Der Verrat des Wandlers - Lena Klassen - E-Book

Der Verrat des Wandlers E-Book

Lena Klassen

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Beschreibung

Eine junge Königin, die sich den Frieden wünscht. Eine heimliche Liebe. Eine Stadt im Ausnahmezustand. Und ein Feind, der nie sein wahres Gesicht zeigt. Kiara entdeckt immer neue Facetten ihrer Gabe. Zugleich muss sie ihre große Liebe geheim halten. Denn der Schlangenclan verfolgt nur ein Ziel: den Tod des Skorpionkönigs. Wird es ihr gelingen, ihn zu retten? Und wäre das nicht der größte Fehler überhaupt? Denn Professor Mercier sät Zweifel in ihr Herz: Ist Jacques der Wanderer, der uralte Feind der Wandler?

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Inhalt

Teil I Schwarze Federn im Schnee

1 – Die Schönheit des Gewöhnlichen

2 – Eine aufdringliche Katze

3 – Weil es immer zwei sind

4 – Der Wettstreit der Mächtigen

5 – Ich, Verräterin

6 – Wenn wir tanzen

7 – Vom Lügen und Hoffen

8 – Skorpion unter Schlangen

9 – Neunzehn

10 – Tanz und Musik

11 – Millionen Sterne

12 – Schwarze Federn

13 – Vom Tod und vom Frühling

14 – In meinen Armen

15 – Sein Mädchen

16 – Sein anderes Ich

Teil II Der Tanz des Skorpions

17 – Am letzten Abend

18 – Die Briefe

19 – Ein fremdes Gesicht

20 – Das Antlitz eines Mörders

21 – Die Einladung

22 – Die heilende Kraft der Verwandlung

23 – Die Verlobung

24 – Die Musik der Schlangen

25 – Der verzweifelte Versuch, glücklich zu sein

26 – Auf der Brücke

27 – Löwe und Skorpion

28 – Weil es enden muss

29 – Von Dunkelheit zu Dunkelheit

30 – Medusas Tränen

31 – In meinen Träumen

Anhang – Kasten, Kreise, Ränge der Clans

Lena Klassen
Die WandlerDer Verrat des Wandlers
Eisermann Verlag

Die Wandler 2 – Der Verrat des Wandlers E-Book-Ausgabe  03/2018 Copyright ©2018 by Eisermann Verlag, Tobias Eisermann, Bremen Umschlaggestaltung: Jaqueline Kropmanns Illustrationen: Laura Dietsch Satz: André Piotrowski Korrektur: Marie Weißdorn http://www.Eisermann-Verlag.de ISBN: 978-3-96173-059-9

Teil ISchwarze Federn im Schnee

1 – Die Schönheit des Gewöhnlichen

  1   Die Schönheit des Gewöhnlichen

An diesem wunderschönen Septembertag hatte ich nur eins im Sinn: die Sonnenstrahlen zu genießen, die auf meiner Nase tanzten. Keinen einzigen davon wollte ich mir entgehen lassen, denn vermutlich war heute einer der letzten schönen Tage dieses unvergleichlichen Sommers.

»Das musst du dir ansehen.«

Ich seufzte und kniff die Augen zu, aber es half nichts, mich schlafend zu stellen. Franzi rüttelte so unsanft an meiner Hängematte, dass ich fast hinausgefallen wäre.

»Komm, Kiara, sofort!« Sie packte mich am Handgelenk, zog mich sowohl aus meinen Träumen als auch aus der Hängematte und schleifte mich zum Gartenzaun.

Auf der anderen Straßenseite parkte ein kleiner Transporter. Gerade eben hob ein junger Mann einen schlichten Holzstuhl heraus und stellte ihn auf die Straße. Alles andere als bemerkenswert – was das Möbelstück betraf. Der blonde junge Mann dagegen war recht ansehnlich. Auf den ersten Blick. Auch auf den zweiten. Mich zog es allerdings mehr zu meinem gemütlichen Platz zwischen Kirschbaum und Birnbaum zurück.

