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Ein Vampir-Roman nicht im klassischen Sinne. Religiöser Wahn, Spiritismus und unerklärbare Phänomene schaffen ein dichtes, atmosphärisches Werk, das in der Vampir-Literatur absolut einzigartig ist. W_adys_aw Stanis_aw Reymont war ein polnischer Schriftsteller. Er erhielt 1924 für seinen vierbändigen, nach Jahreszeiten unterteilten Roman Die Bauern den Literatur-Nobelpreis. 2. Auflage Umfang: 327 Buchseiten bzw. 283 Normseiten Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 341
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Władysław Stanisław Reymont
Der Vampir
Władysław Stanisław Reymont
Der Vampir
– Vollständige Ausgabe –
Übersetzung: Leon Richter, 1914
Überarbeitung, Umschlaggestaltung: Null Papier Verlag
2. Auflage, ISBN 978-3-95418-452-1
Umfang: 283 Normseiten bzw. 327 Buchseiten
www.null-papier.de/99cent
Władysław Stanisław Reymont (* 7. Mai 1867 in Kobiele Wielkie bei Radomsko; † 5. Dezember 1925 in Warschau), eigentlich Rejment, war ein polnischer Schriftsteller.
Reymont ließ sich 1893 in Warschau als Schriftsteller nieder, wo er 1896 seinen ersten Roman Die Komödiantin veröffentlichte. Reymont gehörte zum Kreis der Dichter der Młoda Polska (Junges Polen).
Er erhielt 1924 für seinen vierbändigen, nach Jahreszeiten unterteilten Roman Die Bauern den Literatur-Nobelpreis. Der Władysław-Reymont-Flughafen Łódź wurde ihm zu Ehren benannt.
Werksauszug:
Komediantka (Die Komödiantin, 1896)
Fermenty (Die Herrin, 1897)
Ziemia obiecana (Das gelobte Land, 1898 und öfter), verfilmt durch Andrzej Wajda
Rok 1794 (Trilogie Das Jahr 1794 1914–1919)
Band 1: Ostatni Sejm Rzeczypospolitej (Der letzte polnische Reichstag)
Band 2: Nil desperandum
Band 3: Insurekcja (Der Aufstand)
Wampir (Der Vampir, 1911)
Bunt (Die Empörung, 1924)
Alle Lichter waren erloschen, nur durch die Fensterscheiben schimmerte in einer grünlichen Kristallkugel ein kaum sichtbares, scheues Flämmchen, wie ein Glühwürmchen in dunkler Nacht. – Ganz plötzlich trat Stille ein, eine Stille voll quälender Erwartung.
Sie saßen da, lauernd, in sich versunken, wie tot, voll peinigender Unruhe und voll eines kaum zu zähmenden Erzitterns der Angst.
Die Zeit floß langsam dahin, in erschreckendem Schweigen, in der lähmenden, entsetzlichen Stille banger Vorahnungen; nur hin und wieder hörte man in der Dunkelheit mühsam unterdrückte Seufzer, oder die Diele knarrte, daß sie heftig zusammenschraken; dann wieder summte etwas Undefinierbares um ihre Köpfe, wie der Flug eines Vogels, schwirrte im Zimmer umher und kühlte mit eisigkaltem Hauch ihre erhitzten Gesichter, um schließlich im nebligen Dunkel, leise weinend gleichsam, zu ersterben … Und wieder verflossen lange Augenblicke, eine Ewigkeit, Augenblicke quälenden Schweigens und der Erwartung.
Plötzlich erbebte der Tisch, geriet in gewaltsam schaukelnde Bewegungen, erhob sich in die Luft und sank dann ohne jedes Geräusch wieder auf den Boden. Ein eisiger Schauer erschütterte die Herzen … Einer schrie auf … ein andrer schluchzte nervös… wieder ein andrer sprang empor, als wolle er fliehen. Der heiße Hauch der Angst war im Dunkel verweht und vergrub sich mit einem schmerzhaft marternden Beben in die Seelen; doch bald war alles erloschen, unterdrückt durch das schreckliche Verlangen nach Wundern. Ein Wunder erflehten ihre Angstgefühle und ihre Seelen, die, wie auf die Folterbank gespannt, in schmerzlicher Sehnsucht bebten.
Das Schweigen wurde noch tiefer, man hielt den Atem an, dämpfte das ängstliche Schlagen der Herzen, spannte alle Willenskraft, um nicht zu erzittern, nicht zu flüstern, noch sich zu bewegen, um nicht einmal aufzuschauen und in einer Stille zu erstarren, so tief, daß das leise Ticken einer Uhr an den Herzen bohrte, mit unaufhörlichem Ticktack, und in den Schläfen hämmerte mit schweren Hämmern.
Ein dumpfes, klagendes, verwehendes und fernes Schäumen, wie das Schäumen der Meeresflut, brauste eintönig hinter den Fenstern, der Regen schlug unaufhörlich an die feuchtgrauen Scheiben, ließ sie leise erklingen, floß an ihnen in langen Perlenketten herab und flüsterte wie im Traume, flüsterte bang; der Wind zerrte an den Laden und sank mit unterdrücktem klagendem Schrei wie tot an den Mauern herab. Und Bäume, die aussahen wie Wolkenfetzen, blinde, stumme Bäume neigten sich still zu den Fenstern, bebten als kaum faßbare Schatten, – wie ein Traum, dessen man sich nicht mehr erinnern kann, und verschwanden im Nebel wie ein Traum.
Und das Zimmer war immer noch dumpf, stumm und abgrundtief, nur das grünliche Flämmchen zitterte unaufhörlich, gleich einem Stern, der sich in einem schwarzen, tiefen See widerspiegelt; oder irgendein Blick flammte plötzlich auf und erstarb gleich wieder im trüben Dunkel, das voll war von unfaßbarem Beben, unfertigen Bewegungen, beunruhigendem Zittern, ersterbendem Flüstern, verglimmendem Schillern und einer kauernden, fröstelnden Angst.
Der Tisch riß sich wieder unter den Händen los, stieß die Sitzenden auseinander, erhob sich gewaltsam und fiel mit lautem Gepolter auf seinen Platz zurück… Die Kette der Hände wurde unterbrochen, Schreie wurden laut, jemand sprang seitwärts, zum Licht.
»Still! … Auf die Plätze! … Still!« ertönte eine befehlende Stimme.
Die Hände verflochten sich wieder zu einer unzerreißbaren Kette, alle verstummten plötzlich, doch niemand mehr vermochte das nervöse Zittern zu unterdrücken, die Hände bebten, die Herzen pochten, und die Seelen durchwehte ein Sturm heiliger Angst; man neigte sich über den Tisch, wie über ein unerklärliches, geheimnisvolles Wesen, dessen kleinste Bewegung ein sichtbares, lebendiges Wunder wäre.
