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Die Bilder gingen um die Welt: Im Frühjahr 2011 protestierte die arabische Jugend; erst in Tunesien, dann auch in Ägypten. Die Demonstranten, die sich der Zuschauer jeden Abend in den Nachrichten ansehen konnte, sahen allerdings ganz anders aus, als viele sich das vorgestellt hatten: Spätestens seit dem 11. September 2001 hatte sich in vielen Köpfen das Bild einer radikal-islamischen, antiwestlichen Jugend festgesetzt. Und dann das: Auf dem Tahrir-Platz ebenso wie in Tunis, in Sana, Benghazi und im syrischen Deraa rufen sie nach Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit. Wie kam es dazu? Julia Gerlach, die sich seit 15 Jahren mit islamischen Jugendbewegungen befasst und seit 2008 als Korrespondentin in Kairo lebt, nimmt ihre Leser in diesem Buch mit auf den Tahrir-Platz in den spannenden 18 Tagen der Revolution. Sie beschreibt die Entstehung des Protests und wie die islamische Bewegung in den letzten zwei Jahren in die Krise geraten ist. Sie hat viele Beteiligte interviewt, z. B. Frauen die das Kopftuch ablegten, und Intellektuelle, die auf der Suche nach neuen Ideen sind. "Wir wollen Freiheit" stellt die Frage nach der Zukunft Ägyptens und der gesamten Region, politisch, gesellschaftlich, und vor allem im Bezug auf die islamischen Bewegungen. Der Neuanfang in der arabischen Welt ist auch eine große Chance für den Westen. Es ist Zeit, dass wir aufhören, die Jugendlichen dort misstrauisch zu betrachten. Sie haben ihre Zukunft selbst in die Hand genommen. Das imponiert auch vielen jungen Muslimen in Deutschland. Der 25. Januar steht auch für sie dafür, dass Wunder möglich sind. In vielerlei Hinsicht.
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Seitenzahl: 273
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Julia Gerlach
Wir wollen Freiheit!
Der Aufstand der arabischen Jugend
Originalausgabe
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,
KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
ISBN (Buch): 978-3-451-06139-4
ISBN (E-Book): 978-3-451-33885-4
Einleitung
1. Die Revolution – Tag für Tag
2. Wie kam es zur Revolution?
These 1: Es war eine soziale Revolution – Der ägyptischen Jugend reicht es!
These 2: Es war eine Facebook-Revolution!
These 3: Es war keine Facebook-Revolution!
These 4: Es war Einfluss von außen, der die Revolution in Ägypten verursacht hat!
Das Rezept der Revolution
3. Der Arabische Frühling
Hat sich Ägypten bei Tunesien angesteckt?
Libyen
Bahrain
Jemen
Syrien
4. Die Revolution geht weiter – Ägypten im Frühling 2011
5. Revolution und Religion
Rückblick: Die Wurzeln des Islamismus
Mitte der 90er Jahre: Krise des militanten Islam
Im Bann eines Datums: 11. September 2001
Die Regierung vereinnahmt den Islam
Krise des Politischen Islam
Religion der Revolution – Revolution der Religion?
Das Ende des Dschihads?
Wie stark sind die Muslimbrüder ?
Woher kommen bloß die vielen Salafisten?
Der Arabische Frühling ist auch ein Frühling des Islam
6. Was hat die Revolution mit uns zu tun?
|4|Für K. und R. und F.
Neulich gab es in unserem Viertel ein Konzert: Jungs mit Bob-Marley-Frisur schrummelten auf ihren E-Gitarren und die Jugendlichen im Publikum wippten im Takt; mitten auf der Straße und bis spät in die Nacht. Unglaublich. Wilde Konzerte von Bands, deren Musik schräg und deren Texte bitterböse sind, so etwas hat es in Kairo bisher nicht gegeben. Oder wenn, dann kam ziemlich schnell die Polizei. Das hat sich geändert: In diesem Frühling blüht die Kulturszene richtig auf. Willkommen im neuen Ägypten!
Einige Wochen zuvor an der amerikanischen Botschaft: Männer mit rotgefärbten Bärten und Frauen mit Gesichtsschleier fordern die Freilassung des blinden Scheichs Omar Abdel Rahman, der wegen Terrorverstrickung in einem US-Gefängnis sitzt. Diese Demonstranten galten bisher als Terroristen, wurden im Gefängnis gefoltert oder standen unter Hausarrest. Jetzt stehen sie hier im Botschaftsviertel von Kairo und rufen ihre Parolen. Die Polizei steht daneben und schaut zu. In diesem Frühling gibt es ungeahnte Freiheiten. Wie gesagt: Willkommen im neuen Ägypten!
Die Revolution am Nil ist nicht nur eine politische Revolution. Sie hat nicht nur die Regierung gestürzt, sie hat auch die Gesellschaft durcheinandergewirbelt. Es sind Freiräume entstanden. Freiräume für unabhängige Kultur, aber Freiräume auch für jene Kräfte, denen genau diese Kultur ein Dorn im Auge ist: Im neuen Ägypten melden sich islamische Gruppen zu Wort, die lange unterdrückt waren. Männer mit langen Bärten und Frauen mit Schleier, plötzlich scheinen sie überall zu sein und das macht vielen liberalen Muslimen und Christen in Ägypten Sorgen. Vor allem, weil niemand |8|genau weiß, was sie eigentlich wollen. Sie widersprechen sich, fordern heute dies und morgen jenes. Auch das ist neu und ein gutes Zeichen. Es wird diskutiert und gestritten: Was will der Islam und welche Rolle soll er in der neuen Zeit spielen? Der Arabische Frühling ist – so die These dieses Buches – auch ein Islamischer Frühling. Die Konsequenzen dieser Entwicklung werden mindestens so einschneidend sein wie die des Sturzes der Regierungen von Tunis, Kairo und Sanaa.
