Der verhängnisvolle Brief - Julian Hawthorne - E-Book

Der verhängnisvolle Brief E-Book

Julian Hawthorne

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Beschreibung

Ein früher Meisterkrimi um den New Yorker Inspektor Byrnes. Das Leben des erfolgreichen und äußerst rücksichtslosen New Yorker Milliardärs Maxwell Golding wird bedroht. Sein Kompagnon sucht die Hilfe von Inspektor Byrnes. Der Schlüssel muss in einem anonymen Drohbrief stecken. Aber die Zeit drängt, denn der unbekannte Widersacher scheint zu allem entschlossen zu sein. Null Papier Verlag

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Julian Hawthorne

Der verhängnisvolle Brief

Kriminalroman

Julian Hawthorne

Der verhängnisvolle Brief

Kriminalroman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Margarete Jacobi EV: Robert Lutz, Stuttgart, 1916 (240 S.) 2. Auflage, ISBN 978-3-962813-92-5

null-papier.de/neu

Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Ka­pi­tel. – Im Biblio­thek­zim­mer

Zwei­tes Ka­pi­tel. – Ein mo­der­ner Finanz­mann

Drit­tes Ka­pi­tel. – Ein Bün­del Brie­fe

Vier­tes Ka­pi­tel. – Be­rat­schla­gung

Fünf­tes Ka­pi­tel. – Im Klub

Sechs­tes Ka­pi­tel. – Nach­rich­ten

Sie­ben­tes Ka­pi­tel. – Tal­bot im Freun­des­krei­se

Ach­tes Ka­pi­tel. – Cun­lif­fe’s Sor­gen

Neun­tes Ka­pi­tel. – Eine Tas­se Tee

Zehn­tes Ka­pi­tel. – Eine Schlit­ten­fahrt

Elf­tes Ka­pi­tel. – Ge­ne­ral Wey­mouth

Zwölf­tes Ka­pi­tel. – Groß­städ­tisch

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel. – Aus den Fu­gen

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel. – In der Irre

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel. – Ver­schwun­den

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel. – Ver­mu­tun­gen

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel. – Auf dem Eise

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel. – Cun­lif­fe’s Wohl­tä­ter

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel. – Un­ge­wiss­heit

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel. – Eine Bör­sen­pa­nik

Ein­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel. – Ver­haf­tet

Zwei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel. – Der Post­be­zirk E

Drei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel. – Kit­ty Cli­ve

Dan­ke

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Ihr Jür­gen Schul­ze

Kri­mis bei Null Pa­pier

Der Frau­en­mör­der

Eine De­tek­ti­vin

Hem­mungs­los

Der Mann, der zu viel wuss­te

Noch mehr De­tek­tiv­ge­schich­ten

Sher­lock Hol­mes – Samm­lung

Eine Kri­mi­nal­ge­schich­te & Das graue Haus in der Rue Ri­che­lieu

Der Dop­pel­mord in der Rue Morgue

In­di­sche Kri­mi­na­ler­zäh­lun­gen

Kri­mi­nal­ge­schich­ten

und wei­te­re …

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Nach Mit­tei­lun­gen des Chefs der New Yor­ker Ge­heim­po­li­zei

Erstes Kapitel. – Im Bibliothekzimmer

Frisch ge­fal­le­ner Schnee lag in den Stra­ßen New Yorks. Das Ge­wand der Rein­heit, in wel­ches der Schnee die Erde klei­det, ist für uns kein Bild von Ju­gend und Le­ben, son­dern von Al­ter und Tod. Die Som­mer­hit­ze ist ver­ges­sen, die präch­ti­gen Fär­bun­gen des Herbs­tes ha­ben sich in ein­tö­ni­ges Braun ver­wan­delt, das zar­te Früh­lings­grün schwebt uns nur als fer­ner Hoff­nungs­schim­mer vor, der Win­ter deckt al­les zu mit sei­ner kal­ten wei­ßen Hül­le. Über den stein­hart ge­fro­re­nen Bo­den weht ein ei­si­ger Wind; in der Au­ßen­welt reizt uns nichts mehr – was Wun­der, wenn wir den Blick nach in­nen wen­den und am trau­li­chen Ka­min Er­satz su­chen für die ent­schwun­de­nen Freu­den der Na­tur! Die kal­te Jah­res­zeit weckt oh­ne­hin, mehr als die an­de­ren, alle Trie­be der Selbs­t­er­hal­tung, ja des selbst­süch­ti­gen Be­ha­gens; bei war­mem Son­nen­schein geht das Herz auf, der Mensch ist weit leich­ter zur Groß­mut ge­stimmt. Da­rum ist es ein Se­gen für See­le und Ge­müt, dass das Weih­nachts­fest mit­ten in den Win­ter fällt und durch sei­ne Lie­bes­wär­me neu­es Le­ben schafft in der er­starr­ten fros­ti­gen Welt.

Die Be­gü­ter­ten wis­sen sich auch zur Win­ters­zeit das Da­sein er­freu­lich zu ge­stal­ten. Sie schmücken ihre Häu­ser mit al­lem Glanz, den der Reich­tum ver­leiht, der rau­en Wirk­lich­keit zum Trotz schwel­gen sie in Ge­nuss und Ver­gnü­gen. Die Ar­men da­ge­gen drückt der Man­gel dop­pelt schwer und seuf­zend zäh­len sie, ob ihre ge­rin­ge Bar­schaft ge­nügt, ih­nen ne­ben Nah­rung und Klei­dung auch einen war­men Ofen zu ver­schaf­fen. Und die Fein­de der Ge­sell­schaft, die Ver­bre­cher? – Die wis­sen, dass die Vor­rä­te ein­ge­heimst sind, Geld und Gut an­ge­häuft und die Be­sit­zer sich in Si­cher­heit wie­gen. So ent­wi­ckeln sie denn ge­ra­de im Win­ter eine fie­ber­haf­te Tä­tig­keit, um sich auf ihre Wei­se die Gü­ter der Erde an­zu­eig­nen. Auch der Dieb kann sich im Som­mer leich­ter durch­brin­gen, wäh­rend der Win­ter ihn in die Stadt treibt, wo ohne Geld nichts zu ha­ben ist.