»Und?«

»Und?«, wiederholte meine allerbeste Freundin Franziska fassungslos. »Da fragst du noch? Hast du keine Augen im Kopf? Schau hin! Mein Gott, wer ist das?«

»Weiß ich doch nicht«, schwindelte ich. »Ein Möbelpacker? Wir kriegen heute neue Nachbarn.«

Franzi verfolgte jede Bewegung des stattlichen Kistenschleppers mit ihrem Blick. Nicht einmal der schwere Schrank, den er gerade ganz allein aus dem Wagen hob, schien ihn im Geringsten anzustrengen.

»Die Figur eines Athleten! Die Schultern, hach, und erst diese Oberarme – ein Traum«, murmelte sie.

»Du hast einen Freund«, erinnerte ich sie.

»Hab ich nicht.«

Franzi und Thorsten, das war eine Geschichte für sich. Sie waren seit einem halben Jahr zusammen – oder auch nicht. Ich war nicht immer auf dem Laufenden, ob sie sich gerade stritten oder mal wieder versöhnt hatten. Seit der Scheidung ihrer Eltern nahm meine beste Freundin jede kleine Unstimmigkeit dermaßen ernst, dass sie sofort den Rückzug antrat, wenn der arme Thorsten nur ein falsches Wort sagte. Es war ein ständiges Hin und Her und raubte jedem in ihrer Umgebung den letzten Nerv. Keine Ahnung, warum sie diese Beziehung nicht einfach ganz aufgab.

»Ich hab keinen Freund«, wiederholte Franzi mit Nachdruck und ließ den Fremden keine Sekunde aus den Augen. Gerade verschwand er im Hauseingang. Sie seufzte laut. »Nun ja, gestern hab ich Thorsten getroffen, aber … Was mache ich bloß, wenn dieser Kerl in seinen Wagen steigt und auf Nimmerwiedersehen verschwindet? Ich muss ihn unbedingt ansprechen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Das tust du nicht.«

»Oh doch.« Entschlossen presste sie die Lippen aufeinander. »Und ob ich das mache. Der fährt nicht weg, bevor er meine Telefonnummer hat. Ich könnte sie auf die Windschutzscheibe schreiben, was meinst du? Mit einem Stift, der nicht abgeht.«

»Du willst nicht im Ernst hören, was ich dazu meine, oder?«

»Da ist er wieder. Oh, was mache ich bloß?«

»Denk dir was aus.« Ich wollte gerade zurück in den Garten, als sie erstickt keuchte.

»Er kommt her! Er hat uns gesehen!« Panisch sah sie sich nach einem Versteck um.

Der attraktive Möbelpacker kam direkt auf uns zu, weglaufen hatte gar keinen Zweck und wäre bloß peinlich gewesen.

Wir mussten beide zu ihm aufsehen. Mindestens eins neunzig. Franzi war etwas kleiner als ich, auf sie musste er noch beeindruckender wirken. Seine unglaublich blauen Augen strahlten mit dem Himmel um die Wette, und sein Haar funkelte golden. Doch das Schönste an ihm war sein Gesicht, das einen dazu verführen wollte, es immerzu anzustarren, wenn man nicht gerade damit beschäftigt war, den Rest dieses Wunders von Mann zu bestaunen. Sein Lächeln gab Franzi den Rest.

Sie sagte nichts. Das war bedenklich. Ich überlegte, ob ich ihren Puls fühlen sollte, um sicherzugehen, dass sie nicht gleich umkippte.

»Hi, girls.« Er verteilte seine Aufmerksamkeit gerecht auf uns beide. »Schätze, wir sind jetzt Nachbarn«, verkündete er mit breitem amerikanischen Akzent. »Ich bin Alec.«

»Ich wohne hier«, sagte ich gelassen. »Kiara Wieland. Das ist meine Freundin Franziska Meyerloh.«

Er war so freundlich, uns die Hand zu geben. Franzi lief rot an und begann zu schwitzen, ich dagegen blieb cool und nickte ihm bloß zu. Auch als er uns noch einmal mit seinem unglaublichen Lächeln bedachte, lächelte ich nicht zurück. Ich fand, er nervte ein bisschen.

»Oh Gott«, flüsterte Franzi, als der junge Mann wieder über die Straße ging. »Schau nur, dieser Hintern!«

»Er hat eine Hose an«, sagte ich.