Ägypten war schon immer Trendsetter in der Region. Ganz besonders in Islamfragen. Hier entstand 1928 die Muslimbruderschaft, von hier kommt der neue Chef von Al Kaida und von Kairo aus verbreitete sich auch im vergangenen Jahrzehnt der coole neue Pop-Islam mit seiner Kopftuchmode und frommen Pop-Sängern. Auch die Entwicklungen dieses Frühjahrs – das ist absehbar – werden auf den Rest der islamischen Welt abfärben. Erste Impulse sind sogar schon jetzt in Deutschland angekommen, wie Gespräche mit jungen Muslimen belegen.
Die Umwälzungen in der Gesellschaft und gerade die Neuorientierung der Religiösen bedeutet für Europa eine große Chance: Das Freund-Feind-Raster des vergangenen Jahrzehnts, geprägt durch den Krieg gegen den Terror und den tiefer werdenden Graben zwischen dem Westen und dem Islam, beginnt zu bröckeln; zumindest auf der südlichen Seite des Mittelmeeres. Nicht mehr der 11.September 2001 mit allen seinen negativen Elementen soll in Zukunft das Bezugsdatum sein, wenn es um die Beziehungen zwischen der Islamischen Welt und dem Westen geht. Mit dem Arabischen Frühling hat eine neue Zeit angefangen. Junge Araber haben nicht mehr das Gefühl sich rechtfertigen zu müssen dafür, dass eine Minderheit ihre Religion für den Terror missbraucht. »Habt ihr eure Meinung über uns jetzt geändert?«, ist eine vielgestellte Frage in dieser Zeit. Sie sind stolz auf |9|das, was sie geschafft haben und dieses neue Selbstbewusstsein ist ein guter Ausgangspunkt für neue Beziehungen.
Allerdings erfordert dies von unserer Seite eine Anstrengung: Wir müssen hinschauen, bereit sein unsere Meinung zu ändern auch über Phänomene, von denen wir bisher dachten, dass wir wüssten, was sich dahinter verbirgt. Ein Islamist ist nicht gleich ein Islamist und selbst bei dem, was wir bisher sicher für Terror hielten, ist ein genauerer Blick gefragt. In den Akten der ägyptischen Staatssicherheit sind Hinweise aufgetaucht, die manche der Anschläge der letzten Jahre – zum Beispiel auf dem Sinai 2005 – in einem anderen Licht erscheinen lassen. Womöglich waren es gar nicht immer Terroristen, welche die brutalen Taten begingen. Einzelheiten sind weiter unklar, des Öfteren scheinen jedoch die ägyptische Regierung und ihr Geheimdienst die Finger im Spiel gehabt zu haben. Und wenn Ägypten so etwas tat, was haben dann die anderen arabischen Regierungen gemacht? Die Angst vor dem Terror war ein wichtiger Grund, weshalb Europa und die USA den Diktatoren in der Region all die Jahre die Treue gehalten haben. Womöglich müssen wir die Geschichte des islamischen Terrors und des Kampfes gegen ihn, welcher ja die vergangenen 10Jahre sehr geprägt hat, noch einmal umschreiben.
Dieses Buch beginnt am Tahrir-Platz, wo am 25.Januar 2011 gegen 15Uhr ein Wunder passierte und plötzlich nichts mehr so war, wie man immer gedacht hatte. Im ersten Teil beschreibe ich noch einmal Tag für Tag dieses Wunder von Kairo mit allen seinen Höhen und Tiefen. Für mich persönlich war dies eine wunderbare und zugleich nervenaufreibende Zeit. Seit 2008 arbeite ich als Korrespondentin in Kairo. Ich lebe hier mit meiner Familie. »Mama, ich will Schokokuchen machen!« sagte unsere ältere Tochter am vierten Tag der Revolution. Das war der Tag, an dem Handys und Internet ausgeschaltet wurden. »Klar, machen wir, wenn das hier vorbei |10|ist!« Auf die Nachfrage der Siebenjährigen, wann das ungefähr sein werde, sagte ich: »Wenn der Präsident abgetreten ist!« Seitdem wartete sie und verfolgte im Fernsehen mit, was Al Dschasira und Co berichteten. Den Kuchen backte sie schließlich mit meiner Schwester in Deutschland. Nachdem die Schlägerbanden mit Pferden und Kamelen auf den Tahrir gestürmt waren und die Stimmung sich gegen Ausländer richtete, brachte mein Mann die Mädchen nach Deutschland. Urlaub bei der Familie, weg von Panzern und Schlägertrupps.
Im zweiten Teil gehe ich der Frage nach, wie es zum »Wunder« gekommen ist. Viele sprechen von einer Facebook-Revolution, andere sagen, Einflüsse von außen hätten dazu geführt. Doch in Ägypten ist schon seit Jahren eine Protestbewegung herangewachsen und – das ist das Entscheidende – es ist eine Zusammenarbeit von Aktivisten entstanden, welche über ideologische Grenzen hinweg ging. Da trafen sich junge Muslimbrüder mit den Anhängern liberaler Ideen, Sozialisten und Marxisten und sie alle fanden, dass sie ein Ziel haben: Freiheit! Nicht zuletzt passierte das Wunder von Kairo im Arabischen Frühling. Ägypten hat sich bei Tunesien angesteckt und nachdem der Sturz Mubaraks geglückt war, kannten auch die Jugendlichen in anderen arabischen Staaten kein Halten mehr.
