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2011 schien in der arabischen Welt eine neue, demokratische Zeit anzubrechen. Der ägyptische Aufstand gegen Mubarak auf dem Kairoer Tahrir-Platz war dafür ein besonders starkes Signal. Heute sitzen viele der damaligen Aktivisten im Gefängnis, alte und neue Diktatoren sind an der Macht, Millionen Menschen fliehen vor Bürgerkrieg, Hoffnungslosigkeit und den Mördern des sogenannten Islamischen Staates.
Julia Gerlach hat Aktivisten der Revolution, Islamisten, Politiker und ganz normale Menschen in der Region über Jahre begleitet und befragt. So gelingt ihr eine ebenso persönliche wie informative Beschreibung der Ereignisse, die zum Scheitern der hoffnungsvollen Anfänge führten. Ein spannender, differenzierter Einblick in die jüngste arabische Geschichte, die uns mehr denn je betrifft.
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Seitenzahl: 369
Julia Gerlach
Das Projekt wurde von der Robert Bosch Stiftung im Rahmen des Programms »Grenzgänger« gefördert.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
1. Auflage, Januar 2016 (entspricht der 1. Druckauflage von Januar 2016) © Christoph Links Verlag GmbH Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0www.christoph-links-verlag.de; [email protected] Umschlagabbildung: Graffiti am Tahrir-Platz in Kairo 2012 (Claudia Wiens) Karte: Christopher Volle, Freiburg
Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Karte
Ägypten – Der Frühling am Nil
Es geht los!
1001 gläserne Decken: Der Frust der ägyptischen Jugend
Generation Mubarak
Das Wunder des 25. Januar 2011
Der taktische Rückzug der Polizei
Revolution!
EXKURS: Politik der USA
Das System Mubarak schlägt zurück
Die Macht der Propaganda
Staat im Staat: Das ägyptische Militär
Der Frühling ist da!
Die Weichen werden gestellt
Wo kommen nur plötzlich die vielen Salafisten her?
Die neue arabische Krankheit: Polarisierung
Die Rolle der Medien
Hängt ihn auf!
Warum es so schwer ist, eine Partei zu gründen
Wahlfrust
Ägyptens zweite Chance
Die Muslimbrüder: Was glauben sie eigentlich?
Mohammed Mursi und die Radikalen
Mursis Erfolg auf der internationalen Bühne
Der Tahrir-Platz wird wiederbelebt
»Yuskut Hukum al-Murschid!« Es stürze die Herrschaft des Führers!
Wer regiert eigentlich Ägypten?
Auf dem Weg zur zweiten Revolution
Bekommt Ägypten eine dritte Chance?
Wellen des Hasses
Ernüchterung
Der neue Pharao
Altes System oder neues System?
Ägypten und seine Geldgeber
Wie Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar die Polarisierung gefördert haben
Wo kommt der Terror her und wie lässt er sich bekämpfen?
Wie geht es weiter in Ägypten?
Der Arabische Frühling in der Region
Tunesien
Libyen
Jemen
Syrien
Was ist schiefgelaufen?
Anhang
Anmerkungen
Abbildungsnachweis
Weiterführende Literatur
Dank
Angaben zur Autorin
Die Brandung knallt an die Hafenmauer von Tripolis. Die ersten Herbststürme toben auf dem Mittelmeer. »Heute habe ich kaum Kundschaft«, sagt Hosni al-Orfali und fügt nach kurzem Zögern hinzu: »Gott sei Dank!« Mit zusammengekniffenen Augen und hochgezogenen Schultern schaut er auf den Hafen hinaus: »Hoffentlich sehen auch die Flüchtlinge ein, dass man bei diesem Wetter besser nicht rausfährt.« Der 23-jährige muskulöse Mann im Strickpulli betreibt ein Geschäft für Bootszubehör am Hafen der libyschen Hauptstadt. Er verkauft Schwimmwesten, GPS und alles, was man sonst so braucht, wenn man sich in einem kleinen Boot aufs Meer hinaus begibt, um am anderen Ufer ein neues Leben zu beginnen. »Ich kann die Menschen verstehen. Das sind doch arme Schlucker. Sie kommen aus Ländern, in denen Krieg herrscht und sie keine Zukunft haben. Sie träumen davon, dass es ihnen dort drüben besser geht«, er zeigt Richtung Horizont. Riesige Wellen brechen sich an der Hafeneinfahrt.