»Dann schau dir diesen unglaublichen Hintern in der Hose an.«

»Muss ich?«

»Er wohnt hier! Das kann nur ein Traum sein.« Sie verengte die Augen und musterte mich misstrauisch. »Er gehört mir, klar? Ich habe ihn zuerst gesehen.«

»Meinetwegen.«

»Ich komm dich jeden Tag besuchen, ja?«

»Krieg dich wieder ein. So toll sieht er auch wieder nicht aus.«

Franzi wankte zur Hängematte und ließ sich hineinfallen. »Das ist … unglaublich. Ein Sechser im Lotto. Er sieht aus wie ein Filmstar. Wie ein … Ich weiß auch nicht. Dem muss ich in einem früheren Leben schon begegnet sein. Er sieht aus, als hätte ich immer nur von ihm geträumt.«

»Ich ruf gleich Thorsten an und sag ihm, er soll dich abholen, bevor du völlig abdrehst.«

»Bloß das nicht!« Sie sprang aus der Hängematte. »Untersteh dich!« Kopfschüttelnd musterte sie mich. »Im Ernst, Kiara, merkst du nicht, dass ein Wunder geschehen ist? Solche Typen gibt es sonst nur im Film. Wie kannst du so ruhig bleiben?«

»Ich steh mehr auf dunkelhaarige Jungs.« Das war nicht einmal gelogen. »Und jetzt fährst du nach Hause, aber ein bisschen plötzlich. Ich muss noch Mathe üben.« Selbst das war die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.

Sie schlug sich gegen die Stirn. »Ach ja, ich auch. Wenn ich mich überhaupt konzentrieren kann. Ich werde die Klausur verhauen!«

Ich schob sie zum Tor hinaus. Franzi lungerte noch eine Weile auf dem Gehweg herum und starrte sehnsüchtig zum anderen Haus hinüber, dann verabschiedete sie sich endlich.

Sobald sie fort war, ging ich durch die offene Terrassentür nach drinnen. Im Haus war alles still. Meine Eltern waren ausnahmsweise beide auf der Arbeit. Meine Mutter war meistens nicht da, ihre Stellung als Vertriebsleiterin einer angesehenen Firma ließ ihr kaum Zeit für die Familie. Mein Vater hatte es mal wieder geschafft, einen Job zu ergattern, den er zweifellos nicht lange behalten würde. Diesmal war es ihm gelungen, einen Mannheimer Theaterregisseur dazu zu bewegen, ihn als Assistenten einzustellen; ich war gespannt, wie lange er sein Temperament zügeln konnte und durchhielt. Also kein Gesang, kein Kuchenduft. Nur Stille.

Ich hielt den Atem an, als ich die Treppe ins Obergeschoss hinaufstieg. Nur ein Gefühl, nicht wirklich deutlich, nur ein ganz vages Gefühl … dass ich nicht alleine war.

Die Tür zu meinem Zimmer war nur angelehnt. Ich tippte sie mit dem Fuß an, sodass sie langsam aufschwang.

Der goldhaarige, blauäugige Nachbar saß nahezu nackt auf meinem kleinen Sofa mit dem Zebrafellmuster. Er hatte sich eine Decke um die Leibesmitte geschlungen und präsentierte mir seinen perfekten, herrlich muskulösen Oberkörper und sein gewinnendes Lächeln. Beides konnte mich nicht gnädig stimmen.

»Du bist sauer, ich weiß«, sagte er. »Tut mir leid, Kiara. Ich kann’s nicht ändern, ehrlich.«

Ich verschränkte die Arme und schaute mit strengem Blick, der meine Missbilligung ausdrücken sollte, auf ihn hinab. Er war so schön. Viel zu schön, um wahr zu sein. Ein Gestaltwandler allerhöchsten Ranges, ein Krieger, der alle Einstufungen sprengte. Und ich hatte ihn jetzt am Hals.

»Du hast die arme Franzi fast in den Wahnsinn getrieben.«

»Ich kann ja nichts dafür.« Er grinste und zuckte mit den Achseln.

»Ach nein? Musstest du sie so anlächeln?«

Da war es wieder. Dieses Lächeln, das alle Herzen schmolz. Alle, außer meinem.

