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Ein früher Meisterkrimi um den New Yorker Inspektor Byrnes. Das Leben des erfolgreichen und äußerst rücksichtslosen New Yorker Milliardärs Maxwell Golding wird bedroht. Sein Kompagnon sucht die Hilfe von Inspektor Byrnes. Der Schlüssel muss in einem anonymen Drohbrief stecken. Aber die Zeit drängt, denn der unbekannte Widersacher scheint zu allem entschlossen zu sein. Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 257
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Julian Hawthorne
Der verhängnisvolle Brief
Stuttgart
Julian Hawthorne
Der verhängnisvolle Brief
Stuttgart
Überarbeitung und Korrekturen: Null Papier VerlagHerausgeber: Jürgen Schulze Published by Null Papier Verlag, Deutschland Copyright © 2018 by Null Papier Verlag 1. Auflage, ISBN 978-3-962813-92-5
null-papier.de/592
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Inhaltsverzeichnis
Erstes Kapitel. – Im Bibliothekzimmer
Zweites Kapitel. – Ein moderner Finanzmann
Drittes Kapitel. – Ein Bündel Briefe
Viertes Kapitel. – Beratschlagung
Fünftes Kapitel. – Im Klub
Sechstes Kapitel. – Nachrichten
Siebentes Kapitel. – Talbot im Freundeskreise
Achtes Kapitel. – Cunliffe’s Sorgen
Neuntes Kapitel. – Eine Tasse Tee
Zehntes Kapitel. – Eine Schlittenfahrt
Elftes Kapitel. – General Weymouth
Zwölftes Kapitel. – Großstädtisch
Dreizehntes Kapitel. – Aus den Fugen
Vierzehntes Kapitel. – In der Irre
Fünfzehntes Kapitel. – Verschwunden
Sechzehntes Kapitel. – Vermutungen
Siebzehntes Kapitel. – Auf dem Eise
Achtzehntes Kapitel. – Cunliffe’s Wohltäter
Neunzehntes Kapitel. – Ungewissheit
Zwanzigstes Kapitel. – Eine Börsenpanik
Einundzwanzigstes Kapitel. – Verhaftet
Zweiundzwanzigstes Kapitel. – Der Postbezirk E
Dreiundzwanzigstes Kapitel. – Kitty Clive
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Ihr Jürgen Schulze, Verleger, js@null-papier.de
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Nach Mitteilungen des Chefs der New Yorker Geheimpolizei
Frisch gefallener Schnee lag in den Straßen New Yorks. Das Gewand der Reinheit, in welches der Schnee die Erde kleidet, ist für uns kein Bild von Jugend und Leben, sondern von Alter und Tod. Die Sommerhitze ist vergessen, die prächtigen Färbungen des Herbstes haben sich in eintöniges Braun verwandelt, das zarte Frühlingsgrün schwebt uns nur als ferner Hoffnungsschimmer vor, der Winter deckt alles zu mit seiner kalten weißen Hülle. Über den steinhart gefrorenen Boden weht ein eisiger Wind; in der Außenwelt reizt uns nichts mehr – was Wunder, wenn wir den Blick nach innen wenden und am traulichen Kamin Ersatz suchen für die entschwundenen Freuden der Natur! Die kalte Jahreszeit weckt ohnehin, mehr als die anderen, alle Triebe der Selbsterhaltung, ja des selbstsüchtigen Behagens; bei warmem Sonnenschein geht das Herz auf, der Mensch ist weit leichter zur Großmut gestimmt. Darum ist es ein Segen für Seele und Gemüt, dass das Weihnachtsfest mitten in den Winter fällt und durch seine Liebeswärme neues Leben schafft in der erstarrten frostigen Welt.
Die Begüterten wissen sich auch zur Winterszeit das Dasein erfreulich zu gestalten. Sie schmücken ihre Häuser mit allem Glanz, den der Reichtum verleiht, der rauen Wirklichkeit zum Trotz schwelgen sie in Genuss und Vergnügen. Die Armen dagegen drückt der Mangel doppelt schwer und seufzend zählen sie, ob ihre geringe Barschaft genügt, ihnen neben Nahrung und Kleidung auch einen warmen Ofen zu verschaffen. Und die Feinde der Gesellschaft, die Verbrecher? – Die wissen, dass die Vorräte eingeheimst sind, Geld und Gut angehäuft und die Besitzer sich in Sicherheit wiegen. So entwickeln sie denn gerade im Winter eine fieberhafte Tätigkeit, um sich auf ihre Weise die Güter der Erde anzueignen. Auch der Dieb kann sich im Sommer leichter durchbringen, während der Winter ihn in die Stadt treibt, wo ohne Geld nichts zu haben ist.