Zum Kampf ge­gen die küh­nen Mis­se­tä­ter rüs­tet sich je­doch auch die Po­li­zei mit be­son­de­rer Wach­sam­keit. Vom Mo­nat No­vem­ber an bis ge­gen Ende März fin­det man sie stets be­reit auf die­sem Plan. Die Ge­rich­te sind in vol­ler Ar­beit, die Ge­fäng­nis­se wer­den nicht leer; mit al­len Mit­teln wird das Ver­bre­chen ge­walt­sam nie­der­ge­hal­ten – aber nicht er­tö­tet. Dem al­ten Dra­chen wächst stets ein neu­es Haupt an Stel­le des ab­ge­schla­ge­nen. Wird er je­mals ganz über­wun­den wer­den und sei­ne Brut ver­tilgt? – Trotz al­ler Leh­ren der Re­li­gi­on, trotz al­ler Fort­schrit­te der Kul­tur wächst nach wie vor Gu­tes und Bö­ses zu­sam­men in der Welt von Jahr zu Jahr, von ei­nem Jahr­hun­dert zum an­de­ren. Wohl kla­gen wir mit Recht, dass sich das Schlech­te und Ge­mei­ne selbst dem Edels­ten und Bes­ten an­hef­tet, aber wir dür­fen uns auch zum Trost sa­gen, dass das Un­kraut die gu­ten Kei­me nie ganz er­stickt und sich selbst im Ver­wor­fens­ten noch Spu­ren des Gu­ten ent­de­cken las­sen. –

Noch lag drau­ßen auf dem Lan­de über Fel­dern und We­gen die wei­ße glat­te Schnee­de­cke aus­ge­brei­tet, aber in den Stra­ßen der Groß­stadt hat­te sie sich schon in Schmutz und Näs­se ver­wan­delt, wie zur ärgs­ten Re­gen­zeit. Der brau­ne Schlamm war schwarz ge­wor­den und ström­te in fäul­nis­ar­ti­gem Zu­stand einen wah­ren Lei­chen­ge­ruch aus, be­son­ders in den Tei­len von New York, wo Han­del und Wan­del den Ver­kehr am leb­haf­tes­ten mach­ten. In der fünf­ten Ave­nue war die Sa­che noch er­träg­lich, weil dort der Schnee von den Trot­toirs auf den mitt­le­ren Fahr­weg ge­schau­felt wor­den war. Auf der brei­ten Bahn schos­sen die Schlit­ten lus­tig hin und her, wäh­rend die Fuß­gän­ger in war­me Pel­ze gehüllt schnel­len Schrit­tes da­hin­eil­ten. Al­les war voll Le­ben und Be­we­gung, der Ver­kehr nahm erst ab, als die Nacht her­ein­brach, die La­ter­nen an­ge­zün­det wur­den und das Schlit­ten­ge­läu­te all­mäh­lich ver­stumm­te, bis zu­letzt nur noch we­ni­ge spä­te Wan­de­rer auf der Stra­ße zu se­hen wa­ren.

Zu ei­nem der letz­te­ren wol­len wir uns ge­sel­len. Er schrei­tet am Bruns­wick-Ho­tel vor­über auf der rech­ten Sei­te der Ave­nue mit schnel­lem aber fes­tem Tritt. Es muss ihm wohl eine wich­ti­ge An­ge­le­gen­heit im Sin­ne lie­gen, nach dem Aus­druck sei­ner wohl­ge­bil­de­ten, cha­rak­ter­vol­len Züge zu ur­tei­len, in de­nen sich der kla­re Geist ei­nes star­ken tat­kräf­ti­gen Man­nes spie­gelt. Sei­nem ru­hi­gen, doch schar­fen Blick ent­geht nichts, was in sein Be­reich kommt. Sein Le­ben ist ernst und ar­beits­voll, sei­ne Zeit kost­bar, aber alle Ob­lie­gen­hei­ten so wohl­ge­ord­net und be­dacht, dass von kei­ner Über­stür­zung, kei­ner Hast und Un­ge­duld die Rede zu sein braucht. Ein runder Filz­hut, war­me Hand­schu­he, ein di­cker Über­rock, der über der Brust zu­ge­knöpft ist, schüt­zen ihn vor der Käl­te, die bren­nen­de Zi­gar­re ver­brei­tet ein fei­nes Aro­ma. Of­fen­bar ge­hört er den hö­hern Ge­sell­schafts­klas­sen an, aber in sei­nem We­sen liegt ein ge­wis­ses Et­was, das ihn über die Mehr­zahl sei­ner Stan­des­ge­nos­sen er­hebt, ihn vor an­de­ren aus­zeich­net. Ge­wiss eine be­kann­te Per­sön­lich­keit – wir ha­ben sei­nen Na­men ohne Zwei­fel schon oft nen­nen hö­ren! Wer mag es nur sein?

An ei­ner Stra­ßen­e­cke stand ein großer äl­te­rer Herr mit ge­ra­der mi­li­tä­ri­scher Hal­tung. Sein lan­ger Schnauz­bart, der schon ins Graue spiel­te, die dun­keln Au­gen und die schar­fe Ad­ler­na­se mach­ten ihn zu ei­ner ari­sto­kra­ti­schen Er­schei­nung. Er schi­en ver­geb­lich in sei­nen Ta­schen nach et­was zu su­chen, und als sich der Fuß­gän­ger ihm nä­her­te, trat er rasch auf ihn zu und sag­te höf­lich: »Mir ist die Zi­gar­re aus­ge­gan­gen, darf ich um Feu­er bit­ten?«

Der an­de­re stand still. »Eine kal­te Nacht«, be­merk­te er und reich­te dem Herrn mit ei­ner Ver­beu­gung sei­ne Zi­gar­re hin.

»Bes­ten Dank«, sag­te die­ser, sie ihm zu­rück­ge­bend, dann trenn­ten sie sich.

Eine flüch­ti­ge Be­geg­nung! Doch blieb die Ge­stalt des mi­li­tä­risch aus­se­hen­den Herrn dem nächt­li­chen Wan­de­rer in der Erin­ne­rung haf­ten. Bei­de ahn­ten in­des­sen nicht, wie bald und auf wie selt­sa­me Wei­se das Schick­sal sie wie­der zu­sam­men­füh­ren soll­te.

Als der Wan­de­rer sich jetzt ei­nem der großen Klub­häu­ser nä­her­te, die eine Zier­de der Ave­nue sind, ka­men zwei Män­ner Arm in Arm die Stu­fen her­un­ter. Er grüß­te den statt­li­chen rot­bär­ti­gen Herrn, den er kann­te, der an­de­re, ein schlan­ker jun­ger Mann von an­ge­neh­mem Äu­ßern war ihm fremd. »Das ist ein klu­ger Kopf«, dach­te er bei sich, »wie de­ren die Klub­ge­sell­schaft nicht vie­le zäh­len mag.«

Nun bog er in eine Sei­ten­stra­ße, stieg die Stu­fen vor ei­nem hüb­schen Haus hin­an und zog an der Glo­cke. Die Tür sprang auf und er trat ein.

