Der Vater spricht - Robert Neubert - E-Book

Der Vater spricht E-Book

Robert Neubert

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Beschreibung

Der Vater spricht über Reste seines Lebens in einer 7-köpfigen Familie. Wir begleiten ihn in den Alltag am Kind, bis tief in seine Nächte, in Räume bodenloser Verzweiflung und in seltene Augenblicke freudvoller Kompetenz. In 20 Geschichten spricht er über sein Scheitern in einer Welt aus Schreien, Ausscheidungen und Patchwork. Ein Must-Read für jede und jeden, der schon mal Eltern war, es jemals sein möchte oder diejenigen, die gute Gründe suchen für immer kindfrei zu bleiben.

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Robert Neubert

Der Vater spricht

Aus dem Meer der familiären Freuden

www.dervaterspricht.de

© 2024 Robert Neubert

Umschlag, Illustration: Sarah Pakosch

Lektorat: Sylvia Zeller

Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany

ISBN

Paperback

978-3-384-36636-8

Hardcover

978-3-384-36637-5

e-Book

978-3-384-36638-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Ver-wertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Robert Neubert, Sebastian-Bach-Str. 4-6, 04209 Leipzig, Deutschland.

Für meine liebe Frau – ohne Dich wäre all das nicht passiert.

Wie es in deutschen Redaktionen heißt:Tiere und Kinder gehen immer.

Da habt ihr’s.

3:39 Uhr

Die Nacht des amtierenden Vaters hat zwei Funktionen. Erstens endlich Zeit für sich allein haben. Kein Kind am Schotten-rockzipfel, keine Bedürfnisse zu befriedigen als nur die eigenen.

Vielleicht ein Buch lesen, das den Titel Literatur verdient, „Der kleine Waschbär“ verdient ihn nicht, auch wenn die Bilder wirklich schön sind. Diese Phase der Nacht ist großartig und währt zwischen zwei Minuten und zwei Stunden, je nach Erschöp-fungsgrad vom Tage, in manchen unverantwortlichen Ausnah-mefällen, die auf der aufbegehrenden Illusion beruhen: „Ich habe doch noch ein eigenes Leben!“, auch länger. Das rächt sich jedoch zuverlässig, sind es doch just diese Nächte, in denen das Kind, was eigentlich schon seit mehreren Wochen durchschläft, etwas haben wird und ganz sicher geht das dann nicht leise. Und es tor-pediert scharf die zweite Funktion der Nacht: endlich schlafen.

Das tat der Vater. Und zwar nachdem er tatsächlich noch einen über den Durst gelesen hatte. Dieser naive Mann. Liebevoll war sein Blick immer mal hinüber gegangen zum Woltzinger, seinem Zweitgeborenen, fast zweijährig und seit um Weihnachten herum nicht mehr der Letztgeborene, da diese Position an die Pepamsel übergegangen war. Der genießt das Privileg, weil Säugetier, an der Mutterbrust saugend zu schlafen. Dies jedoch eine Etage tiefer in einem anderen Zimmer, da die Schreie des Einen unweigerlich den Anderen wecken würden. So teilt sich der Vater sein holzschweres 2x2m Bett völlig unangemessen nicht mit der schönsten Frau von allen, sondern mit eben jenem Zweitgeborenen, der auch sehr schön ist, jedoch anders schön. Vor dem väterlichen Einschlafen streichelte er ihm nochmal verliebt über die windelweiche Wange. Das war gerade möglich, denn der Sohn befand sich noch in Reichweite. Aktivität war schon immer seins, bereits im Mutterleib rotierte er heftig und setzt das auch postnatal fort und so nutzt er die Nächte für ausgedehnte Expe-ditionen durch die vier Quadratmeter Deutschland. Er landet in

der Regel irgendwo zwischen Passau und Frankfurt, auf dem Bauch liegend, die Beine angezogen, die Knie unter der Brust, den bewindelten Arsch in die Luft gereckt in seinem geringelten Schlafanzug – wem da das Herz nicht aufgeht?! Des Vaters war streichelnd aufgegangen und die Augen bald darauf zu und das wohlige Nichts des Schlafes gekommen und hatte ihn in einen Garten der Stille, der Träume entführt, wo die Zeit aufhörte, wo er wandelte unter Kirschbäumen und neben Himbeersträuchern, dort die Laube, da das Erdbeerbeet…

Ein Schrei an seinem Ohr, etwas wallt neben ihm, Extremitä-ten in seinem Gesicht. Nachtfunktion Zwei ist harsch unterbrochen. Der Junge. Er hat etwas. Warum? Was soll das? Ach, nur nicht drüber nachdenken! Der Vater packt seinen Spross mit einem weit ausgelegten Schwingen seines Arms, harkt ihn von dem Platz, an den er sich vorgewühlt hat, ein Vorort von Hamburg aktuell, und klemmt ihn sich vor den Bauch, Körperkontakt, Decke drüber, Ruhe, Augen zu, zurück ins Gartenglück.

So funktioniert es oftmals und dann sehr gut. Und es gibt die Momente, in denen es eben nicht nur ein muttermilchloser Traum ist oder ein Aufwachen wegen Pipi machen müssen und dafür ja noch die Windel haben und das dann eben machen und daraufhin wieder einschlafen oder warum auch immer ein Sohn zu irgendeiner Zeit in der Nacht erwachen muss. Die Hintergründe sind dem Vater schlichtweg egal, der Harkhaken löst sie in den meisten Fällen.