Zum Kampf gegen die kühnen Missetäter rüstet sich jedoch auch die Polizei mit besonderer Wachsamkeit. Vom Monat November an bis gegen Ende März findet man sie stets bereit auf diesem Plan. Die Gerichte sind in voller Arbeit, die Gefängnisse werden nicht leer; mit allen Mitteln wird das Verbrechen gewaltsam niedergehalten – aber nicht ertötet. Dem alten Drachen wächst stets ein neues Haupt an Stelle des abgeschlagenen. Wird er jemals ganz überwunden werden und seine Brut vertilgt? – Trotz aller Lehren der Religion, trotz aller Fortschritte der Kultur wächst nach wie vor Gutes und Böses zusammen in der Welt von Jahr zu Jahr, von einem Jahrhundert zum anderen. Wohl klagen wir mit Recht, dass sich das Schlechte und Gemeine selbst dem Edelsten und Besten anheftet, aber wir dürfen uns auch zum Trost sagen, dass das Unkraut die guten Keime nie ganz erstickt und sich selbst im Verworfensten noch Spuren des Guten entdecken lassen. –
Noch lag draußen auf dem Lande über Feldern und Wegen die weiße glatte Schneedecke ausgebreitet, aber in den Straßen der Großstadt hatte sie sich schon in Schmutz und Nässe verwandelt, wie zur ärgsten Regenzeit. Der braune Schlamm war schwarz geworden und strömte in fäulnisartigem Zustand einen wahren Leichengeruch aus, besonders in den Teilen von New York, wo Handel und Wandel den Verkehr am lebhaftesten machten. In der fünften Avenue war die Sache noch erträglich, weil dort der Schnee von den Trottoirs auf den mittleren Fahrweg geschaufelt worden war. Auf der breiten Bahn schossen die Schlitten lustig hin und her, während die Fußgänger in warme Pelze gehüllt schnellen Schrittes dahineilten. Alles war voll Leben und Bewegung, der Verkehr nahm erst ab, als die Nacht hereinbrach, die Laternen angezündet wurden und das Schlittengeläute allmählich verstummte, bis zuletzt nur noch wenige späte Wanderer auf der Straße zu sehen waren.
Zu einem der letzteren wollen wir uns gesellen. Er schreitet am Brunswick-Hotel vorüber auf der rechten Seite der Avenue mit schnellem aber festem Tritt. Es muss ihm wohl eine wichtige Angelegenheit im Sinne liegen, nach dem Ausdruck seiner wohlgebildeten, charaktervollen Züge zu urteilen, in denen sich der klare Geist eines starken tatkräftigen Mannes spiegelt. Seinem ruhigen, doch scharfen Blick entgeht nichts, was in sein Bereich kommt. Sein Leben ist ernst und arbeitsvoll, seine Zeit kostbar, aber alle Obliegenheiten so wohlgeordnet und bedacht, dass von keiner Überstürzung, keiner Hast und Ungeduld die Rede zu sein braucht. Ein runder Filzhut, warme Handschuhe, ein dicker Überrock, der über der Brust zugeknöpft ist, schützen ihn vor der Kälte, die brennende Zigarre verbreitet ein feines Aroma. Offenbar gehört er den höhern Gesellschaftsklassen an, aber in seinem Wesen liegt ein gewisses Etwas, das ihn über die Mehrzahl seiner Standesgenossen erhebt, ihn vor anderen auszeichnet. Gewiss eine bekannte Persönlichkeit – wir haben seinen Namen ohne Zweifel schon oft nennen hören! Wer mag es nur sein?
An einer Straßenecke stand ein großer älterer Herr mit gerader militärischer Haltung. Sein langer Schnauzbart, der schon ins Graue spielte, die dunkeln Augen und die scharfe Adlernase machten ihn zu einer aristokratischen Erscheinung. Er schien vergeblich in seinen Taschen nach etwas zu suchen, und als sich der Fußgänger ihm näherte, trat er rasch auf ihn zu und sagte höflich: »Mir ist die Zigarre ausgegangen, darf ich um Feuer bitten?«
Der andere stand still. »Eine kalte Nacht«, bemerkte er und reichte dem Herrn mit einer Verbeugung seine Zigarre hin.
»Besten Dank«, sagte dieser, sie ihm zurückgebend, dann trennten sie sich.
Eine flüchtige Begegnung! Doch blieb die Gestalt des militärisch aussehenden Herrn dem nächtlichen Wanderer in der Erinnerung haften. Beide ahnten indessen nicht, wie bald und auf wie seltsame Weise das Schicksal sie wieder zusammenführen sollte.
Als der Wanderer sich jetzt einem der großen Klubhäuser näherte, die eine Zierde der Avenue sind, kamen zwei Männer Arm in Arm die Stufen herunter. Er grüßte den stattlichen rotbärtigen Herrn, den er kannte, der andere, ein schlanker junger Mann von angenehmem Äußern war ihm fremd. »Das ist ein kluger Kopf«, dachte er bei sich, »wie deren die Klubgesellschaft nicht viele zählen mag.«
Nun bog er in eine Seitenstraße, stieg die Stufen vor einem hübschen Haus hinan und zog an der Glocke. Die Tür sprang auf und er trat ein.