»Ist Mr. Owens zu spre­chen?«

»Ja­wohl, be­mü­hen Sie sich ge­fäl­ligst hier her­ein.«

Der Be­su­cher folg­te dem Die­ner durch die brei­te schö­ne Vor­hal­le in ein großes Zim­mer zur Lin­ken, an des­sen Wän­den sich rings bis zur Höhe von fünf Fuß schön ge­schnitz­te und po­lier­te Bü­cher­re­ga­le von hel­lem Holz ent­lang zo­gen. Die Biblio­thek be­stand aus Bü­chern der ver­schie­dens­ten Grö­ße in fei­nen Ein­bän­den, de­ren blo­ßer An­blick das Herz des Ken­ners ent­zückt hät­te. Ge­press­te Le­der­ta­pe­ten mit fei­nen Gold­li­ni­en bil­de­ten die üb­ri­ge Wand­be­klei­dung, wohl­tu­end für das Auge und doch nicht zu dun­kel. Auf den Bü­cher­ge­stel­len lehn­ten, schein­bar ohne ab­sicht­li­che An­ord­nung, kost­bar ein­ge­rahm­te Kup­fer­sti­che und Ra­die­run­gen; auf Kon­so­len, Ti­schen und Eck­bret­tern be­fand sich eine Samm­lung sel­te­ner Bron­zen aus al­ter und neu­er Zeit. Fi­gu­ren und Grup­pen, Va­sen, Lam­pen, bron­ze­ne Hel­me und Zier­ra­ten je­der Art, von klas­sisch schö­ner oder ori­gi­nel­ler Form, je­des Stück meis­ter­haft ge­ar­bei­tet und für die Grö­ße des Zim­mers pas­send. Auch das Ka­min­ge­sims war von fei­ner Bron­ze­ar­beit in ja­pa­ni­schem Ge­schmack, an bei­den Sei­ten ge­stützt und ein­ge­rahmt von gro­tes­ken Ge­stal­ten, halb Mensch halb Un­ge­tüm, wie sie nur eine ja­pa­ni­sche Fan­ta­sie er­zeugt. Zwei große Schei­ter Ze­dern­holz, die im Ka­min brann­ten, ver­brei­ten köst­li­chen Wohl­ge­ruch; der glat­te ei­che­ne Fuß­bo­den war mit wei­chen matt­far­bi­gen Tep­pi­chen be­legt. Von der De­cke hing, gleich ei­ner rie­si­gen glän­zen­den Frucht an gra­zi­ösem Stiel, eine große milch­wei­ße Glas­ku­gel her­ab, de­ren mil­des, aber star­kes Licht bis in die äu­ßers­te Ecke des Zim­mers eins wohl­tu­en­de Hel­le ver­brei­te­te.

Es wäre je­doch ein ver­geb­li­ches Be­mü­hen, von dem Reiz der Ein­rich­tung die­ses Biblio­thek­zim­mers, des kost­bars­ten von ganz New York, auch nur einen ent­fern­ten Be­griff ge­ben zu wol­len. Vie­le New Yor­ker ken­nen die Bron­zen, die Bü­cher und sel­te­nen Sti­che, von de­nen man­che ein­zig in ih­rer Art sind, wie es denn des Be­sit­zers Stre­ben vor al­lem ge­we­sen, sei­ne Biblio­thek nach Form und In­halt so ge­schmack­voll und ei­gen­ar­tig aus­zu­stat­ten wie ir­gend mög­lich. Zur Be­frie­di­gung die­ser sei­ner Lieb­ha­be­rei stan­den ihm alle Mit­tel zu Ge­bo­te.

Als der Be­su­cher den ele­gan­ten Raum be­trat, war er leer, doch lu­den ihn wei­che Lehn­stüh­le und So­phas zu be­schau­li­cher Ruhe ein, die ge­dämpf­ten Far­ben der gan­zen Ein­rich­tung wirk­ten wohl­tu­end auf das Ge­müt, die Kunst­wer­ke und Zier­ra­ten ent­zück­ten das Auge, doch diente al­ler Schmuck nur dazu, das woh­li­ge Be­ha­gen zu er­hö­hen, das den Be­schau­er durch­ström­te. Nicht ein Mu­se­um, des­sen Schät­ze man an­staunt, nein ein har­mo­nisch aus­ge­stat­te­tes Heim hat­te der Ei­gen­tü­mer sich hier ge­schaf­fen, des­sen Zau­ber er zu emp­fin­den und zu ge­nie­ßen ver­stand. Es leg­te Zeug­nis ab für den fein­ge­bil­de­ten Geist des Man­nes, der hier sei­ne Ruhe und Er­ho­lung such­te.

Am Ka­min ste­hend be­wun­der­te der Be­su­cher die kunst­rei­che Ar­beit ei­ner Bron­zeuhr auf dem Ge­sims, als hin­ter ihm Schrit­te ver­nehm­bar wur­den. Er wand­te sich und sah den Herrn des Hau­ses nä­her tre­ten, um ihn zu be­grü­ßen.

»Will­kom­men, In­spek­tor Byr­nes!«

»Gu­ten Abend, Mr. Owens, wie geht es Ih­nen?«

Es ging Mr. Owens of­fen­bar recht leid­lich. Er war ein Mann von etwa fünf­und­drei­ßig Jah­ren mit hüb­schem aus­drucks­vol­lem Ge­sicht, glat­tra­sier­tem Kinn und hell­brau­nem Haar, das um die hohe Stirn an­fing et­was dünn zu wer­den. In We­sen und Hal­tung trug er den Stem­pel feins­ter Bil­dung. Court­land Owens stamm­te aus ei­ner al­ten an­ge­se­he­nen ame­ri­ka­ni­schen Fa­mi­lie, de­ren Glie­der ge­lernt hat­ten, den Reich­tum, wel­cher seit Ge­ne­ra­tio­nen in ih­rem Be­sitz war, auf an­mu­ti­ge und nutz­brin­gen­de Wei­se zu ver­wen­den. Als ech­te Ame­ri­ka­ner hat­ten sie sich nicht dem mü­ßi­gen Ge­nuss er­ge­ben, son­dern einen Le­bens­be­ruf ge­wählt, ein Amt be­klei­det. Sie hat­ten sich als Kauf­leu­te, Ban­kiers, Di­plo­ma­ten, Staats­män­ner, Di­rek­to­ren großer in­dus­tri­el­ler Un­ter­neh­mun­gen her­vor­ge­tan und die höchs­ten Ehrenäm­ter der Stadt zu Nutz und From­men des Ge­mein­wohls be­klei­det. Auch der jet­zi­ge Erbe des Na­mens, ob­gleich nach Er­zie­hung und Geis­tes­an­la­ge ein Kunst­ken­ner und ge­lehr­ter For­scher, hat­te tä­tig ein­ge­grif­fen in das wirk­li­che Le­ben; er war seit fast zehn Jah­ren Ge­schäfts­teil­ha­ber und per­sön­li­cher Freund ei­nes der größ­ten Finanz­män­ner der Ge­gen­wart. Un­mög­lich hät­te man zwei Men­schen fin­den kön­nen, die an Cha­rak­ter und äu­ße­rer Er­schei­nung ein­an­der so un­ähn­lich wa­ren wie die bei­den Häup­ter je­ner be­rühm­ten Han­dels­fir­ma. Doch ver­knüpf­te sie ein so fes­tes, herz­li­ches Band, wie man es sel­ten selbst bei Leu­ten fin­det, de­ren gan­ze Ge­schmacks­rich­tung auf­’s in­nigs­te über­ein­stimmt. Sie schätz­ten und ach­te­ten ein­an­der von rein mensch­li­chem Stand­punkt aus, ohne Rück­sicht auf sons­ti­ge Ver­hält­nis­se.