Doch nicht dieses Mal, denn der Bub regt sich fort.

Er setzt sich auf.

Merke: Ein im Bett sitzendes Kind ist falsch.

Auf jeden Fall um 3:39 Uhr. Das ist die aktuelle Uhrzeit, ein schneller Blick aufs Telefon zur eigenen inneren Verortung der Weltlage hat das für den Vater ergeben, es hätte ja auch schon ganz regulär 7:52 Uhr sein können und damit Morgen und damit das bettene Aufsitzen des Kindes, wenn zwar immer noch falsch, jedoch zumindest nachvollziehbar, aber der Grad der väterlichen Müdigkeit diktiert etwas anderes, ja, 3:39 Uhr, das deckt sich mit

seiner inneren Weltzeituhr, einer gebückt am Stock gehenden, die kein Auge öffnen mag.

Ein Gedanke an die Liebste streift ihm durchs Geäst. Die Gattin meinte vor einiger Zeit, sie würde vermehrt zu diesen 1:11

Uhr, 15:15 Uhr oder 6:66 Uhrzeiten auf ihr Handy schauen, das sei gerade so und ganz besonders und verweise wohl auch auf etwas, auf was, weiß er jetzt nicht mehr zu erinnern und hier ist auch gerade nichts besonders, außer eben der Sohn besonders wach.

Doch vielleicht ist er einfach nur kurz wach. Der Vater harkt nochmal nach, ran an den Bauch, manchmal braucht es einen zweiten Anlauf, hoffentlich war das Handylicht nicht schon zu grell, beim Harken erwischt er die Frucht seiner Lenden eben-dort, im Lendenbereich, und attestiert überrascht eine Feuchtigkeit, die da nicht sein dürfte, weil doch Windel. Nun den Grad der Feuchtigkeit bemessen. Ist es so viel, dass Handlungsbedarf besteht? Die schöne Frau erscheint wieder beim Kirschbaum, jedoch in Mutterfunktion, was sie verändert und laut dieser anderen Frau führt jeglicher Grad von Feuchtigkeit zum Auswechseln der gesamten Garderobe des Kindes, immer. Der Vater sieht die Feuchtigkeitsfrage differenzierter. Für ihn gibt es graduelle Ab-stufungen. Ist beispielsweise nur jener Teil der Kleidung benetzt, der über der Windel aufliegt und damit keinen direkten Körperkontakt hat, weil die Windel ja zwischen Haut und feuchtem Tuch harrt, dann besteht nicht zwangsläufig Handlungsbedarf.

Dieser Fall kommt jedoch nur vor, wenn zuerst keine Windel getragen wurde, dann Pipi kommt, dann ein kleiner Teil der Kleidung im Urogenitalbereich leicht benässt ist und dann die Windel drauf kommt, weil man beispielsweise gehen muss, ganz schnell natürlich mal wieder und dann die Windel ran und das Beinkleid darüber schließen… ach, geschenkt all das, denn sie wollen ja gar nicht gehen, im Gegenteil, sehr im Gegenteil sogar, im gegenteiligsten Gegenteil. Der Junge trägt ja eine Windel! Wie kann er nass sein, das geht doch so alles nicht? Ist aber so. Kogni-tive

Dissonanz,

dazu

das

Aufflackern

eines

Müdigkeitskopfschmerzes, es bedarf tieferer Recherchen gefolgt von weitgreifenden Entscheidungen.

Der Schlafanzug muss weg. Der Vater wechselt also die Harke gegen die Gartenkralle – hakt sich in die Reihe der winzigen Druckknöpfe ein, die das Schlafkleid am Unterteil des Sohns halten, reißt beherzt, zerrt unbeholfen, aber natürlich väterlich souverän, entnimmt Arme und Beine des großartigen Sohnes und darf feststellen, dass erstens der Verschluss der Windel an der einen Seite unverständlicherweise geöffnet ist und zweitens die Saugfähigkeit der Einrichtung bereits ihr Limit überschritten hat und diese zu einem Viertelpfünder angeschwollen ist. Also die Kralle nochmals angesetzt, den Jungen von der Windel getrennt und das Ding in die grobe Richtung des bettnahen Endlagers ge-pfeffert. Und nun hat er den nackten Sohn vor seinem einen offenen Auge, welches wiederum Zeuge dieses eklatanten Fehlver-haltens wird, denn das Kind setzt sich auf. Irgendwo bei Hanno-ver, um 3:42 Uhr, dem Vater schwant Schlimmes.

Merke: Überschreitet das Erwachen des Kindes die kritische Zeitmarke, ist Ende im Schlafgelände.

Es stellt sich eine belebte, woltzingertypische, sowohl den Tag als auch den Vater grüßende Offenheit zur Welt ein, was zu einer verträglichen Zeit, also zwischen 8 und 21:30 Uhr eines beliebigen Tages, eine von der väterlichen Figur sehr begrüßte Haltung ist, jedoch jetzt, nein, dieses Hochfahren gehört unbedingt unter-drückt, zieht es doch Größeres nach sich, Großes, nichts Geringe-res als den Versuch, die Weltherrschaft zu erringen!