»Alec lächelt nun mal so.«

»Nein«, widersprach ich. »Red dich nicht raus. Das ist dein Lächeln – Nicolas.«

Ich nannte ihn sonst nie bei seinem wahren Namen, und er zuckte zusammen. Aber auch ein zerknirschter Alec war immer noch ein traumhaft süßer Alec. »Sei nicht böse, Kiara. Wir machen uns einen schönen Abend.«

»Zieh dir endlich etwas an«, befahl ich und wandte mich ab.

Er machte eine Bewegung zum Fenster hin. »Mein Kleiderschrank ist gleich da drüben auf der anderen Straßenseite.«

Ich seufzte. »Bist du als Ratte ins Haus geschlüpft? Dann sei froh, dass meine Mutter nicht da ist. Sie hätte dir mit dem Besen eins übergebraten.« Ich setzte mich ihm gegenüber auf mein Bett. Zwischen uns bildete der Couchtisch, auf dem meine Sammlung fleischfressender Pflanzen aufgebaut war, eine unüberbrückbare Barriere. »Alec, du kannst hier nicht einfach so reinkommen.«

Das Lächeln war schlagartig verschwunden. »Ich weiß, du bist über diese Situation nicht glücklich. Aber du wirst dich daran gewöhnen, versprochen.«

Das bezweifelte ich.

»Ich werde dich beschützen, ob du willst oder nicht«, kündigte er an. »Ich habe in diesem Sommer versagt. Ich weiß selbst, dass ich wenig hilfreich war. Aber das lag daran, dass ich zwei Aufgaben gleichzeitig hatte – den Skorpionkönig zur Strecke zu bringen und auf dich aufzupassen. Jetzt konzentriere ich mich nur auf deinen Schutz. Und ich kann sehr effektiv sein.« Er lehnte sich zurück. So, als ob dieses Sofa ihm gehörte. Als ob dieses Zimmer ihm gehörte. Und vielleicht sogar das Haus und die ganze Welt und ich dazu.

Nicht mit mir, dachte ich.

»Ich stelle hiermit eine Regel auf«, sagte ich. »Eine einzige Regel, aber es ist die wichtigste überhaupt: Du betrittst mein Zimmer nicht ohne Erlaubnis.«

»So kann ich nicht arbeiten!«, protestierte er. »Ich muss jederzeit hier rein!«

»Ins Haus, ja. Aber mein Zimmer ist tabu! Du gehst nie, nie, nie in mein Zimmer, wenn ich dich nicht hereinbitte. Weder durchs Dachfenster noch durch die Tür. Du guckst auch nicht durchs Fenster oder durchs Schlüsselloch. Ich bestehe auf meine Privatsphäre. Wenigstens einen Raum brauche ich nur für mich.«

Alec verzog missmutig das Gesicht. »Das ist ganz schön viel verlangt.«

Ich war dabei, sein Leben zu retten, wieder einmal. Er wusste es nur nicht. Falls er dieses Zimmer betrat, wenn ich anderen Besuch hatte – ganz speziellen Besuch –, war er, wenn es zum Äußersten kam, ein toter Mann. Da konnte er der weltweit beste Krieger sein. Er hatte nur dummerweise gar keine Ahnung, in welcher Gefahr er sich befand.

»So etwas wie das hier, das geht nicht. Willst du, dass ich einen Herzinfarkt kriege? Oder, noch schlimmer, meine Eltern?«

»Das war die Regel?«, fragte er. »Okay, ich werde mich dran halten. Sonst noch was?«

Mehr würde ich nicht bekommen, das wusste ich. Alec nahm alles, was er tat, ungeheuer ernst, auch wenn er dabei noch so locker und entspannt wirkte. Ich war dabei gewesen, als er, verblutend am Boden und schon halb tot, noch einmal aufgesprungen war und seinen Gegner zur Strecke gebracht hatte. Hinter Alec steckte wesentlich mehr, als es den Anschein erweckte. Ich vermutete stark, dass er nicht nur ein paar gebrochene Mädchenherzen auf dem Gewissen hatte, doch man fragt seine Freunde nicht, wie oft sie schon getötet haben.