Im dritten Kapitel geht es um die anderen arabischen Länder: Libyen, Bahrain, Syrien und Jemen. Ich hoffe inständig, dass dieser Teil des Buches zumindest in seinem düsteren Ausblick am Ende überholt ist, wenn Sie, liebe Leser, es in den Händen halten. Hoffentlich ist nach dem Sommer das Kapitel Muammar al Gadhafi, Baschar al Assad und Ali Abdullah Saleh abgeschlossen und auch in Bahrain sieht es nicht mehr ganz so finster aus.
Das Problem, dass es schwierig ist, Ereignisse zu beschreiben und zu analysieren, die noch nicht abgeschlossen sind, stellt sich auch im vierten Teil: Die Revolution in Ägypten |11|ist mit dem Sturz Mubaraks nicht zu Ende und das Land geht durch eine Phase, die man am ehesten mit einer Achterbahnfahrt vergleichen kann: Mal lebt die Hoffnung, dass der Neuanfang gelingt, dann versinkt das Land wieder in einer Welle von Gewalt. Kirchen brennen! Besonders der Konflikt zwischen den Religionen macht den Menschen zu schaffen. Die Militärregierung verliert immer mehr an Vertrauen, es gibt aber auch keine Alternative. Unter den Jugendlichen der Revolution ist es zunehmend verpönt, den Begriff »Revolution« zu benutzen. Mubarak sei zwar weg, aber sonst sei alles beim Alten, sagen sie. In diesen Tagen Mitte Juli ist der Tahrir-Platz wieder voll. Es ist fast so wie Ende Januar, Anfang Februar. Die Menschen wohnen in Zelten, auf mehreren Bühnen werden politische Reden gehalten und abends gibt es Konzerte. Die Hauptforderung des neuen Protestes ist die Verurteilung des Ex-Präsidenten und der Polizisten, die während der Revolution auf die Demonstranten geschossen haben. Zugleich spaltet sich das Land: Liberale und Islamisten beäugen sich misstrauisch. Auch entfernt sich die Elite, die in den Salons von Kairo die Zukunft diskutiert, zunehmend von dem Rest der Bevölkerung, dem mangelnde Sicherheit und hohe Lebensmittelpreise zu schaffen machen. Die Wirtschaft läuft derweil nur sehr langsam wieder an. Wohin steuert Ägypten?
Im fünften Teil komme ich wieder zum Ausgangspunkt: Welche Rolle spielte der Islam in der Revolution und wie verändert die Revolution den Islam? Ich zeichne die islamischen Bewegungen nach, ihr Entstehen, Erstarken und wie sie in den letzten Jahren in die Krise geraten sind. Jede für sich und aus unterschiedlichen Gründen. So waren es nicht die Führer der islamischen Bewegungen, die zur Revolution aufriefen. Manche von ihnen lehnten die Demos zu Anfang ab, andere haben die Anfänge mehr oder weniger verschlafen. Die Revolution hat neue Ideen entstehen lassen und es zeichnen |12|sich Trends ab, wie sich die Bewegungen in der kommenden Zeit weiterentwickeln könnten.
Zum Schluss komme ich zu uns: Welche Auswirkungen hat der Arabische und vor allem der Islamische Frühling auf Deutschland? Ich habe dazu in den vergangenen Monaten immer wieder junge Muslime in Deutschland befragt: Gibt es Veränderungen? Färbt das positive Image der Jugendlichen vom Tahrir-Platz auch auf Muslime in Deutschland ab, so wie sich vorher viele immer wieder mit Terroristen in einen Topf geworfen sahen? Wie ist es mit den Diskussionen der islamischen Gruppen hier, werden sie in Deutschland wahrgenommen? Die Antworten sind persönlich und sehr durchwachsen. Es hat sich etwas verändert, aber noch nicht genug. Die zehn Jahre seit dem 11.September 2001 haben die Fronten verhärtet, aber immerhin gibt es einen Funken Hoffnung, dass es besser wird.
Kairo, 15.Juli 2011
Julia Gerlach
Ich danke allen, die mir bei diesem Buch und in dieser Zeit geholfen haben. Ich bedanke mich bei denen, die mir meine vielen Fragen beantwortet haben. Allen, die namentlich im Buch erwähnt sind, aber auch jenen, deren Namen nicht auftauchen, deren Erklärungen aber dennoch eingeflossen sind. Vor allem danke ich meiner Familie für die Unterstützung und die Geduld.