Doch braucht es noch eine neue Windel! Denn es ist damit zu rechnen, dass es im weiteren Verlauf der Nacht weiterhin aus dem Woltzinger herausfließen wird, auch wenn da eigentlich nix mehr drin sein kann, denn die Windel Größe Vier ist ja bereits voll. Nun war die am vergangenen Leseabend angezogene Windel – Jahrhunderte scheint das her zu sein – die letzte sich im väterlichen Basislager befindliche. Eine neue müsste vom Großhan-del beschafft werden, die Treppe hinab, Kommode, zweite Schublade links. Das bedeutete Aufstehen. Das wiederum wäre

der größte Fehler, den der Vater begehen könnte, denn Aufstehen entspräche nicht nur Putschversuch und Weltherrschaft, sondern signalisiere das potentielle Einschlagen des Weges zur Mutter, was Anklammern des Sohnes an den Vater zur Folge hätte und die lautstarke Forderung, sofort zu eben jener Frau verbracht werden zu müssen, aus deren Leib er entstieg, zum Zwecke der Säugung, was wiederum die Involvierung jener Leibeigenen zur Folge hätte.

Und merke: Das Involvieren der Mutter ist unter ALLEN Umständen zu vermeiden!

Sollte sich im Aufstehensvorgang herausstellen, dass es eben nicht zur Mutter ginge, sondern nur darum, eine profane Windel zu holen, wäre die daraus resultierende Enttäuschung unbedingt in baustellenlautem Wüten kundzutun, lange und anhaltend, was ebenso eine Involvierung der Mutter bedeutete, also nein, Aufstehen auf keinen Fall!

Da liegen doch auch noch andere Windeln, Größe Zwei, für den Letztgeborenen – Ach, was! Das wird schon passen, fährt es durch den Vater, und so viel kann ja nicht mehr drin sein im Jungen, also her den Lappen, den Arsch gehoben und ihm das Ding untergeschoben und erleichtert feststellen, dass die Klettver-schlüsse der Größe Zwei geradeso um das aktuell vorliegende Größe-Vier-Becken passen. Der feuchte Schlafanzug fliegt in Richtung Bodensee und der Vater hält immer noch krampfend an der Hoffnung fest, dass die kritische Zeitmarke noch nicht überschritten sein möge, also den Jungen wieder eingeharkt, aufs Kissen gedrückt, der Vater hinterdrein, Decke drüber, aus die Maus.

Nun ist es ein Kuriosum, dass die Mutter selbst schlafend in ihren Gemächern ruhen kann und gleichzeitig ein Teil von ihr den Vater immer begleitet, ein ätherischer Leib in seiner Gedan-kengartenwelt, kommt sie jetzt vom Kirschbaum hinüber und merkt an, dass der Junge doch einen Schlafanzug brauche, damit ihm die nächtliche Bettkälte nicht zu arg zusetze, denn Merke: Eine Erkältung des Kindes ist unter allen Umständen zu vermeiden! Zieht diese doch immer eine Einberufung der

Mutter nach sich, was – bekanntermaßen – zuvorderst zu vermeiden ist.

Aber noch könnte der Junge schnell wieder einschlafen. Der Vater harkt also die ätherische Mutter ebenfalls ein, in der Laube gibt es eine Kellerklappe, schnell am Ring aufgezogen, die Mutter hinabgewiesen, Klappe zu, Augen zu, Ruhe im Zwischendeck.

Der Vater lauscht hoffend, dass die Atemzüge des Sohnes sich wieder in ruhige Regelmäßigkeit fügen.

Dann ein sehr freundliches: „Habbenbabben?“

Vor dem inneren Auge des Vaters vollzieht sich die Spren-gung der vielstöckigen Gartenlaube. Jegliche Hoffnung hüllt sich in Staub. Es ist verloren. Er ist verloren.

Habbenbabben ist die aktuelle sprachliche Verdichtung des Woltzingers, kann je nach Tageszeit und Temperatur alles bedeuten, darf aber weitläufig mit: „Kann ich das da mal haben?“ über-setzt werden.

Der Junge sitzt.

Und er möchte haben.

Es ist 3:44 Uhr. Und es wird noch lange 3:44 Uhr sein. Der Vater hadert mit seinem Schicksal und gedenkt eines am Tag ge-führten Gespräches mit einer Gästin des Hauses, die meinte, dass es im Leben Zeiten gebe, in denen man kein richtiges Yoga machen müsse, sondern eher ein Karma-Yoga, welches sich im Inneren vollziehe und das sei dann schon mehr als ausreichend. Der Vater nimmt die Yogahaltung „Sibirischer Stein“ ein und de-monstriert so dem Sohn durch Nicht-Ansprechbarkeit und geschlossene Augen, welche Stunde geschlagen hat, nämlich die des Niederlegens, des Ausruhens und Aufladens, des Erfrischens und Erneuerns, des Ausgleichs der Polaritäten von Schlafen und Wachen, nun eben im Pol des Schlafes. Das wird von der Soh-nesseite mit einem sehr freundlich-interessierten „Habbenbabben?!“ kommentiert.