Yoe, der den Vorsitz führte, begann ein Gebet zu flüstern, und nach seinem Beispiel begannen sie mit bebenden Lippen die Worte nachzusprechen, immer schneller, immer stärker, daß das Dunkel erfüllt wurde von leidenschaftlichem, gleichsam aus dem Herzen, aus der Tiefe verblendeter Seelen gerissenem Geflüster … Glühend waren ihre Worte in ihrem Verlangen, ihrer Sehnsucht nach dem Wunder.
Plötzlich ertönten aus dem anderen Zimmer oder aus irgendeiner Tiefe hervor die gedämpften Klänge eines Harmoniums. Das Jammern erstarb in den gepreßten Kehlen, die Seelen verfielen in traumhafte Schauer, wie vor dem Tode; denn niemand hatte diese Musik erwartet, niemand wußte, woher diese Töne kämen, niemand war sich klar darüber, ob das wirkliche, lebendige Töne wären, oder nur eine süße Täuschung.
Sie sanken mit der Brust auf den Tisch, denn niemand mehr hatte Kraft, sie hielten sich krampfhaft an den Händen, hatten Angst davor, einander loszulassen, hatten Angst, in die Einsamkeit zu versinken … sie drängten sich mit den Schultern fester aneinander und vertieften sich zusammengedrängt, zitternd in diese wundersamen Töne, die wie ein liebkosender Wind über die Saiten einer unsichtbaren Harfe dahinglitten.
Und so sehr vergaßen sie alles, daß niemand wußte, ob dies nun Wirklichkeit oder nur ein zauberschöner Traum wäre.
Und die Musik füllte das Dunkel mit dem Opferbeben eines inbrünstigen Gebetes, mit dem Tau silberheller Töne, dem Hauch einer so süßen Melodie, daß die Seelen in seligkeittrunkne Träume versanken, gleich den Blumen in einer Mondnacht.
Und die Musik ließ ein feierliches, gewaltiges, weithinschallendes Lied ertönen, als sänge die ganze Welt.
Und mit dem Schrei der Seele, die im Weltall irrt, schluchzte sie traurig.
Und sie erhob sich höher, – bis zu den Hymnen seliger Verzückung und in die Fernen einer Sehnsucht, als wäre sie die Emanation eines neuen Seins, das aus dem Geheimnis und der Sehnsucht geboren wird.
Noch waren die Menschen im Banne der Töne, noch wiegten sich die Seelen im Rhythmus der leise ersterbenden Klänge, als die Tür des Vorzimmers weit aufging, ein breiter Lichtstreifen über den Fußboden fiel und auf der Schwelle eine hohe leuchtende Gestalt erschien.
Sie sprangen von ihren Plätzen empor, doch ehe noch einer zu schreien vermochte, bewegte sich jene Gestalt und schritt langsam über den Lichtstreifen daher. Sie ging steif und schwer, mit ausgestreckten Armen, jeden Augenblick stehenbleibend und sich leicht wiegend.
Die Tür schloß sich ohne Geräusch, und wieder herrschte tiefes Dunkel.
»Wer bist du?« so erzitterte eine gepreßte Frage.
»Daisy«, erklang ein Flüstern, das nichts Körperliches mehr an sich hatte.
»Wirst du lange bei uns verweilen?«
»Nein … Nein.«
»Wo ist dein Körper?«
»Dort … Im Zimmer … Ich schlafe … Du riefst … Ich kam … Guru …«
Das Flüstern verwirrte sich und wurde so leise, daß nur klanglose abgerissene Töne in der Dunkelheit wisperten …
Mr. Yoe drückte auf den Knopf, und das ganze Zimmer wurde von elektrischem Licht überflutet.
»Daisy!« schrie einer, ihr nachstürzend, blieb aber plötzlich stehen, wie vom Blitz getroffen, denn sie hatte ihm ihr blindes Gesicht zugewendet und versuchte etwas zu sagen, ihre Lippen bewegten sich.
»Nein, nein, Daisy … Dieselbe und doch fremd, eine andere zugleich.« Er neigte sich verwundert vor und umfing mit lauerndem, ängstlichem Blick ihr Gesicht und ihre ganze Gestalt … »Dasselbe Gesicht, und doch die Züge anders, fremd … Fremd … Daisy! Nein … Nein …« schrie es in ihm; das Erstaunen und die Erinnerung verflochten sich in seinem Hirn mit dem Blitzen des Wahnsinns, der Angst und eines grauenhaften Entsetzens.
Er verstand nichts, er konnte diesen wunderlichen Wechsel nicht verstehen, es schien ihm, daß er tief träume, daß ein Spiegelbild Daisys vor ihm stehe und bald zerfließen würde, verschwinden wie eine Erscheinung, sofort … Er schloß die Augen und öffnete sie gleich wieder, aber Daisy stand an der alten Stelle, sie war da, er sah sie in den kleinsten Einzelheiten: da wich er plötzlich zurück, denn sie schaute ihn mit einem traurigen, abgrundtiefen, fremden Blick an, der so schrecklich war, daß er tief, auf den tiefsten Grund der Angst, hinabstürzte.
Alle standen in der gleichen eisigen Erstattung da.
Mr. Yoe aber näherte sich Daisy ängstlich und berührte mit den Fingern ihre Augenlider, – sie zuckten heftig und sanken dann schlaff herab. Dann berührte er der Reihe nach ihre Schläfen, ihre Hände, ihre Arme, machte einige Striche über ihrem Kopfe, trat zurück und sagte befehlend: »Komm!«
Sie rührte sich nicht von der Stelle.
»Komm!« rief er fester, langsam zurückweichend, doch ohne seinen Blick von ihr zu lassen …
Sie zuckte plötzlich und begann, als koste es sie viel Mühe, sich von dem Fußboden loszureißen, ihm nachzugleiten, mit steifen automatischen Bewegungen, in die Tiefe des benachbarten Zimmers hinein, das hell erleuchtet war … Niemand hatte sich während dieser Zeit bewegt, noch lauter geseufzt, noch auch nur gezuckt; alle Augen folgten ihr.
Mr. Yoe nahm sie bei der Hand und führte sie zu einem großen Sofa, das mitten im Zimmer stand; auf dieses fiel sie kraftlos hin.
»Kannst du sprechen?« fragte er und neigte sich über sie.
»Ich kann …«
»Bist du Daisy selbst?«
»Frage nicht …!«
»Stört vielleicht jemand von uns?«
»Nein … Nein … Was könnte den Willen des ›A‹ stören!« sagte sie.
