Der vergessene König des Blues - Tampa Red - Richard Koechli - E-Book

Der vergessene König des Blues - Tampa Red E-Book

Richard Koechli

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Beschreibung

Tampa Red müsste im selben Atemzug mit Blueslegenden wie Robert Johnson, Muddy Waters oder B.B. King genannt werden. Während mehr als 20 Jahren war er in Chicago tonangebend - der Erste mit einer Blechgitarre, einer der Ersten mit einer E-Gitarre, pionierhafter Saitenvirtuose, Autor von über 300 Songperlen, Mentor vieler späterer Stars. Doch Hudson Whittaker, so sein bürgerlicher Name, verlor gegen Ende seines Lebens Glanz und Gesundheit, starb einsam wie ein Vergessener. Bis heute erschien kein umfassendes Buch über ihn, kein Film, nichts. Unbegreiflich! Mit einem literarischen Trick versucht der Schweizer Autor und Musiker Richard Koechli, das Steuer herumzureissen, dem vergessenen König nachträglich ein würdiges Ende zu bereiten. Eingebettet in eine fiktive Gesprächsrunde mit der jungen Pflegehelferin Anna und ihrem musikbesessenen Freund Eric, lässt er Hudson Whittaker kurz vor dem Tod (19. März 1981) gleich selber erzählen: Über das Leben in Chicago, über die Liebe, natürlich über seine Musik und seine Songs, über berühmte und weniger berühmte Kollegen, über Trauer, Verzweiflung, über die Angst vor dem Ende - und schliesslich über das Glück des Vertrauens, der Versöhnung mit der eigenen Geschichte. Spannend wie ein Krimi, berührend und humorvoll wie ein Drama, klärend wie ein Geschichtsbuch. Koechli zeichnet Tampa Reds Leben einfühlend und historisch präzise nach, vermittelt dabei entscheidende Ereignisse und Wesenszüge des Blues - und ruft nebenbei auch in Erinnerung, wie Rock'n'Roll und Rockmusik auf dem Rücken dieser Musik entstanden sind. Im Nachwort: Renommierte Musiker und Medienleute aus Deutschland, Österreich und der Schweiz erzählen ihre persönliche Tampa Red-Story - Hank Shizzoe, Peter 'Crow C.', Al Cook, Martin Schäfer, Gerd Vogel, Erik Trauner, Herby Dunkel, Klaus 'Mojo' Kilian, Tanja Wirz, Rainer Wöffler, 'Ro Lee' Sommer, Rolf Winter, Wale Liniger

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Der vergessene König des Blues

Tampa Red

Eine Biografie von

Richard Koechli

www.richardkoechli.ch

[email protected]

© 2017 Richard Koechli

1. Auflage

Buchcover-Zeichnung: Roland Sommer, www.sommer.lu(inspiriert durch ein Foto von Jacques Demêtre)

Lektorat, Korrektorat: Donald Meyer

Schrift satz, Layout: Richard Koechli

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN Paperback: 978-3-7439-0616-7

ISBN Hardcover: 978-3-7439-0617-4

ISBN e-Book: 978-3-7439-0618-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Koechlis neuen Song «Th e Unsung King - Tampa Red» gibt‘s gratis zum Buch!

Auf meiner Website erfahren Sie, wie Sie den Song herunterladen können:

www.richardkoechli.ch

Hauptmenu: «Bücher» Submenu: «Der vergessene König des Blues - Tampa Red»

Inhalt

Kapitel 1 – Der Seltsame auf Zimmer 24

Kapitel 2 – Hudsons Jugend

Kapitel 3 – Auf nach Chicago

Kapitel 4 – Es läuft wie geschmiert

Kapitel 5 – Zwei Glücksbringer: Frances und Bluebird

Kapitel 6 – Ganz oben und bald am Ende

Schlusswort

Die heutige Szene spricht über Tampa Red

Mehr über Tampa Red (Platten-Tipps)

Mehr über Richard Koechli

Kapitel 1

Der Seltsame auf Zimmer 24

Anna fühlte sich seltsam unsicher, als sie an einem kühlen Montagmorgen im März durchs nördliche Stadtviertel von Chicago fuhr. Es war, als ob eine geheimnisvolle und unkontrollierbare Zeitmaschine sie genau in diesem Augenblick ruckartig zurückschleudern würde. An einen geistigen Ort, den sie sich nicht aussuchen konnte. Alles von damals war plötzlich wieder da, ungefragt. Genau dieselben Ängste und Fragen wie vor Jahren, aber ebenso die stimulierende Mischung aus kindlicher Unschuld und fein dosierter Abenteuerlust. Hier hatte sie ihre Jugend verbracht. Anna drosselte das Tempo, damit die Bilder im rechten Seitenfenster nicht zu schnell vorbeiflitzten.

Der Park, etwas weiter weg das Stadium; Anna konnte keine Veränderung erkennen. Es war nicht sehr lange her. Vor vier Jahren, rechnete sie sich vor, war sie mit ihren Schulkolleginnen hier zum letzten Mal auf diesen Plätzen herumgerannt. Das Hanson Stadion wurde schon immer rege benutzt für allerlei Schulsportanlässe. Auch heute schien eine farbenfrohe Gruppe warm gekleideter Kids sich gutmütig von ihrem Lehrer zur Leibesübung überreden zu lassen. Soccer, Lacrosse und Football hatten sie damals gespielt, ebenso Leichtathletik. «Leichtathletik spielt man nicht», widersprach sich Anna. Sie fühlte sich nie wie eine Mannschaftssportlerin. Der einsame Kampf des Mittelund Langstreckenlaufs, das war für sie the real thing. Hier im Stadion hatte sie prächtige Meetings dieses königlichen Sports erlebt, sogar mit internationaler Besetzung. Auch sie selber war bei Junior Championships dabei gewesen, als 800-m- und 1500-m-Läuferin. Auf dieser Kunststoffbahn hier. Ein fantastisches Gefühl!

Doch während der letzten Jahre blieb ihr keine Zeit zum Trainieren. Sie hätte ohnehin für eine Karriere als Sportlerin nicht genügend Talent gehabt; Anna hatte sich deshalb für den Pflegehelferinnen-Beruf entschieden. Noch zwei Monate bis zur staatlichen Abschlussprüfung. Das gab ihr zu denken. Sie hatte gut gearbeitet, doch ihre Zukunft hing am Faden dieses verflixten Diploms, und Anna hasste unerbittliche Momente der Entscheidung. Ungewissheit machte ihr Angst, auch jetzt. Ein einmonatiges Praktikum war der Schluss ihrer Ausbildung. Sie war auf dem Weg dorthin. Der allererste Tag in diesem Altersheim. Was würde auf sie zukommen? Alles fremde Menschen, vielleicht gehässige Kranke, vielleicht senile und lüsterne alte Männer. Natürlich waren solche Herausforderungen Teil ihres künftigen Berufes. Sie versuchte, positiv zu bleiben. Der Angst kann man nicht ausweichen; es gilt, ihr erhobenen Hauptes zu begegnen. Es gilt, diese Krücke des Egos zu verscheuchen, mit dem aufrichtigen Plan, Gutes tun zu wollen. Wer seine Mitmenschen nach bestem Wissen und Gewissen pflegen möchte, braucht sich vor nichts zu fürchten. Anna wusste es, doch die Erkenntnis war vorerst im Kopf gefangen, konnte zu ihrem ganzen Wesen nicht vordringen. Die Angst hingegen sehr wohl. Und ausgerechnet heute schlug auch die Zeitmaschine wieder zu. All die kleinen Fortschritte der letzten Jahre, einfach weggefegt. Es kam ihr vor, als würde sie heute, 1981, einer Situation gegenüberstehen – als ein ins Jahr 1977 zurückgeworfener Mensch. Keine blosse Erinnerung, nein. Der Geist war bei 1977 eingerastet, und sie hatte im Augenblick keine Chance, das Rad wieder vorwärts zu drehen. Gott war stärker, er konnte nach Belieben an dieser Maschine hantieren. Sie musste es aushalten.