»Ich be­darf Ihres Ra­tes, Herr In­spek­tor, in ei­ner mir wich­ti­gen An­ge­le­gen­heit«, be­merk­te Mr. Owens. »Le­gen Sie Hut und Ober­rock ab und neh­men Sie ge­fäl­ligst Platz. Es han­delt sich um eine Sa­che, die sich nicht in fünf Mi­nu­ten ab­ma­chen lässt; auf ein paar Stun­den müs­sen Sie we­nigs­tens rech­nen, dar­um ma­chen Sie sich’s vor al­lem bei mir be­quem!« –

Zweites Kapitel. – Ein moderner Finanzmann

Der Chef der New Yor­ker Ge­heim­po­li­zei ent­le­dig­te sich sei­ner war­men Hül­len und ließ sich mit der ihm ei­ge­nen ru­hi­gen Hei­ter­keit am Ka­min nie­der, wäh­rend Court­land Owens ihm ge­gen­über Platz nahm, ne­ben ei­nem Mo­sa­ik­tisch­chen mit ver­zier­tem Bron­ze­schloss.

»Wir sind be­sorgt und un­ru­hig«, be­gann Mr. Owens, »das heißt ich bin es, um Gol­dings wil­len.«

»Gol­ding – Ihr Teil­ha­ber! – Um ihn ma­chen Sie sich Sor­ge?«

Der Ge­dan­ke schi­en den In­spek­tor förm­lich zu be­lus­ti­gen. Max­well Gol­ding,1 der Ei­sen­bahn­kö­nig, der Mann der Te­le­gra­fen und Berg­wer­ke, des­sen Glück bei al­len Un­ter­neh­mun­gen sprich­wört­lich ge­wor­den, des­sen Reich­tü­mer sich nicht schät­zen lie­ßen, war nach der all­ge­mein herr­schen­den Auf­fas­sung al­ler­dings kein Ge­gen­stand für teil­neh­men­de Sor­ge, so­lan­ge er nicht selbst nach dem Zu­spruch sei­nes Arz­tes oder viel­leicht sei­nes Pfar­rers be­gehr­te. Als der In­spek­tor je­doch Gol­dings Freund mit so be­küm­mer­ter Mie­ne sah und er­kann­te, dass es sich um kei­nen Scherz hand­le, nahm er gleich­falls eine erns­te Hal­tung an und lieh Mr. Owens’ Mit­tei­lun­gen ein auf­merk­sa­mes Ohr.

»Ich will gleich von vorn­her­ein be­mer­ken«, be­gann die­ser, »dass Gol­ding um un­se­re Un­ter­re­dung weiß. Frei­lich hat­te ich Mühe, sei­ne Ein­wil­li­gung zu er­lan­gen. Es liegt nun ein­mal in sei­ner Na­tur; er kennt kei­ne Furcht! Per­sön­li­che Be­den­ken spie­len in sei­nem Le­ben kei­ne Rol­le; durch alle Hin­der­nis­se hin­durch steu­ert er ge­ra­de auf sein Ziel. Da­bei dient ihm als Werk­zeug das Geld, das nie­mand so kühn und am rech­ten Ort zu ge­brau­chen ver­steht wie er. Das Geld ist in sei­ner Hand weit mehr als ein blo­ßes Tausch­gut, es ist das Mit­tel, neue Wer­te zu er­zeu­gen, weit­schau­en­de Be­rech­nun­gen zu ver­wirk­li­chen, je­den Wi­der­stand zu ent­kräf­ten. Mit die­sem mäch­ti­gen Zau­ber­stab be­schwört er je­doch nicht al­ler­lei Wahn­ge­bil­de her­auf, wie Pro­spe­ro auf sei­ner fer­nen In­sel, in Sha­ke­s­pea­re’s Sturm, son­dern ruft höchst greif­ba­re und we­sent­li­che Gü­ter und Din­ge ins Da­sein an al­len Or­ten und En­den un­se­res Welt­teils.«

»Und ist er da­bei auf ein Hin­der­nis ge­sto­ßen?« frag­te der In­spek­tor.