»Ist Mr. Owens zu sprechen?«
»Jawohl, bemühen Sie sich gefälligst hier herein.«
Der Besucher folgte dem Diener durch die breite schöne Vorhalle in ein großes Zimmer zur Linken, an dessen Wänden sich rings bis zur Höhe von fünf Fuß schön geschnitzte und polierte Bücherregale von hellem Holz entlang zogen. Die Bibliothek bestand aus Büchern der verschiedensten Größe in feinen Einbänden, deren bloßer Anblick das Herz des Kenners entzückt hätte. Gepresste Ledertapeten mit feinen Goldlinien bildeten die übrige Wandbekleidung, wohltuend für das Auge und doch nicht zu dunkel. Auf den Büchergestellen lehnten, scheinbar ohne absichtliche Anordnung, kostbar eingerahmte Kupferstiche und Radierungen; auf Konsolen, Tischen und Eckbrettern befand sich eine Sammlung seltener Bronzen aus alter und neuer Zeit. Figuren und Gruppen, Vasen, Lampen, bronzene Helme und Zierraten jeder Art, von klassisch schöner oder origineller Form, jedes Stück meisterhaft gearbeitet und für die Größe des Zimmers passend. Auch das Kamingesims war von feiner Bronzearbeit in japanischem Geschmack, an beiden Seiten gestützt und eingerahmt von grotesken Gestalten, halb Mensch halb Ungetüm, wie sie nur eine japanische Fantasie erzeugt. Zwei große Scheiter Zedernholz, die im Kamin brannten, verbreiten köstlichen Wohlgeruch; der glatte eichene Fußboden war mit weichen mattfarbigen Teppichen belegt. Von der Decke hing, gleich einer riesigen glänzenden Frucht an graziösem Stiel, eine große milchweiße Glaskugel herab, deren mildes, aber starkes Licht bis in die äußerste Ecke des Zimmers eins wohltuende Helle verbreitete.
Es wäre jedoch ein vergebliches Bemühen, von dem Reiz der Einrichtung dieses Bibliothekzimmers, des kostbarsten von ganz New York, auch nur einen entfernten Begriff geben zu wollen. Viele New Yorker kennen die Bronzen, die Bücher und seltenen Stiche, von denen manche einzig in ihrer Art sind, wie es denn des Besitzers Streben vor allem gewesen, seine Bibliothek nach Form und Inhalt so geschmackvoll und eigenartig auszustatten wie irgend möglich. Zur Befriedigung dieser seiner Liebhaberei standen ihm alle Mittel zu Gebote.
Als der Besucher den eleganten Raum betrat, war er leer, doch luden ihn weiche Lehnstühle und Sophas zu beschaulicher Ruhe ein, die gedämpften Farben der ganzen Einrichtung wirkten wohltuend auf das Gemüt, die Kunstwerke und Zierraten entzückten das Auge, doch diente aller Schmuck nur dazu, das wohlige Behagen zu erhöhen, das den Beschauer durchströmte. Nicht ein Museum, dessen Schätze man anstaunt, nein ein harmonisch ausgestattetes Heim hatte der Eigentümer sich hier geschaffen, dessen Zauber er zu empfinden und zu genießen verstand. Es legte Zeugnis ab für den feingebildeten Geist des Mannes, der hier seine Ruhe und Erholung suchte.
Am Kamin stehend bewunderte der Besucher die kunstreiche Arbeit einer Bronzeuhr auf dem Gesims, als hinter ihm Schritte vernehmbar wurden. Er wandte sich und sah den Herrn des Hauses näher treten, um ihn zu begrüßen.
»Willkommen, Inspektor Byrnes!«
»Guten Abend, Mr. Owens, wie geht es Ihnen?«
Es ging Mr. Owens offenbar recht leidlich. Er war ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren mit hübschem ausdrucksvollem Gesicht, glattrasiertem Kinn und hellbraunem Haar, das um die hohe Stirn anfing etwas dünn zu werden. In Wesen und Haltung trug er den Stempel feinster Bildung. Courtland Owens stammte aus einer alten angesehenen amerikanischen Familie, deren Glieder gelernt hatten, den Reichtum, welcher seit Generationen in ihrem Besitz war, auf anmutige und nutzbringende Weise zu verwenden. Als echte Amerikaner hatten sie sich nicht dem müßigen Genuss ergeben, sondern einen Lebensberuf gewählt, ein Amt bekleidet. Sie hatten sich als Kaufleute, Bankiers, Diplomaten, Staatsmänner, Direktoren großer industrieller Unternehmungen hervorgetan und die höchsten Ehrenämter der Stadt zu Nutz und Frommen des Gemeinwohls bekleidet. Auch der jetzige Erbe des Namens, obgleich nach Erziehung und Geistesanlage ein Kunstkenner und gelehrter Forscher, hatte tätig eingegriffen in das wirkliche Leben; er war seit fast zehn Jahren Geschäftsteilhaber und persönlicher Freund eines der größten Finanzmänner der Gegenwart. Unmöglich hätte man zwei Menschen finden können, die an Charakter und äußerer Erscheinung einander so unähnlich waren wie die beiden Häupter jener berühmten Handelsfirma. Doch verknüpfte sie ein so festes, herzliches Band, wie man es selten selbst bei Leuten findet, deren ganze Geschmacksrichtung auf’s innigste übereinstimmt. Sie schätzten und achteten einander von rein menschlichem Standpunkt aus, ohne Rücksicht auf sonstige Verhältnisse.