Anna verlangsamte das Tempo weiter. Noch einige Hundert Fuss bis zum Ziel, 2450 NORTH CENTRAL AVENUE. Die Gegend schien ihr zu gehören; all die gemauerten Bungalows und Holzhäuser hier, mit ihren kleinen Vorgärten und Laubbäumen. Da vorne, links am Strassenrand, lag das Altersheim; im selben Stil jener typischen roten Backsteinhäuser. Vor ungefähr sieben Jahren wurde das Gebäude fertiggebaut. Anna hatte es immer nur von aussen gesehen – und im Laufe der Zeit ein paar Gerüchte über dessen Innenleben vernommen. Der Ruf war nicht sonderlich gut. Egal, das zählte jetzt nicht mehr. Anna parkte den Wagen, atmete tief durch – und nahm den Schein des weissen Schildes vor der Eingangstür in sich auf: CENTRAL NURSING HOME.

Wenig Licht, ein düsterer und von muffigem Geruch durchtränkter Raum wartete hinter der Tür. Zwei Greise schleppten sich im Zeitlupenschritt an Anna vorbei, wortlos und mit leerem Blick. Ihre Kleider glichen eher einem schmutzigen Pyjama, und dass diese zerbrechlichen Männer allein hinaus auf die Strasse schlenderten, schien hier niemanden zu kümmern. Am Ende des Ganges musste wohl der Empfang sein. Anna eilte zur Theke; es galt, keine Zeit zu verlieren.

«Zwei betagte Männer haben soeben das Haus verlassen», schlug sie mit hastig schüchterner Stimme Alarm. «Wollen Sie Hilfe holen oder soll ich hinaus zu ihnen?»

Der Mann hinter der Theke liess sich demonstrativ Zeit, um schliesslich gelangweilt sein misstrauisches Augenpaar auf die Fremde zu richten: «Was willst du hier?»

«Entschuldigen Sie bitte …», wich Anna dem Prüfblick aus, «ich werde mich gleich vorstellen, doch da draussen sind zwei betagte Bewohner allein.»

«Na und …? Die laufen uns nicht davon», entgegnete der Mann spöttisch lächelnd. «Unsere ’Bewohner’, wie du sie nennst, können hier ein und aus. Solange sie uns in Ruhe lassen …»

Anna spürte, dass ihr erster Auftritt drauf und dran war, zu misslingen. Genau das hätte nicht passieren dürfen! Warum nur musste sie immer die eigene Angst aufs Gegenüber projizieren wollen? «Ähm, sorry, ich möchte Sie nicht stressen. Mein Name ist Anna, ich bin die Praktikantin.»

«Ich weiss nichts von einer Praktikantin.»

«Oh, sorry, Sie sind nur Aushilfe hier …?» Anna versuchte, sich die Beleidigung nicht anmerken zu lassen.

«Jetzt machen Sie Halt, junge Lady. Ich bin hier der Administrator, seit es die Bude gibt!» erwiderte der Mann. «Anna ist ein schöner Name, deine Augen ebenso. Aber von einer Praktikantin weiss ich trotzdem nichts.»

Gegen ihr Erröten war Anna machtlos: «Okay, dann läuft offenbar was schief. Ich bin von der Schule hierher geschickt worden, um Erfahrungen zu sammeln. Das gehört zum Lehrplan. Ein gewisser Mister Auvray soll sich um mich kümmern.»

«Robby …, schon wieder so ne bescheuerte Idee von ihm», murmelte der Mann, «und wir müssen die Scheisse ausbaden.»

«Bitte, wie …?» Jetzt sollte der Unfreundliche ruhig merken, dass Anna sich betupft fühlte. «Ich möchte Pflegehelferin werden, aus Berufung, und ich kann gerne anpacken, wo immer Sie Hilfe brauchen.»

«Schon gut, schon gut. Ich bin David Allman. Willkommen in unserer Bude. Am besten werden wir miteinander klarkommen, wenn Sie uns in Ruhe lassen. Der Staff schafft das gut allein. Also, versuchen Sie, sich zu beschäftigen, aber machen Sie’s nicht kompliziert.»

Anna hatte sich vieles ausgemalt – wie gewöhnlich mit einer Trefferquote Null. «Ich will Ihnen nicht zur Last fallen, Mister Allman. Aber was meinen Sie mit ’sich beschäftigen’? Wir haben eine Menge geübt an der Schule, ich kann hier nützlich sein und dazulernen.»

«Das glaube ich Ihnen gerne, Anna.» Jetzt wollte der Mann offenbar doch auch seine freundliche Seite hervorkehren. «Nennen Sie mich David. Leute wie Sie brauchen wir. Doch der Alltag in unserem Beruf sieht oft anders aus als in diesen Büchern. Die Alten hier im Haus können manchmal richtig böse sein, und undankbar.»

«Ich weiss, David», blühte Anna auf, im Gefühl, so was wie eine Eingeweihte zu sein. «Das sind psychologisch erklärbare Aggressionen und Schutzreflexe. Man muss diesen Menschen mit Liebe begegnen, und wir haben an der Schule ein paar der neuesten Strategien kennengelernt.»

«Alles okay, Anna. Ich muss jetzt hier weiterarbeiten, diese verdammten Listen.» David wühlte in einem Papierbündel. «Am besten, Sie schauen sich hier einfach mal um und gehen auf Entdeckungsreise. Irgendwo muss auch der Chef sein; reden Sie mit ihm über diese Strategien.»

Davids freundliche Seite schien sich bereits wieder verkriechen zu wollen. Kein weiterer Augenkontakt. Anna machte sich davon und suchte nach Türen oder Treppen.

Der Tisch war gedeckt, das Nachtessen so weit vorbereitet. In wenigen Minuten musste ihr Freund da sein. Montags blieb ihm nie viel Zeit, weil er abends immer diese Radiosendung zu moderieren hatte. Anna und Eric waren seit zwei Jahren ein Paar, vor einigen Monaten zogen sie gemeinsam nach Andersonville, einem kleinen Vorort nördlich von Chicago. Er war einige Jahre älter als sie; dank seinem Job als Automechaniker konnten sie sich diese Zweizimmerwohnung hier leisten. Anna wartete ungeduldig. Es gab einiges zu erzählen von diesem seltsamen ersten Tag im Altersheim, und Eric war stets ein wunderbarer Zuhörer. Da, endlich, die Klingel. Anna eilte zur Tür.

«Heal me with a smile, Darling», waren wie immer seine ersten Worte. Anna liebte den vertrauten Geruch seiner Lippen. «Na, wie war dein Tag?» fragte er neugierig.

«Komm, setz dich, Honey», strahlte Anna, «das Essen ist bereit, sehr viel Zeit bleibt dir nicht.»

«Wow, du hast dir Mühe gegeben», bemerkte Eric zärtlich, «du musst doch sicher müde sein, nach diesem Challenge?»

«No problem, für dich koche ich immer gerne. Es gibt sowieso keinen Grund, müde zu sein.»

«Wie denn das …?» fragte er erstaunt. «Du hast heute nicht gearbeitet?»

«Oh doch, natürlich, ich war dort. Aber es kam alles anders. Niemand gab mir irgendwas zu tun. Ich solle mich einfach nur umsehen.»

«Pass auf, Anna, das kann ein Trick sein. Die wollen dich beobachten oder in eine Falle locken. Morgen schon werden sie vielleicht ihr wahres Gesicht zeigen, dir Faulheit vorwerfen und dich zum Schuften antreiben.»

«Also, ich weiss nicht – ich glaube eher, dass ich denen egal bin. Die Pflegerinnen und Pfleger sind recht nett, doch niemand nimmt sich Zeit für mich.»

«Und, wie war der Chef? Wie sind die Bewohner?» hakte Eric nach. «Wie ist der Laden sonst so?»

