen Sie dann ei­nem Zwan­ge, der Ih­nen so un­an­ge­nehm ist?«

»Weil ich eine fürch­ter­li­che Angst vor den Tan­ten habe. So oft ich mich ge­gen sie auf­leh­nen woll­te, brauch­te nur Tan­te Dol­ly hin­ter ih­ren Bril­lenglä­sern her­vor mich an­zu­schau­en und Tan­te El­len zu sa­gen: Bet­sy! -- und schon war’s vor­bei mit mir ... Ich kann kein Wort mehr sa­gen, nur wei­nen möch­te ich, und es ist mir so pein­lich, so pein­lich ...«

»Miß Bet­sy, Sie sind noch ein großes Kind.«

»Aber ein­mal wer­de ich doch auch er­wach­sen sein, nicht wahr?« frag­te sie süß. »In ei­nem Jahr, da wer­de ich doch si­cher er­wach­sen sein«, füg­te sie mit ei­nem Lä­cheln hin­zu und barg ihr Ge­sicht im Muff; sie war er­rö­tet: in ei­nem Jahr soll­te ihre Hoch­zeit sein.

»O ja, ja«, rief er lus­tig und sah ihr in die Au­gen. »Ja, in ei­nem Jah­re wird Bet­sy er­wach­sen sein, in zehn Jah­ren so­gar eine Dame, in zwan­zig eine ach­tung­ge­bie­ten­de Ma­tro­ne, und in vier­zig wird Miß Bet­sy wie Miß Dol­ly sein, alt, grau, ge­bückt, wird die Bi­bel le­sen und wird die Jun­gen nicht mehr lei­den kön­nen und das La­chen und die Fes­te has­sen, -- Miß Bet­sy wird lang­wei­lig sein und nach Kam­pher rie­chen!«

»Nein, nein, nie wer­de ich so sein, nie­mals«, pro­tes­tier­te sie kla­gend, bei­na­he ent­setzt über die­se Mög­lich­keit, an die sie noch nie ge­dacht hat­te.

Auch er wur­de trau­rig; denn da er im Scherz ein so fer­nes Bild zeich­ne­te, zuck­te er plötz­lich zu­sam­men, wich wie in sei­ne ei­ge­nen Tie­fen zu­rück vor die­sem merk­wür­di­gen Spuk, der plötz­lich vor sei­nen Au­gen vor­bei­husch­te.

Da kam Bet­sy ihm ent­ge­gen, Bet­sy, alt, ge­beugt, elend, al­ler An­mut bar, die Rui­ne ei­nes Men­schen; sie ging wan­kend, stütz­te sich auf einen Stock und schau­te ihn an, mit den ein­ge­fal­le­nen Au­gen ei­nes un­er­gründ­li­chen Schmer­zes.

Er stock­te ent­setzt, doch ehe er im­stan­de war, sei­ne Ge­dan­ken zu sam­meln, zer­floß die Er­schei­nung im Ne­bel, auf dem Trot­toir war nie­mand zu se­hen, und ganz nahe bei ihm, an sei­nem Arme hän­gend, ging Bet­sy, strah­lend wie eine Blu­me, Bet­sy, der Früh­lings­duft selbst, die fleisch­ge­wor­de­ne Ju­gend ... Da lä­chel­te er sie zärt­lich an, als wäre er plötz­lich aus ei­nem schreck­li­chen Traum er­wacht.

»Was su­chen Sie?« frag­te sie, als er sich miß­trau­isch um­schau­te; denn er wuß­te nicht, ob das, was er ge­se­hen hat­te, in ihm oder vor ihm er­schie­nen war?

»Es schi­en mir, als gin­ge da ein Be­kann­ter vor uns.«

»Ich konn­te nie­mand se­hen, viel­leicht ha­ben Sie zwei Paar Au­gen«, sag­te sie lus­tig zwin­kernd und sah ihm da­bei ins Ge­sicht.

»Vi­el­leicht«, kam es ge­preßt von sei­nen Lip­pen, und er er­bleich­te im plötz­li­chen Ge­fühl des Grau­en­haf­ten die­ser Er­schei­nung. Ihn durch­drang der läh­men­de Schau­er des Rät­sels, doch er be­herrsch­te sich bald und schnell, un­merk­lich ver­senk­te er sei­ne Fal­ken­au­gen in ihr Ge­sicht, in ihr Haar; er kroch in die Tie­fe ih­rer sa­phirblau­en, von schwar­zen Wim­pern um­rahm­ten Au­gen, um­fing ih­ren schlan­ken, jun­gen Leib, lau­er­te auf ihre Be­we­gun­gen, als wol­le er un­will­kür­lich ihre Iden­ti­tät, ihr wirk­li­ches Da­sein fest­stel­len.