»Hundewetter!«, schimpft ein Mann um die 40, der mit hochgeklapptem Kragen ins Geschäft kommt. Abdullah heißt er, seinen Nachnamen will er nicht verraten. »Sogar heute schleichen da unten an der Mole so ein paar arme Gestalten herum«, berichtet er: »Mir wird ganz schlecht, wenn ich diese armen Wichte sehe. 90 Prozent von denen, die jetzt losfahren, werden sterben. Das habe ich im Gefühl«. Warum er sich so gut auskennt, will er lieber nicht sagen. »Ich bin Seemann, nein, nicht Schlepper, Seemann!«
Der kleine Laden von Hosni al-Orfali liegt in unmittelbarer Nähe des großen Platzes im Zentrum von Tripolis. Bis 2011 hieß er Grüner Platz. Hier hielt Staatschef Muammar al-Gaddafi seine Reden. Nach seinem Sturz wurde der Platz in Märtyrerplatz umbenannt. Tagelang feierten die Menschen ausgelassen ihre neugewonnene Freiheit. Wie lange scheint das her! Heute droht Libyen zu zerfallen, Milizen kämpfen gegeneinander und Libyen gilt aus europäischer Sicht als Problemfall: Hier hat der sogenannte Islamische Staat (IS) eine starke Basis, und – was Europa noch mehr Sorgen bereitet – das Land mit seinen unbewachten Grenzen hat sich zum Eldorado für Schlepper, zum Durchgangsland Nummer eins für Bootsflüchtlinge nach Europa entwickelt. Sie kommen aus vielen Ländern, doch die meisten sind Syrer oder stammen aus anderen arabischen Ländern. Auch in ihrer Heimat schlug das, was als hoffnungsvolle Revolution begonnen hat, in einen blutigen Kampf um.
Dies ist aber kein Buch über Flüchtlinge im eigentlichen Sinne. Es geht weder um Fluchtrouten noch darum, wie die Menschen sich in Europa integrieren können. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Entwicklung in der arabischen Welt in den vergangenen fünf Jahren. Wie kam es dazu, dass auf den Arabischen Frühling direkt ein eisiger Winter folgte? Warum sind inzwischen Millionen Menschen aus der Region so verzweifelt, dass sie alles hinter sich lassen und sich auf die Flucht begeben? Wie konnte Libyen so aus den Fugen geraten, dass es zum größten Transitland für Flüchtlinge geworden ist?
»Wir wussten von Anfang an, dass es schwierig werden würde, die Diktaturen in der arabischen Welt zu stürzen, aber dass es so schwierig werden und solche Auswirkungen haben würde, haben wir natürlich nicht gedacht«, sagt Amal Scharaf. Mit nervös flatternden Händen und gehetztem Blick sitzt sie auf der Kante ihres Stuhls und schaut sich immer wieder ängstlich um, mustert die Gäste an den Nachbartischen des Cafés. Amal Scharaf ist eine der bekanntesten Aktivistinnen des Aufstands gegen den ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak. Im Januar 2011 war die zierliche Frau mit den langen rötlichen Haaren ständig auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Die alleinerziehende Englischlehrerin brachte die Forderungen der Demonstranten auf den Punkt: ein gerechteres, freieres und demokratischeres Land, in dem alle in Würde leben können. Nicht mehr und auch nicht weniger. In kürzester Zeit gelang es, im Frühjahr 2011 Millionen Menschen auf die Straßen zu bringen und den Start in eine neue Gesellschaft zu wagen.