Anna atmete etwas tiefer, ihre Augen schimmerten ratlos. «Grösser als ich dachte; über 200 Betten, in einigen Zimmern schlafen drei oder vier Bewohner, andere sind allein. Aber irgendwie wirkt das Haus auf mich depressiv.»

«Wieso denn, Darling?»

«Dieser Geruch; im ganzen Haus riecht es ziemlich übel. In einem Zimmer war es kaum auszuhalten. Als ich die Pflegerin nach dem Grund fragte, meinte sie nur, der Patient hier im Bett wolle nicht geduscht werden, und er habe manchmal während Tagen die Hosen voll – man solle ihn einfach in Ruhe lassen.»

«Das ist krass», staunte Eric.

«Ja, und auch sonst wirkt das ganze Haus auf mich wie ein Ort für arme Leute. Schlechte Beleuchtung, lieblose Dekoration, und Betagte gehen oft ganz allein vors Haus, um zu rauchen.» Annas Miene hellte sich eine Spur auf. «Dennoch, die meisten Bewohner sind nett und freundlich, auch wenn einige ziemlich gebrechlich und abwesend wirken.»

«Und der Chef?»

Anna schmunzelte: «Das war peinlich. Ich hatte ihn für einen Heimbewohner gehalten; ungepflegt, ungekämmt, er wirkte wirklich nicht professionell.»

«Und, wie hat er reagiert?»

«Er scheint ziemlich beschäftigt zu sein, oder wenigstens tat er so. Genau gleich übrigens der Administrator. Etwas mürrisch, die beiden. Ich solle sie möglichst in Ruhe lassen, nicht um Rat fragen, dem Personal bei der Arbeit zusehen und dabei etwas lernen.»

«Ist doch cool», meinte Eric grinsend, «sieht nach einem easy Job aus.»

«Ja, schon, aber das macht mir keine Freude; du weisst doch, dass ich diese Arbeit als Berufung sehe. Ich möchte nützlich sein, helfen, Sinn stiften.»

«Natürlich, Darling.» Eric blickte entschuldigend. «Du hast ein riesengrosses Herz, bist ein Juwel. Aber du solltest es entspannter angehen.» Er berührte zärtlich ihre Hand. «Sieh das Ganze positiv; sie lassen dich in Ruhe, schauen dir nicht ewig auf die Finger. Vielleicht kannst du sogar von dir aus irgendwas anschieben – ein therapeutisches Projekt oder so. Etwas, was den Bewohnern Freude macht.»

«Du hast recht.» Annas Augen begannen zu leuchten. «Mir kommt da eben eine Idee. Weisst du noch? Ich hatte dir davon erzählt – die beiden Europäer, welche unser Schulleiter bei einem Kongress kennenlernte.»

Eric nickte zustimmend. «Die Wiener Psychiater?»

Anna staunte wieder einmal, wie sehr sich ihr Freund für solche intellektuellen Dinge zu interessieren vermochte. «Genau, Stephan Rudas und Erwin Böhm, mit ihrem neuen Pflegemodell.»

«Die Biografiearbeit!» Eric schluckte den letzten Bissen hinunter, wischte sich geduldig über den Mund und faltete die Tischserviette wieder fein säuberlich zusammen. Er war alles, nur kein typischer Mechaniker.

«Du sagst es. Die Erinnerungstherapie, mich fasziniert dieses Projekt.» Annas Augen wurden noch grösser. «Vielleicht gibt es die Möglichkeit, diese Therapie im Heim auszuprobieren. Ich möchte wetten, dass die Bewohner eine Menge zu erzählen haben.»

«Versuchskaninchen, warum nicht …?»

«Es gibt nichts zu verlieren dabei. Zuhören ist das beste Medikament, ganz ohne Nebenwirkungen. Diese Menschen warten doch nur darauf!»

«Eine fantastische Idee, Darling.» Eric schien sich fast entschuldigen zu wollen, als er aufstand und möglichst geräuschlos den Stuhl zur Tischkante hinschob. «Ich bin stolz auf dich, morgen wirst du die Leute im Heim aufblühen lassen.»

«Erst mal werde ich versuchen, den Boss zu überzeugen. Du weisst, ich bin nicht die Mutigste. Gerade gestern spürte ich wieder diese alten Ängste.»

«Du schaffst das, Darling. Mit deinem Charme wirst du ihm die Idee verkaufen.» Er strich sanft über ihr Haar. «Sei mir nicht böse – ich muss los. Meine Bluesfreaks warten auf die Sendung.»

Der innige Abschiedskuss tröstete Anna darüber hinweg, dass sie den Abend alleine würde verbringen müssen. «Viel Erfolg, Honey. Die Hörer lieben dich.»

Anna verstand nicht viel von Musik. Sie hatte keine speziellen Vorlieben, entweder ein Stück gefiel ihr oder nicht. Blues war für sie ein Stil wie jeder andere. Doch für Eric war diese Musik wie ein Lebenselixier, das wusste sie.

«Jetzt habe ich einen kurzen Moment Zeit für Sie», kam der Heimleiter auf Anna zu, «kommen Sie bitte in mein Büro.»

Mister Auvray wirkte gepflegter als gestern. «Oh, wunderbar, vielen Dank», entgegnete Anna aufgeregt, als sie ihm hinterherlief.

Das Büro hingegen sah ziemlich unordentlich aus. «Setzen Sie sich, bitte. Wie gefällt es Ihnen bei uns, Anna?» fragte der Chef bemüht freundlich.

Die langen Sekunden, welche Anna zum Antworten benötigte, entlarvten sie als schlechte Lügnerin. «Es ist schön hier. Die Leute sind nett zu mir.» Sie senkte ihren Blick. «Doch ich weiss nicht, ob ich wirklich etwas Nützliches tun kann. Verzeihen Sie, Mister Auvray, ich hatte gestern den Eindruck, eher zu stören.»

«Der Eindruck täuscht. Wir waren wohl etwas ruppig zu Ihnen; meine Leute haben alle Hände voll zu tun, das müssen Sie verstehen.»

«Selbstverständlich, Mister Auvray.» Anna merkte, wie unterwürfig ihre Stimme klang. Sie hasste das an sich selbst. «Ich bewundere Ihr Personal. Sagen Sie mir einfach nur, wo ich anpacken soll – es können auch schmutzige Arbeiten sein.»

«Keine Angst, Sie werden sich die Hände noch genug schmutzig machen können. Unsere Leute sind einfach nur misstrauisch. Die letzte Praktikantin war verdammt kompliziert, die hatte ständig allerlei Fragen. Am Schluss wusste sie alles besser und wollte uns erklären, wie wir unsere Arbeit zu tun hätten.» Auvray wischte sich den Schweiss von der Stirn. «So was brauchen wir hier nicht – am Ende kommen dann alle zu mir, um sich zu beschweren.»

«So was würde ich mir nie erlauben, Mister Auvray.»

«Schon gut, schon gut», triumphierte der stattliche Mann. «Sie sind ein kluges Kind mit Manieren, unaufdringlich und hilfsbereit. So was merke ich sehr schnell. Aber sagen Sie jetzt bitte, was Sie von mir eigentlich wissen wollten.»

Anna spürte den herausfordernden Blick ihres Gegenübers und wurde unsicher, wie immer. Sie dachte an Eric, seine ermutigenden Worte gaben ihr gerade noch rechtzeitig die Fassung zurück. «Ach so ja, ich hätte da eine Idee. Die Heimbewohner haben sicher viel aus ihrem Leben zu erzählen.»

«Ja, und …?» warf Auvray misstrauisch ein.

«Ihre Leute haben dafür natürlich keine Zeit – aber ich könnte diese Rolle übernehmen.» Annas Augen begannen zu leuchten. «Wir hatten an der Schule von einem neuen, psychobiografischen Pflegemodell gehört; es sei sehr vielversprechend. Mir würde so was Freude machen, ich bin eine geduldige Zuhörerin.»