Er zuck­te voll Ab­scheu zu­sam­men; denn je­nes Ge­s­penst war ge­ra­de­zu häß­lich und wi­der­lich ge­we­sen. Und trotz al­le­dem konn­te er die Ver­glei­che nicht ein­stel­len, noch ein merk­wür­di­ges Ge­fühl der Un­ru­he und des Ge­quält­seins un­ter­drücken, so daß er nicht ein­mal ihre Fra­gen hör­te. Zum Glück ver­sperr­te ih­nen an der Ecke der Fleet­street un­ter ei­nem be­weg­li­chen Da­che von Schir­men eine Men­ge von Men­schen den Weg, die sich um einen laut pre­di­gen­den Mann ver­sam­melt hat­ten.

Sie ka­men nä­her, bis an die hohe, trans­por­ta­ble Red­ner­tri­bü­ne, auf der un­ter ei­nem Schirm ein hoch­ge­wach­se­ner, ro­ter und wohl­be­leib­ter Mann stand und, wäh­rend er un­auf­hör­lich den auf­ge­spann­ten Schirm von ei­ner Hand in die an­de­re nahm, mit hei­se­rer, sal­bungs­vol­ler Stim­me eine Art Pre­digt her­un­ter­schrie, die mit Bi­bel­gleich­nis­sen und Zi­ta­ten dicht durch­setzt war ... Zu­wei­len schrill­te er einen lei­den­schaft­lich dro­hen­den Schrei her­vor und blieb mit aus­ge­brei­te­ten Ar­men gleich­sam in der Luft hän­gen ... Dann trat ein Weib auf in schwar­zem Klei­de, mit ei­ner großen grü­nen Fe­der auf dem Hut, bleich und ha­ger, und schlug mit sol­cher Kraft einen un­ge­heu­er großen Tamtam, daß die Men­ge zu­rück­wich; vier Kin­der in lan­gen, wei­ßen, durch­näß­ten und be­schmutz­ten Klei­dern, mit Flü­geln an den Schul­tern, be­gan­nen mit piep­sen­den Stim­men eine Hym­ne zu sin­gen und um die Tri­bü­ne her­um­zu­tan­zen, wie um die Bun­des­la­de.

Der Pre­di­ger war der Be­grün­der ei­ner neu­en Sek­te, der Sek­te der »Furcht«.

Er sag­te das nahe Wel­ten­de vor­aus, ver­lang­te all­ge­mei­ne Buße, Ver­tei­lung al­ler Er­den­gü­ter, Zer­stö­rung der Städ­te, Ein­stel­lung jeg­li­cher Ar­beit, und daß man hin­aus­zie­he in die Wäl­der und Fel­der für die­se Tage der letz­ten Läu­te­run­gen.

Er pre­dig­te wild, aber mit hin­rei­ßen­der Kraft, und be­ach­te­te die Zu­hö­rer, die ihn ver­lach­ten, gar nicht. Je­mand warf ihm eine bren­nen­de Zi­gar­re ins Ge­sicht, ein an­de­rer be­spritz­te ihn mit Was­ser, und die üb­ri­gen be­glei­te­ten sei­ne Zi­ta­te mit ge­mei­nen Wit­zen und ei­nem blö­den, vie­hi­schen La­chen; doch am Ende über­wäl­tig­te er sie durch die Stär­ke sei­ner Be­geis­te­rung, be­herrsch­te er sie und nahm von ih­ren See­len Be­sitz. Sie ver­stumm­ten all­mäh­lich und fin­gen an auf­zu­wa­chen; ein Trun­ken­bold fiel vor der Tri­bü­ne auf die Kniee und woll­te laut sei­ne Sün­den beich­ten, ein Weib wie­der be­deck­te mit sei­nem ei­ge­nen Man­tel die vor Käl­te ganz blau­en Kin­der, vie­le hör­ten schon auf­merk­sam zu; und als das schwar­ze Weib mit der grü­nen Fe­der auf ei­nem Tel­ler ein­zu­sam­meln be­gann, fie­len eine Men­ge Pence, sie aber ver­teil­te da­für Sen­ten­zen aus der Apo­ka­lyp­se, die auf ro­tes Pa­pier ge­druckt wa­ren, und die Adres­sen der Kir­che, in der sich die Gläu­bi­gen zu ge­mein­sa­men Be­trach­tun­gen zu ver­sam­meln pfleg­ten.

Bet­sy warf einen gan­zen Schil­ling hin, was der Red­ner trotz sei­nes ek­sta­ti­schen Zu­stan­des blitz­schnell be­merk­te, denn er fing aus Lei­bes­kräf­ten zu ru­fen an:

»Eine Be­kehr­te, seht eine So­do­mi­te­rin, sie ist be­kehrt!«

»Ge­hen wir jetzt, ge­hen wir«, bat sie, un­ter den vie­len Bli­cken er­rö­tend.

»Ge­hen wir, denn noch einen Schil­ling, und er er­klärt Sie für hei­lig.«

Sie glit­ten aus der Men­ge und gin­gen schnell über das lee­re Trot­toir da­hin.

»An je­ner Ecke dort wird man auf die glei­che Wei­se er­löst«, be­merk­te er iro­nisch.