Der Vater harkt nochmals und deckt zu. Missfallensäußerun-gen. Er denkt an den kürzlich leider verstorbenen Kinder-Eben-Nicht-Erziehungs-Papst, dessen Name ihm zu dieser dunklen

Stunde partout nicht einfallen will und wie dieser die schöne Dif-ferenzierung zwischen Bedürfnis und Wunsch des Kindes auf-macht. Bedürfnisse sind auf jeden Fall zu erfüllen, Wünsche müssen nicht erfüllt werden. Was liegt hier vor? Der Sohn bewegt sich habbenbabbend in Richtung Nachttisch. Dort lagern die Getränke. Er will also trinken. Verdammt. Ein Bedürfnis. Ja, Durst hat der Vater auch. Wasser und Apfelsaft stehen bereit. Er würde am liebsten Apfelsaft trinken, deshalb steht der auch da, weil er in den entbehrungsreichen Nächten manchmal einfach etwas mit Gartengeschmack braucht. Der Sohn darf natürlich keinen Saft.

Die Zähne. Die Mutter. Die Todesstrafe. Die Kellerluke rappelt, es poltert von unten dagegen. Also Wasser. Klar. Der Vater greift nach der Flasche, nur schnell-schnell erledigen und dann das Kind wieder hinlegen, doch zeitgleich folgt der Sohn noch seinem Impuls Richtung Nachttisch und natürlich kollidieren die Wasserflasche und der Kopf des Sohnes. Es ist zum Schreien! Und das tut er natürlich auch. Der Vater atmet. Tröstet. Flößt Wasser ein.

Hier läuft gern mal was daneben, aber wäre ja nicht schlimm, denn der Bub hat ja nichts an, was nass werden kann! Ein Sieg der Vaterlogik! Aber natürlich fließt jetzt nix daneben. Nach Abschluss der Tränkung die Flasche an die Wand geschleudert, den Jungen wieder unter die Decke, Augen zu, Sibirien.

Der Vater gebietet über eine spezielle Technik, den Sohn auf seinen Arm zu legen und den anderen über ihn zu betten, den Arm, nicht Sohn, dadurch eine leichte Enge erschaffend, in der Bewegung zwar möglich ist, jedoch keine großen Ausflüge, schon gar nicht das irrige Aufsetzen. Struktur. Richtung. Halt. Väterliche Qualitäten, ganz klar spürbar und verkörpert. Kommt gelegentlich auch an beim Kind. So eine Gelegenheit ist jetzt aber nicht. Gerne ist nochmal aufgesetzt. Das eine oder andere erzählt, von früher noch, was hatten sie damals Spaß und ob er noch wisse, der Sommer 83, überhaupt sei jetzt eine gute Zeit noch ein Buch anzuschauen, auch die Decke störe ungemein und muss weggestrampelt werden, was das Kind der dachgeschossigen Ju-nikälte aussetzt – wieder Lärm von der Kellerluke, der Vater

schiebt noch einen Stein obendrauf und harkt wiederholt und der Sohn sitzt wiederholt und der Vater erinnert sich, wie aufregend das vor dreizehn Monaten war, als der Junge endlich sitzen konnte – TOLL! Kann er auch gerne weiter üben, nur eben nicht jetzt.

Er gedenkt wieder der Mutter, die erzählt, dass der Pepsohn des Nachts erwacht und dann so daliegen würde und so brabbeln und gucken und der Vater denkt sich, dass sie dabei doch eigentlich gut weiterschlafen können müsste, passiert ja nix weiter, ist ja so ein tolles Baby, das kaum schreit in der Nacht, Hauptge-winn, Broadway, Oscarverleihung!

Aber nun versteht er sie besser.

Der Sohn hier neben ihm legt sich nach einer geraumen Weile tatsächlich dann auch wieder hin. Das liegt auch daran, dass die neue Karma-Yogahaltung des Vaters den Titel „Joseph Stalin“

trägt. Das kommuniziert sich dann doch. Aber es rutschelt und raschelt noch. Man kann dem Vater auch prima mit den Füßen am Bauch rumspielen und da katzenkindartig dagegen trampeln, klingt romantisch, aber wer Haare am Bauch hat, die diesen Namen auch verdienen, also keinen weiblichen Flaum von 1mm, kaum mit dem bloßen Auge zu erkennen, sondern Haare, Brust-haare, Beinhaare, lang und bärig, drahtig wie Hochspannungslei-tungen, der weiß, dass solche Trampeleien zum langziehenden Fastausreißen eben dieser Haare führen und das bringt Schmerz mit sich, was die stalinistische Yogahaltung noch authentischer wirken lässt. Dann dem Vater noch ein paar Finger wo reinste-cken – so viel ist möglich, die Nacht ist doch noch frisch! Wann kommen wir so jung schon wieder zusammen? Hoch die Tassen!

Ein Prosit der Gemütlichkeit!

Und dann irgendwann wirklich: Sein Atem wird ruhiger, regelmäßig. Der Vater wagt kaum auf die Uhr zu schauen. 4:44 Uhr.

Der Junge schläft wieder. Gut für ihn.

Der Vater ist jetzt wach. Da ist etwas von dieser Offenheit und Lebendigkeit seines Kindes auf ihn übergegangen. Erstmal

aufstehen jetzt. Apfelsaft. Toilette. Und überhaupt könnte er das ja jetzt hier alles auch noch fix tippen, denn Merke: Ein Text ist wie die Frau, frisch am besten.

Tolle Sache so ein Sohn. Nun liegt er wieder da, ganz im Norden des Bettes, so Höhe Fehmarn. Gut zugedeckt. Weich und ruhig atmend. Und der Vater möchte es nicht anders haben.