»Abgesehen davon, dass du mich auch im Badezimmer in Frieden lässt, war’s das, glaube ich. Wenn mir noch etwas einfällt, sag ich Bescheid.«

Er streckte die Beine unter den Tisch und brachte ihn damit zum Wackeln. In meinem kleinen Zimmer unter der Dachschräge war es reichlich eng für einen Mann seiner Größe.

»Sorry. Fängt jetzt der gemütliche Teil an?«

»Was?« Ich starrte ihn an. »Was soll das denn heißen?«

»Musst du tatsächlich Mathe pauken, oder hast du das nur so gesagt? Ich dachte, wir könnten uns einen Film anschauen.«

»Ich muss wirklich üben!«, fauchte ich.

Alec lehnte den Kopf zurück, reckte sich und zerriss dabei fast das signierte Serpent-War-Poster an der Wand. Nachdem ich die coolste Rockband der Welt bei meiner Krönung persönlich kennengelernt hatte, war ich ein größerer Fan als je zuvor.

»Bitte schön, lass dich nicht stören.«

»Das hatte ich auch nicht vor.« Grummelnd hockte ich mich an meinen Schreibtisch und breitete Bücher, Hefte und Zettel darauf aus. Doch wie sollte ich mich bitte konzentrieren, wenn ein halbnackter Mann mich beobachtete?

»Kannst du nicht was lesen?«

Er stand auf, die Decke artig um seine Mitte gewickelt, und inspizierte mein Bücherregal. »Vampire. Else Lasker-Schüler. Elfen. Dürrenmatt. Interessante Mischung. Hast du nichts mit körperfressenden Aliens?«

»Ich meinte eigentlich: unten im Wohnzimmer.«

»Wenn ich schon mal hier bin, kannst du mich nicht wegschicken. Davon stand nichts in der Regel.«

»Ich könnte eine neue aufstellen.«

»Untersteh dich.« Ungeniert legte er sich auf mein Bett und schloss die Augen. Franzi wäre spätestens jetzt komplett durchgedreht. »Ich bin einfach da, lass dich nicht stören. Wenn du was nicht kapierst, frag ruhig. Ich war immer ganz gut in Mathematik.«

»Und wie lange ist das her?«

Darauf antwortete er nicht. Alec gab nie irgendetwas über seine wahre Identität preis. Ich wusste nicht einmal, wie alt er war.

Angestrengt starrte ich auf die Zahlen, die vor meinen Augen verschwammen, und beugte mich so weit vor, bis ich mit der Stirn gegen das Buch schlug. »Ich kann nicht denken, wenn du hier bist!«

»Das freut mich. Ich wollte schon immer Gedanken absorbieren können.«

»Ich geb’s auf. Suchen wir uns einen Film aus. Mein Vater hat eine ganz ordentliche Sammlung, viel mit Theater und Operngesang und so.«

»Ach, na ja«, meinte Alec wenig begeistert, aber als ich ihn darüber aufklärte, dass es auch ein paar ordentliche Actionfilme gab, war er zufrieden. Ich kam mir vor, als wäre ich der Babysitter meines Leibwächters. Auf bloßen Füßen tappte er hinter mir die Treppe hinunter, immer noch in die Decke gewickelt, und kuschelte sich in Mamas besten Sessel. Ich wählte einen Film mit Jackie Chan aus, den ich noch nicht allzu oft gesehen hatte, und machte es mir auf dem Sofa bequem.

»Du könntest mir ein Bier bringen«, schlug er vor. »Und Erdnüsse.«

»Hallo? Ich bin hier die Königin, ja?«

»Wenn ich Bier und Erdnüsse hole, muss ich die Decke loslassen.«

Das war ein Argument. »Haben wir nicht«, behauptete ich in dem schwachen Versuch, mich zu drücken.