»Ich bedarf Ihres Rates, Herr Inspektor, in einer mir wichtigen Angelegenheit«, bemerkte Mr. Owens. »Legen Sie Hut und Oberrock ab und nehmen Sie gefälligst Platz. Es handelt sich um eine Sache, die sich nicht in fünf Minuten abmachen lässt; auf ein paar Stunden müssen Sie wenigstens rechnen, darum machen Sie sich’s vor allem bei mir bequem!« –
Der Chef der New Yorker Geheimpolizei entledigte sich seiner warmen Hüllen und ließ sich mit der ihm eigenen ruhigen Heiterkeit am Kamin nieder, während Courtland Owens ihm gegenüber Platz nahm, neben einem Mosaiktischchen mit verziertem Bronzeschloss.
»Wir sind besorgt und unruhig«, begann Mr. Owens, »das heißt ich bin es, um Goldings willen.«
»Golding – Ihr Teilhaber! – Um ihn machen Sie sich Sorge?«
Der Gedanke schien den Inspektor förmlich zu belustigen. Maxwell Golding,1 der Eisenbahnkönig, der Mann der Telegrafen und Bergwerke, dessen Glück bei allen Unternehmungen sprichwörtlich geworden, dessen Reichtümer sich nicht schätzen ließen, war nach der allgemein herrschenden Auffassung allerdings kein Gegenstand für teilnehmende Sorge, solange er nicht selbst nach dem Zuspruch seines Arztes oder vielleicht seines Pfarrers begehrte. Als der Inspektor jedoch Goldings Freund mit so bekümmerter Miene sah und erkannte, dass es sich um keinen Scherz handle, nahm er gleichfalls eine ernste Haltung an und lieh Mr. Owens’ Mitteilungen ein aufmerksames Ohr.
»Ich will gleich von vornherein bemerken«, begann dieser, »dass Golding um unsere Unterredung weiß. Freilich hatte ich Mühe, seine Einwilligung zu erlangen. Es liegt nun einmal in seiner Natur; er kennt keine Furcht! Persönliche Bedenken spielen in seinem Leben keine Rolle; durch alle Hindernisse hindurch steuert er gerade auf sein Ziel. Dabei dient ihm als Werkzeug das Geld, das niemand so kühn und am rechten Ort zu gebrauchen versteht wie er. Das Geld ist in seiner Hand weit mehr als ein bloßes Tauschgut, es ist das Mittel, neue Werte zu erzeugen, weitschauende Berechnungen zu verwirklichen, jeden Widerstand zu entkräften. Mit diesem mächtigen Zauberstab beschwört er jedoch nicht allerlei Wahngebilde herauf, wie Prospero auf seiner fernen Insel, in Shakespeare’s Sturm, sondern ruft höchst greifbare und wesentliche Güter und Dinge ins Dasein an allen Orten und Enden unseres Weltteils.«
»Und ist er dabei auf ein Hindernis gestoßen?« fragte der Inspektor.
Der andere lächelte. – »Ich muss sehr um Entschuldigung bitten«, sagte er. »Sie sind nicht hergekommen, um philosophische Betrachtungen und Shakespeare anzuhören. Also zur Sache! – Ja, Golding ist auf ein Hindernis gestoßen, obgleich er selbst es nicht zugeben will. Dass ein Mann wie er viele Feinde hat, ist begreiflich. Selbst wenn ihm darum zu tun wäre, es den Menschen recht zu machen, würden bei ihm auf einen Freund noch immer hundert Feinde kommen. Es ist ein wahres Wunder, dass er sich überhaupt Freunde erwirbt. Für die Scharen seiner Angestellten ist er kaum mehr als ein abstrakter Begriff, eine bewegende Kraft, in deren Umkreis sie zufällig mit hereingezogen werden, um sofort daraus zu verschwinden, wenn sie den an sie gestellten Anforderungen nicht genügen. Für den Lohn, den er ihnen zahlt, schulden sie ihm keinen Dank: er ist ihr gutes Recht, wenn sie die übernommenen Pflichten erfüllen; tun sie dies nicht, so werden sie entlassen. Ein solches Verhältnis schließt von vornherein alle Freundschaft aus. Auch unter seinen Nebenbuhlern und Konkurrenten zählt er natürlich nur Feinde. Er hat mehr Macht und Glück als sie, sein Verlust würde, wie sie meinen, ihr Gewinn sein. Vielen von ihnen hat er mittelbar oder unmittelbar den Untergang bereitet, ob vorsätzlich oder nicht bleibt dahingestellt – das Endresultat bleibt das gleiche. Ein Mann in seiner Stellung muss eben unaufhaltsam vorwärts, sonst kommt er zu Fall. Sein Schicksal treibt ihn weiter, er darf nicht stillstehen – wer ihm den Weg vertritt ist verloren! – Nur unter Leuten, die weder in seinem Sold stehen noch in dem seiner Widersacher, könnte er also Freunde finden. Aber auch da ist die Wahrscheinlichkeit nicht groß. Es gehört kein geringer Mut dazu, als Freund eines hundertfachen Millionärs aufzutreten, den Argwohn der Welt zu ertragen, die mit Misstrauen auf jedes seiner Motive blickt. Bei aller Gleichheit gegen die öffentliche Kritik muss ein Mann von Selbstachtung sich sagen, dass er einen zu hohen Preis für solche