Auvray bremste mit einem trockenen Seufzer. «Ihre Vorgängerin hatte auch solche Ideen; Musik wollte sie mit den alten Leuten machen. Klingt cool, aber wir sind kein Ferienheim – für Entertainment bleibt hier kaum Zeit. Ausser an Weihnachten vielleicht, oder bei Geburtstagen.»

«Nein, keine billige Unterhaltung, Mister Auvray.» Anna spürte den hochkommenden Ehrgeiz, die Idee mit starken Argumenten zu verkaufen. Darin war sie manchmal richtig gut; wenn die Angst sie in Ruhe liess, konnte sie an rhetorischen Fights sogar Spass haben. «Wenn Sie erlauben, würde ich Ihnen das Konzept gerne kurz erläutern. Es dauert nicht lange. Bitte, Mister Auvray.» Anna schaute ihrem neuen Chef in die Augen.

«Na gut, schiessen Sie los. Beweisen Sie mir, dass auch eine Frau sich kurzfassen kann.» Zu grenzenlosem Selbstbewusstsein wollte er die Praktikantin dann doch nicht auflaufen lassen.

Anna atmete durch und versuchte, sich zu konzentrieren: «Unser Schulleiter war kürzlich an einem internationalen Kongress in New York. Zwei Europäer, der Pflegedienstleiter Erwin Böhm und der Psychiater Stephan Rudas aus Wien sprachen dort von einem neuen Pflegemodell. Ein wesentliches Element dieses Modells ist die ’biografieorientierte Erinnerungstherapie’. Vor allem bei der Pflege dementer Patienten ist Biografiearbeit äusserst wichtig. Erstens schafft sie Vertrauen und ermöglicht, Bedürfnissignale des Heimbewohners besser zu verstehen. Zweitens erhofft man sich durch diese Arbeit einen Schlüssel zu noch vorhandenen Fähigkeiten, welche dann bewusst gefördert und möglichst lange erhalten werden können. Älteren Patienten hilft diese Therapie zudem, ihre schwindende Identität länger zu bewahren. Das gemeinsame Erinnern stärkt ihre Würde und Selbstwahrnehmung; sie können so besser ihre Ganzheit und Einzigartigkeit erkennen und sich mit ihrem Schicksal versöhnen. In einer Gesellschaft, in welcher Senioren kaum mehr Platz finden, ist eine solche Therapie …»

«Stooooop …!» Auvray versuchte, sein abruptes Dazwischenfahren nicht allzu unfreundlich erscheinen zu lassen. Satire ist in dieser Hinsicht stets hilfreich: «Sie wollen Politikerin werden? Wenn Sie hier so intelligent formulieren, was soll ich Ihnen dann noch entgegnen können?»

In ihrem Lächeln war eine Spur Stolz unübersehbar. «Nein, Mister Auvray, ich wollte Sie nicht beeindrucken. Aber ich bin wirklich überzeugt von dieser Idee.»

«Das glaube ich Ihnen, Anna. Sieht ganz danach aus, als hätten Sie diesen Job aus Berufung gewählt, und dass Sie ein kluges Kind sind, habe ich Ihnen bereits gesagt. Beides gefällt mir. Ich fürchte nur, dass der Alltag Sie schon bald einholen wird.» Auvray räusperte salopp, als gälte es, seine langjährige Erfahrung akustisch zu untermauern. «Wir müssen hier leider abbrechen, ich muss weg. Sagen Sie mir noch gaaaaanz kurz, wie Sie sich das in der Realität vorstellen.»

Auf Ungeduld reagierte Anna nie besonders selbstbewusst. «Tut mir leid, Mister Auvray. Ich möchte Ihre Zeit nicht länger beanspruchen. So genau überlegt habe ich mir das noch nicht. Vielleicht könnte ich mit den Bewohnern einfach gewisse Sitzungen machen; ihnen Fragen stellen zur Lebensgeschichte, und vor allem aufmerksam zuhören.»

«Plauderstündchen mit Anna …! Unsere Leute hören sehr oft zu, wenn die Alten erzählen. Sollen die Europäer dem jetzt einen neuen Namen geben, ist mir egal. Legen Sie los mit Ihrer ’Erinnerungstherapie’ – mein Okay haben Sie.»

«Oh, das ist wunderbar; tausend Dank, Mister Auvray.»

«Aber bitte nicht übertreiben. Wählen Sie sich einen Heimbewohner aus, dann können Sie konzentriert mit ihm arbeiten. Vielleicht eine Stunde pro Tag oder so.» Auvray erhob sich und öffnete demonstrativ die Tür. «Es gibt daneben noch genug anderes zu tun. Heute zum Beispiel beim Servieren des Mittagessens – zwei von meinen Frauen sind gerade krank. Melden Sie sich in der Küche, Anna. Ich muss jetzt gehen.»

«Na siehst du, Darling, ich hab’s dir doch gesagt, du schaffst das», freute sich Eric.

Anna schien glücklich zu sein. Es war nicht bloss dieses Gespräch mit dem Heimleiter; der Tag brachte auch sonst mehrmals ihre Bedenken zu Fall. «Ich fühlte mich nützlich heute. Einige Male durfte ich anpacken, in der Küche, aber auch bei kleinen Pflegejobs. Ein Bewohner sagte sogar ’thanks, you‘re a sunshine’ zu mir.»

«Natürlich, was kann einem Besseres passieren als von Anna umsorgt zu werden?» lächelte Eric. «Erzähl, wie hat der Boss reagiert? Wann beginnst du mit der Therapie?»

«Du bist wunderbar, Honey. Dass du dich immer so für mich interessierst.» Anna schaute verliebt. «Du hättest doch sicher auch eine Menge zu erzählen.»

«Ach komm schon – ich fummle den ganzen Tag an kaputten Karossen herum und versuche, aufgebrachte Autobesitzer zu beruhigen. Da gibt’s nichts zu erzählen, Darling.»

«Und wie lief die Sendung gestern Abend? Entschuldige bitte, ich war zu müde, um mitzuhören.»

Erics Augen verwandelten sich in die eines staunenden Kindes. «Es war fantastisch! Ich spielte vor allem pre-war Blues; eine Menge alter Sachen von Blind Willie Johnson, Charley Patton, Son House, Skip James und wie sie alle heissen. Einige Hörer riefen begeistert an.»

«Das ist cool. Was würdest du bloss machen ohne Musik?»

«Ich hätte noch immer dich.» Eric strich ihr sanft über die Wange. «Aber sag jetzt, Darling, wie war die erste Erinnerungstherapie-Sitzung? Oder wann beginnst du damit?»

«Ach weisst du, so grenzenlos begeistert war der Chef nun auch wieder nicht.» Anna wurde etwas kühler. «Zeitweise hatte ich eher den Eindruck, dass er sich über die Idee lustig machen würde. Nicht auf gemeine Art, aber dennoch. Wie ein kleiner Macho eben.»

«Du darfst dich nicht provozieren lassen. So sind die Männer nun mal.»

«Ausser mein Eric natürlich – der ist ein Ausserirdischer.» Anna gab ihm einen sanften Kuss. «Also der Boss meinte, ich solle mir einen Heimbewohner aussuchen und mit ihm dann täglich eine Stunde arbeiten.»

«Klingt doch gut. Hast du dich schon entschieden?»

«Oh nein, Honey – so schnell geht das bei mir nicht. Ich bin noch nicht mal allen Heimbewohnern begegnet. Werde mir ein paar Tage Zeit lassen, solche Dinge entscheide ich intuitiv, das weisst du.»

«Weiss ich, Darling. Aber eine kleine Idee hast du bereits im Hinterkopf, das weiss ich ebenfalls.» Eric schmunzelte genüsslich.

«Eigentlich schon, ja. Ein Mann im zweiten Stock, Zimmer 24. Zu dritt sind sie dort, die beiden andern scheinen ihn zu belächeln; er sei ein Säufer, ein Grossmaul. Auf mich wirkt er eher verschlossen, völlig verunsichert. Er redet kaum, in seinen Augen sehe ich eine traurige Sehnsucht. Und als ich mich ihm vorstellte, passierte etwas Seltsames.»