Der gelungene Aufstand gegen den tunesischen Langzeitpräsidenten Zine Abdine Ben Ali inspirierte Aktivisten in der ganzen Region, und nachdem im Februar 2011 der ägyptische Präsident Hosni Mubarak abgesetzt worden war, gab es kein Halten mehr. Auch in Libyen, Bahrain, Jemen und vielen anderen Ländern demonstrierten die Massen. In jenem Frühling sah es tatsächlich so aus, als wäre die Diktatur in der arabischen Welt ein Auslaufmodell. Heute aber ist Amal Scharaf eine der wenigen in Ägypten, die noch immer die Fahne der Revolution hochhalten. Die Hoffnung auf Würde, Freiheit, Wohlstand und vielleicht auch Demokratie hat sich für Amal Scharaf und ihre Mitstreiter nicht erfüllt. Viele haben das Land verlassen oder sind im Gefängnis, und Amal Scharaf rechnet ständig damit, dass auch sie verhaftet wird. Kein Wunder, dass sie so nervös um sich blickt. In Ägypten regiert ein Präsident, der gnadenloser und brutaler gegen die Opposition vorgeht, als Hosni Mubarak es je getan hat. Auch sonst hat sich kaum etwas zum Besseren verändert. Die Wirtschaftskrise verschärft sich ständig, und die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Die alten Eliten haben nach wie vor das Sagen. Das gilt auch für den Rest der Region, und zu den vielen alten Problemen kommen nun noch Bürgerkrieg und Terror hinzu. In den Medien wurde das Bild der fröhlichen Demonstranten vom Tahrir-Platz, die »Salmia, salmia!« (Friedlich, friedlich!) skandierten und so den Panzern der Regierung entgegentraten, abgelöst von den vermummten Kriegern des Islamischen Staates (IS) in der Region, die auf Massaker und Köpfungen setzen, um ihre Ziele zu erreichen. Rückblickend scheint es unglaublich, fast schon naiv, dass es hier einmal die Hoffnung auf Demokratie und Freiheit gegeben hat. Oder gibt es sie vielleicht immer noch?
Die ägyptische Aktivistin Amal Scharaf und ihr Mitstreiter Amr Mahrus, 2015.
Um diese Frage beantworten zu können, gilt es zunächst herauszufinden, weshalb die Arabellion von 2011 gescheitert ist und in keinem Land – mit Ausnahme von Tunesien vielleicht – der Weg in Richtung Demokratie eingeschlagen wurde. Was ist schiefgelaufen? Wie konnte es geschehen, dass die Chance, die sich 2011 auftat, so gründlich vertan wurde? Lag es an der Unfähigkeit der Aktivisten der Revolution, sich zu organisieren oder auch nur gemeinsame Ziele für den Neuanfang zu entwickeln? Lag es an der Machtgier der Islamisten und deren Unfähigkeit, ihre Strukturen und Ideologie zu erneuern, um den Herausforderungen der neuen Zeit gerecht zu werden? War es der Einfluss von außen, die Politik der USA und Europas oder auch der einflussreichen Golfstaaten, der die Revolution auf Abwege brachte? Oder lag es daran, dass die alten Regime so stark und so gut verankert waren, dass sie Veränderungen zu verhindern wussten? Wer wäre besser geeignet, Antworten auf diese Frage zu finden, als die beteiligten Akteure selbst?