Der Dienstag des Wunders 25.Januar 2011
Als ich am 25.Januar 2011 zum Tahrir-Platz fuhr, hatte ich die Geschichte schon im Kopf: »Vom vergeblichen Warten auf den Aufstand« sollte die Überschrift lauten. Es würde ablaufen wie immer, da war ich mir sicher: Erst würde es eine Weile dauern, bis sich die Demonstranten fanden. Wenn ein paar Dutzend oder vielleicht auch hundert zusammengekommen waren, würden sie Parolen skandieren. Dann würde die Polizei mit Tränengas und Schlagstöcken die Demo auflösen. Und Schluss. Wieso sollte es heute anders sein? Wegen Tunesien? Weil es dort gelungen war, den Präsidenten zum Abtreten zu zwingen? Natürlich hatte der Sturz des Regimes in Tunesien auch am Nil Hoffnung aufkommen lassen. Wer hätte gedacht, dass man einen arabischen Diktator stürzen kann. Bisher war es üblich, dass sie im Amt sterben und dann der nächste übernimmt. Am Tag, nachdem Zine Abdine Ben Ali ins Flugzeug gestiegen und aus seinem Land geflohen war, tauchte auf Facebook ein Aufruf zum Aufstand auch in Ägypten auf: Der 25.Januar 2011 sollte der »Tag der Revolte« am Nil werden. Ausgerechnet, denn der 25.Januar ist der »Tag der Polizei«. Überhaupt, eine Revolution mit Ankündigung, das kann ja nichts werden. Und warum so lange warten? Hätte man nicht – wenn schon, denn schon – gleich losschlagen müssen, den Wind aus Tunis nutzen und dem Regime in Kairo gar nicht erst Zeit geben dürfen, sich in Stellung zu bringen? Mit diesen Gedanken im Kopf fuhr ich mit der U-Bahn zum Tahrir-Platz.
|14|Als ich die U-Bahn-Treppe hochkomme, bin ich baff: So voll habe ich den Platz noch nie gesehen. Dicht an dicht stehen da die Spezialeinheiten der Polizei. Wasserwerfer, Mannschaftswagen, Räumpanzer. Nur Demonstranten sind nicht zu sehen. Im Geiste entstehen die ersten Sätze des Artikels: »Die einzigen, die den Aufruf zum Tag der Revolte ernst nahmen, waren die Sicherheitskräfte…« Ich stelle mich vor dem Kentucky-Fried-Chicken Schnellrestaurant in die Sonne. Ich bin nicht die Einzige, die hier auf etwas wartet. Ein paar Jugendliche kommen vorbeigeeilt. Einer mit Kapuzenshirt hat ein Handy in der Hand und liest dem anderen etwas vor. Offenbar eine Twitter-Meldung. Sie legen noch einen Schritt zu. Schon an der nächsten Ecke sind deutlich Sprechchöre zu hören: Rund 1000Jugendliche kommen unter der Hochstraße entlang. Unglaublich! Die laufen ja! Und die Polizei läuft nebenher. Auf Transparenten fordern sie ein Ende des Ausnahmezustandes, die Erhöhung des Mindestlohns und Gerechtigkeit. Fröhlich und zielstrebig marschieren sie auf den Tahrir-Platz zu. Zwei Mädchen, eine mit offenen Haaren und die andere mit Kopftuch, lösen sich aus der Gruppe. Sie winken einem vorbeifahrenden Polizeiwagen zu und rufen: »Hey, Brüder. Kommt her! Hier ist auch Platz für euch!« Die Polizisten starren sie mit offenem Mund an. So etwas haben sie noch nie gesehen und womöglich wurden sie auch noch nie von solchen Mädchen, ganz offenbar aus besseren Familien, direkt angesprochen. Schüchtern winken sie zurück und die Mädchen jubeln: »Was Tunesien kann, können wir schon lange!«, sagt die mit den offenen Haaren, Mariam, eine 23-jährige Studentin. »Wir haben gesehen, dass ein System gestürzt werden kann, wenn die Jugend zusammenhält«, sagt die andere. »Ihr werdet schon sehen!«, verspricht sie und zieht dann mit den Demonstranten weiter Richtung Tahrir-Platz. Am Eingang zum Platz bringt sich gerade die Polizei in Stellung. Ein Wasserwerfer kommt herangefahren |15|und als die Demonstranten fast da sind, spritzt er los. Das war es dann wohl.
Doch dann hört der Wasserwerfer wieder auf zu schießen. Die Polizeireihe öffnet sich und die Demonstranten ziehen weiter. Sie erreichen den Tahrir-Platz. Was für ein Gefühl! Aus den Nebenstraßen kommen weitere Jugendliche herbei. Jubelnd besetzten sie die Verkehrsinsel mitten auf dem Platz. Da klingelt mein Telefon. Eine Freundin ist dran: »Es ist der Wahnsinn, ich bin auf der Demo in Mohandessin. Es sind Tausende und die Polizei lässt uns ziehen«, ruft sie. Kurz darauf kommt eine andere, noch viel größere Gruppe über die Nilbrücke Richtung Tahrir-Platz marschiert. Es sind mehrere Tausend und langsam füllt sich der Platz. Immer weitere Demonstrationszüge treffen ein.
»Das war unsere Strategie: Wir haben uns auf viele verschiedene Treffpunkte aufgeteilt und sind dann von dort aus losmarschiert«, erzählt Aid Beshir. Der 26-Jährige mit der Wollmütze über den langen Haaren ist Kellner und gehört zum Kreis von Aktivisten, die den Protesttag mitorganisiert haben: »Wir wollten zum Tahrir-Platz, aber wir wussten, dass die Behörden alles daran setzen würden, genau das zu verhindern. Also teilten wir uns auf und zwangen die Polizei, sich ebenfalls zu verteilen. Diese Strategie haben wir teils online, aber dann auch bei Treffen verabredet«, sagt er. »Natürlich hatten auch die Behörden unseren Aufruf auf Facebook gesehen. Immerhin hatten fast 50000Leute angeklickt, dass sie sich an dem »Tag der Revolte« beteiligen würden. Aber der Klick im Netz ist schnell gemacht. Wirklich auf die Straße zu gehen, ist noch einmal etwas anderes und das hat uns die Regierung nicht zugetraut«, ergänzt Samah Farouk. Die 30-Jährige mit einem lose gebundenen Kopftuch und dem strahlend türkisen Lidstrich ist Karikaturistin und versorgt ihre Facebookfreunde seit Jahren mit bitterbösen Anti-Regierungskarikaturen. »|16|Ich habe mit zu diesem Aufstand aufgerufen und natürlich bin ich mitgegangen, als der Protest aus dem Internet in die richtige Welt verlegt wurde. Genau das ist es, was die Regierung nicht für möglich gehalten hat. Sie hielt uns für dumpfe Facebookler, die nichts zustande bringen und die nie hinter ihren Computern hervorkommen würden. Eine nutzlose Generation. Ha, da haben sie sich eben getäuscht. Gewaltig getäuscht!«, sagt sie.