Sie sprach mit einer Stimme, die nicht ihre Stimme war, sondern fremd war und manchmal, als käme sie aus einem Grammophon, wie die Stimme einer Leiche; sie drang mit leblosem Geflüster direkt aus der Kehle hervor, denn Daisy bewegte ihre Lippen nicht, noch irgendeinen Muskel ihres Gesichts.
»Also dürfen alle im Zimmer bleiben?« fragte Mr. Yoe wieder.
Sie antwortete nicht, sondern machte eine ungeduldige Bewegung, während sie die schweren Lider hob, so daß das Weiße der Augäpfel sichtbar wurde; ein Lächeln huschte über ihr kreidebleiches Gesicht, sie streckte ihre Hand in die Leere, als wollte sie irgendeinen Unsichtbaren begrüßen, und begann etwas halblaut zu flüstern.
Mr. Yoe horchte aufmerksam, doch vergebens bemühte er sich, etwas zu verstehen, – sie sprach in einer ganz fremden Sprache.
»Was sprichst du?« sagte er nach einer Weile, seine Hand auf ihre Stirn legend.
»Sarwatassida!«
»Der Mahatma?«
»Der, welcher ist, welcher alles ausfüllt, welcher ist das ›A‹, mein Geist …«
»Will er durch dich sprechen?«
»Quäle mich nicht …«
»Wird heute etwas geschehen? Die Brüder sind versammelt, sie warten in Angst, harren flehend auf ein Zeichen, ein Wunder …«
»Keiner der Leibbehafteten ist eines Wunders würdig! Keiner …!« dröhnte eine starke, gewaltige, männliche Stimme, die so laut war, als käme sie aus einer ehernen Posaune.
Yoe wich entsetzt zurück, ließ seine Augen ringsumher schweifen, doch im Zimmer war niemand; Daisy lag starr da, ohne sich zu bewegen, die Lichter brannten hell, und die ganze Gruppe der Versammelten stand im andern Zimmer, ihm gegenüber.
»Er soll spielen, er!« flüsterte sie und erhob sich und wies auf Zenon, doch fiel sie gleich wieder nach hinten zurück, ausgestreckt, steif, und so blieb sie liegen.
Vergebens bemühte sich Yoe, sie zum Sprechen zu zwingen, – sie lag leblos da wie eine Leiche; ihre Hände waren kalt, ihr Gesicht mit eisigem Schweiße bedeckt.
»Eine vollständige Katalepsie, ich verstehe nichts mehr«, flüsterte er ängstlich.
»Was werden wir anfangen?« fragte einer.
»Wir wollen beten und warten.«
»Ist das wirklich Daisy?« fragte Zenon.
»Daisy … Ich weiß nicht, es kann sein … Aber ich weiß nicht.«
Die Tür des runden Zimmers, wo sie lag, schlug mit heftigem Krachen zu.
»Setzen, Ruhe … Wir fangen an! …«
Zenon setzte sich an das Harmonium, das in einer tiefen Nische rechts stand, gegenüber den Fenstern, und begann leise zu spielen.
Da erloschen plötzlich die Lichter, sie flimmerten noch eine Weile, aber dann glänzte nur noch die kristallene Kugel in einem grünlichen zitternden Licht.
Sie setzten sich an die Wand, einer neben den andern, doch jetzt bildeten sie keine Kette mehr.
Zenon spielte eine erhebende Hymne; die gedämpften Töne klangen in einen süßen Choral zusammen, der aus weiter Ferne zu kommen schien, als flösse er von dem Grunde unendlich tiefer Meere empor; dann verrann er im undurchdringlichen Dunkel.
Yoe aber kniete hin und begann halblaut zu beten, eine Weile hörte man das Rücken der Stühle, das Knarren der Diele, es waren wohl alle hingekniet, denn das Flüstern der betenden Stimmen wurde lauter, glühender und hörte sich an wie strömender Regen, es schien die ergreifenden Wellen der Musik zu begleiten.
Zenon spielte immer leiser, die Klänge erstarben langsam, verstummten und fielen schwer herab wie erstarrte Perlen, so daß nur vereinzelte Akkorde, gleich verlorenen Seufzern, durch die Stille irrten, dann wieder zurückkehrten und hartnäckig schluchzten, – ergreifend.
Nach einer langen Weile toten Schweigens erhoben sie sich wieder, wie ein Schrei in der Wüste, – ein plötzlicher, durchdringender, schrecklicher Schrei.
Und wieder sank Grabesstille herab, aus der sich hin und wieder irre, einsam schluchzende Akkorde herausrissen … Das Gebet verstummte, doch diese monotone Stimme erhob sich jeden Augenblick, wurde leiser … starb … und kam wieder … und klagte wieder … wieder irrte sie umher; ein Schauer ließ alle erzittern, denn die Stimme war wie Verzweiflung, wie der Schrei von Menschen, die in einen Abgrund stürzen.
Yoe konnte sich nicht mehr beherrschen und drehte das Licht an.
Zenon saß wie leblos da, seine Augen waren geschlossen, sein Kopf war auf die Lehne des Stuhles gebeugt, die rechte Hand lag regungslos auf dem Knie, und die linke bewegte er mechanisch, ab und zu eine Taste anschlagend …
»Er ist im Trance«, flüsterte Yoe, das Licht wieder abdrehend. Im Zimmer wurde es geradezu schrecklich, sie saßen schweigend wie in einem Grabe, zusammengekauert unter der schmerzhaften Anspannung der Angst und der Erwartung, ihre Augen irrten im Dunkel umher und klammerten sich an das eine Flämmchen, wie an die Erlösung.
Eine merkwürdige Kühle wehte von den Wänden, so daß alle, trotzdem sie durch die Erregung erhitzt waren, vor Kälte zitterten.
Die Stille war nicht mehr zu ertragen, und dieser immer wiederkehrende monotone Akkord durchrieselte sie mit immer glühenderer Qual.
Plötzlich schien im Dunkel etwas zu werden. Zuerst begannen die Schiefertafeln, die auf dem Tische lagen, sich zu erheben und wieder zu fallen, als werfe sie jemand in die Luft; schließlich schlugen sie gegen die Decke an, und die zerschlagenen Scherben stürzten klirrend auf den Fußboden.
Nach einer Weile begannen sich im Dunkel unzählige zitternde Funken zu verstreuen, die jedoch so klein, so winzig warm, daß sie phosphoreszierendem Moder glichen; sie fielen als glänzender Tau herab, glitten an den Wänden herunter, wurden langsam dichter und leuchteten immer stärker, während sie das Zimmer mit einer leuchtenden, flackernden Wolke erfüllten, wie mit bläulich glänzendem Schnee, der ohne Geräusch in großen flaumigen Flocken zur Erde fällt.