Sieben Jahre habe ich als Korrespondentin für verschiedene deutsche Medien aus der Region berichtet. In dieser Zeit konnte ich nicht nur erleben, wie es zum Arabischen Frühling kam, sondern habe auch viele Menschen kennengelernt, die mir ihre Sicht auf die Veränderungen schilderten. Ich habe viele von ihnen nicht nur einmal getroffen, sondern immer wieder um Interviews gebeten. Es sind Aktivisten der Revolution wie Amal Scharaf, die hier zu Wort kommen. Es sind aber auch Regierungsvertreter, Islamisten und ganz normale Bürger. Anhand der Erlebnisse ausgewählter wichtiger Gesprächspartner soll die Entwicklung der vergangenen fünf Jahre nachgezeichnet und auf diese Weise verständlich werden, warum die Akteure bestimmte Entscheidungen getroffen haben. Wieso wählten 2011 mehr als 70 Pro- zent der Ägypter eine islamistische Partei? Wieso befürworten dann mindestens ebenso viele, dass 2013 die Militärs an die Macht zurückkamen, und halten es für richtig, dass Tausende Islamisten brutal getötet oder inhaftiert werden? Wieso haben viele ihre Meinung derart geändert und würden – hätten sie eine neue Chance – heute anders entscheiden und auch anders handeln? Die Selbstreflexion der Akteure in Kombination mit dem analytischen Draufblick von Intellektuellen und Wissenschaftlern soll die Dynamik der Entwicklung klar zum Vorschein bringen.
Ähnliche Interviewserien habe ich auch in den anderen Ländern des Arabischen Frühlings geführt: Lina Ben Mhenni aus Tunis, Abu Ahmed Yakobi aus Libyen, Maher Esber aus Syrien und Sarah Ishaq aus dem Jemen wurden für dieses Buch ausgewählt.
Der Arabische Frühling und sein – zumindest vorläufiges – Scheitern lässt sich nur verstehen, wenn man die Entwicklung in der ganzen Region betrachtet. Ägypten spielt dabei eine wichtige Rolle, weil das politisch einflussreiche und bevölkerungsreichste arabische Land für die Nachbarstaaten Vorbild ist und die Ereignisse dort schon immer auch den Fortgang der Entwicklung in der ganzen Region beeinflusst haben. Aber gerade jetzt gibt es Einflussnahme auch aus anderer Richtung. Nicht zuletzt benutzt die ägyptische Regierung den Bürgerkrieg in Syrien und den blutigen Kampf in Libyen als Drohung. Nach dem Motto: Wenn ihr nicht aufhört, gegen die Regierung zu protestieren, dann seid ihr selbst schuld, wenn auch Ägypten ins Chaos stürzt!
Zugleich gilt Ägypten aber auch als abschreckendes Beispiel. So hat das Vorgehen des ägyptischen Militärs gegen die Muslimbrüder im Sommer 2013 die tunesischen Islamisten von der Al-Nahda-Partei dazu gebracht, ihre Positionen zu überdenken und Kompromisse mit anderen politischen Kräften zu suchen. »Wir hatten berechtigte Angst, dass es auch bei uns eine Konterrevolution geben könnte, und haben deswegen der Bildung einer neuen Regierung zugestimmt«, so der Al-Nahda-Gründer Raschid al-Ghannuschi.
Natürlich gibt es nicht »den« Arabischen Frühling und nicht »die« Arabellion. In jedem Land gibt es spezielle Gründe, die zum Ausbruch der Revolutionen führten, und der Aufstand nahm auch einen jeweils eigenen Verlauf. So wurden in manchen Ländern konfessionelle Konflikte ausgelöst, in anderen steht bis heute die Auseinandersetzung zwischen alten und neuen Kräften im Mittelpunkt.