Der an­de­re lä­chel­te. – »Ich muss sehr um Ent­schul­di­gung bit­ten«, sag­te er. »Sie sind nicht her­ge­kom­men, um phi­lo­so­phi­sche Be­trach­tun­gen und Sha­ke­s­pea­re an­zu­hö­ren. Also zur Sa­che! – Ja, Gol­ding ist auf ein Hin­der­nis ge­sto­ßen, ob­gleich er selbst es nicht zu­ge­ben will. Dass ein Mann wie er vie­le Fein­de hat, ist be­greif­lich. Selbst wenn ihm dar­um zu tun wäre, es den Men­schen recht zu ma­chen, wür­den bei ihm auf einen Freund noch im­mer hun­dert Fein­de kom­men. Es ist ein wah­res Wun­der, dass er sich über­haupt Freun­de er­wirbt. Für die Scha­ren sei­ner An­ge­stell­ten ist er kaum mehr als ein ab­strak­ter Be­griff, eine be­we­gen­de Kraft, in de­ren Um­kreis sie zu­fäl­lig mit her­ein­ge­zo­gen wer­den, um so­fort dar­aus zu ver­schwin­den, wenn sie den an sie ge­stell­ten An­for­de­run­gen nicht ge­nü­gen. Für den Lohn, den er ih­nen zahlt, schul­den sie ihm kei­nen Dank: er ist ihr gu­tes Recht, wenn sie die über­nom­me­nen Pf­lich­ten er­fül­len; tun sie dies nicht, so wer­den sie ent­las­sen. Ein sol­ches Ver­hält­nis schließt von vorn­her­ein alle Freund­schaft aus. Auch un­ter sei­nen Ne­ben­buh­lern und Kon­kur­ren­ten zählt er na­tür­lich nur Fein­de. Er hat mehr Macht und Glück als sie, sein Ver­lust wür­de, wie sie mei­nen, ihr Ge­winn sein. Vie­len von ih­nen hat er mit­tel­bar oder un­mit­tel­bar den Un­ter­gang be­rei­tet, ob vor­sätz­lich oder nicht bleibt da­hin­ge­stellt – das En­dre­sul­tat bleibt das glei­che. Ein Mann in sei­ner Stel­lung muss eben un­auf­halt­sam vor­wärts, sonst kommt er zu Fall. Sein Schick­sal treibt ihn wei­ter, er darf nicht still­ste­hen – wer ihm den Weg ver­tritt ist ver­lo­ren! – Nur un­ter Leu­ten, die we­der in sei­nem Sold ste­hen noch in dem sei­ner Wi­der­sa­cher, könn­te er also Freun­de fin­den. Aber auch da ist die Wahr­schein­lich­keit nicht groß. Es ge­hört kein ge­rin­ger Mut dazu, als Freund ei­nes hun­dert­fa­chen Mil­lio­närs auf­zu­tre­ten, den Arg­wohn der Welt zu er­tra­gen, die mit Miss­trau­en auf je­des sei­ner Mo­ti­ve blickt. Bei al­ler Gleich­heit ge­gen die öf­fent­li­che Kri­tik muss ein Mann von Selb­st­ach­tung sich sa­gen, dass er einen zu ho­hen Preis für sol­che Freund­schaft zahlt. Das größ­te Hin­der­nis aber liegt in Gol­ding’s ei­ge­nem Cha­rak­ter. Ein Ka­pi­ta­list wie er muss ge­gen läs­ti­ge Zu­dring­lich­keit auf der Hut sein, er ver­liert den Glau­ben an die Unei­gen­nüt­zig­keit de­rer, die sei­nen Um­gang su­chen. So ist ihm ihn Wahr­heit die Mög­lich­keit ge­nom­men, Ban­de der Freund­schaft zu knüp­fen, wie sie die ge­wöhn­li­chen Sterb­li­chen un­ter ein­an­der ver­bin­den. Auf ihn lässt sich an­wen­den, was Mme. de Staël von Na­po­le­on sag­te: er ist un­ter den Mit­le­ben­den nicht ein Mensch, son­dern ein Sys­tem – steht, so zu sa­gen, nur in sach­li­cher Be­zie­hung zur Welt. Man kennt ihn nur sei­nem Rufe nach und nie­mand tritt in ein per­sön­li­ches Ver­hält­nis zu ihm – mit ein oder zwei Aus­nah­men.«

»So­viel ich weiß ist er ver­hei­ra­tet«, warf der In­spek­tor ein.

»Ja, glück­li­cher­wei­se. Als er sei­ne Frau ken­nen lern­te, war er noch ein jun­ger Mensch, der we­nig Aus­sicht auf sei­ne jet­zi­ge Stel­lung hat­te. Es lag da­her für ihn kein Grund vor, an der Auf­rich­tig­keit ih­rer Ge­füh­le zu zwei­feln. Sei­ne Lie­be zu Frau und Kin­dern ist wohl eine der stärks­ten Lei­den­schaf­ten sei­ner Na­tur, viel­leicht eben­so stark als sein Ehr­geiz. Dass er für die Ge­sell­schaft im All­ge­mei­nen nicht noch weit ge­fähr­li­cher ge­wor­den, ist al­lein dem Ein­fluss sei­ner Fa­mi­lie zu­zu­schrei­ben. Ohne die­sen hät­te er sich über alle Be­den­ken hin­weg­ge­setzt, wäre oft noch rück­sichts­lo­ser, noch un­barm­her­zi­ger ver­fah­ren. Er ist so wie so der größ­te Cy­ni­ker, den ich ken­ne, und sei­ne Grund­sät­ze wei­chen we­sent­lich von den mei­ni­gen ab.«

»Und den­noch sind Sie sein Freund?«

»Das bin ich. Und ich glau­be wahr­haf­tig der ein­zi­ge, den er be­sitzt. Un­se­re Be­kannt­schaft stammt noch aus der Zeit vor sei­ner Hei­rat. Er hat­te ge­ra­de die Koh­len­gru­be auf sei­nem Grund­stück in Ma­ry­land ver­kauft und woll­te sein Glück in New York ver­su­chen. Da­mals hat ihm wohl nie­mand zu­ge­traut, dass er das Zeug be­sä­ße, sich zu sei­ner jet­zi­gen Grö­ße em­por­zu­ar­bei­ten. In sei­nem Äu­ßern hat er sich seit­dem nicht viel ver­än­dert, breit­schul­te­rig, klein von Wuchs, mit schwar­zem Haar und blau­en Au­gen. In die­sen Au­gen aber steht das Ge­heim­nis zu le­sen – mir sind nie ähn­li­che vor­ge­kom­men. Für ge­wöhn­lich ha­ben sie einen schläf­ri­gen Aus­druck, als wäre der Mann halb im Traum. Be­fin­det er sich je­doch in er­reg­tem Zu­stand, tritt er ei­nem Wi­der­sa­cher ent­ge­gen, ei­ner Ge­fahr, die je­den an­de­ren er­schre­cken wür­de, so sprü­hen sei­ne Au­gen Feu­er und Flam­men. Es ist nur ein kal­ter Strahl, aber er geht durch Mark und Bein, es liegt förm­lich et­was Dia­bo­li­sches dar­in. Er ist ein ganz ei­ge­ner Mensch!«

»Und doch sind Sie ihm zu­ge­tan?«

»Ich leug­ne durch­aus nicht, dass er oft hart, ja grau­sam ge­we­sen ist, doch hat er nie sei­nen Grund­sät­zen zu­wi­der ge­han­delt. Er er­war­tet von den Men­schen we­der Rück­sicht noch Scho­nung, auch ih­nen zeigt er kei­ne. Er schlägt sei­nen Geg­ner wie und wo er kann und ver­schmäht we­der List noch Falsch­heit, um den Sieg zu er­rin­gen. So lan­ge der Kampf währt, kennt er kein Er­bar­men, scheut vor kei­nem Mit­tel zu­rück, das nicht ge­ra­de­zu ein Ver­bre­chen ist. Hat die Schlacht aus­ge­tobt, so be­wahrt er kei­nen Groll, nimmt kei­ne Ra­che. Er ist kein per­sön­li­cher Feind sei­ner ge­schäft­li­chen Kon­kur­ren­ten. Hin­dern sie sei­ne Plä­ne, so stößt er sie bei Sei­te oder reißt sie zu Bo­den. Aber so­bald sie ihm nicht mehr den Weg ver­sper­ren, ist er be­reit, ih­nen die Mit­tel zu ge­ben, sich wie­der auf­zu­raf­fen. Ja, mir ist oft vor­ge­kom­men, als füh­le Gol­ding förm­li­che Zu­nei­gung für einen ge­fähr­li­chen Wi­der­sa­cher. Er hat mehr Freu­de am Kampf als am Sieg; wenn er den Geg­ner in ei­ner Schlacht ge­schla­gen hat, möch­te er ihm am liebs­ten hel­fen sich zu ei­ner zwei­ten zu waff­nen. – Sie ha­ben ganz recht: ich bin ihm zu­ge­tan!« –