»Om!« so erdröhnte durch die Stille eine helle, kristallene Stimme, und sie neigten ihre Köpfe und begannen im Chor voll scheuer Demut und Rührung mit gedämpften Stimmen flehend zu stöhnen: »Om! Om! Om!« Der Funkenregen wurde noch stärker, das Zimmer sah jetzt einer dunkelblauen Grotte gleich, durch die ein Strom von Sternstäubchen fließt, – so leuchtend, daß die Wände, die Türen, die Bilder, die Möbel und die fahlen, verängsteten Gesichter deutlicher zu sehen waren durch dieses zitternde, unaufhörlich niedersinkende Gewebe von Funken. Die nebelhaften Umrisse einer Gestalt, ein leuchtendes Trugbild, ein Gespenst aus Licht gewebt erschien plötzlich in der Tür des Zimmers, wo die Eingeschläferte lag.
»Om! Om!« flüsterten alle immer leiser, während sie an die Wand zurückwichen; und an diese gedrängt, erstarrten sie in heiligem Grauen.
Die Erscheinung hob sich, wie eine Blume aus zerstobenen Flammen, in die Höhe; es war, als sei sie aus dem Licht emporgestiegen, aus dem sich immerfort die Umrisse einer menschlichen Gestalt bildeten, um wieder in unzählige Funken zu zerstieben.
Der Funkenregen erlosch, das Zimmer wurde finster, nur die Erscheinung erhob sich langsam, in einer stark leuchtenden, gelblichen Wolke, bewegte sich einige Fuß über der Erde, wurde zuweilen in ihrer menschlichen Gestalt so deutlich, daß man genau das Gesicht einer Frau sehen konnte, von langen Haaren umrahmt, die Umrisse der Schultern und der ganzen Gestalt; und für ganz, ganz kurze Augenblicke schimmerte auch ein bläuliches, von Flammen erleuchtetes Kleid, doch war es nicht möglich, die Züge zu erkennen, denn dieses immer nur Augenblicke währende Zusammenschießen des Lichts, dieser blendende Lichtstoff, aus dem sie bestand, diese leuchtenden toten Zuckungen vermischten sich immer wieder, verschwammen wie in einem Strudel, so daß aller Augenblicke die Umrisse sich in leuchtenden Staub auflösten und wieder von neuem hervortraten.
Für eine längere Weile wurde die Erscheinung zu einer vollkommenen menschlichen Gestalt, sie rückte so nahe heran, daß ein wahnsinniger Schreck gleich einem Blitzstrahl in die Versammelten fuhr, sie glitt dicht vor ihnen dahin, während sie mit ihrem entsetzlichen Antlitz näher kam; ein blindes Antlitz, ohne Züge, wie eine Kugel, nur grob behauen, mit schwarzen Löchern, eine Larve, ähnlich einem nebligen Funkenknäuel, – die Fratze eines quälenden Traumes und des Entsetzens.
Sie huschte von einem zum anderen, mit leeren Augenhöhlen in ihre erstorbenen, vor Angst erkalteten Augen starrend; und glatte, feuchte Hände, wie aus erwärmten Kautschuk, schreckliche Hände, die Leichenhände eines unsagbaren Entsetzens berührten alle Gesichter.
Jemand seufzte schwer auf, wie in einem quälenden Traume, und die Erscheinung zerfloß in demselben Augenblick zu einen schimmernden Nebelschwaden.
Doch ehe die Versammelten sich noch von diesem Schrecken erholt hatten, erschien sie wieder in der Nische neben Zenon.
»Daisy!« schrie Yoe, ohne es zu wissen.
Alle übrigen hatten sie gleichfalls erkannt; ja, sie stand dort, man konnte es genau sehen; jeder Zug ihres Gesichtes trat scharf hervor in dieser wunderbaren Helligkeit, die sie selbst ausstrahlte, jede Einzelheit ihrer Gestalt, sogar die Farbe ihrer Haare, die ihnen so gut bekannt war. Sie waren der tiefsten Überzeugung, sie selbst stehe dort in dem sanften Lichte der Ausstrahlungen, wie in einer lichten Wolke.
Sie neigte sich über den Schlafenden, als wolle sie ihm etwas ins Ohr flüstern, und er erhob sich und reichte ihr mit einem nicht in Worte zu kleidenden Lächeln die Hand; und plötzlich zerfiel er wie ein vom Blitzstrahl gespaltener Baum in zwei Personen … Er saß in der früheren Haltung, den Kopf auf die Lehne des Stuhles gesenkt, und stand zugleich in zweiter Person gebückt vor ihr.
Ein Schrei der Verblüffung entfuhr allen, erstarb aber sofort, denn plötzlich ging die Tür des runden Zimmers auf, und man erblickte Daisy, die auf dem Sofa lag. Ihre beiden Körper lagen in tiefem Schlafe, und gleichzeitig bewegten sich gerade vor ihnen in der Dunkelheit zwei Erscheinungen, zwei Gespenster oder zwei Seelen, in sichtbare Gestalt gehüllt, von Licht überflutet, – Spiegelbilder gleichsam von Daisy und Zenon.
Wie lange das währte? … Einen Augenblick, oder eine Ewigkeit … Das wußte niemand, niemand dachte darüber nach, niemand konnte es verstehen.
In heilige Verzückung verfielen die Seelen, und alle knieten sie da im heiligen Grauen des Wunders …
In diesem heiligen Augenblick der Gnade hatte Isis den Saum des Vorhangs vor denen gelüftet, die nach dem Lichte verlangten, die Träume wurden mehr denn Wirklichkeit, denn sie wurden zu einem Wunder, einem unverständlichen, geheimnisvollen, aber einem Wunder, das mit lebendigen Augen gesehen wurde.
Alle fühlten sich am Rande des Unerkennbaren hängend, wie in den Tiefen des Werdens selbst und eines nie gedachten Seins und jener Dinge, die der Menschen blinde Augen nie verstehen werden.
Versunken war jede Erinnerung des Erdenlebens, aller Erdenstaub war von den Seelen gewichen, jeder Gedanke zu Asche verbrannt, so daß sie einzig und allein im Keime des Seins selbst verblieben, vor dem sich alle Geheimnisse enthüllen; denn, siehe, dort, einige Schritte von ihnen entfernt, schwebten zwei leuchtende Gestalten, und das unfaßbare Wunder währte … Die Schatten zeichneten Umrisse, bildeten einen Rahmen, in dem die Lichterscheinungen um so deutlicher strahlten, wie Säulen von erstorbenen Funken, die sich von Ort zu Ort bewegten, ohne jedes Geräusch und in solchem Schweigen, daß alle das beschleunigte Schlagen ihrer eignen Herzen hörten.