Trotz der Unterschiede zeigen sich allerdings auch viele Parallelen. So sind es – grob gesagt – drei Akteure, die das Geschehen bestimmen. In allen Ländern waren es vor allem nichtislamistische Aktivisten, Jugendliche der Mittelschicht, die den Anstoß gaben. Sie sind geprägt von dem in der ganzen Region verbreiteten Frust: Die Globalisierung und bessere Bildungsmöglichkeiten haben den Horizont der neuen Generation erweitert und zugleich ihre Erwartungen gesteigert. Die Regierungen sind mehrheitlich überfordert oder auch nicht gewillt, diesen jungen Menschen Zukunftsperspektiven zu eröffnen. In den meisten Ländern ist in den fünf bis zehn Jahren vor der Arabellion eine Protestbewegung gewachsen, die Massen mobilisieren konnte, allerdings fehlte ihr die Struktur, die Erfahrung und das Programm, um nach dem Sturz von Ben Ali, Mubarak und Co. die Regierung zu übernehmen. »Unsere Rolle war es, die Menschen auf die Straße zu bringen. Für das, was danach kam, fehlte es uns an allem«, so die Aktivistin Amal Scharaf. Ein Muster für die moderne, freie arabische Gesellschaft gibt es nicht. Und es fehlte an Unterstützung: Die Aktivisten der Revolution, wie diese Gruppe im Folgenden genannt wird, konnten weder die wichtigen politischen und wirtschaftlichen Kräfte ihrer eigenen Länder noch starke Unterstützer auf der internationalen Ebene für ihre Sache gewinnen.
Nachdem die Aktivisten den Anfang gemacht hatten, drängten sich bald islamistische Gruppen wie die Muslimbruderschaft oder al-Nahda in Tunesien und al-Islah im Jemen in die Führungspositionen. Diese starken Organisationen, die politische Arbeit seit Langem mit Wohltätigkeit im Namen des Islam verbinden, sind lose miteinander verbunden und berufen sich auf die Ideen von Hassan al-Banna, der 1928 die Muslimbruderschaft in Ägypten gegründet hat. Sie sind viel besser organisiert und durch Moscheen und Sozialeinrichtungen gut in der Bevölkerung verankert. Sie waren zwar zuvor vielerorts verboten und wurden von den Sicherheitsorganen verfolgt. In den meisten Ländern gab es jedoch eine Art inoffizielle Übereinkunft mit den Regierungen, so dass ihnen in gewissen Grenzen politische und vor allem soziale Arbeit erlaubt war. Insofern sind diese Gruppen vom alten Regime mit geprägt und in manchen Ländern sogar Teil des Systems. Das gibt ihnen Rückhalt und bringt vor allem Unterstützung aus konservativ-bürgerlichen Kreisen und auch von Teilen der Wirtschaft. Sie sind selbst konservativ-fromm und gelten als die politische Kraft der Mehrheit. Deswegen werden sie von den USA und auch von Europa als Ansprechpartner gesehen, wenn es um die politische Zukunft der Region geht. Im Gegenzug versprechen sie Stabilität und Rücksichtnahme auf die Interessen des Auslands. Finanziell werden sie von Katar und der Türkei unterstützt.
Die sehr frommen, korantreuen Gruppen der Salafisten sind Teil der islamistischen Bewegung, führen jedoch ihr Eigenleben. Deshalb werden sie hier getrennt genannt. Das liegt vor allem an ihrer bis 2011 sehr unpolitischen und damit diktatorenfreundlichen Haltung. Sie kümmerten sich vor allem um das religiöse und soziale Heil ihrer Anhänger und kamen den Regierenden nicht in die Quere. Später wurden sie zu Wechselkandidaten: Mal halten sie den islamistischen Parteien die Treue, mal laufen sie ins Lager der alt-neuen Regime über. Das hängt auch damit zusammen, dass sie vor allem aus Saudi-Arabien und Abu Dhabi großzügig finanziert werden.
Und dann sind da noch militante, ultraradikale islamistische Gruppen, wie der IS, Al-Qaida-Untergruppen und lokale militante Gruppen. Auch sie sind Akteure, die eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Ihre Erfolgsgeschichte ist eng mit den Ereignissen der vergangenen fünf Jahre verknüpft.