»Es war ein Wunder und es passierte an diesem Dienstag zwischen zwei und drei Uhr nachmittags«, beschreibt Gamal al Ghitani. Der 67-Jährige ist einer von Ägyptens bekanntesten Schriftstellern. Er selber war nicht demonstrieren. Nach einer schweren OP geht er kaum noch vor die Tür. Er saß wie viele Millionen Ägypter an diesem Nachmittag gebannt vor dem Fernseher. »Es war ein magischer Moment, als die Demonstranten den Tahrir-Platz erreichten. Der Platz der Befreiung ist ein so symbolischer Ort. Dort läuft alles zusammen: Dort ist das riesige Verwaltungsgebäude, dort ist das Ägyptische Museum, unsere kulturelle Erinnerung, und dort steht natürlich auch die Zentrale der Regierungspartei. Am Allerwichtigsten ist aber, dass der Tahrir-Platz auch dicht am Nil liegt. Bei uns passiert alles Wichtige am Ufer des Nils«, beschreibt er.
Das Thema vieler seiner Bücher ist das Schweigen und Stillhalten der Ägypter, ihre Unterordnung unter den Herrscher. Die Ägypter werden oft als sehr duldsame, obrigkeitshörige Menschen beschrieben. Fellachen eben, die an das harte Leben gewöhnt sind und bei denen schon seit Tausenden von Jahren Pharaonen regieren. »Doch das Schweigen ist eine Täuschung. Wenn die Ägypter aufwachen, sich erheben, dann tun sie es gewaltig. Das war schon zur Zeit der Pharaonen so«, sagt Gamal al Ghitani und der 25.Januar 2011 zwischen 14 und 15Uhr, das war für ihn dieser Moment, |17|auf den er schon lange gewartet hat. Der Moment, als Ägypten sich erhob.
Gerade da ist Schahira Amin beim Friseur fertig und sieht die Demonstranten über die Brücke kommen: »Es war nicht zu fassen. Ich bin dann gleich zum Fernsehgebäude gerast und habe die Sicherheitsleute des TVs alarmiert. Ich hatte natürlich Angst, dass sich die Wut dieser Demonstranten gegen das staatliche Fernsehen richten könnte und wer würde es ihnen verdenken?«, sagt sie. Schahira Amin ist am 25.Januar um 15Uhr noch eines der Gesichter des ägyptischen Regimes: Sie ist Anchor-Lady und stellvertretende Direktorin vom englischen Kanal des staatlichen Fernsehens. An diesem Nachmittag hat sie eine Sendung: »Ich sollte die Nachricht verlesen, dass es sich um Proteste der Muslimbruderschaft handle. Da wusste ich, dass etwas nicht stimmt, denn die Jugendlichen, die ich da gesehen hatte, die sahen so gar nicht nach Muslimbrüdern aus.« In ihrer Talk-Show am Abend lässt man sie mit einem Parteifunktionär darüber diskutieren, wie sehr die Demonstranten von Hamas, Hisbollah und Mossad unterwandert sind. »Mir war schlecht, als ich abends aus dem Sender heimfuhr«, erzählt sie. Als sie in ihr Auto steigt, um in den feinen Vorort Maadi zu fahren, da hat sich die Demo vom Tahrir-Platz bereits zu einer Art Volksfest verwandelt.
Zuvor, gegen 17Uhr macht die Polizei einen Versuch, dies noch zu verhindern: Sie fährt mit Wasserwerfern in die Menge. Tränengas wird geschossen. Manche Demonstranten rennen weg, aber die meisten bleiben einfach stehen. Sie schieben die Polizeiwagen rückwärts aus der Menge heraus und kurze Zeit später zieht sich die Polizei zurück. In Gruppen stehen die Jugendlichen zusammen, plaudern. Manche holen Tee und andere etwas zu essen. Ein erstes Zelt wird aufgestellt und Kinder beginnen, mit Kreide den Platz anzumalen. Hier und jetzt entsteht zum ersten Mal das Tahrir-Gefühl. |18|Die Menge ist bunt gemischt: Arm und reich, religiös und nicht so religiös, gebildet und weniger gebildet. Doch sie respektieren sich und finden es toll, dass sie endlich einmal mit Menschen zusammenkommen, die sie sonst nicht treffen. Bis morgens um drei geht die Party. Es wird Laute gespielt und einige tanzen sogar.