Alec schüttelte den Kopf. »Doch, habt ihr. Das Bier ist im Kühlschrank und die Erdnüsse sind dort in der Vitrine, hinter dem Wälzer mit den Papageienfotos, in der Schachtel mit den aufgeklebten Muscheln.«

»Du hast unsere Schränke durchsucht? Spinnst du?«

»Was ein Leibwächter nicht alles tun muss. Es könnten irgendwo Kameras versteckt sein oder Bomben. Du hast mächtige Feinde.«

Es klang wie ein Scherz, sollte aber bestimmt keiner sein. Alec mochte aussehen wie ein schnuckeliger, leicht hirnverbrannter Athlet, aber er war hochintelligent und äußerst gründlich. Ich würde aufpassen müssen. Auf alles, was ich mit nach Hause brachte. Auf alles, was ich irgendwo aufschrieb und sagte. Niemals durfte er auch nur den geringsten Hinweis darauf finden, dass ich ihn belog.

Ich holte ihm ein Bier aus dem Kühlschrank, bevor er seine Drohung wahrmachen konnte, es selbst zu tun, und fischte die würzigen Erdnüsse aus Papas Spezialversteck.

Draußen ging die Sonne unter.

Eine Weile gelang es Jackie Chan, mich in seinen Bann zu ziehen, dann fielen mir die Augen zu.

»Kiara!«

Ich schrak auf. Meine Mutter stand mitten im Wohnzimmer. Der Film war längst zu Ende. Die vorher makellose Ordnung wurde durch mehrere leere Bierflaschen gestört, außerdem durch Gläser, Bonbonpapier, das sich auf dem Tisch häufte, diverse Packungen von Keksen und Salzgebäck, ach ja, und die Dose mit den Erdnüssen rollte auch noch irgendwo dazwischen herum. Es sah aus wie nach einer wilden Party.

»Kiara, seit wann trinkst du Bier? Und – wo kommt die Katze denn her?«

Auf Mamas Lieblingssessel hatte sich ein Pelzknäuel zusammengerollt, das träge den Kopf hob und uns verschlafen anblinzelte.

»Wem gehört die?«

»Keine Ahnung«, schwindelte ich. »Die ist vorhin aus dem Garten mit reingekommen. Ich hab extra die Decke untergelegt, damit sie deinen Sessel nicht vollhaart.«

»Sie ist wunderschön!« Die Bierflaschen waren vergessen. Verzückt kniete sich meine Mutter hin und streichelte dem Tier über den Kopf. »Die sieht nach einer richtigen Rassekatze aus«, meinte sie nahezu andächtig. »Was für ein seidiges Fell. Und erst diese Farbe! Bernsteinfarben und marmoriert. Das muss ein äußerst seltenes Exemplar sein. Bestimmt sucht der Besitzer danach.«

»Ich würde sie lieber nicht streicheln«, sagte ich. »Vielleicht hat sie die Tollwut. Oder Zecken. Und Flöhe sowieso.«

»Er«, verbesserte meine Mutter. »Schau dir diesen runden Kopf an. Typisch Kater. Kein Halsband. Ob er wohl kastriert ist?«

Bevor sie nachschauen konnte, sprang ich auf und schnappte mir die Katze, die sich an der Decke festkrallte. »Der gehört bestimmt unserem neuen Nachbarn. Gegenüber ist heute ein Mann eingezogen. Ich setze ihn vor die Tür. Das Vieh, meine ich, nicht den Nachbarn. Dann sehen wir ja, wo es hinläuft.«

Ich öffnete die Haustür. Der Kater fauchte mich an, als ich ihn ziemlich unsanft hinausbeförderte.

»Nein, warte!«, protestierte meine Mutter, die nur noch Augen für die außergewöhnliche Katze hatte.

Ich schüttelte innerlich den Kopf. Angeber! Alec hatte einfach ein Händchen dafür, sich Gestalten auszusuchen, die den Blick auf sich zogen. Abgesehen von der Ratte, die dafür jedoch alltagstauglicher war als beispielsweise ein Löwe. Der Beweis dafür, dass der schöne Hüne durchaus auch praktisch veranlagt war.

Mama bückte sich rasch, um nach der Katze zu greifen. »Ich bring ihn lieber selbst rüber … Jetzt ist er mir entwischt.«

Das hätte noch gefehlt. Dass wir mit der Katze auf dem Arm vor Alecs Haustür standen und klingelten und warteten und klingelten und warteten, bis meine Mutter am Ende noch beschloss, zum Tierheim zu fahren.