In allen Ländern spielt auch das alte Regime weiterhin eine große Rolle; entweder direkt, wie in Syrien, oder als Kraft aus dem Hintergrund, wie etwa in Tunesien oder auch Libyen. Diese alten Regime, obwohl teilweise untereinander verfeindet, ähneln sich in vielerlei Hinsicht: Durch die Bank handelt es sich um autoritäre Regierungen, die aus dem Militär hervorgegangen sind und sich in der Tradition des Putsches der Freien Offiziere in Ägypten unter Gamal Abdel Nasser 1952 sehen. Jahrzehntelang haben sie den Menschen erfolgreich eingeredet, dass arabische Länder starke Führer brauchen und nur diese die Region zu Ansehen, Einfluss und Würde führen können. Solche Regierungen zu stürzen ist ungemein schwer, denn ihre Macht wurzelt in einem ausgebauten System, beruht auf Seilschaften von Anhängern und Institutionen. Diese alt-neuen Regime, wie sie in der Folge genannt werden, um zu verdeutlichen, dass es sich um Übergangsformen handelt, können auf die Unterstützung durch Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) zählen. Europa und die USA sind dabei, sich politisch diesen Regimen wieder anzunähern. Eine Ausnahme bildet Syrien: Hier finanzieren Saudi-Arabien und die VAE die Opposition und setzen auf den Sturz Assads, vor allem, weil dieser vom Iran gefördert wird.
Fünf Jahre nach Beginn der Arabellion – so die ernüchternde Bilanz – stehen diese alt-neuen Regime als zeitweilige Sieger da. Sie haben einen demokratischen Neuanfang verhindert oder zumindest entsprechende Fortschritte weitgehend zurückgedreht. Ihr größter Erfolg ist, die beiden anderen Gruppen – junge Aktivisten und Islamisten – gegeneinander auszuspielen. Statt sich auf den Neuanfang, den Aufbau und die Reform der Institutionen, auf Parteigründungen und Verfassungsfragen zu konzentrieren, verstrickten sich die politischen Kräfte bald nach Beginn des Aufstands in Grabenkämpfe und ideologische Diskussionen untereinander. Islamisten und Nicht-Islamisten hassten sich bald so, dass sie den Konflikt mit ihrem eigentlichen Gegner, dem alt-neuen Regime, aus den Augen verloren.
Nicht zu unterschätzen ist dabei die Macht von Verschwörungstheorien: Extrem viele Menschen in der Region sind inzwischen davon überzeugt, dass es sich bei den Ereignissen der vergangenen fünf Jahre um eine große, fremdgesteuerte Intrige handelt. Washington habe die Arabellion angezettelt, um die Region ins Chaos zu stürzen und unter seine Kontrolle zu bringen. Auch das plötzliche Erstarken radikaler Terrorgruppen gehöre zu diesem Konzept. Derartige Vorstellungen sind so stark verbreitet, dass es in Ägypten inzwischen schwierig ist, Menschen zu finden, die nicht daran glauben. Welchen Einfluss haben die USA tatsächlich auf die Ereignisse in der Region? Welche Interessen verfolgen die europäischen Staaten?
Natürlich stellt sich – gerade im Hinblick auf die Situation in Syrien, Libyen und auch in Tunesien – die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Arabischen Frühling und dem Erstarken des Terrorismus in der Region. Viele sehen die Revolutionen als Ursache. Die Aufstände hätten die Radikalen entfesselt. Stimmt das? Wie lässt sich der Terror bekämpfen? Diese Frage stellt sich umso dringender, weil ein neuer Anlauf in Richtung Demokratie in der Region erst möglich sein wird, wenn der Terror besiegt ist. Oder hängt womöglich beides zusammen?
In Europa wird 2015 viel darüber diskutiert, wie verhindert werden kann, dass immer mehr Menschen ihre Länder verlassen und nach Europa fliehen. Um die richtige Antwort auf diese Frage zu finden, gilt es, die Entwicklung der vergangenen Jahre genau zu betrachten: Wie konnte es dazu kommen, dass aus dem arabischen Traum ein Albtraum wurde? Wie könnte langfristig eine andere Entwicklung aussehen?