«Was denn, Darling?»

«Sein Blick war plötzlich völlig verwandelt – und stell dir vor, er begann zu singen. Jawohl, zu singen. Weisst du, was er sang …?» Anna blickte ratlos, gleichzeitig bewundernd.

Eric schüttelte wortlos den Kopf.

«Annie Lou, I want you for my own, Annie Lou. You got to be mine, no matter what you say or do.» Anna versank in ihren Gedanken. «Woher wusste der Kerl meinen zweiten Namen? Ich hatte mich nur als Anna vorgestellt. Doch weisst du, es klang nicht nach billiger Anmache; als er das sang, schien er irgendwie gar nicht bei mir zu sein. Er war weit weg, doch er lächelte.»

Eric grinste anerkennend und rief: «Der Alte hat’s drauf. So was nenne ich ’spontan’; der Typ ist ein Kenner!»

«Wie meinst du das?»

«Da muss man zuerst drauf kommen; jemand nennt dir seinen Namen – und du ziehst sofort den passenden Song aus dem Ärmel. Meisterhaft, Chapeau!»

«Was für ein Song, Honey?»

Eric blühte auf, jetzt war sein Background als Musik-Kenner gefragt. «’Anna Lou Blues’ ist ein Klassiker; ein Stück von Tampa Red. Coole Versionen gibt’s auch von Robert Nighthawk oder Earl Hooker.»

«Aha», munkelte Anna mit unschuldigem Blick, «es gibt einen Song über mich? Davon hast du mir noch gar nie was erzählt. Doch woher kennt der Bewohner meinen zweiten Namen?»

«Es gibt viele Blues-Songs mit weiblichen Namen, Darling. Ich denke, der Mann hat einfach tonnenweise Glück gehabt, dass bei dir gleich auch ’Lou’ passt. Ist doch ein wunderbarer Zufall, eine fantastische Geschichte!» Eric holte seine Gitarre hervor.

«Ja, wirklich.» Anna wirkte für einen Moment abwesend. «Ich versteh ja nichts von Musik, doch irgendwie hatte der alte Mann eine wunderbare Stimme, als er diese Zeilen sang. Er wirkte wie verzaubert – fast so, als wäre das Lied ein Teil von ihm. Er schien glücklich zu sein.»

Eric zupfte ein paar Töne auf seinem Instrument und sang dazu die Textzeile aus Anna Lou.

«Genau», rief Anna begeistert, «das ist die Melodie!»

«Es schien mir zu klischiert, deshalb habe ich dir das Lied bisher nie vorgesungen.» Er senkte den Blick. «Und du weisst ja – ich bin Automechaniker, kein Sänger, ebenso wenig ein Gitarrenvirtuose.»

«Aber nein, Honey. Ich liebe es, wenn du spielst!»

«I love you.» Eric lächelte zufrieden. «Auf jeden Fall ist dieser Typ im zweiten Stock Klasse! Vielleicht kennt er sogar meine Sendung? Frag ihn doch mal. Der Mann ist mir sympathisch, mit ihm würde ich an deiner Stelle die Biografiearbeit machen, Darling.»

«Du hast recht», flüsterte Anna schmunzelnd, «ich bleibe dran. Aber jetzt sollten wir schlafen gehen.»

Genau in dem Moment, als sie aufgewühlt das Zimmer verliess, kam ihr Mister Auvray entgegen. Ausgerechnet!

«Alles okay, Anna?» fragte der Heimleiter verwundert. «Die Alten waren doch wohl nicht etwa grob zu Ihnen?»

«Oh, nein, alles okay, Mister Auvray.» Anna hatte gerötete Augen.

«Sie sind eine schlechte Lügnerin, mein Kind. Zwei der Männer hier von Zimmer 24 können ganz schön gemein sein – wir kennen das. Sagen Sie’s mir bitte, wenn es Probleme gibt.»

Anna blickte verlegen. «Das ist nett von Ihnen, vielen Dank. Doch es ist nicht, was Sie meinen.» Jetzt mischte sich zusätzlich Trauer in ihren Ausdruck.

«Was ist es denn, Anna?»

«Ähm …, ich habe mich entschieden, die Erinnerungstherapie mit Mister Whittaker durchzuführen. Doch dann …»

«… dann stänkerten die beiden andern einfältig herum und liessen den Whittaker nicht reden – richtig?!» fuhr Auvray verärgert dazwischen.

«Nein. Oder doch, natürlich, beide machten sich über ihn lustig. Aber das kriegte ich schon hin, Mister Auvray», meinte Anna bemüht selbstbewusst.

«Miller und Henderson sind einfältige Grossmäuler – müssen Sie nicht ernst nehmen. Whittaker hingegen ist ein spezieller Mensch, originell, sehr sensibel. Auch ein Trinker zwar, aber reden kann der wie ein Gebildeter. Manchmal sagt er tagelang kein Wort. Soll früher irgendein Künstler gewesen sein, hört man. Vielleicht auch nur in seinen Träumen. Auf jeden Fall macht er hier nie Probleme. Bevor der Mann zu uns kam, war er schon in allerlei Anstalten – zuletzt glaube ich im ’Sacred Heart Nursing Home’. Dann ging ihm das Geld aus. Egal was die Leute erzählen – mir gefällt der Mann. Sie haben eine gute Wahl getroffen, Anna.»

«Oh, das freut mich, Mister Auvray.» Zu merken, dass sie ihren Chef zu Unrecht als Macho eingeschätzt hatte, gab ihr sogleich ein besseres Gefühl. «Ich bin genau Ihrer Meinung. Mister Whittaker ist ein geheimnisvoller Mensch. Verängstigt – doch ich glaube, er hätte viel zu erzählen. Allerdings ist bei unserer ersten Sitzung was schiefgelaufen …»

«Lassen Sie sich diesen Job nicht zu nahe gehen, gutes Kind.» Natürlich sah er, wie Anna erneut mit den Tränen kämpfte. «Was ist denn passiert?»

«Es war mein Fehler; meine erste Frage war wohl nicht die richtige.» Anna gab den Kampf auf. «Ich versuchte, was von seiner Kindheit zu erfahren …», sagte sie leise schluchzend, «da wurde er plötzlich wie versteinert und brachte kein Wort heraus. Er weinte wie ein Kind.»

«Ist doch gut, Anna. Alte Menschen werden wieder zu Kindern – und Sie sind noch ein halbes Kind.» Auvray schien jetzt doch wieder eher auf männliche Stärke setzen zu wollen. «Wenn Sie bei dieser Arbeit überleben möchten, gebe ich Ihnen den Rat, klare Grenzen zu setzen. Was meinen Sie, warum ich hier manchmal den Bösen und Kalten spiele? Es geht nicht ohne!»

«Ich weiss, Mister Auvray; vom Abgrenzen haben sie uns in der Schule erzählt. Ich war nur einfach nicht gefasst auf die Reaktion des Mannes. Und ich weiss jetzt nicht, wie ich mit ihm weiterarbeiten soll.»

«Machen Sie sich keine Sorgen. Alte Menschen vergessen schnell, morgen reden Sie mit Whittaker, als ob nichts geschehen wäre.» Auvray liess sich anmerken, dass er für Anna jetzt keine weitere Zeit mehr hatte. «Aber versuchen Sie, sich in einem andern Raum mit ihm zu unterhalten – ohne das Gespött von Miller und Henderson. Vielleicht in der Cafeteria, dort ist nie jemand um diese Zeit.»

«Vielen Dank, Mister Auvray», rief Anna ihrem davonlaufenden Chef hinterher. «Gib’s sonst noch was für mich zu tun?»

«Im dritten Stock, die letzten drei Zimmer. Der Masseur war im Haus, das bringt immer alles in Verzug.» Jetzt verschwand er im Treppenhaus.