Ganz so spontan und ungesteuert, wie der Aufstand wirkt, ist er jedoch nicht. Alle paar Stunden kommen in einer Ecke des Platzes ein paar Männer und Frauen zusammen und beraten: Wie soll es weitergehen? Was machen wir als Nächstes? »Keiner von uns hatte ernsthaft damit gerechnet, dass wir so weit kommen«, erzählt Khaled Abdel Hamid. Er gehört zum engsten Kreis der Jugendlichen der Revolution. Was wie ein großes Wunder erscheint, dass sich das Volk plötzlich und ohne Vorwarnung erhebt und einem Aufruf auf Facebook folgt, wurde in Wirklichkeit von einer Gruppe von Aktivisten lange vorbereitet. »Doch in unseren kühnsten Träumen haben wir nicht gedacht, dass wir auf dem Tahrir feiern dürfen«, sagt er. Gegen drei Uhr morgens ist es dann auch vorbei – die Polizei kommt und räumt den Platz. Brutal beendet sie den ersten Tag der Revolution; es gibt zahlreiche Verletzte und viele Verhaftete. In Suez, wo auch demonstriert wird, sterben vier Menschen. Die Empörung über diese Gewalt sorgt dafür, dass die Demonstrationen am nächsten Tag weitergehen und die Revolte Schwung aufnimmt.
Mittwoch– Tag des Staunens 26.Januar 2011
Am Morgen verkündet der Innenminister, dass weitere Proteste nicht geduldet werden. Das ist keine Übertreibung. Die Polizei macht Jagd auf alle, die aussehen wie Demonstranten. Besonders im Visier stehen Gruppen von Jugendlichen, |19|die Twitter-Meldungen folgend durch die Stadt traben. Sie ziehen von einem Demonstrationsversuch zum nächsten. Es gibt ein Katz- und Maus-Spiel, organisiert wird es unter anderem von den »Ultras Zamalek«. Die Hooligans des großen Kairoer Clubs sind erfahren in den Auseinandersetzungen mit der Polizei und dieses Spiel macht ihnen ganz offenbar Spaß.
Für den frühen Nachmittag lädt die Opposition zur Pressekonferenz in die Parteizentrale der liberal-konservativen »Al Ghad– Morgen«-Partei. Nacheinander kommen die Vertreter der Oppositionsparteien zum Rednerpult und loben die Demonstranten: »Wir ziehen unseren Hut vor diesen Jugendlichen«, sagt Hamdi Qandil. Er ist Sprecher der Nationalen Allianz für Wandel. Einer Sammlungsbewegung, die von Mohammed ElBaradei gegründet wurde. Der ehemalige Chef der internationalen Atomorganisation gilt seit seiner Rückkehr nach Ägypten im Frühjahr 2010 als Hoffnungsträger. Er formulierte einen Sieben-Punkte-Forderungskatalog an die Regierung. Sogar die größte islamische Oppositionsgruppe, die Muslimbruderschaft, unterstützt ihn. Wie fast immer ist der Doktor, wie Mohammed ElBaradei genannt wird, derzeit auf Reisen und es ist Hamdi Qandil, der am Mikrophon steht: »Wir würden uns niemals anmaßen, für diese Jugendlichen sprechen zu wollen oder sie zu repräsentieren«, sagt Hamdi Qandil mit feierlicher Stimme. Besonders beeindruckend sei, dass es gelungen ist, Demonstrationen in vielen Städten gleichzeitig zu starten. Auch in Alexandria und Mansura und selbst in Oberägypten waren gestern die Menschen auf den Straßen. So etwas hat es noch nie gegeben.
Von einem der Toten von Suez ist ein Video im Internet aufgetaucht. Es zeigt die Leiche des 21-jährigen Mustapha Mahmoud. Man meint Einschusslöcher in seiner Brust zu erkennen. Die grausamen Bilder werden an diesem Tag immer und immer wieder auf Facebook gepostet und weiterverschickt. |20|Mit jedem Klick wächst die Wut. Auch das stimmt die Oppositionellen bei der Pressekonferenz zuversichtlich. Das Beispiel Tunesien zeigt, wie wichtig Märtyrer für einen Aufstand sind. Es ist die Wut über die Polizeigewalt, welche die Menschen auf die Straße bringt.
»Wir reihen uns ein und folgen der Führung der Jugendlichen!«, beendet Hamdi Qandil seine Ansprache und überlässt das Podium einem Rechtsanwalt, der den Jugendlichen Hilfe anbietet. Mehr als 400Demonstranten wurden gestern allein in Kairo verhaftet. Er und viele der anderen im Raum haben eine lange Geschichte von Hoffnung, Verfolgung und Enttäuschung hinter sich. Die meisten kommen aus der linken Studentenbewegung der 70er Jahre. Nun sitzen sie auf den gediegenen Bänken des Partei-Versammlungsraumes und drücken an ihren Handys herum. »Hier, das kam gerade über Twitter!«, sagt die bekannte Pro-Palästina-Aktivistin Karima al Hifnawi und zeigt ihrer Sitznachbarin ein paar Meldungen. Diese rückt ihre Lesebrille zurecht: »Oh, kannst du mir mal zeigen, wie Twitter geht. Das muss man jetzt wohl können, glaube ich!«, sagt sie.