Auf dem Umschlag des Buches ist ein Graffiti zu sehen, das auf den Punkt bringt, wie die meisten Aktivisten der Revolution die Entwicklung der vergangenen Jahre sehen: Es macht keinen Unterschied, ob Hosni Mubarak oder Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi regiert. Sie sind zwei Seiten des gleichen Gesichts, und auch mit einem Präsidenten namens Amr Mussa oder Ahmed Schafik, die als Schatten neben dem Konterfei zu sehen sind, würde Ägypten bleiben, was es ist: ein Land voller junger Menschen, die auf Freiheit und Zukunftschancen warten. Das Graffiti, das der Aktivist Omar Fathy alias Omar Picasso an die Mauer am Tahrir-Platz gemalt hat, war ein Bild, das sich ständig veränderte, da es regelmäßig von der Stadtverwaltung überstrichen wurde. Immer und immer wieder hat er es neu gemalt und dabei zugleich aktualisiert.
Ich traf ihn eines Morgens, kurz vor der Präsidentschaftswahl 2012. Da stand er auf der Leiter, vor sich eine frisch getünchte Wand: »Vergangene Nacht hat die Stadtverwaltung wieder einmal alle Graffitis übermalt. Sie wollen unsere kritischen Kommentare nicht mehr sehen. Aber, weißt du was? Es wird ihnen nichts nützen. Ich gebe nicht auf!« – so der Mittezwanzigjährige. Stunden später schon war das vielgesichtige Sinnbild des alt-neuen Regimes wieder da. Inzwischen ist das Graffiti verschwunden. Es wird aber auch nicht mehr gebraucht: Heute braucht niemand mehr ein Wandbild, das davor warnt, dass das alte Regime an die Macht zurückdrängt: Mit Abdelfattach al-Sisi haben die Ägypter mit überwältigender Mehrheit 2014 genau diese Kräfte wieder gewählt. Was ist da nur schiefgelaufen?
Nordafrika und arabische Halbinsel
Die Demonstrationen im Januar 2011, bei denen plötzlich Hunderttausende durch die Straßen Kairos und anderer großer Städte in Ägypten zogen und »Aisch, Hurria, Adala Igtimaia!« (Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit!) skandierten, überraschten viele; in Ägypten und im Ausland. Doch der Protest ist keineswegs aus dem Nichts entstanden. Die Revolution ist Ergebnis einer Entwicklung, die sich bereits Jahre zuvor angebahnt hat. Schlüssel zum Erfolg war, dass sich die Opposition zusammentat. Präsident Hosni Mubarak hatte es stets verstanden, seine Gegner in zwei Lager zu teilen, die sich gegenseitig mehr hassten als ihn und ihm daher nicht gefährlich wurden.
Ein Blick zurück: Ab 2005 kommt es in Ägypten vermehrt zu Protesten. Neben der bereits bestehenden islamistischen Opposition, die in der Muslimbruderschaft gut organisiert ist und die vor allem in armen Dörfern und den Armenvierteln der Städte durch Moscheen und Prediger eine gewachsene Basis hat, entsteht eine neue nichtislamistische Protestbewegung. Einige ihrer Führer stammen aus der alten linken Studentenbewegung, die meisten aber sind jung und undogmatisch: nicht gerade islamistisch, aber auch nicht ultrasäkular oder linksradikal. Ihr Protest richtet sich gegen die Korruption der Regierung und die zunehmende Einmischung machtgieriger Geschäftsleute aus der Clique rund um die Präsidentensöhne Gamal und Alaa Mubarak in die Politik. »Kifaya!« (Es reicht!) lauten der Schlachtruf und auch der Name dieser neuen Bewegung. 2008 kommt es vermehrt zu Arbeiterstreiks. Unter dem Einfluss von Gamal Mubarak und Co. hatte es eine Reihe von Privatisierungen gegeben. Dabei waren Staatsunternehmen an Investoren verkauft worden, von denen bereits im Vorfeld bekannt war, dass sie nicht den Fortbestand des Unternehmens, sondern dessen Zerschlagung im Sinn hatten. Zigtausende wurden arbeitslos.
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