Anna merkte, wie sich die Zeitmaschine ungefragt anschlich. Die Gänge schienen düster wie am ersten Tag, die Luft war erdrückend. Es musste doch möglich sein, für einen angenehmeren Geruch zu sorgen hier. Mit ätherischen Ölen oder Duftkerzen zum Beispiel. Morgen würde sie mit Mister Auvray darüber reden. Doch im Augenblick fühlte sie sich zurückgeworfen; nicht bloss um ein paar wenige Jahre diesmal. Es war ein Zustand, den sie sehr gut kannte, seit ihrer Kindheit. Inzwischen wusste Anna, dass sie kaum einen Einfluss auf die Länge solcher Augenblicke hatte. Es galt, sie auszuhalten. Und so gut es ging abzufedern – mit einem Gebet einerseits, mit dem Benennen des Zustandes andererseits. Es fühlte sich an wie eine lähmende Mischung aus Schuldgefühl und Schutzlosigkeit. Eric würde ihr bestimmt auch helfen heute Abend. Doch sie wollte stark sein, ihrem Freund was geben können, nicht nur von ihm zehren.

«Wie soll ich glücklich sein Darling – ohne dein Lächeln?» begrüsste Eric sie mit besorgter Miene. «Mach mir nichts vor, Anna, du hast was auf der Leber. Aber lass uns erst versuchen, es wegzuküssen.»

«Du bist wunderbar, Honey», seufzte Anna erleichtert.

«Was war denn los heute? Komm, setz dich und erzähl. Ich mach dir einen Tee.»

Anna liess sich tonnenschwer aufs Sofa fallen. «Mach dir keine Sorgen. Der Tag brachte auch Gutes. Mein Chef ist wohl doch nicht so, wie ich dachte. Der kann ganz schön sensibel beobachten, und über die Wahl des Kandidaten für die Erinnerungstherapie wurden wir uns schnell einig.»

«Ist doch wunderbar, Darling. Dann ist es definitiv dieser Blues-Freak im zweiten Stock?» Erics Augen glänzten aufgeregt.

«Ja, Honey, es ist Mister Whittaker.»

«Fantastisch! Und, wie war die erste Sitzung …?»

Annas Blick veränderte sich. «Ach weisst du, eigentlich habe ich ja kaum eine Ahnung, wie man so eine Biografiearbeit richtig beginnt.»

«Komm schon», warf Eric ermutigend ein, «du machst so was intuitiv richtig.»

«Ich weiss nicht. Wichtig scheint mir, zuerst ein gewisses Vertrauen aufzubauen. Der Mann ist verschlossen. Irgendwie hat man den Eindruck, dass er gar nicht mehr existiert. Dass er sich seiner selbst schämt.»

«Das machst du wunderbar, Darling. Mit deinem Wesen wirst du ihn verzaubern; ihm helfen, sich anders wahrzunehmen, sich mit seinem Leben zu versöhnen.»

Er hätte ebenso Seelsorger werden können, dachte Anna in solchen Momenten staunend. «Ich werde mir alle Mühe geben, Honey.» Ihr Gesicht begann sich zu verkrampfen.

Eric umarmte sie und massierte tröstend ihren Rücken. «When things go wrong with you, it hurts me too. Was ist denn Schlimmes passiert, Darling?»

Anna versuchte, sich zusammenzureissen; vor ihrem Freund wollte sie sich den Tränen nicht geschlagen geben. «Nein, nichts Schlimmes. Ich dachte nur, es wäre das Beste, chronologisch vorzugehen. Deshalb bat ich ihn, aus seiner Kindheit zu erzählen. Er sagte was von einem Fahrradunfall, welcher ihm Fussprobleme fürs Leben beschert hätte. Danach fragte ich nach seinen Eltern. Und plötzlich fing der Mann an zu weinen, wortlos …»

«Oh Gott, vielleicht war da für ihn was Furchtbares passiert.» Eric wischte mit einem Taschentuch sanft über Annas Augen. «Das konntest du doch nicht wissen. Der Mann braucht jetzt einfach Geduld, dann wird er vielleicht plötzlich darüber reden wollen. Du hast nichts falsch gemacht, Darling.»

«Vielleicht hast du recht. Aber auf jeden Fall habe ich ihn blossgestellt – vor seinen beiden Zimmerkollegen. Zwei Spötter, scheinbar im ganzen Haus bekannt.» Anna atmete tief.

«Das ist gemein. Womit hat der Mann diese Zimmerzuteilung verdient?»

«Ja, ich kann das auch kaum verstehen; ist wohl ein Platzproblem. Ich werde künftig in der Cafeteria mit ihm reden, dort sind wir alleine. Das meinte auch Mister Auvray.»

«Sehr gut, Darling.»

«Es tat mir so weh – die beiden lachten über ihn. Natürlich wies ich sie zurecht, doch es war bereits zu spät.» Anna empörte sich zunehmend. «Die waren sicher betrunken. Einer schwafelte unverständlich was von ’schaut her, unser Guitar Wizard winselt wie ein Hund’ …»

Eric war soeben aufgestanden, um die Teekanne zu holen. Ruckartig drehte er sich um, als hätten Annas letzte Worte ihn getroffen wie ein Blitz. Seine Augen wurden grösser und grösser.

«Habe ich was Falsches gesagt, Honey», fragte Anna erschrocken.

«Kannst du ihn bitte kurz beschreiben, Darling …» entgegnete er mit bohrendem Blick.

«Du meinst den Zimmerkollegen – oder unseren Mann, Whittaker?»

«Wie heisst er?!» rief Eric stotternd.

«Ist das nun ein Verhör, Honey?» Anna wirkte leicht verärgert. «Ich hatte dir doch gesagt, Whittaker ist sein Name.»

«Entschuldige, ich hatte dir vorher wohl nicht genau zugehört.» Eric wurde blass im Gesicht. «Bitte, Darling, sag mir, wie sieht Mister Whittaker aus?»

Der plötzliche Alarmzustand ihres Freundes machte Anna ratlos. «Was soll ich sagen? Ein kleiner schwarzer Mann; er wirkt schmächtig und ziemlich gebrochen.»

«Und seine Haarfarbe?» fragte Eric aufgeregt.

«Die Haare … sind angegraut und etwas schütter geworden, vor allem auf seiner Stirn. Die könnten früher mal rötlich gewesen sein – genau wie sein Teint.»

Eric zuckte zusammen und lief wie ein hyperaktives Kind in der Wohnung umher. «Das darf doch nicht wahr sein», rief er schnaufend, «das ist Wahnsinn, eine Sensation! Wenn er’s wirklich ist, dann …»

«Was, dann? Honey, please.» Anna versuchte, ihren Freund zum Hinsetzen zu bewegen. «Ich verstehe rein gar nichts. Kannst du mir bitte erklären, was los ist?»

Eric schluckte leer, wartete zwei beruhigende Atemzüge ab und fragte geheimnisvoll: «Heisst der Mann zum Vornamen zufällig … Hudson?»

Anna überlegte einen Augenblick. «Das könnte stimmen, ja. Ganz sicher bin ich mir nicht, für mich ist er einfach Mister Whittaker.»

«Hör zu, Darling», sprach Eric im Tonfall eines eingeweihten Geschichtenerzählers, «es ist Tampa. Verstehst du? Dein Mann ist vermutlich niemand Geringerer als Tampa Red. Das ist unglaublich, einfach völlig verrückt!»

«Und wer ist dieser Tampa Red? Ein ehemaliger Präsident der Vereinigten Staaten?»

«Anna, bitte, mach dich nicht lustig über mich.»

«Nein, Honey, mach ich doch nicht. Ich habe nur wirklich keine Ahnung, wer das ist. Es muss wohl ein ehemaliger Musiker sein, so wie ich dich kenne.»