Chronisches

Der Mensch muss essen, auf dass es in ihm stoffwechsele und die Wurst aus ihm herausgleite, möglichst am Stück und schön geformt. Brummt alles so, gedeiht der Nachwuchs prächtig, wird also seinem Namen des Nachwachsenden tatsächlich gerecht und das ist und muss der Fokus jedes Elternteils sein, denn nur so erreicht das Kind den Wachstumsgrad, in dem es das Haus verlassen kann, was wiederum den Elternteil einerseits zwar schmerzlich berührt, andererseits jedoch hocherfreut, da er sich nun endlich auf sein Boot begeben kann und aufs Meer hinaus, weit, noch weiter und endlich Ruhe finden zwischen Insel, Wind und Welle.

Irgendwo dort draußen war der Vater gerade dabei die Rute mit einem prächtigen Marlin daran einzuholen, als er vom Woltzinger jäh aus seinen Tagträumen gerissen ward. Der zweit-jüngste Junge sitzt auf der Küchenarbeitsplatte und kocht mit dem Vater, denn –wir erinnern uns– der Mensch muss essen. Täglich, sogar mehrmals. Das hängt dem Vater gelegentlich zum Hals heraus. Und das, obwohl er dem Kochen in seinem bisherigen Sein mit Freude, gar Inbrunst nachging. Der Reiskocher macht bereits sein Reiskochding, Spitzenbasmati, Lorbeer und Kardamom, denn heute steht Indisches am Nahrungsplan – Pa-lak Paneer, Spinat also mit indischem Käse und Cocktailtomaten in einer Sahnesauce. Die Frau reagiert ausgesprochen gut auf dieses Gericht, gurrend und schnurrend frohlockt sie ihm lüsterne Blicke zu und raunt, was Kinder nicht hören dürfen und hier also zensiert bleiben muss, dabei gleitet ihre Hand hinab an seinem Bauch, kein kurzer Weg, aber lang und hart ist das, was sie dann erreicht, denn der Vater hat noch den Kochlöffel in der Hand, dem sie ihm entwendet, um daran lasziv zu lecken, Momente elterlicher Erotik… jäh erwacht der Vater aus diesem halbtrocke-nen Tagtraum durch einen gellenden Schrei des Woltzingers, der sich daran gemacht hat, die aufgereihten Gewürze zu gustieren

und just beim Cayennepfeffer anlangt. Zum ungefähr 312. Mal ruft der Vater leicht angezürnt an diesem Tag: „Woltzinger!“, dieser schüttelt sich recht putzig und züngelt die Pfefferreste aus seinem Mund – Lernen fürs Leben kann so nachhaltig sein. Der Vater reicht ein Gläschen Wasser, etwas Brot und Oliven, auf dass der Junge auf andere Gedanken kommt und leitet ihn an, zu den schön glasig geschmurgelten Zwiebelstückchen je 1-2 Teelöffel Koriander, Kreuzkümmel, Garam Masala, den Bombay Curry und den frisch gustierten Pfeffer der Marke Cayenne zu geben.

Zusätzlichen Chili lassen sie weg, die Kinder sollen alle ihren 21.

Geburtstag erreichen. Der Ingwer aalt sich bereits mit in der Pfanne, alles gut verrühren, was dem Woltzinger, inzwischen mit zwei Kochlöffeln ausgerüstet, nachdem er dem Vater den seinen entwendet hat, auch ganz gut gelingt und so verströmt sich all das subkontinental Gute und hüllt die beiden in einen Duftman-tel, lässt Säfte fließen. Und unter dem Biolekschen Ja und Oh des Vaters und dem aufgeregten Gefiepe des Woltzingers kommen nun die halbierten Cocktailtomaten hinzu und kurz darauf der Paneer, der indische Käse. Und nun eine Frage an alle – wo gibt es diesen verdammten Käse? Klar, Internet und so. Aber der Vater schwört auf Einzelhandel. Und Halloumi: ja, den bekommen sie, den nehmen sie hier auch, denn dieser Paneer ist einfach nirgendwo aufzutreiben. Kopfschüttelnd wütet es so durch den Vater, will er doch authentisch und so, aber geschenkt, denn die Bagage muss gepappsättigt sein. Wir erinnern uns, wachsen sollen sie alle! Wachsen!!

Der Woltz gießt noch einen Becher Sahne an das Ganze, natürlich landen dabei nur geringe Mengen im Topf, so dass der Vater unter der gezürnten Nachfrage, ob denn des Woltzingers Vater die Goldstücke scheiße, noch einen weiteren Becher beigeben muss. Der Woltzinger bejaht grundsätzlich alles, auch dieses, und er lernt ja so schön. Und überhaupt macht es dem Vater das Herz weit, dass sein Spross mit ihm kocht und seine Freude teilt am Zeug in einen Topf werfen und sie lächeln sich an und schon wieder singend holt der Vater den Tiefkühlspinat aus dem Frost, den

der Woltzinger wie Eis lutscht, wobei trotzdem dankbarerweise der größere Teil dieses geschmackfreien Auffüllunkrauts im Topf landet. Nun noch ein Teelöffelchen Kurkuma obendrauf, bisschen Salz noch, der Halloumi bringt ja schon viel mit. Dem Kleinen entgleitet jedoch das Salzfass, aber was soll’s – das ver-schmeckt sich dann schon nachher bei Tisch.