Langsam, in einem ungreifbaren Augenblick, begannen die Visionen zu erblassen, zu erlöschen, unsichtbar zu werden, wurden sie von der Dunkelheit aufgesogen; die Köpfe nur blieben etwas länger sichtbar, wie Lichtblumen, von Schattenwellen geschaukelt, stets waren sie beieinander; mit zögernden, zitternden Bewegungen fortwallend, verschwanden sie auf Augenblicke in zerstiebenden Lichtgarben und tauchten wieder auf, aber jetzt schon blasser, verschwindender, durchsichtiger, nebligen Gestalten auf Glasbildern vergleichbar; noch leuchteten die Augen mit der früheren Kraft, dem früheren Leben, doch schon verschwammen die Züge, schon erstarb die menschliche Gestalt, – bis auch die Blicke getrübt erloschen, als wären sie plötzlich in den Nebel untergetaucht; dann verschwanden sie, lösten sich in weißliche Stäubchen auf, die langsam erblichen.
Alles war zu Ende, wieder umfing die Menschen Nacht und Schweigen, doch niemand rührte sich von seinem Platze, die ohnmächtigen Herzen schlugen kaum, die Gedanken schleppten sich träge und ungern fort, erhoben sich wie aus der Lethargie der Verzückung und des Zaubers.
Ach, wieder das Leben, wieder die dumme Wirklichkeit, wieder derselbe Alltag, der Tag der nie endenwollenden Qual und der Sehnsucht, – wieder! …
Das dumpfe, ferne Brausen der Stadt schlug mit eintönigem Geräusch an die Fenster, der Regen trommelte an die Scheiben, und das Flämmchen in der Kristallkugel flackerte mit seinem grünlichen, geheimnisvollen Auge, wie die nie zu ergründende Sehnsucht, wie die Erinnerung an vergangene, nie wiederkehrende Dinge.
Erst nach geraumer Zeit hatte Yoe sich wieder in der Gewalt und machte Licht.
Die Tür zum runden Zimmer war geschlossen, Zenon aber saß eingeschläfert an seinem alten Platze vor dem Harmonium.
»Man sollte ihn wecken, – es wird ihn zu sehr erschöpfen.«
Doch ehe man dies getan, wachte er von selbst auf und erhob sich.
»Mir scheint, daß ich geschlafen habe«, flüsterte er, seine Augen reibend.
»Du bist gleich eingeschlafen.«
»Nein –, ich spielte doch etwas; mir scheint: Bach.«
»Du spieltest auch später.«
»Im Traum?«
»Du warst im Trance.«
»Und ich spielte! Richtig, ich erinnere mich an eine Melodie … Sofort … Ich kann sie nicht festhalten … In meiner Erinnerung jagen sich irgendwelche versprengte Töne, – aber das ist doch merkwürdig, noch nie bin ich in einen derartigen Traum verfallen …«
»Erinnerst du dich an nichts mehr als an diese Melodie?«
»Nein, – und Daisy? …«
»Sie schläft noch …«
Zenon öffnete die Tür zum runden Zimmer und stand ganz verblüfft da.
»Aber da ist sie ja … Ich schlief doch nicht. Was redet ihr mir ein? Vor einem Augenblick sprach ich noch mit ihr … Wir gingen zusammen durch einen Park … Ja … Ich erinnere mich … Blaue Bäume … sagte sie … Sofort … Wo war das …«
Er schaute sich plötzlich ängstlich um.
Alle standen sie da und starrten ihn an, neugierig und schweigend.
»Es ist etwas mit mir geschehen, woran ich mich nicht mehr erinnern kann … Ich habe so merkwürdiges Kopfweh.«
Er wankte, daß Yoe ihn umfassen und auf einen Stuhl setzen mußte.
Lange saß er unbeweglich, in sich versunken, als schaue er in weite, unsichtbare Fernen, voll von Traumvisionen, deren man sich nicht mehr erinnern kann, und bemühte sich vergebens, auch nur ein Bild zusammenzusetzen, auch nur einen Gedanken herauszuschälen aus diesen wirr umherflatternden Fetzen unter seiner Schädeldecke; er versank im immer dichteren Nebel des Vergessens; der Rest der blassen, verschwindenden Erinnerung zerstob, als er ihn fassen wollte, diese letzten Strahlen erloschen, es blieb nur eine dumpfe, schmerzliche Sehnsucht nach dem, was versunken war in ungekannte Tiefen, so daß er die Augen weit öffnete, als wäre er von neuem erwacht, dann alle anschaute und aufstand.
»Ich bin so merkwürdig müde und erschöpft, daß ich mich kaum auf den Beinen zu halten vermag«, klagte er traurig.
»Geh, leg dich schlafen«, flüsterte ihm Yoe zu.
»Wahrhaftig, das wird das beste sein.«
»Ich will dich nach deiner Wohnung begleiten.«
»Ja, aber ich werde doch nicht auf der Treppe einschlafen.«
Er lachte fröhlich auf und ging ins Vorzimmer hinaus; doch als er schon im Begriff war, auf den Flur hinauszugehen, kehrte er um und fragte leise:
»Schläft Daisy noch?«
»Sie schläft, doch ich will sie sofort wecken gehen.«
»Ist die Seance gelungen?«
»Außerordentlich; morgen werde ich dir die Einzelheiten erzählen.«
»Aber warum bin ich eingeschlafen? Ich kann mir das nicht verzeihen.«
Er ging langsam die Treppen herunter, ganz automatisch, beinahe, als wüßte er nichts davon; dann im ersten Stockwerk blieb er stehen, schaute sich aufmerksam um und erwachte gleichsam zum dritten Male …
Er erinnerte sich plötzlich, daß er auf einer Seance gewesen war, und daß er gespielt hatte.
Er schüttelte sich, ein eisiger Schauer ging ihm durch und durch, er fühlte sich unsagbar müde und merkwürdig schmerzlich beunruhigt, irgendeine Melodie begann sich in seinem Gedächtnis zu spinnen, so daß er anfing, sie leise vor sich hinzusummen.
Der Korridor war breit, mit einem roten Teppich belegt, still und vollständig leer, doch hell erleuchtet, denn eine Reihe von Opalblumen an der Decke verbreitete elektrisches Licht; die weißen Wände, die nur hier und da von Türen unterbrochen wurden, zogen sich in langer, eintöniger Linie dahin, voll Langeweile.
Irgendwo schlug eine Uhr langsam die Stunde an.