«Ja, Darling. Aber nicht irgendeiner.» Eric wurde schwelgerisch. «Die beiden Spötter sprachen vom ’Guitar Wizard’. Genau so wurde er genannt – und das nicht ohne Grund. Tampa war einer der genialsten Bluesmusiker; seine Slidegitarre ist epochal, seine Songs ebenso. Und es waren wahnsinnig viele Songs.»

«Sei nicht böse, Honey. Aber der Name sagt mir wirklich nichts. Du weisst doch, ich kenne nicht viele Bluesmusiker. Die grossen Stars halt, B.B. King oder Eric Clapton – ach ja, und die Rolling Stones.»

Eric machte keinen glücklichen Eindruck. Mit jedem andern Menschen hätte er sich jetzt ziemlich zornig angelegt – mit Anna natürlich nicht. «Darling, ich liebe dich trotzdem. Über die Stones wollen wir jetzt beim Thema Blues nicht reden; B.B. und die andern Kings sind natürlich echte Stars, und auch der talentierte Brite hat’s drauf. Aber Tampa Red ist einer der ganz Alten, ein echter Pionier. Seine Blütezeit war vor und kurz nach dem Krieg. Er war damals einer der Erfolgreichsten – und für die Geschichte unserer Musikkultur hier einer der Allerwichtigsten. Jammerschade, dass ihn kaum mehr jemand kennt!»

«Ich bewundere deinen Background, Honey.» Anna blickte beschämt. «Tut mir so leid, dass ich nun auch zu diesen Banausen gehöre, die keine Ahnung haben.»

«Schon gut, Darling; ist doch nicht deine Schuld. So läuft nun mal das Spiel. Tampa verschwand fast vollständig von der Bühne, noch vor dem grossen Blues Revival der Sechzigerjahre. Er war für die Medien und Mythenbauer kein willkommener Frass.» Eric senkte ebenso beschämt seine Augen. «Auch ich hatte ihn beinahe vergessen. Stell dir vor, ich wusste nicht mal mit Sicherheit, ob er überhaupt noch am Leben ist. Die einen munkeln, er sei in einer Nervenanstalt – für andere ist er bereits tot.»

«Also wenn ich dich richtig verstehe», meinte Anna staunend, «dieser Tampa Red, den sie den Gitarrenzauberer nannten, heisst mit bürgerlichem Namen Hudson Whittaker. Und dieser Mister Whittaker wohnt jetzt in Zimmer 24 im Central Nursing Home?»

«Genau. Das heisst, ganz sicher bin ich mir natürlich nicht. Es könnte auch sein, dass dein Mann sich das in einem Wunschtraum alles nur ausdenkt – sozusagen wie ein Hochstapler, der vor seiner eigenen Realität flüchtet. Aber ein Bluesfan scheint er auf jeden Fall zu sein.»

«Hmm, ich weiss nicht, Honey. Mein Gefühl sagt mir nichts von einem Hochstapler. Er redete ja nicht von sich aus über diesen Tampa Red – er redet überhaupt kaum ein Wort. Der Mann wirkt eher zu bescheiden als zu angeberisch.»

«Das glaube ich dir.» Eric strahlte erneut wie ein kleines Kind. «Wenn er’s wirklich ist, so musst du dir bewusst sein, was das heisst – es ist eine Sensation! Zumindest für Bluesfreaks. Wir müssen es herausfinden, Darling.»

«Soll ich ihn morgen einfach fragen?»

Eric überlegte. «Nein, ich glaube nicht, dass wir auf diese Weise absolute Gewissheit erhalten werden. Wenn er ein Hochstapler ist, kann er ebenso gut Ja sagen.»

«Wir müssen ihm eine Fangfrage stellen, richtig?»

«Du sagst es. Lass mich noch etwas nachdenken. Ich weiss nicht wahnsinnig viel über ihn; es gibt auch kein Buch, nur ein paar Berichte von Journalisten. Mir wird schon was einfallen bis morgen früh, verlass dich drauf.»

Anna fühlte ungefähr so, als gälte es, sich mit angemessenem Respekt und sehr viel Fingerspitzengefühl um einen in die Verbannung getriebenen Adeligen zu kümmern. Sie war allein in der Cafeteria, zusammen mit einem untergegangenen König, von dem sie so gut wie nichts wusste. Wie würde er reagieren, nach diesem peinlichen Moment von gestern? Würde er ihr gegenüber aus seinem Leben erzählen wollen? Würde er überhaupt in der Lage sein zu reden? Und war er tatsächlich dieser ehemalige Blueskönig? Dunkle Augenringe erdrückten seine Miene. Seine dünnen Arme waren sichtlich zu schwach, die Hände vor dem Zittern zu bewahren. Dennoch ging etwas Erhabenes von ihm aus, eine Flamme der Souveränität, die noch nicht erlöschen wollte. Und er war freundlich, ausgesprochen freundlich.

«Nehmen Sie doch Platz, Mister Whittaker. Ich freue mich sehr, dass wir hier ungestört einen Moment miteinander reden können.» Anna half ihm mit vorsichtiger Ehrfurcht beim Hinsetzen. «Vielen Dank, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind.»

«Ich habe zu danken. Ein alter Mann, der sich von einer feinfühligen jungen Lady nicht zu einem Gespräch verführen lässt, der muss schon ziemlich verrückt sein …», entgegnete er spitzbübisch. Sein Lächeln war unaufdringlich.

«Ich bitte Sie, Mister Whittaker – was gibt es Spannenderes als einer weisen Persönlichkeit zuzuhören?» Anna liebte gehaltvolle Charme-Spiele. «Darf ich Ihnen Kaffee oder Tee bringen?»

«Jetzt übertreiben Sie mal nicht. Bringen Sie mir lieber ein Bier.»

«Ich weiss nicht, ob ich das darf, Mister Whittaker», meinte Anna verunsichert.

«Machen Sie sich keine Sorgen. Alte Trinker wie ich haben’s gut hier im Haus. Weshalb sollten die versuchen, uns für die letzten paar Tage noch zurechtzubiegen?»

«Wenn Sie meinen. Gibt’s denn hier in der Cafeteria überhaupt Alkohol?»

«Sie sind tatsächlich neu hier, mein Kind. Links hinter der Theke ist der Kühlschrank.»

Anna beobachtete respektvoll, wie der Mann genüsslich und dennoch ohne Gier den ersten Schluck zu sich nahm. Seine zarten Fingernägel waren dunkelgelb wie das Bier, vom Nikotin. «Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen, Mister Whittaker. Meine Frage war gestern wohl ziemlich unpassend. Besonders auch der Ort – vor Ihren Zimmerkollegen.»

«Ach Gott, who cares? Lassen Sie den beiden ihre Freude, die können doch jedes Spektakel gebrauchen.» Sein Blick wirkte gütig. «Wissen Sie, gute Frau; ähm, wie war gleich Ihr Name? Ich kann mir kaum mehr was merken.»

«Schon gut, Mister Whittaker – nennen Sie mich Anna. Denken Sie einfach an Anna Lou.»

Ein leichter Stromstoss der Freude schien ihn zu treffen. «Ach jaaaa, natürlich! Also wissen Sie, Anna – die Menschen, welche meine Tränen zu Gesicht bekommen, wähle ich mir in der Regel ziemlich gut aus. Sie sind eine würdige Kandidatin.»

Anna lächelte. «Oh, das ist sehr schmeichelhaft, Mister Whittaker. Aber Vorsicht; ich denke, Sie sind in Ihrem Leben mehr als genug Frauen begegnet, die Ihr Vertrauen missbrauchten.» Mister Auvray hatte recht, mit diesem Mann konnte man sich wunderbar stilvoll unterhalten.

«Das wird mir bei Ihnen nicht passieren. In meinem Alter hat man ohnehin nichts mehr zu verlieren. Sie können mir übrigens Hudson sagen.»

«Das freut mich sehr, Hudson.» Sein Händedruck fühlte sich schwach und dennoch bestimmt an.