Apropos nachher – wie die Zeit verfliegt, wenn wir den Löffel abgeben! Die Jonglage der indischen Intensivküche, gepaart mit der Intensivbetreuung und -begrenzung der Eskapaden des Löf-felträgers, hat den Vater so in Beschlag genommen, dass er das Erreichen des nächsten neuralgischen Abendpunktes nicht realisiert hat. Das Essen ist zubereitet und er bemerkt viel zu spät den Fehler, die Fertigstellung der Mahlzeit dem Familienüberrest nicht frühzeitig angezeigt zu haben.

Es handelt sich um Individuen, teilweise mit eigenem Kopf und Vorstellungen von der Welt, in diese eben vertieft, teilweise so stark, dass Informationen von außen nicht den Neokortex erreichen. Sollte die doch recht übersichtlich gehaltene Information von „Essen ist fertig, ihr Lackaffen! Zu Tisch!“ doch zur Verständ-nisblüte gelangen, dann bedeutet dies keineswegs, dass dieser Aufforderung Folge geleistet wird, obgleich das Wort Aufforderung doch recht klar den eben fordernden Charakter der gegebenen Information unterstreicht. Der Vater hat sich immerhin die Seele aus dem Leib gekocht, alles gegeben, sein Innerstes nach außen gekehrt, all seine Liebe und Hingabe in den Nahrungs-pamps entleert und das Mindeste, was er an dieser Stelle erwar-ten kann, ja muss, ist ja wohl, dass sich seine Anhängsel und Ver-sprengsel, dessen gewahr, sofortigst bei Tisch einfinden, um seiner zu huldigen! Ihm beim Betreten der Küche seine Füße küssen, ihn mit einem liebevollen Blick betrauen und folgendermaßen anheben: „Vater, du sorgst für uns und hältst uns am Leben, du gibst mir Sinn und Richtung und der Speisen gar leckere, oh Erzeuger, dem Zeus gleich, einzig bist du unter den Männern dieser Erde und dein Händchen an Kochtopf und Tiegel ist bar jeden Zweifels, deine Erhabenheit berührt mich tief und lässt mich

mein eigenes Wesen spüren und erkennen, du in Einheit mit der Mutter bist mir Sternenglanz und Seelenruh, lass mich an deiner Tafel sitzen und dir Lob preisen, wie im Himmel so auf Erden.

Amen.“

Unverständlicherweise stellt sich die Realität anders dar. Ein

„Ja“ ist in der Regel von den Betroffenen auf die Einladung, sich bei Tisch einzufinden, noch zu erhalten – nur ja zu was?

„Ja, ich habe dich gehört, aber ich scheiß drauf, was du fa-selst?“ Oder „Ja, ich habe dich gehört, aber ich bin hier noch versunken in mein Tun an diesem Telefon und muss unbedingt Ingrid noch diese Nachricht zukommen lassen und irgendwann innerhalb dieses geologischen Zeitalters werde ich zu Tisch stoßen, magst du bis dahin noch nicht verendet sein, sehen wir uns eventuell.“ Oder „Ja“ wie in „Ja.“ Und dann ist da Leere und Stille.

Ein kathedrales Verhallen, denn wo andernkopfs bunte Gedanken sprießen, lümmelt sich bei einigen nur unbewegte Luft, die sehr, sehr dünn ist.

Der Vater kann die Gründe nur erahnen, sich blind durch das Dickicht der familiären Verstrickung und Verästelung tasten und ausrufen: „Das Essen ist fertig.“

Zumindest der bereits anwesende Woltzinger ist ein verstän-diges Bürschchen und hat in seinem Hochstuhl Platz genommen, die Forke in der Rechten fordert er die sofortige Auffüllung seines Napfes, damit er stochern und matschen und lecken kann, sich einreiben mit türkischem Käse und indischen Gewürzen, sich verkrusten und neu dekorieren und er nutzt diese für den Vater fordernde Wartezeit, um in aller Entspannung von seinem Hoch-sitz hinab unter den Tisch zu seichen. Wieder dieser Fehler ihm keine Windel anzulegen, aber er soll ja auch lernen, Bescheid zu sagen. Hat er nur nicht. Einen vielschwänzigen Fluch ausstoßend, beginnt der Vater unter dem Tisch die Wischung und seine Stimmung mit angepisst zu beschreiben, trifft den Punkt. Einen solchen am eigenen Kopfe erwischt er denn auch beim Auftauchen aus den untertischigen Untiefen. Er wird dem Gehörnten, den er anruft, immer ähnlicher. Da betritt der Jöner das küchische

Spielfeld. Der Junge weiß aus zehn Jahren Leben mit dem Vater, dass er diesem zu folgen hat, er ist einerseits sein Erstgeborener und weiterhin selbst sehr nahrungsinteressiert und diese beiden Tatsachen lassen ihn nun doch recht zeitnah nach den muezzini-schen Ausrufen seines Altvorderen bei Tisch niederkommen.

Es rieche lecker, was es denn gebe?

„Steht auf dem Essensplan“, raunzt der Vater, seine Beule haltend, im Vorbeigehen dem Woltzinger noch ein paar Weintrauben vorwerfend, auf dass ihn diese ruhigstellen mögen bis zum Servieren des gemeinsam Bereiteten.