Der In­spek­tor blick­te eine Wei­le nach­denk­lich auf das flam­men­de Feu­er im Ka­min. »Nicht dass ein sol­cher Mann Fein­de hat«, sag­te er end­lich, »darf uns Wun­der neh­men, wohl aber, dass je­mand kühn ge­nug ge­we­sen ihn an­zu­grei­fen. Ich ver­mu­te näm­lich, dass dem so ist, da Sie mei­ne Hil­fe in An­spruch neh­men wol­len.«

»Ganz recht. Aber Max­well Gol­ding of­fen zum Zwei­kampf her­aus­for­dern, wür­de wohl so leicht nie­mand wa­gen. Mit Geld, das wis­sen Sie, lässt sich in New York al­les er­rei­chen; Gol­ding wür­de kein Be­den­ken tra­gen, al­les zu kau­fen, was ihm zur Ver­tei­di­gung die­nen könn­te, vom Ket­ten­hund an bis zum Ge­richts­hof. Die­sem Fein­de aber steht selbst Gol­ding macht­los ge­gen­über.«

»Wie ist das mög­lich?«

»Auf sehr ein­fa­che Wei­se, wir wis­sen nicht, wer der Feind ist!«

Der In­spek­tor rich­te­te sich in die Höhe. »Ein heim­li­cher Wi­der­sa­cher also? Wie geht er zu Wer­ke? Ste­hen ihm Ka­pi­ta­li­en zu Ge­bo­te? Macht er sei­nen Ein­fluss an der Bör­se gel­tend?«

»Ganz im Ge­gen­teil. So­weit bis jetzt er­sicht­lich, scheint der Mann über gar kei­ne Geld­mit­tel zu ver­fü­gen.«

»Wie zeigt er denn aber sei­ne feind­li­che Hal­tung?«

»Auch der Schwächs­te ver­mag dem Star­ken ge­fähr­lich zu wer­den, wenn er sein Le­ben be­droht oder das Le­ben de­rer, die ihm teu­er sind. Ber­ge von Gold bie­ten kei­ne Schutz­wehr ge­gen die Ku­gel oder das Mes­ser des Meu­chel­mör­ders. Alle ver­ei­nig­ten Ka­pi­ta­lis­ten des Lan­des ver­möch­ten nicht Gol­ding zu stür­zen, aber ir­gend ein Lum­pen­hund, der ver­we­gen oder wahn­wit­zig ge­nug ist, die Fol­gen auf sich zu neh­men, kann ihm bei der ers­ten Ge­le­gen­heit das Le­bens­licht aus­bla­sen.«

»Der­ar­ti­ge Va­ga­bun­den gibt es nicht vie­le«, be­merk­te der In­spek­tor tro­cken.

»Ei­ner ge­nügt dazu«, ent­geg­ne­te Owens, »warum nicht un­ser ver­bor­ge­ner Feind?«

»Ist denn ein Mord­an­schlag auf Mr. Gol­ding ge­macht wor­den?«

»Nein, doch man droht ihm das Le­ben zu neh­men!«

»Man droht?« er­wi­der­te der In­spek­tor, »dann liegt ge­wiss kein Grund zu ernst­li­cher Be­sorg­nis vor! Ein Schreck­schuss – nichts wei­ter. Na­tür­lich muss der Sa­che ein Ende ge­macht wer­den; aber wenn mir das ge­lingt, habe ich Mr. Gol­ding höchs­tens von ei­ner Un­be­quem­lich­keit be­freit; als sei­nen Le­bens­ret­ter braucht er mich nicht zu be­trach­ten. Wer dem mäch­ti­gen Ka­pi­ta­lis­ten wirk­lich nach dem Le­ben stün­de, wür­de si­cher­lich nicht dar­an den­ken, ihn vor­her zu war­nen. Er wür­de ihm auf­lau­ern und den To­dess­treich füh­ren. – Hun­de die bel­len, bei­ßen sel­ten!«

»Wohl wahr, Herr In­spek­tor, trotz­dem – –«

»Schreibt da­ge­gen – wie ich aus Ih­rer Mit­tei­lung ent­neh­me – je­mand an Mr. Gol­ding an­ony­me Brie­fe, in de­nen er die Ab­sicht aus­spricht, ihn um­zu­brin­gen, so kön­nen Sie sich dar­auf ver­las­sen: er wird sich be­gnü­gen, sei­ne Tin­te zu ver­schrei­ben und denkt an kein Blut­ver­gie­ßen.«

»Als all­ge­mei­ne Re­gel gebe ich das zu«, ent­geg­ne­te Mr. Owens, einen klei­nen Schlüs­sel aus der Ta­sche zie­hend, den er in das Schloss des Mo­sa­ik­tisch­chens steck­te. »Aber es gibt doch eine ge­wis­se Men­schen­klas­se, für de­ren Hand­lungs­wei­se sich kein be­stimm­ter Maß­stab auf­stel­len lässt, weil ihre Mo­ti­ve von de­nen der Durch­schnitts­men­schen ab­wei­chen. Ich mei­ne Leu­te, die von re­li­gi­ösem Wahn­sinn er­grif­fen sind.«

Der In­spek­tor schwieg eine Wei­le. – »Bei Per­so­nen der Art«, sag­te er, »muss man sich frei­lich auf al­ler­lei Ab­son­der­lich­kei­ten ge­fasst ma­chen. Aber doch neh­men sie ihre Zuf­lucht meist zu an­de­ren Mit­teln als zu Mord und Tot­schlag.«

»Das wohl. Aber ver­ges­sen Sie nicht, was wir in Wa­shing­ton er­lebt ha­ben.«

»Sie mei­nen den Meu­chel­mord des Prä­si­den­ten Gar­field? Da­bei mö­gen doch po­li­ti­sche Be­weg­grün­de mit im Spiel ge­we­sen sein, die wir nicht über­se­hen kön­nen.«