»Schon sieben! Ganze zwei Stunden hat die Seance gedauert«, flüsterte er verwundert und erhob die Augen, um es auf der Uhr festzustellen; doch da er eine Dame sah, die vom anderen Ende des Flurs kam, ging er ihr schneller entgegen, – ehe er sie noch erreicht hatte, blieb er wie versteinert stehen.
»Daisy?« schrie er, an die Wand zurückweichend.
Miß Daisy ging vorbei und grüßte ihn mit einer leichten Neigung des Kopfes, höflich und etwas erhaben wie immer; ein kleiner Groom folgte ihr mit einer großen Schachtel in der Hand. Er stand eine Weile mit geschlossenen Augen da, überzeugt, es sei dies eine Einbildung oder Halluzination; denn wie wäre etwas anderes möglich gewesen? Vor einer Weile hatte er sie dort schlafend in jenem Zimmer verlassen, wo die Seance stattfand, er hatte sie mit seinen eigenen Augen gesehen, er erinnerte sich dessen … Und sie sollte jetzt hier sein, zum Ausgehen gekleidet, von der entgegengesetzten Seite kommend … Nein, das war eine Halluzination.
Er öffnete plötzlich die Augen. Miß Daisy war schon am Ende des Korridors und bog gerade zur Haupttreppe ab.
Mit einem übermenschlichen Sprunge war er plötzlich dort und sah, auf die Brüstung gestützt, wie sie die breiten Stufen hinunterging …
Sie ging langsam, die Schleppe des Kleides schleifte über die breiten Marmorstufen, ein resedafarbener pelzverbrämter Mantel hüllte ihre hohe, schlanke Gestalt ein, die hellen Haare fielen in einzelnen, wirren Strähnen unter einem großen schwarzen Hut hervor … Er sah diese Einzelheiten genau, er hörte jeden ihrer Schritte … fühlte jede ihrer Bewegungen.
Und an der Biegung zum Vorflur wendete sie ihren Kopf, ihre Blicke kreuzten sich wie Blitze, schlugen zusammen und stoben wieder auseinander, so daß er ganz unbewußt in den Schatten zurückwich … Doch er hörte ihre Stimme … das Zuschlagen der Tür … ihre Schritte auf den Fliesen im Flur … das dumpfe Getrappel der Pferde auf dem Asphalt der Einfahrt … das gleitende Geräusch des fortrollenden Wagens …
»Wer ist hier gerade fortgefahren?« fragte er nach einer Weile den Pförtner.
»Miß Daisy!«
Er entgegnete schon nichts mehr, denn er spürte plötzlich, daß ihn eine schwere, unbezwingbare Schlafsucht befallen hatte. Er kehrte zum ersten Stock zurück und fand mechanisch seine Wohnung; lange irrte er darin umher und stieß fortwährend an die Möbel an, lange tastete er umher, ohne zu wissen, was er tun wolle, was mit ihm geschehen wäre, wo er sei …
Er sank auf einen Stuhl und blieb unbeweglich, steif vor Entsetzen, hatte er sie doch wieder beide zugleich gesehen, jene, die auf dem Sofa schlief, und diese hier, wie sie die Treppen hinunterging … Mit einer letzten bewußten Bewegung drehte er das Licht an und schellte.
Das Zimmermädchen trat ein.
»Ist Miß Daisy schon wieder da?« fragte er nach langem Schweigen, nur völlig bei Bewußtsein.
»Die Miß ist erst vor einem Augenblick ausgefahren.«
»Aber ist sie schon lange vor dieser Ausfahrt zurückgewesen?«
»Sie ist nirgends gewesen, – sie hatte sich gegen Abend hingelegt und geschlafen. Ich habe sie vor kurzer Zeit selbst geweckt.«
»Sie hat geschlafen und ist nicht fortgewesen … nirgends?«
»Ja, ganz bestimmt nicht …«
»Sie war im zweiten Stock bei Mr. Yoe.«
»Nein, ich versichere Ihnen, daß sie nicht fortgewesen ist.«
»Das ist nicht wahr!« schrie er in einem plötzlichen Wutanfall.
»Aber sicher, ganz sicher«, flüsterte sie verwundert und wich vor seinem irren Blick und seinem ganz veränderten Gesicht zurück.
»Ich muß krank sein, ich habe offenbar Fieber«, sagte er laut und sah sich mißtrauisch im Zimmer um; doch es war niemand da, das Mädchen war fortgelaufen, alle Türen standen offen.
In allen Zimmern brannten die Lichter, die Möbel standen in rohen, wuchtigen Umrissen da, die Spiegel funkelten wie strahlende, leere Augen, die Blumen in den Vasen prangten in ruhigen Farben, die schweren Vorhänge verhüllten die Fenster, und von den Wänden schauten einige düstere Porträts hernieder.
Alles dies kannte er, er erkannte es, erinnerte sich daran … Er fühlte, daß er bei sich in seiner Wohnung war, und doch … und doch … Durch diese Möbel und Wände, durch diese Spiegel und Blumen lugten die Umrisse der Erinnerung heraus, die nebelhaften Umrisse irgendwelcher anderer Dinge, von Dingen, deren er sich auf keine Art entsinnen konnte, und die doch irgendwo existierten … von Dingen, die in zarten Schatten, in unfaßbaren Visionen auferstanden …
»Ich verstehe nichts … gar nichts!« rief er und vergrub seinen Kopf in den Händen.
Ein scheußlicher Tag«, rief Zenon und schüttelte sich vor Kälte.
»Ein schrecklicher, widerlicher, ekelhafter Tag«, wiederholte mit neckischer Lustigkeit ein reizendes hellblondes Mädchen, als es mit ihm die gewaltige Säulenhalle von St. Paul verließ und die breiten, feuchten und glatten Stufen betrat.
»Ein dreimal ekelhafter Tag, es ist kalt, feucht und neblig, ich habe beinah schon vergessen, wie die Sonne scheint und wärmt.«
»Das ist Übertreibung und Exaltation, wie Tante Ellen zu sagen pflegt.«
»Also Sie haben in diesem Jahre schon einmal Sonne in London gesehn?«
»Aber es ist doch erst Februar.«
»Haben Sie denn überhaupt schon irgend einmal Sonne in England gesehn?«
»Oh Mr. Zeno, daß nur Tante Dolly nicht sagt: Hüte dich, Betsy, denn dieser Mensch betet die Sonne an, wie ein Parse, – er scheint ein Heide zu sein«, drohte sie ihm lächelnd und ahmte die komische Stimme der Tante nach.
»Aber hat es denn seit November auch nur auf einen Augenblick Sonnenschein in London gegeben? Nichts als Nebel, Regen, Sturm und Schmutz, und ich habe doch keine Gummihaut, – ich fühle manchmal, wie ich zu Gallert werde, mich in Nebel- und Wasserströme verwandle.«
»Aber in Ihrer Heimat gibt es doch auch nicht immer Sonne«, flüsterte sie leise.