Als es dunkel wird, brennen unter der Hochstraße beim Bahnhof Autoreifen. Die Polizei feuert Tränengas. Auch von Gummigeschossen ist die Rede. Die Demonstranten, die sich in kleinen Gruppen durch das Viertel bewegen, bringen sich in Nebenstraßen in Deckung und bewerfen die Einsatzfahrzeuge der Polizei mit Steinen und was sie sonst so auf der Straße finden. Die Jugendlichen, die in dieser Nacht hier unterwegs sind, kommen zum großen Teil aus dem Armenviertel Boulaq Abu Ela, das direkt hinter der Hauptstraße beginnt. Auch hier haben die Jugendlichen Facebook und Twitter, und wenn nicht, dann kommen sie trotzdem und lassen ihren Frust heraus – und davon haben sie reichlich.
|21|Der Donnerstag des Proxy-Servers 27.Januar 2011
Am dritten Tag wird die Revolte wieder ins Internet verlegt. Die Regierung versucht, Facebook zu blockieren. Aber darauf sind die Aktivisten vorbereitet. Auf der Seite »Wir sind alle Khaled Said« taucht eine genaue Anleitung auf, wie man Proxy-Server herunterlädt und was man sonst benötigt, um die Internetzensur zu umgehen. Seit Monaten wurden Tipps dazu ausgetauscht. Besonders Aktivisten aus Tunesien und Syrien haben viel Erfahrung. Es geht fast alles, allerdings braucht man Zeit und so ziehen sich die Jugendlichen der Revolte an diesem Tag in ihre Internetaccounts zurück. Mahmoud Al Hetta, 23, kommt das ganz recht, denn er kann kaum noch sprechen: »Ich habe mich bei den Demos der letzten zwei Tage heiser geschrien«, krächzt er ins Telefon. Er ist der Administrator der Facebook-Seite »Mohammed El-Baradei for President« und da hat er heute auch alle Hände voll zu tun, denn am späten Nachmittag wird Mohammed El-Baradei am Flughafen erwartet. »Er kommt, um sich dem Protest anzuschließen«, erklärt Mahmoud. »Natürlich, bisher haben wir es gut ohne ihn hinbekommen und er soll auch nicht unser Anführer werden. Doch seine Rückkehr macht uns Mut. Er ist eine wichtige Person für uns, denn er ist derjenige, der im vergangenen Jahr herkam und sagte: Wir müssen etwas ändern und wir können etwas ändern. Das hat uns Hoffnung gemacht und deswegen gehen wir es jetzt an«, sagt er. Ob der ehemalige Chef der internationalen Atomenergieorganisation ein geeigneter Präsident für ein Ägypten nach Mubarak sein könnte, darüber will Mahmoud nicht spekulieren: »Im Moment müssen wir zusehen, dass sich überhaupt etwas ändert. Was dann kommt, sehen wir später.« Am Abend sagt Mohammed ElBaradei in einem Interview, dass er als Übergangspräsident zur Verfügung stehe.
|22|Während die Sendung auf Al Dschasira läuft, geht mein Mann zum Geldautomaten und kauft auch noch einmal ein. Vorräte: Milch, Eier, Spaghetti. Er hatte recht.
Der Freitag der Wut 28.Januar 2011
Schon beim Aufwachen am Freitagmorgen ist klar: Jetzt wird es ernst. Das Handy ist tot und auch das Internet funktioniert nicht mehr. Auf Al Dschasira laufen Bilder aus der Innenstadt. Räumpanzer, Polizeihundertschaften und Wasserwerfer. Die Nilbrücken sehen aus wie Festungen. Ganz offensichtlich ist die Regierung gut vorbereitet auf diesen »Freitag der Wut«. Und die Aktivisten? Ohne Handy und Internet werden sie sich schlecht organisieren können, oder? »So ein Quatsch. Unsere Regierung ist so dumm«, sagt Walied Raschid. Der schlacksige 28-Jährige gehört zur Jugendbewegung des 6.April und zu den Organisatoren des Aufstandes: »Indem sie das Internet ausgeschaltet haben, haben sie dafür gesorgt, dass heute auch noch der Allerletzte hinter seinem Computer vor und auf die Straße kommen muss. Und wenn es nur darum geht zu sehen, was abgeht.« Ganz offensichtlich stimmt das: Die Menschen strömen aus allen Richtungen zu der großen Moschee am Giza-Platz. Hierher will Mohammed ElBaradei heute zum Freitagsgebet kommen. Dicht gedrängt steht auch die Polizei. Schild an Schild und dahinter lauern Wasserwerfer. ElBaradei kommt, als der Gebetsruf schon erschallt. Schnell stellen sich die Männer in Reihen auf. Dass Demos mit dem Freitagsgebet beginnen, hat die islamische Studentenbewegung in den 70er Jahren eingeführt. Nicht nur aus religiösen, sondern auch aus ganz praktischen Gründen: Solange gebetet wird, schlägt die Polizei nicht zu und auf diese Weise können sich |23|die Aktivisten in Ruhe versammeln. An diesem Freitag geht es schon wenige Minuten nach Gebetsende los. »Salmia, Salmia! – Friedlich, friedlich«, rufen die Demonstranten, doch die Polizei haut gleich zu und jagt die Jugendlichen stundenlang unter der Hochstraße hin und her. Die Tränengasschwaden ziehen bis in die Gassen des angrenzenden Armenviertels.