«Ich weiss zwar nicht genau, was Sie von mir wollen, aber schiessen Sie los, Anna.»

«Also …, etwas ganz Bestimmtes will ich eigentlich nicht von Ihnen. Ich möchte nur einfach zuhören, wenn Sie aus Ihrem Leben erzählen.» Anna versuchte, in keiner Weise aufdringlich zu wirken. «Aber nur, wenn Sie mögen. Es würde Ihnen vielleicht gut tun.»

«Natürlich, gerne. Doch Sie müssten damit rechnen, dass ich lauter wirres Zeug rede. Ich weiss noch nicht mal, was heute Mittag auf meinem Teller lag – mein Gedächtnis lässt mich mehr und mehr im Stich.»

«Das ist überhaupt kein Problem, Mister Whittaker. Es betrifft vermutlich ohnehin nur Ihr Kurzzeitgedächtnis, und das ist völlig normal bei Menschen in Ihrer Situation. An länger zurückliegende und prägende Erlebnisse können Sie sich bestimmt erinnern.»

«Ihr Kurzzeitgedächtnis scheint ebenfalls Probleme zu bereiten, Anna. Wir waren uns doch einig, dass Sie mich Hudson nennen.»

«Ach so, ja, sorry.»

«Schon okay. Ja, wissen Sie, so richtig gut erinnern kann ich mich vor allem an Melodien. Ich war früher Musiker.»

Anna hatte den Eindruck, dass er jetzt doch mit einer gewissen Ungeduld den nächsten Schluck Bier zu sich nahm. Auf jeden Fall hatte sie nun ein kleines Problem; die Fangfrage würde ja eigentlich nur dann funktionieren, wenn Sie die Unwissende spielte. Sie hasste es, zu lügen. «Ach ja? Musiker? Wow …!»

«Aber das ist längst vorbei. Heute bin ich nur noch ein alter Trottel», sagte er kleinlaut. «Ich kann nicht mal mehr eine Gitarre halten.»

«Das ist doch nicht schlimm, Hudson. So ein Instrument wiegt sicher ziemlich schwer.»

«Ich kann sie Ihnen gerne zeigen – meine Gibson ist oben im Zimmer, im Koffer unter dem Bett.» Sein Blick wurde sehnsüchtig.

«Oh ja, ich schau sie mir morgen gerne an.» Das war jetzt wohl der perfekte Moment für die Frage, dachte sich Anna. «Oh, wenn Sie Musiker sind, kommt mir gerade was in den Sinn, Hudson. Heute Morgen hörte ich im Radio einen coolen Song; irgendwas von ’Should Have Loved Her’. Ich glaube, der Sänger hiess ’Jimmy Eager’ oder so ähnlich. Kennen Sie den?»

Hudson Whittaker zuckte zusammen. «Sie wollen mich reinlegen, nicht?»

Anna wurde verlegen, mit dieser Reaktion hatte sie nicht gerechnet. «Nein, nein – wie kommen Sie darauf?»

«Hat Sie ein Steuerfahnder hierher geschickt? Ich weiss, die haben aus Prinzip was gegen Songs, die unter einem Pseudonym veröffentlicht wurden.»

«Ähm, ich verstehe nicht, was Sie meinen, Hudson.»

«Schon gut, mein Kind. Ist doch egal. Wer weiss schon, wie lange ich noch lebe? Bei mir gibt’s nichts mehr zu holen.»

«Keine Sorge. Ich bin Praktikantin und lerne den Pflegeberuf – von Steuern habe ich keine Ahnung. Möchten Sie lieber das Thema wechseln?»

«Der Song war nicht meine Idee damals. Von RCA Victor wurde ich fallen gelassen, nach fast zwanzig Jahren. Ich sei nicht mehr angesagt. Dann kam plötzlich dieser Typ, ich glaube er hiess Sheridan, und wollte hier in der Stadt eine neue Record Company aufziehen. Er hatte ein paar gute Musiker, die für ihn arbeiteten. Einer war der Bassist Al Smith. Wir nahmen diesen Song auf – ’I Should Have Loved Her More’ und auf der Rückseite ’Please Mr. Doctor’. Das Label nannten sie Sabre Records, schon ein Jahr später verschwand die Bude wieder. Ich hätte nicht mitmachen sollen, ist nicht mein bester Song. Vielleicht war’s gerade gut, dass die Typen mir diesen dämlichen Pseudonamen verpassten. Jimmy Eager and his Trio. So kommt wenigstens niemand auf die Idee, mir den Song in die Schuhe zu schieben. Ausser eben die Leute vom Steuerbüro, so wie es aussieht …»

«Wow …!» seufzte Anna bewundernd. «Das war jetzt aber ganz schön viel auf einmal. Sagen Sie nie wieder, Sie könnten sich nicht erinnern.»

Jetzt schien der Mann plötzlich wieder verzaubert, so wie bei ’Anna Lou’ am ersten Tag. Sein Oberkörper begann, sich sanft im Rhythmus zu bewegen, als er mit zerbrechlicher und dennoch einnehmender Stimme sang:

God if there’s a way

I could turn the road

Tell her all the things I should have told

I’d be there

I’d be a man I swear

I should have loved her more

«Das war unglaublich schön …», sagte Anna bewegt, als die letzte Zeile verklungen war. Dann herrschte peinliche Stille.

«Ich glaube, es war 1953», sagte Hudson nach einer Weile – als gälte es noch immer zu beweisen, dass seine Erinnerung am Leben ist.

Anna fasste sich ein Herz. Es machte plötzlich keinen Sinn mehr, dieses Versteckspiel aufrechtzuerhalten. «Jetzt möchte ich Ihnen gerne was erzählen, Hudson. Ich weiss, dass Sie Tampa Red sind …» Er wich ihrem Blick verlegen aus. «Oder besser nein – ich war mir nicht ganz sicher. Ich verstehe kaum was von dieser Musik, doch mein Freund Eric ist ein grosser Kenner. Als er gestern Ihren Namen hörte, sprang er auf und hüpfte wie ein Wilder in der Wohnung umher. Er meinte, Sie seien einer der ganz Grossen, ein ehemaliger König des Blues. Doch wir wollten wissen, ob Sie es tatsächlich sind. Deshalb hat Eric sich diese Fangfrage hier ausgeheckt. Bitte verzeihen Sie …»

«Schon gut, Anna», sagte Hudson mit abgelöschter Stimme. «Sagen Sie Ihrem Freund, dass meine Zeit vorüber ist. Ich habe nichts Vernünftiges aus dem Leben gemacht. Sehen Sie mich an – ein alter Trinker, ein einsamer Trottel. Alles was mir lieb war, habe ich verloren. Es ist meine Schuld.»

«Aber nein, Hudson, das ist bestimmt nicht wahr …»

«Bitte», unterbrach er sie, «geben Sie sich keine Mühe. Bringen Sie mir noch ein Bier, dann möchte ich zurück aufs Zimmer. Es ist genug für heute.»

Anna ging eingeschüchtert zur Theke. Im Moment würde ihr nichts Brauchbares mehr einfallen; der Mann schien in seiner Selbstwahrnehmung gefangen. «Ich danke Ihnen ganz herzlich für dieses Gespräch, Hudson. Versuchen Sie sich zu beruhigen – morgen sieht alles anders aus. Für mich sind Sie ein wunderbarer Mensch.»

Die Worte dieser jungen Frau klangen trivial, dennoch konnte Hudson eine Wirkung spüren. Frances hätte damals ähnlich gesprochen. Sie hätte ihn befreit. Nur sie wusste, wie man seine Traurigkeit verscheuchen konnte.

«Er ist’s …!», sagte Anna aufgewühlt zur Begrüssung.

«Heal me with a smile.» Eric nahm sie zärtlich in die Arme. «Eins nach dem andern, Darling. Zuerst gibst du mir einen rettenden Kuss, dann erzählst du, wie er reagierte. Aber du scheinst ja beinahe zu zittern – was ist denn los?»