»Ja, Miß Betsy, sie ist fast täglich da, und jetzt an diesem Tage, heute, leuchtet sie bestimmt, ihre Strahlen funkeln zauberhaft schön und glitzern in den Schneemassen«, sprach er, seine Stimme senkend, als schaue er in die Ferne plötzlicher blendender Erinnerungen.
»Die Sehnsucht«, sagte sie ganz leise und merkwürdig traurig.
»Ja, die Sehnsucht, die wie ein Geier herunterschießt und mit scharfen Krallen die Seele schmerzhaft zerfleischt, die wie ein Schrei aus der Seele dringt, aus dem tiefsten Grunde längst vermoderter Tage, die uns wie ein Orkan dahinträgt … wie ein Orkan. Lange schon, ganze Jahre, ist sie nicht mehr zu mir gekommen; ich dachte, ich trüge nur tote Schatten in mir, wie jedes gestorbene Gestern sie wirft. Doch die heutige Andacht, die Kirche, die Gesänge haben den Staub vergangener Zeiten zu neuem Leben erweckt, haben ihn belebt.«
»Mr. Zen …« flüsterte sie und ergriff zärtlich seine Hand.
»Was, Betsy, was?«
»Einmal wirst du mich dorthin bringen, wir werden zu diesen Schneemassen fahren, die in der Sonne glitzern, zu jenen Tagen der Sonne wollen wir fahren, zu jenem warmen Lichte.«
»Des Glückes, Betsy, zu den ersehnten Tagen des Glückes«, rief er leidenschaftlich, indes seine fieberig glänzenden Augen ihr helles Köpfchen umfingen, so daß sie sich voll glücklichen Erbebens, voll Freude über jenes glänzende ›morgen‹ abwandte, daß ihre Lippen zitterten und das weiße Gesichtchen sich, weißen Rosenblättern ähnlich, strahlend erhellte, daß sie rosig und freudeduftend wie der Morgen wurde und wie ein heißersehnter Kuß verlockend.
Sie verstummten, denn sie merkten plötzlich nach dieser freudigen Erregung, daß die Granitstufen merkwürdig glatt und steil waren, daß wundersame Gesänge immer noch aus der Kathedrale drangen, daß rings um sie her eine Menge Leute mit strengen, rügenden Blicken waren. Sie begannen eilig die Treppen hinunterzugehen, dem Platze, den grauen traurigen Straßen entgegen, unter schwere, niederdrückende Wölbungen, in den Nebel hinein, der in zerrissenen, schmutzigen, graugelben Fetzen herunterhing, in diesen beweglichen, klebrigen, kalten, scheußlichen Nebel, aus dem schmutziger Regen troff.
Da es Sonntag war, waren die Straßen fast leer und ganz still, sie erschienen wie schwarze Tunnel, zugedeckt vom Nebel, der, wie Watte, die man von Wunden genommen, gleichsam von Eiter durchtränkt schien, und der in schwammigen Knäueln immer tiefer in die Straßen hinabfiel, die Häuser überschwemmte und mit seiner schmutzigen Flut die ganze Stadt ersäufte.
Die Geschäfte waren geschlossen, alle Türen verrammelt, die Bürgersteige fast leer, und die schwarzen Häuser standen traurig und wie in Todesstarre da, – ein Gewirr von steinernem Elend, voll von beengendem Schweigen, völlig erblindet, denn alle Fenster waren verhüllt; nur hier und dort in den höheren Stockwerken, die ganz im Nebel verschwanden, flackerte ein verlorenes Licht. Die Augen irrten verzweifelt in dieser traurigen Nebelöde, denn sogar die Farben der unzähligen Schilder leuchteten nur matt, in ausgesogenen, toten Farben.
Die Luft war drückend schwer, von Feuchtigkeit durchtränkt, von einem Geruch nach Schmutz und aufgeweichtem Asphalt gefüllt; und von allen den im Nebel unsichtbaren Dächern, von allen Balkonen, von allen Schildern ergossen sich Ströme aufspritzenden Wassers, es tropfte von allen Seiten, die Traufen dröhnten dumpf und unaufhörlich, als bärgen sie unzählige Gießbäche.
»Welchen Weg wollen wir gehen?« fragte er und spannte den Schirm auf.
»Am Strand, denn das ist der nächste.«
»So eilig haben Sie’s, nach Hause zu kommen?«
»Mir ist kalt, das ist der Grund.«
»Also werden wir heute nicht auf die Tanten warten?«
»Wir werden ihnen wenigstens einmal eine Überraschung bereiten, – sie werden uns suchen und nicht finden.«
»Ohne sehr bissige Kommentare wird es da nicht abgehen.«
»Ich werde sagen, es wär’ Ihre Schuld, ätsch …!«
»Es ist gut, ich werde mich wehren, und zwar tüchtig; das ist doch schon langweilig, so jeden Sonntag wie von Amts wegen in die Kirche laufen zu müssen.«
»Ach, und wie langweilig, wie langweilig das ist! Nur erwähnen Sie nichts davon zu Hause, alle Tanten wären gegen Sie!« rief sie fröhlich und schmiegte sich an seinen Arm.
»Würden Sie mich in Schutz nehmen, wie?«
»Nein, nein, denn auch ich bin schuldig, denn auch mich langweilt das …«
»Weswegen gehorchen Sie dann einem Zwange, der Ihnen so unangenehm ist?«
»Weil ich eine fürchterliche Angst vor den Tanten habe. So oft ich mich gegen sie auflehnen wollte, brauchte nur Tante Dolly hinter ihren Brillengläsern hervor mich anzuschauen und Tante Ellen zu sagen: Betsy! – und schon war’s vorbei mit mir … Ich kann kein Wort mehr sagen, nur weinen möchte ich, und es ist mir so peinlich, so peinlich …«
»Miß Betsy, Sie sind noch ein großes Kind.«
»Aber einmal werde ich doch auch erwachsen sein, nicht wahr?« fragte sie süß. »In einem Jahr, da werde ich doch sicher erwachsen sein«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu und barg ihr Gesicht im Muff; sie war errötet: in einem Jahr sollte ihre Hochzeit sein.
»O ja, ja«, rief er lustig und sah ihr in die Augen. »Ja, in einem Jahre wird Betsy erwachsen sein, in zehn Jahren sogar eine Dame, in zwanzig eine achtunggebietende Matrone, und in vierzig wird Miß Betsy wie Miß Dolly sein, alt, grau, gebückt, wird die Bibel lesen und wird die Jungen nicht mehr leiden können und das Lachen und die Feste hassen, – Miß Betsy wird langweilig sein und nach Kampher riechen!«
»Nein, nein, nie werde ich so sein, niemals«, protestierte sie klagend, beinahe entsetzt über diese Möglichkeit, an die sie noch nie gedacht hatte.