Freundschaft zahlt. Das größte Hindernis aber liegt in Golding’s eigenem Charakter. Ein Kapitalist wie er muss gegen lästige Zudringlichkeit auf der Hut sein, er verliert den Glauben an die Uneigennützigkeit derer, die seinen Umgang suchen. So ist ihm ihn Wahrheit die Möglichkeit genommen, Bande der Freundschaft zu knüpfen, wie sie die gewöhnlichen Sterblichen unter einander verbinden. Auf ihn lässt sich anwenden, was Mme. de Staël von Napoleon sagte: er ist unter den Mitlebenden nicht ein Mensch, sondern ein System – steht, so zu sagen, nur in sachlicher Beziehung zur Welt. Man kennt ihn nur seinem Rufe nach und niemand tritt in ein persönliches Verhältnis zu ihm – mit ein oder zwei Ausnahmen.«
»Soviel ich weiß ist er verheiratet«, warf der Inspektor ein.
»Ja, glücklicherweise. Als er seine Frau kennen lernte, war er noch ein junger Mensch, der wenig Aussicht auf seine jetzige Stellung hatte. Es lag daher für ihn kein Grund vor, an der Aufrichtigkeit ihrer Gefühle zu zweifeln. Seine Liebe zu Frau und Kindern ist wohl eine der stärksten Leidenschaften seiner Natur, vielleicht ebenso stark als sein Ehrgeiz. Dass er für die Gesellschaft im Allgemeinen nicht noch weit gefährlicher geworden, ist allein dem Einfluss seiner Familie zuzuschreiben. Ohne diesen hätte er sich über alle Bedenken hinweggesetzt, wäre oft noch rücksichtsloser, noch unbarmherziger verfahren. Er ist so wie so der größte Cyniker, den ich kenne, und seine Grundsätze weichen wesentlich von den meinigen ab.«
»Und dennoch sind Sie sein Freund?«
»Das bin ich. Und ich glaube wahrhaftig der einzige, den er besitzt. Unsere Bekanntschaft stammt noch aus der Zeit vor seiner Heirat. Er hatte gerade die Kohlengrube auf seinem Grundstück in Maryland verkauft und wollte sein Glück in New York versuchen. Damals hat ihm wohl niemand zugetraut, dass er das Zeug besäße, sich zu seiner jetzigen Größe emporzuarbeiten. In seinem Äußern hat er sich seitdem nicht viel verändert, breitschulterig, klein von Wuchs, mit schwarzem Haar und blauen Augen. In diesen Augen aber steht das Geheimnis zu lesen – mir sind nie ähnliche vorgekommen. Für gewöhnlich haben sie einen schläfrigen Ausdruck, als wäre der Mann halb im Traum. Befindet er sich jedoch in erregtem Zustand, tritt er einem Widersacher entgegen, einer Gefahr, die jeden anderen erschrecken würde, so sprühen seine Augen Feuer und Flammen. Es ist nur ein kalter Strahl, aber er geht durch Mark und Bein, es liegt förmlich etwas Diabolisches darin. Er ist ein ganz eigener Mensch!«
»Und doch sind Sie ihm zugetan?«
»Ich leugne durchaus nicht, dass er oft hart, ja grausam gewesen ist, doch hat er nie seinen Grundsätzen zuwider gehandelt. Er erwartet von den Menschen weder Rücksicht noch Schonung, auch ihnen zeigt er keine. Er schlägt seinen Gegner wie und wo er kann und verschmäht weder List noch Falschheit, um den Sieg zu erringen. So lange der Kampf währt, kennt er kein Erbarmen, scheut vor keinem Mittel zurück, das nicht geradezu ein Verbrechen ist. Hat die Schlacht ausgetobt, so bewahrt er keinen Groll, nimmt keine Rache. Er ist kein persönlicher Feind seiner geschäftlichen Konkurrenten. Hindern sie seine Pläne, so stößt er sie bei Seite oder reißt sie zu Boden. Aber sobald sie ihm nicht mehr den Weg versperren, ist er bereit, ihnen die Mittel zu geben, sich wieder aufzuraffen. Ja, mir ist oft vorgekommen, als fühle Golding förmliche Zuneigung für einen gefährlichen Widersacher. Er hat mehr Freude am Kampf als am Sieg; wenn er den Gegner in einer Schlacht geschlagen hat, möchte er ihm am liebsten helfen sich zu einer zweiten zu waffnen. – Sie haben ganz recht: ich bin ihm zugetan!« –
Der Inspektor blickte eine Weile nachdenklich auf das flammende Feuer im Kamin. »Nicht dass ein solcher Mann Feinde hat«, sagte er endlich, »darf uns Wunder nehmen, wohl aber, dass jemand kühn genug gewesen ihn anzugreifen. Ich vermute nämlich, dass dem so ist, da Sie meine Hilfe in Anspruch nehmen wollen.«
»Ganz recht. Aber Maxwell Golding offen zum Zweikampf herausfordern, würde wohl so leicht niemand wagen. Mit Geld, das wissen Sie, lässt sich in New York alles erreichen; Golding würde kein Bedenken tragen, alles zu kaufen, was ihm zur Verteidigung dienen könnte, vom Kettenhund an bis zum Gerichtshof. Diesem Feinde aber steht selbst Golding machtlos gegenüber.«
»Wie ist das möglich?«
»Auf sehr einfache Weise, wir wissen nicht, wer der Feind ist!«