Der Jöner weiß, ist der Vater derart angebrütet, sind Nachfragen ungern gehört und so schielt er selbst rüber zum Kühlschrank und verliest auf dem dort verklebten Zettel „Paluk Panär.“ Das hülfe ihm jetzt weiter.

In das kurze Schweigen hinein gibt der Vater den liebevollen Hinweis, dass es noch an Wassergläsern fehle und ob der feine Herr denn dies nicht sehe, bestimmte Abläufe seien ja täglich chronisch ähnlich und ein Mitdenken aus sich selbst heraus führe zur Unterstützung ebendieser Abläufe und ob das denn zu viel verlangt sei, EINMAL mit anzufassen?!

„Bist du bisschen gereizt?“, erhebt sich der Junge fragend wieder von seinem Platz bei Tisch und beginnt Gläser am Wasserfilter aufzufüllen und zu verteilen, während der Vater die heißen Töpfe auf den Tisch wuchtet, die Wannen und Tröge zur Fütterung des Inventars.

Überraschenderweise nähert sich trällernd da auch schon eines der weiblichen Haushaltsmitglieder, das Mädchen. Ein Jahr jünger als der Jöner und nur aus der mütterlichen Baugruppe stammend, verbringt sie ihr blondglänzendes Haar nebst dem Rest ihrer Buntgewandetheit durch die Küchentür: „Oh, das riecht aber lecker. Was gibt es denn?“

„Schau auf den Plan“, faucht der Vater.

„Isser wieder gereizt?“, wendet sich das Mädchen an ihren leicht größeren Bonusbruder und gleichzeitig an den Kühlschrank:

„Palük Panäär, klingt spannend! Ist was Neues, oder?“

Der Vater, Nuancen seiner Souveränität einbüßend, empfiehlt ihr sich zu erinnern, dass sie die indische Spinatscheiße mit Käse schon zigmal gegessen hätten und wenn sie nur EINMAL zuhö-ren würde, sie sich dann auch mal etwas merke.

„Ach guck“, kommentiert sie fröhlich und sucht sich einen freien Platz.

Der Vater atmet inzwischen schwerer, stoßweise, ein letzter Blick über den Tisch lässt erkennen: Es ist alles gerichtet, es fehlt nur an den Mitarbeitern, wie verdammt nochmal jeden Abend.

Von tief unten stößt er deshalb nochmal den Schrei aus, dass das Essen rufe. Irgendwo aus den Tiefen des Raumes hört er ein Ja.

Er beginnt damit im Rhythmus seiner Verzweiflung den Kopf gegen die Kühlschranktür zu schlagen. Das wiederum belustigt den Woltzinger, der sich in der Zwischenzeit siebzehn Weintrauben in die Mundhöhle eingeführt hat und nun dazu übergeht, diese lachend und teilzerkaut sowohl auf sich selbst als auch den ge-deckten Tisch zu erbrechen. Doch Hilfe naht, das Leiden Christi durchschreitet die himmlische Küchenpforte. Mit dreizehn Jahren amtierender Alterspräsident der jugendlichen Heerscharen, was jedoch leider mit keinerlei Weisheit einhergeht.

„Was gibt es denn?“, ist dementsprechend seine erste Frage.

Vom Vater nur ein röchelndes Knirschen, Blut läuft ihm Stirn und Nasenrücken hinab. Das Mädchen rettet ihren Bruder, sie teilen sich die gleiche Mutter, das verbindet und sie mag ihm gerne aus der Patsche helfen.

„Dit Spinat mit Halloumi Zeug“, versucht sie ihn aufzuklären, doch bei ihm kommt es nicht an. Denn im altersgerechten Zustand autonomer Vermummung hat er die Küche betreten, Woll-mütze auf und darüber noch die schwarze Kapuze, es ist ja auch erst früh im Jahr, Mitte Juni, und die abendlichen 24°C laden folg-lich dazu ein, den eigenen Wärmehaushalt entsprechend nachzu-justieren. Es könnte aber auch sein, dass es sein saublöder Versuch ist, das Tragen seiner Kopfhörer zu kaschieren, denn er weiß wohl, dass er zumindest gelegentlich am Familienalltag

vollständig teilnehmen muss und das Abendessen ist eine dieser Gelegenheiten. Die Mutter ist keine Freundin exzessiven Medi-enkonsums, zumindest nicht bei ihren Kindern, und wenn der Bursche den Raum wechselt und nicht mal selbst bemerkt, dass er immer noch tiefbestöpselt und vollbeschallt ist, dann muss der Stiefvater sich wieder einmal die Frage stellen, was der Bengel eigentlich noch mitbekommt?!

Merke: Hörst du weder Schwalbe noch den Frühling, macht das was.