Auch er wurde traurig; denn da er im Scherz ein so fernes Bild zeichnete, zuckte er plötzlich zusammen, wich wie in seine eigenen Tiefen zurück vor diesem merkwürdigen Spuk, der plötzlich vor seinen Augen vorbeihuschte.
Da kam Betsy ihm entgegen, Betsy, alt, gebeugt, elend, aller Anmut bar, die Ruine eines Menschen; sie ging wankend, stützte sich auf einen Stock und schaute ihn an, mit den eingefallenen Augen eines unergründlichen Schmerzes.
Er stockte entsetzt, doch ehe er imstande war, seine Gedanken zu sammeln, zerfloß die Erscheinung im Nebel, auf dem Trottoir war niemand zu sehen, und ganz nahe bei ihm, an seinem Arme hängend, ging Betsy, strahlend wie eine Blume, Betsy, der Frühlingsduft selbst, die fleischgewordene Jugend … Da lächelte er sie zärtlich an, als wäre er plötzlich aus einem schrecklichen Traum erwacht.
»Was suchen Sie?« fragte sie, als er sich mißtrauisch umschaute; denn er wußte nicht, ob das, was er gesehen hatte, in ihm oder vor ihm erschienen war?
»Es schien mir, als ginge da ein Bekannter vor uns.«
»Ich konnte niemand sehen, vielleicht haben Sie zwei Paar Augen«, sagte sie lustig zwinkernd und sah ihm dabei ins Gesicht.
»Vielleicht«, kam es gepreßt von seinen Lippen, und er erbleichte im plötzlichen Gefühl des Grauenhaften dieser Erscheinung. Ihn durchdrang der lähmende Schauer des Rätsels, doch er beherrschte sich bald und schnell, unmerklich versenkte er seine Falkenaugen in ihr Gesicht, in ihr Haar; er kroch in die Tiefe ihrer saphirblauen, von schwarzen Wimpern umrahmten Augen, umfing ihren schlanken, jungen Leib, lauerte auf ihre Bewegungen, als wolle er unwillkürlich ihre Identität, ihr wirkliches Dasein feststellen.
Er zuckte voll Abscheu zusammen; denn jenes Gespenst war geradezu häßlich und widerlich gewesen. Und trotz alledem konnte er die Vergleiche nicht einstellen, noch ein merkwürdiges Gefühl der Unruhe und des Gequältseins unterdrücken, so daß er nicht einmal ihre Fragen hörte. Zum Glück versperrte ihnen an der Ecke der Fleetstreet unter einem beweglichen Dache von Schirmen eine Menge von Menschen den Weg, die sich um einen laut predigenden Mann versammelt hatten.
Sie kamen näher, bis an die hohe, transportable Rednertribüne, auf der unter einem Schirm ein hochgewachsener, roter und wohlbeleibter Mann stand und, während er unaufhörlich den aufgespannten Schirm von einer Hand in die andere nahm, mit heiserer, salbungsvoller Stimme eine Art Predigt herunterschrie, die mit Bibelgleichnissen und Zitaten dicht durchsetzt war … Zuweilen schrillte er einen leidenschaftlich drohenden Schrei hervor und blieb mit ausgebreiteten Armen gleichsam in der Luft hängen … Dann trat ein Weib auf in schwarzem Kleide, mit einer großen grünen Feder auf dem Hut, bleich und hager, und schlug mit solcher Kraft einen ungeheuer großen Tamtam, daß die Menge zurückwich; vier Kinder in langen, weißen, durchnäßten und beschmutzten Kleidern, mit Flügeln an den Schultern, begannen mit piepsenden Stimmen eine Hymne zu singen und um die Tribüne herumzutanzen, wie um die Bundeslade.
Der Prediger war der Begründer einer neuen Sekte, der Sekte der »Furcht«.
Er sagte das nahe Weltende voraus, verlangte allgemeine Buße, Verteilung aller Erdengüter, Zerstörung der Städte, Einstellung jeglicher Arbeit, und daß man hinausziehe in die Wälder und Felder für diese Tage der letzten Läuterungen.
Er predigte wild, aber mit hinreißender Kraft, und beachtete die Zuhörer, die ihn verlachten, gar nicht. Jemand warf ihm eine brennende Zigarre ins Gesicht, ein anderer bespritzte ihn mit Wasser, und die übrigen begleiteten seine Zitate mit gemeinen Witzen und einem blöden, viehischen Lachen; doch am Ende überwältigte er sie durch die Stärke seiner Begeisterung, beherrschte er sie und nahm von ihren Seelen Besitz. Sie verstummten allmählich und fingen an aufzuwachen; ein Trunkenbold fiel vor der Tribüne auf die Kniee und wollte laut seine Sünden beichten, ein Weib wieder bedeckte mit seinem eigenen Mantel die vor Kälte ganz blauen Kinder, viele hörten schon aufmerksam zu; und als das schwarze Weib mit der grünen Feder auf einem Teller einzusammeln begann, fielen eine Menge Pence, sie aber verteilte dafür Sentenzen aus der Apokalypse, die auf rotes Papier gedruckt waren, und die Adressen der Kirche, in der sich die Gläubigen zu gemeinsamen Betrachtungen zu versammeln pflegten.
Betsy warf einen ganzen Schilling hin, was der Redner trotz seines ekstatischen Zustandes blitzschnell bemerkte, denn er fing aus Leibeskräften zu rufen an:
»Eine Bekehrte, seht eine Sodomiterin, sie ist bekehrt!«
»Gehen wir jetzt, gehen wir«, bat sie, unter den vielen Blicken errötend.
»Gehen wir, denn noch einen Schilling, und er erklärt Sie für heilig.«
Sie glitten aus der Menge und gingen schnell über das leere Trottoir dahin.
»An jener Ecke dort wird man auf die gleiche Weise erlöst«, bemerkte er ironisch.
Es war wirklich so, auch dort, etwas tiefer in einer schwarzen, schmalen Gasse, die fast ganz in Nebel versunken war, ertönte die schreiende und doch salbungsvolle Stimme eines Straßenpredigers, auch dort hatten sich einige Vorübergehende angesammelt, auch dort wurde ein Tamtam geschlagen, sang man Lieder, verfluchte die Sünde, rief zur Buße auf, erlöste man, sammelte Geld ein und verteilte Auszüge aus der Heiligen Schrift, die auf hellgrüne Karten gedruckt waren und wie junge Blätter auf das schmutzige Trottoir flatterten.