Der Inspektor richtete sich in die Höhe. »Ein heimlicher Widersacher also? Wie geht er zu Werke? Stehen ihm Kapitalien zu Gebote? Macht er seinen Einfluss an der Börse geltend?«
»Ganz im Gegenteil. Soweit bis jetzt ersichtlich, scheint der Mann über gar keine Geldmittel zu verfügen.«
»Wie zeigt er denn aber seine feindliche Haltung?«
»Auch der Schwächste vermag dem Starken gefährlich zu werden, wenn er sein Leben bedroht oder das Leben derer, die ihm teuer sind. Berge von Gold bieten keine Schutzwehr gegen die Kugel oder das Messer des Meuchelmörders. Alle vereinigten Kapitalisten des Landes vermöchten nicht Golding zu stürzen, aber irgend ein Lumpenhund, der verwegen oder wahnwitzig genug ist, die Folgen auf sich zu nehmen, kann ihm bei der ersten Gelegenheit das Lebenslicht ausblasen.«
»Derartige Vagabunden gibt es nicht viele«, bemerkte der Inspektor trocken.
»Einer genügt dazu«, entgegnete Owens, »warum nicht unser verborgener Feind?«
»Ist denn ein Mordanschlag auf Mr. Golding gemacht worden?«
»Nein, doch man droht ihm das Leben zu nehmen!«
»Man droht?« erwiderte der Inspektor, »dann liegt gewiss kein Grund zu ernstlicher Besorgnis vor! Ein Schreckschuss – nichts weiter. Natürlich muss der Sache ein Ende gemacht werden; aber wenn mir das gelingt, habe ich Mr. Golding höchstens von einer Unbequemlichkeit befreit; als seinen Lebensretter braucht er mich nicht zu betrachten. Wer dem mächtigen Kapitalisten wirklich nach dem Leben stünde, würde sicherlich nicht daran denken, ihn vorher zu warnen. Er würde ihm auflauern und den Todesstreich führen. – Hunde die bellen, beißen selten!«
»Wohl wahr, Herr Inspektor, trotzdem – –«
»Schreibt dagegen – wie ich aus Ihrer Mitteilung entnehme – jemand an Mr. Golding anonyme Briefe, in denen er die Absicht ausspricht, ihn umzubringen, so können Sie sich darauf verlassen: er wird sich begnügen, seine Tinte zu verschreiben und denkt an kein Blutvergießen.«
»Als allgemeine Regel gebe ich das zu«, entgegnete Mr. Owens, einen kleinen Schlüssel aus der Tasche ziehend, den er in das Schloss des Mosaiktischchens steckte. »Aber es gibt doch eine gewisse Menschenklasse, für deren Handlungsweise sich kein bestimmter Maßstab aufstellen lässt, weil ihre Motive von denen der Durchschnittsmenschen abweichen. Ich meine Leute, die von religiösem Wahnsinn ergriffen sind.«
Der Inspektor schwieg eine Weile. – »Bei Personen der Art«, sagte er, »muss man sich freilich auf allerlei Absonderlichkeiten gefasst machen. Aber doch nehmen sie ihre Zuflucht meist zu anderen Mitteln als zu Mord und Totschlag.«
»Das wohl. Aber vergessen Sie nicht, was wir in Washington erlebt haben.«
»Sie meinen den Meuchelmord des Präsidenten Garfield? Dabei mögen doch politische Beweggründe mit im Spiel gewesen sein, die wir nicht übersehen können.«
»Die Politik verleitet den Menschen zu mancher Torheit«, entgegnete Owens, »zum Wahnwitz verführt ihn aber weit eher religiöse Überspanntheit. Der Verrückte betrachtet sich als geheiligtes Werkzeug, um diese oder jene hervorragende Persönlichkeit aus dem Wege zu schaffen, sei es den Präsidenten der Vereinigten Staaten oder ihren größten Kapitalisten. Um Gründe, die Golding zum Tode verdammen, wäre ein solcher Mensch nicht verlegen. Er würde ihn anklagen als Verräter seines Landes, als Verderber der öffentlichen Moral, Unterdrücker der Witwen und Waisen, als Antichrist, Lucifer und was dergleichen mehr ist. Weitere Motive für seine Tat bedarf er nicht. Dass er sein Opfer vorher warnt ist vielleicht unklug, erscheint aber unter den Umständen nicht gerade unnatürlich. Er will sich als gottgesandter Rächer der Unschuld zu erkennen geben, den Leib will er töten, nicht die Seele; er lässt seinem Opfer Zeit, sein Testament zu machen, ein Stoßgebet zu sagen. Treibt ihn vielleicht noch außerdem persönlicher Hass zur Tat, so genügt seinem Rachedurst der kurze Todeskampf des Feindes nicht, er will die Angst und Qual der Erwartung hinzufügen, das Schwert des Damokles soll über dem schuldigen Haupte hängen. Ich bin begierig, wie Sie selbst darüber urteilen werden.«
Mit diesem Namen ist in Wirklichkeit Jay Gould gemeint, der bekannte, jetzt gestorbene New Yorker Krösus. <<<
Mr. Owens hatte bei diesen Worten den Schlüssel umgedreht; aus der geöffneten Schublade des Mosaiktischchens nahm er ein Paket Briefe heraus, das von einem Gummiband zusammengehalten wurde, und überreichte es dem Inspektor.