Doch halt! Jäh dämmert es dem Vater! Es ist natürlich nicht eine einfache Saublödheit, sondern der Mann in spe schürft tiefer, ist ganz am Puls seiner jugendlichen Erweckung, er will klar machen: Schaut her, ihr Luschen und Lutscher, groß ist er, frech, gar keck, schaut, was ich mir getraue, gegen euer Rat und Regel wende ich mich, ritterlich in die Brust geworfen, mich anmaßend aufzubegehren gegen dies sinnfrei elterliche Dekret, ja Sekret, Geseich, was ihr euch rauslasst, aber schauet mich, den Aufstre-benden zur Sonne hin, die Flügel weit gespannt, dem Ikarus gleich, ich trotze eurem Wort, denn göttlich ist es mir nicht mehr, oh nein!! Ich selbst bin jetzt mein Gott geworden, prometheusiert habe ich mich in den langen Nächten der letzten Monde und auch wenn das Sackhaar noch nicht sichtbar, hier ist der Kamm, mein Schwert, ich wetze es an euren Gesetzen und Vorschriften, auf dass es scharf zerschneide eure Lüge und die Wahrheit bringe in die Welt, MEINE Wahrheit, die einzig wahre Wahrheit, wahrste Wahrheit, die jemals ward erdacht und im Staube liegen mir zu Füßen, wimmernd und sabbernd, geifernd und in Demut geölt werdet ihr mir sein und so ist es recht und billig und soll so bleiben immerfort!

„Nimm die Stöpsel raus, Bursche, und die Mütze ab bei Tisch!“, fährt ihm jedoch die nun überraschend eintretende Mutter in die Parade. Mit einem Piepen kommt er ihrem Hinweis nach und kuscht sich auf einen freien Platz.

Und ihr lieber Mann brauche sich gar nicht zu erregen, sie seien doch alle hier.

Sie nimmt den Katatonischen beim Arm und weist ihm seinen Platz zu. Mit der dann wieder freien Hand wischt sie die Trau-benkotze zusammen und gibt Don Pepe, den knapp einjährig jüngsten im Bunde, von ihrem anderen Arm an den Vater weiter und nimmt selbst Platz. Das Ensemble ist auf der Bühne! Die Mutter ist hier, sie ist so weit, scharf und bereit, alle im Zügel ihres Blickes haltend, Freude und Harmonie sind zwei Schwerter dieser sechsarmigen Kali, sie ist im Ring und jetzt ist Fahnenap-pell.

„Mädchen, sag es dem Vater!“

„Weißt du, Bonusväterchen“, hebt die Angesprochene an,

„eine gewisse Logik des Hinschauens diktiert, dass sich die Realität, die sich dir täglich bietet, dazu führen könnte, dass du dich an das gewöhnen tätest, was du da allabendlich aufgetischt bekommst vom Leben. Akzeptieren, was ist. Das sagt ihr doch immer euren Klienten, findest du es nicht an der Zeit, dieses für die Abendmahlgestaltung mal selbst in die Anwendung zu bringen?“

„Danke. Sehr gut“, quittiert die Mutter. Während das Mädchen sprach, hat sie dem Woltzinger aufgetan, der sich durch Unartikuliertes bereits bemerkbar gemacht hatte und sich nun artig mit einem „Danke“ vernehmen lässt, das vierte Wort, das er be-herrscht nach Mama, Papa und heiß, in dieser Reihenfolge.

Nun nimmt sie sich den Stiefsohn vor.

Der Jöner solle bitte nicht so lümmeln, Körperspannung helfe der Aufmerksamkeit und wer wolle Reis?

Alle wollen. Sie schaufelt reihum. Der Vater bleibt eine Erwi-derung auf den klugen Hinweis des Mädchens schuldig, hat doch Don Peperoni sein Abendmahlritual gestartet. Dieses besteht darin, unbedingt irgendein Besteckteil in seine Fettfingerchen zu bekommen und damit über den Tisch zu wischen in der frohen Hoffnung, so viel Geschirr und Nahrung wie nur irgend möglich unter denselben und auf dem ihn gerade haltenden Elternteil zu verteilen. Sein Schaffen trägt bereits Früchte. Ein überraschend gezielter Stich in den Vaterteller und anschließendes Hochreißen

der Gabel verziert die Küchendecke mit Spinat. Der Vater starrt gebannt hinauf zum Firmament und sieht den Kurkuma osmo-tisch in die Deckenbemalung einziehen. Osmose, wir erinnern uns: Ein Konzentrationsausgleich durch Diffusion durch eine se-mipermeable Membran, impliziert, dass der gelbe Farbstoff zwar gerade einzieht wie die Gladiatoren in die Arena Roms, ihm aber der Rückweg abgeschnitten ist, wie eben jenen Gladiatoren und somit das Gelb bleibt, auch wenn der Spinat geht. Dann sei es drum, kapituliert der Gepeinigte, dann kann der Spinat auch mit oben bleiben. Aufgeben. Loslassen. Resignieren. Die in der letzten Zeit häufiger genutzten Strategien, eben doch zu akzeptieren, was ist. Was denn nur alle wollten?! Er mache doch.

„Darum kümmerst du dich später, mein Gladiator“, bringt ihn seine Frau wieder auf Kurs und fordert weiter: „Unser Tischge-bet!“

Mit immenser Begeisterung nehmen sich alle an den Händen, vor allem die weintraubig klebenden des Woltzingers treffen auf freudige Annahme beim sehr reinlichen Leiden Christi, und die Mutter fährt fort: „Wir danken der Erde, der großen Mutter, für all das, was sie uns gegeben hat und was wir nun in trauter Sie-bensamkeit, Harmonie und Liebe miteinander teilen und verzehren. Möge es uns nähren und wir diese Energie transformieren zum Guten in der Welt!“

„Hört, hört!“, hört man es reihum.