»Die Po­li­tik ver­lei­tet den Men­schen zu man­cher Tor­heit«, ent­geg­ne­te Owens, »zum Wahn­witz ver­führt ihn aber weit eher re­li­gi­öse Über­spannt­heit. Der Ver­rück­te be­trach­tet sich als ge­hei­lig­tes Werk­zeug, um die­se oder jene her­vor­ra­gen­de Per­sön­lich­keit aus dem Wege zu schaf­fen, sei es den Prä­si­den­ten der Ve­rei­nig­ten Staa­ten oder ih­ren größ­ten Ka­pi­ta­lis­ten. Um Grün­de, die Gol­ding zum Tode ver­dam­men, wäre ein sol­cher Mensch nicht ver­le­gen. Er wür­de ihn an­kla­gen als Ver­rä­ter sei­nes Lan­des, als Ver­der­ber der öf­fent­li­chen Moral, Un­ter­drücker der Wit­wen und Wai­sen, als An­ti­christ, Lu­ci­fer und was der­glei­chen mehr ist. Wei­te­re Mo­ti­ve für sei­ne Tat be­darf er nicht. Dass er sein Op­fer vor­her warnt ist viel­leicht un­klug, er­scheint aber un­ter den Um­stän­den nicht ge­ra­de un­na­tür­lich. Er will sich als gott­ge­sand­ter Rä­cher der Un­schuld zu er­ken­nen ge­ben, den Leib will er tö­ten, nicht die See­le; er lässt sei­nem Op­fer Zeit, sein Te­sta­ment zu ma­chen, ein Stoß­ge­bet zu sa­gen. Treibt ihn viel­leicht noch au­ßer­dem per­sön­li­cher Hass zur Tat, so ge­nügt sei­nem Ra­che­durst der kur­ze To­des­kampf des Fein­des nicht, er will die Angst und Qual der Er­war­tung hin­zu­fü­gen, das Schwert des Da­mo­kles soll über dem schul­di­gen Haup­te hän­gen. Ich bin be­gie­rig, wie Sie selbst dar­über ur­tei­len wer­den.«

Mit die­sem Na­men ist in Wirk­lich­keit Jay Gould ge­meint, der be­kann­te, jetzt ge­stor­be­ne New Yor­ker Krö­sus.  <<<

Drittes Kapitel. – Ein Bündel Briefe

Mr. Owens hat­te bei die­sen Wor­ten den Schlüs­sel um­ge­dreht; aus der ge­öff­ne­ten Schub­la­de des Mo­sa­ik­tisch­chens nahm er ein Pa­ket Brie­fe her­aus, das von ei­nem Gum­mi­band zu­sam­men­ge­hal­ten wur­de, und über­reich­te es dem In­spek­tor.

»Aus dem Post­stem­pel ist er­sicht­lich«, be­merk­te er, »dass alle aus der Zeit der letz­ten drei Wo­chen her­rüh­ren. Gol­ding küm­mer­te sich nicht wei­ter dar­um, au­ßer dass er sei­nem Se­kre­tär be­fahl, sie auf­zu­be­wah­ren. An­ony­me Droh­brie­fe hat er schon frü­her er­hal­ten; hat es doch Zei­ten ge­ge­ben, da er in der Stadt fast nur feind­se­li­gen Bli­cken be­geg­ne­te. Er ist aber eine Art Fa­ta­list und lässt sich, wie ich Ih­nen schon sag­te, nicht so leicht aus sei­ner Ruhe brin­gen. Wenn hin­ter sei­nem Stuhl eine Bom­be platz­te und ein Loch in den Bo­den sei­nes Bü­ros schlü­ge – er wür­de es kaum der Mühe wert hal­ten sich um­zu­wen­den. Es war der reins­te Zu­fall, dass ich über­haupt et­was von der Sa­che er­fuhr. Ich er­kun­dig­te mich nach dem Be­fin­den sei­ner Frau, die lei­dend ge­we­sen war, wor­auf er mir sag­te, ihre Ner­ven wä­ren et­was an­ge­grif­fen in­fol­ge des letz­ten Brie­fes, den sie er­hal­ten. Nun frag­te ich wei­ter, bis er mir end­lich das gan­ze Bün­del zeig­te.«

»Hat er denn gar kei­ne Schrit­te ge­tan, um den Schrei­ber der Brie­fe zu er­mit­teln?«

»Nicht den ge­rings­ten. Gol­ding mein­te, mit der Zeit wer­de er sich schon selbst ver­ra­ten, es ver­loh­ne sich nicht, des­halb Nach­for­schun­gen an­stel­len zu las­sen. Nur aus Rück­sicht für sei­ne Frau hat er end­lich ein­ge­wil­ligt. Ihre Ge­sund­heit litt dar­un­ter, nicht so­wohl weil sie sich selbst be­droht sah, als auch weil sie in fort­wäh­ren­der Angst um ihn schweb­te. Nach­dem ich die Brie­fe ge­le­sen, riet ich ihm, so­fort die nö­ti­gen Maß­re­geln zu er­grei­fen. Er lach­te mich zu­erst aus und woll­te nichts da­von hö­ren, doch gab er schließ­lich nach. Das war heu­te früh, und ich zö­ger­te kei­nen Au­gen­blick, mich an Sie zu wen­den.«

Der In­spek­tor streif­te das Gum­mi­band ab und be­trach­te­te die Auf­schrif­ten der Cou­verts. Es war etwa ein hal­b­es Dut­zend, alle von der­sel­ben Hand an Mr. oder Mrs. Max­well Gol­ding adres­siert; klei­ne, ge­dräng­te, un­re­gel­mä­ßi­ge Buch­sta­ben, als sei der Schrei­ber be­müht ge­we­sen, sei­ne Schrift zu ver­stel­len oder wis­se über­haupt die Fe­der nur un­ge­schickt zu füh­ren. Brief­pa­pier und Cou­verts eine bil­li­ge, ge­wöhn­li­che Sor­te. Dem Post­stem­pel nach wa­ren die Brie­fe sämt­lich in New York auf­ge­ge­ben; sie tru­gen we­der Na­men noch Un­ter­schrift. Was also das Äu­ße­re be­traf, so konn­te je­der von den Mil­lio­nen Be­woh­nern der Groß­stadt sie ge­schrie­ben ha­ben.

»Fan­gen wir beim An­fang an«, sag­te der In­spek­tor, den ers­ten Brief ent­fal­tend, und be­gann zu le­sen:

»Max­well Gol­ding be­rei­te Dich zu ster­ben. Dei­ne Stun­de ist ge­kom­men. Du sollst die Welt ver­las­sen, den Schau­platz Dei­ner Un­ge­rech­tig­keit. Dein ver­derb­li­cher Lauf geht zu Ende. Du zählst Dich zu den Gro­ßen und Mäch­ti­gen der Erde, aber du bist sterb­lich wie sie und Dir naht der Tod. Gott sei Dei­ner See­le gnä­dig. Ich bin das er­wähl­te Werk­zeug, um Dich zu tö­ten. Der Herr hat es ge­ge­ben, der Herr wird es wie­der neh­men. Er hat Dir Dei­ne Reich­tü­mer ver­lie­hen, Du aber hast sie miss­braucht; jetzt be­dient er sich mei­ner Hand, um Dein bö­ses ver­werf­li­ches Le­ben zu en­den. Ich muss tun nach sei­nem Ge­bot, ich wer­de Dich schla­gen und nicht ver­scho­nen; nur um Dei­ne un­s­terb­li­che See­le zu ret­ten, ge­wäh­re ich Dir noch eine kur­ze Frist zur Vor­be­rei­tung auf die furcht­ba­re Ewig­keit. Ob Dei­ne Frau und Kin­der gleich­falls dem Tode ver­fal­len sind, ver­mag ich noch nicht zu sa­gen. Wahr­schein­lich wird es des Herrn Wil­le sein, dass der Stamm mit der Wur­zel aus­ge­rot­tet wer­de. Noch ein­mal wirst Du von mir hö­ren und dann nicht wie­der, bis Du Dich zu mei­nen Fü­ßen in Dei­nem Blu­te wäl­zest. Nur we­ni­ge Tage sind noch Dein, mich ver­langt da­nach, das Werk des Herrn aus­zu­füh­ren. Mei­ne Tat wird ge­recht er­fun­den wer­den und al­ler Men­schen Lob ern­ten. Ich wer­de ein Held hei­ßen und ein Be­frei­er. Aber nicht mei­nen Ruhm be­geh­re ich – ich ge­hor­che nur dem Be­fehl des Herrn, Dich zu tö­ten. Der Name des Herrn sei ge­prie­sen! Nimm Ab­schied von Frau und Kin­dern und be­stel­le Dein Haus, denn ich schwö­re zu Gott, du bist nur noch we­ni­ge Tage am Le­ben.«

»Nun, was sa­gen Sie dazu, was ist Ihr Ein­druck?« frag­te Mr. Owens, als der In­spek­tor den Brief wie­der zu­sam­men­fal­te­te und in das Cou­vert steck­te.

»Eine be­son­ders an­ge­neh­me Wür­ze zur Mahl­zeit ist es ge­ra­de nicht«, ent­geg­ne­te der Po­li­zei­chef. »Aber ich muss of­fen ge­ste­hen, mir klingt der Brief nicht na­tür­lich; es ist et­was Ge­mach­tes dar­in, als ob der Schrei­ber nicht selbst vom re­li­gi­ösen Wahn­sinn er­grif­fen wäre, son­dern viel­mehr ver­such­te, im Stil ei­nes sol­chen Irr­sin­ni­gen zu schrei­ben. In­des­sen – ich kann mich täu­schen!«

»Ge­setzt, wir ha­ben es mit ei­nem Be­trü­ger zu tun – was könn­te er für Zwe­cke ver­fol­gen?«

»Vi­el­leicht kei­nen an­de­ren als Mr. Gol­ding in Schre­cken zu set­zen. Es gibt weit mehr bos­haf­ten Mut­wil­len in der Welt als man meint. Höchst wahr­schein­lich hat er aber sehr prak­ti­sche, greif­ba­re Ab­sich­ten, ob­gleich nichts da­von in dem Brie­fe steht.«

»Sie mei­nen, er will Geld er­pres­sen. Wa­rum deu­tet er das dann nicht we­nigs­tens an?«

»Das wird spä­ter kom­men; er ver­fährt ganz me­tho­disch. Üb­ri­gens kün­digt der Brief Mr. Gol­ding an, dass er in we­ni­gen Ta­gen eine Lei­che sein wer­de. – Seit­dem sind drei Wo­chen ver­flos­sen und Gol­ding ist noch am Le­ben. Das scheint mir ver­däch­tig.«

»Wol­len Sie nicht die an­de­ren Brie­fe durch­ge­hen?« er­in­ner­te Mr. Owens.

Der In­spek­tor ver­tief­te sich in die Schrift­stücke und eine Vier­tel­stun­de lang ver­nahm man im Biblio­thek­zim­mer kei­nen an­de­ren Laut als das Knis­tern der Schei­ter im Ka­min und das lei­se Ti­cken der Bron­zeuhr. Der Po­li­zei­chef be­gnüg­te sich nicht da­mit die Brie­fe zu le­sen, er durch­forsch­te auf­’s ge­naus­te alle Ein­zel­hei­ten, ver­glich die Schrift ge­wis­ser Wor­te, ein­zel­ner Buch­sta­ben, un­ter­such­te, mit was für Fe­dern, mit was für Tin­te sie ge­schrie­ben sein moch­ten, hielt den In­halt des einen Briefs mit dem der an­de­ren zu­sam­men, er­wog je­den Satz, je­den Aus­druck und such­te aus dem Wort­laut auf Geist und Sinn des Schrei­bers zu schlie­ßen. Auch bei Satz­bau und Stil ver­weil­te er, um zu ent­schei­den, ob der Ver­fas­ser ein un­ge­bil­de­ter Mensch sei, der den Schein der Bil­dung an­zu­neh­men ver­su­che, oder ein ge­bil­de­ter, der be­strebt sei, un­wis­send zu er­schei­nen. End­lich streif­te er das Gum­mi­band wie­der um die Brie­fe und leg­te das gan­ze Bün­del auf den Tisch.

»Ha­ben Sie Ihre Mei­nung ge­än­dert?« frag­te Mr. Owens.

»In ge­wis­ser Be­zie­hung«, er­wi­der­te der In­spek­tor be­däch­tig. »Ers­tens glau­be ich, dass der Un­be­kann­te den bes­sern Stän­den an­ge­hört.«

»Ich bin zu dem ent­ge­gen­ge­setz­ten Schluss ge­langt. Von der Hand­schrift ganz ab­ge­se­hen, wür­de doch kein ei­ni­ger­ma­ßen ge­bil­de­ter Mensch in so ecki­gem, un­ge­len­kem Stil schrei­ben.«

»Nicht wenn er, so zu sa­gen, in sei­nem ei­ge­nen Na­men sprä­che, aber er spielt eine Rol­le. Er ist ein klu­ger ge­rie­be­ner Ge­schäfts­mann, der sich be­müht, für einen halb ver­rück­ten, re­li­gi­ösen Schwär­mer zu gel­ten. Der Schein ist vor­treff­lich ge­wahrt, aber hier und da gibt er sich doch eine Blö­ße; man­cher Satz und man­cher Ge­dan­ke passt nun und nim­mer­mehr für einen Men­schen, wie er ihn dar­zu­stel­len sucht. Auch zeugt das Gan­ze von zu viel Selbst­be­wusst­sein.«

»Sie mö­gen recht ha­ben, doch än­dert das im Grun­de we­nig. Ob ein ge­bil­de­ter Mensch oder ein Ta­ge­löh­ner Gol­ding nach dem Le­ben trach­tet, kommt schließ­lich auf eins her­aus.«

»Durchaus nicht, wenn der ge­bil­de­te Mann sei­ne Le­bens­stel­lung zu ver­ber­gen strebt.«