»Aus dem Poststempel ist ersichtlich«, bemerkte er, »dass alle aus der Zeit der letzten drei Wochen herrühren. Golding kümmerte sich nicht weiter darum, außer dass er seinem Sekretär befahl, sie aufzubewahren. Anonyme Drohbriefe hat er schon früher erhalten; hat es doch Zeiten gegeben, da er in der Stadt fast nur feindseligen Blicken begegnete. Er ist aber eine Art Fatalist und lässt sich, wie ich Ihnen schon sagte, nicht so leicht aus seiner Ruhe bringen. Wenn hinter seinem Stuhl eine Bombe platzte und ein Loch in den Boden seines Büros schlüge – er würde es kaum der Mühe wert halten sich umzuwenden. Es war der reinste Zufall, dass ich überhaupt etwas von der Sache erfuhr. Ich erkundigte mich nach dem Befinden seiner Frau, die leidend gewesen war, worauf er mir sagte, ihre Nerven wären etwas angegriffen infolge des letzten Briefes, den sie erhalten. Nun fragte ich weiter, bis er mir endlich das ganze Bündel zeigte.«
»Hat er denn gar keine Schritte getan, um den Schreiber der Briefe zu ermitteln?«
»Nicht den geringsten. Golding meinte, mit der Zeit werde er sich schon selbst verraten, es verlohne sich nicht, deshalb Nachforschungen anstellen zu lassen. Nur aus Rücksicht für seine Frau hat er endlich eingewilligt. Ihre Gesundheit litt darunter, nicht sowohl weil sie sich selbst bedroht sah, als auch weil sie in fortwährender Angst um ihn schwebte. Nachdem ich die Briefe gelesen, riet ich ihm, sofort die nötigen Maßregeln zu ergreifen. Er lachte mich zuerst aus und wollte nichts davon hören, doch gab er schließlich nach. Das war heute früh, und ich zögerte keinen Augenblick, mich an Sie zu wenden.«
Der Inspektor streifte das Gummiband ab und betrachtete die Aufschriften der Couverts. Es war etwa ein halbes Dutzend, alle von derselben Hand an Mr. oder Mrs. Maxwell Golding adressiert; kleine, gedrängte, unregelmäßige Buchstaben, als sei der Schreiber bemüht gewesen, seine Schrift zu verstellen oder wisse überhaupt die Feder nur ungeschickt zu führen. Briefpapier und Couverts eine billige, gewöhnliche Sorte. Dem Poststempel nach waren die Briefe sämtlich in New York aufgegeben; sie trugen weder Namen noch Unterschrift. Was also das Äußere betraf, so konnte jeder von den Millionen Bewohnern der Großstadt sie geschrieben haben.