In einer dieser Gassen wacht Ragab Mustapha neben einem Haufen Zementsäcke. Lässig sitzt der 55-Jährige mit dem gefleckten Turban da. Nur seine Augenbraue zuckt ab und zu und verrät so seine Anspannung. Laute Schüsse ertönen und eine Gruppe Jugendlicher kommt durch die Gasse gestürmt. Sie verschnaufen kurz, spülen die roten Augen und ziehen dann wieder zurück auf die Hauptstraße. Ragab Mustapha schaut ihnen nach: »Da irgendwo sind auch meine Söhne! Ich habe heute Morgen zu ihnen gesagt: Es ist Zeit. Geht! Wir haben keine Wahl: Uns steht das Wasser bis zum Hals.« Er habe geschuftet, um seinen Söhnen eine Ausbildung zu bezahlen. Sogar zur Universität hat er sie geschickt: »Aber Jobs finden sie keine. Ich habe in ihre Ausbildung investiert, damit es uns besser geht. Aber wir wurden betrogen«, sagt er. »Nur die Kinder der Reichen, die haben keine Probleme: Man braucht Beziehungen, um einen Job zu bekommen«, mischt sich ein Nachbar ein. »Dies ist kein armes Land. Es gibt Geld, doch es wird nicht verteilt. Die wenigen Reichen bekommen alles und wir, wir essen den ganzen Tag Brot mit Falafel«, sagt er und zeigt auf den Essensrest in seiner Hand: »Schreib ruhig auf, dass wir Hosni Mubarak hassen und dringend eine neue Regierung brauchen«, sagt er dann noch. Jetzt wird ein Verletzter in die Gasse getragen. Er blutet aus einer Wunde am Kopf. Schnell wird er versorgt. Als Nächstes schlendert ein Grüppchen Herren in ordentlichen Cordhosen und Blazern durch die Gasse: »Wir sind Muslimbrüder!«, stellt der älteste von ihnen die Gruppe vor. |24|Mustapha Ali heißt er. »Auch wir wollen unseren Beitrag leisten. Allerdings beteiligen wir uns hier als Privatpersonen. Als Ägypter, nicht als Mitglieder unserer Organisation«, sagt er.
Die Führung der Muslimbrüder und anderer islamischer Organisationen sind – so heißt es – von den Protesten ebenso überrascht wie die anderen Oppositionsgruppen. Sie können sich lange nicht durchringen, die Demonstrationen zu unterstützen. Das kümmert die jungen Brüder allerdings wenig. Sie sind von Anfang an dabei und schließlich schwenken auch die Führer um und rufen ihre Anhänger auf die Straße. »Warum unsere Führer sich so zurückgehalten haben, kann ich nicht erklären«, sagt Mustapha Ali. Vielleicht sei es die Angst gewesen, dass die Polizei gegen die Brüder besonders hart vorgehen würde, in den letzten Wochen waren wieder viele verhaftet worden. Vielleicht haben sie auch nicht geglaubt, dass so viele Menschen kommen würden: »Egal aber, was zum Zögern der Führer geführt hat, es war eine sehr weise Entscheidung. Es ist gut, dass wir dabei sind, aber nicht unsere Fahnen tragen, sonst würde dies schnell ein Aufstand der Parteien. Die Chance liegt doch gerade darin, dass sich das ganze Volk erhebt«, erklärt er. Eine Frau mit Kopftuch und langem Mantel, die das Gespräch mit angehört hat, mischt sich ein: »Ich finde es sehr gut, dass es endlich mal nicht immer um Islam und Dschihad geht. Das haben wir lange genug gehört. Ohne dass es etwas gebracht hätte. Ich denke, dass die große Chance darin liegt, dass wir mit den Zielen soziale Gerechtigkeit, Ende der Korruption und Demokratie mehr Menschen auf die Straße bringen als mit den religiösen Parolen«, sagt Nadia Barat. Sie ist Anfang dreißig, Lehrerin und heute das erste Mal überhaupt auf einer Demo: Sie ist zur Moschee nach Giza gekommen, weil ihr Mohammed ElBaradei Hoffnung macht. Die Kritik, dass er die meiste Zeit im Ausland lebe und keine Ahnung vom Leben der normalen Ägypter habe, wischt sie mit einer Handbewegung |25|weg: »Er ist ein gebildeter Mann und es ist gut, dass er viele Jahre im Ausland gelebt hat. Der wird Ägypten in Ordnung bringen«, sagt sie. Den Chef der Arabischen Liga Amr Mussa fände sie noch besser, aber der habe sich bisher noch nicht in die Revolte eingereiht.
»Ich verstehe gar nicht, wieso ihr alle von einer neuen Regierung sprecht«, mischt sich ein Mann in Lederjacke ein. »Die Jugendlichen auf der Straße wollen, dass die Preise gesenkt werden und die Löhne erhöht. Die Regierung wird es richten und dann geht alles normal weiter«, sagt er. »Wieso fürchtest du dich so, Bruder, oder bekommst du Geld, dass du so redest und das Geschwätz der Regierung wiederholst?«, schimpft die Lehrerin: »Wo ist denn unser toller Präsident? Wir stellen berechtigte Forderungen und als Antwort schickt er uns Tränengas und schaltet das Internet aus. Seit Tagen haben wir ihn nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich hat er Angst oder er ist vor Schreck gestorben«, sagt sie.
»Ich habe eben mit eigenen Augen gesehen, wie ein Zivilpolizist ein Auto angezündet hat.« Ein aufgebrachter junger Mann kommt in die Gasse: »Dann werden sie hinterher in ihren Lügenmedien sagen, dass es die Demonstranten waren, die gewütet haben!« Das brennende Auto hat die Polizei dann in die Menge der Demonstranten geschoben. Ragab Mustapha, der Mann mit dem Turban, schaut jetzt doch besorgt: »Es wird schon gut gehen«, murmelt er.
Im Café der Gasse schauen Männer Al Dschasira