»Fangen wir beim Anfang an«, sagte der Inspektor, den ersten Brief entfaltend, und begann zu lesen:
»Maxwell Golding bereite Dich zu sterben. Deine Stunde ist gekommen. Du sollst die Welt verlassen, den Schauplatz Deiner Ungerechtigkeit. Dein verderblicher Lauf geht zu Ende. Du zählst Dich zu den Großen und Mächtigen der Erde, aber du bist sterblich wie sie und Dir naht der Tod. Gott sei Deiner Seele gnädig. Ich bin das erwählte Werkzeug, um Dich zu töten. Der Herr hat es gegeben, der Herr wird es wieder nehmen. Er hat Dir Deine Reichtümer verliehen, Du aber hast sie missbraucht; jetzt bedient er sich meiner Hand, um Dein böses verwerfliches Leben zu enden. Ich muss tun nach seinem Gebot, ich werde Dich schlagen und nicht verschonen; nur um Deine unsterbliche Seele zu retten, gewähre ich Dir noch eine kurze Frist zur Vorbereitung auf die furchtbare Ewigkeit. Ob Deine Frau und Kinder gleichfalls dem Tode verfallen sind, vermag ich noch nicht zu sagen. Wahrscheinlich wird es des Herrn Wille sein, dass der Stamm mit der Wurzel ausgerottet werde. Noch einmal wirst Du von mir hören und dann nicht wieder, bis Du Dich zu meinen Füßen in Deinem Blute wälzest. Nur wenige Tage sind noch Dein, mich verlangt danach, das Werk des Herrn auszuführen. Meine Tat wird gerecht erfunden werden und aller Menschen Lob ernten. Ich werde ein Held heißen und ein Befreier. Aber nicht meinen Ruhm begehre ich – ich gehorche nur dem Befehl des Herrn, Dich zu töten. Der Name des Herrn sei gepriesen! Nimm Abschied von Frau und Kindern und bestelle Dein Haus, denn ich schwöre zu Gott, du bist nur noch wenige Tage am Leben.«
»Nun, was sagen Sie dazu, was ist Ihr Eindruck?« fragte Mr. Owens, als der Inspektor den Brief wieder zusammenfaltete und in das Couvert steckte.
»Eine besonders angenehme Würze zur Mahlzeit ist es gerade nicht«, entgegnete der Polizeichef. »Aber ich muss offen gestehen, mir klingt der Brief nicht natürlich; es ist etwas Gemachtes darin, als ob der Schreiber nicht selbst vom religiösen Wahnsinn ergriffen wäre, sondern vielmehr versuchte, im Stil eines solchen Irrsinnigen zu schreiben. Indessen – ich kann mich täuschen!«
»Gesetzt, wir haben es mit einem Betrüger zu tun – was könnte er für Zwecke verfolgen?«
»Vielleicht keinen anderen als Mr. Golding in Schrecken zu setzen. Es gibt weit mehr boshaften Mutwillen in der Welt als man meint. Höchst wahrscheinlich hat er aber sehr praktische, greifbare Absichten, obgleich nichts davon in dem Briefe steht.«
»Sie meinen, er will Geld erpressen. Warum deutet er das dann nicht wenigstens an?«
»Das wird später kommen; er verfährt ganz methodisch. Übrigens kündigt der Brief Mr. Golding an, dass er in wenigen Tagen eine Leiche sein werde. – Seitdem sind drei Wochen verflossen und Golding ist noch am Leben. Das scheint mir verdächtig.«
»Wollen Sie nicht die anderen Briefe durchgehen?« erinnerte Mr. Owens.
Der Inspektor vertiefte sich in die Schriftstücke und eine Viertelstunde lang vernahm man im Bibliothekzimmer keinen anderen Laut als das Knistern der Scheiter im Kamin und das leise Ticken der Bronzeuhr. Der Polizeichef begnügte sich nicht damit die Briefe zu lesen, er durchforschte auf’s genauste alle Einzelheiten, verglich die Schrift gewisser Worte, einzelner Buchstaben, untersuchte, mit was für Federn, mit was für Tinte sie geschrieben sein mochten, hielt den Inhalt des einen Briefs mit dem der anderen zusammen, erwog jeden Satz, jeden Ausdruck und suchte aus dem Wortlaut auf Geist und Sinn des Schreibers zu schließen. Auch bei Satzbau und Stil verweilte er, um zu entscheiden, ob der Verfasser ein ungebildeter Mensch sei, der den Schein der Bildung anzunehmen versuche, oder ein gebildeter, der bestrebt sei, unwissend zu erscheinen. Endlich streifte er das Gummiband wieder um die Briefe und legte das ganze Bündel auf den Tisch.
»Haben Sie Ihre Meinung geändert?« fragte Mr. Owens.
»In gewisser Beziehung«, erwiderte der Inspektor bedächtig. »Erstens glaube ich, dass der Unbekannte den bessern Ständen angehört.«
»Ich bin zu dem entgegengesetzten Schluss gelangt. Von der Handschrift ganz abgesehen, würde doch kein einigermaßen gebildeter Mensch in so eckigem, ungelenkem Stil schreiben.«
»Nicht wenn er, so zu sagen, in seinem eigenen Namen spräche, aber er spielt eine Rolle. Er ist ein kluger geriebener Geschäftsmann, der sich bemüht, für einen halb verrückten, religiösen Schwärmer zu gelten. Der Schein ist vortrefflich gewahrt, aber hier und da gibt er sich doch eine Blöße; mancher Satz und mancher Gedanke passt nun und nimmermehr für einen Menschen, wie er ihn darzustellen sucht. Auch zeugt das Ganze von zu viel Selbstbewusstsein.«
»Sie mögen recht haben, doch ändert das im Grunde wenig. Ob ein gebildeter Mensch oder ein Tagelöhner Golding nach dem Leben trachtet, kommt schließlich auf eins heraus.«
»Durchaus nicht, wenn der gebildete Mann seine Lebensstellung zu verbergen strebt.«
»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«