»Sie gehört dem neuen Nachbarn, bestimmt«, versicherte ich. »Er hatte einen Katzenkorb. Franzi und ich haben zugeguckt, als er sein Zeug reingetragen hat.«

»Wieso lässt du sie dann in unser Wohnzimmer? Ich werde dem Mann sagen müssen, dass er sie einsperren soll, bis sie sich eingewöhnt hat.« Meine Mutter zog sich bereits die Schuhe an. Sie zögerte wirklich keinen Moment, das Projekt »Rettet die Katze« zum Abschluss zu bringen.

»Jetzt?« Draußen war es bereits kühl und duftete nach Herbst, und wie immer, wenn ich daran erinnert wurde, dass der Sommer vorbei war, kam es mir vor wie der Beginn eines neuen Jahres. Schnell nahm ich meine Jacke vom Haken, während meine Mutter schon über die Straße lief.

Wir mussten eine Weile warten, bevor die Tür aufging und meine Mutter dem schönsten Mann ins Gesicht starrte, der jemals im Stadtteil Rohrbach gewohnt hatte.

»Vermissen Sie Ihre Katze?«, fragte sie sofort. »Einen großen, braungestromten Kater?«

Alec runzelte die Stirn. Dann meinte er in seinem unnachahmlichen Deutsch: »Sie haben meine Katze gefunden? Sie ist mir entwischt, heute Nachmittag.« Er starrte an uns vorbei auf die dunkle Straße, als könnte dort unvermittelt der herrliche Kater auftauchen, an den meine Mutter bereits ihr Herz verloren hatte.

»Sie sollten besser auf ihn aufpassen«, meinte sie streng. Aber nicht einmal sie konnte Alecs Charme widerstehen, und als er uns hereinbat, stolperte sie wie eine willenlose Marionette in seine Wohnung.

Wie gut, dass er so groß war und sie so aufgeregt, sonst hätte sie gerochen, dass er unser Bier getrunken und unsere Erdnüsse gegessen hatte. Fasziniert stand ich daneben, während Alec meine Mutter dazu brachte, ihn zu überreden, dass sie sich um diese besondere Katze kümmern durfte, wenn er tagsüber weg war. Was häufig vorkommen würde, wie er zugab. Dass meine Mutter auch nicht oft zu Hause war, schien sie ganz vergessen zu haben.

»Wie heißt der Kater eigentlich?«, verlangte sie zu wissen, als wir uns endlich verabschiedeten.

»Alexander«, sagte er und zwinkerte mir kaum merklich zu.

2 – Eine aufdringliche Katze

  2   Eine aufdringliche Katze

Ich hatte das Dachfenster offen gelassen.

Ein leiser Windhauch. Eine Hand strich mein Haar zur Seite. Die Berührung von Lippen auf meinem Nacken, auf meinen Schultern.

»Endlich bist du da«, flüsterte ich.

Er küsste meine Wange und ich wandte ihm mein Gesicht zu.

* * *

Franzi blieb stehen, wie vom Blitz getroffen. »Das gibt’s doch nicht!«

Wir standen zu fünft auf dem Schulhof. Franziska, Thorsten sowie Thorstens bester Freund Lukas, die beide in der Stufe über uns waren. Lukas tat so, als würde er nur wegen Thorsten mit uns herumstehen, dabei war er seit der siebten Klasse in mich verliebt und machte mir heimlich kleine Geschenke. Er ahnte nicht, dass ich das wusste, aber ihm hätte eigentlich klar sein müssen, wie schwer es war, an einer Schule Geheimnisse zu bewahren. Außerdem war noch Sarah dabei, die wiederum ein Auge auf Lukas geworfen hatte und sich daher öfter zu uns stellte.

»Da! Was tut der denn hier?«

Über den Schulhof ging – nein, er ging nicht, er schwebte – der große blonde Kerl, der ständig die Blicke auf sich zog und der geschworen hatte, in meiner Nähe zu bleiben. Ich hätte mich eigentlich nicht wundern dürfen, dass er nun auch in der Schule auftauchte.

Alec bemerkte uns nicht – oder tat jedenfalls so. Er hatte den futuristisch anmutenden Haupteingang schon fast erreicht, als er zögerte und sich umsah. Dann richtete er seinen strahlenden Blick auf unsere Gruppe und kam auf uns zu.

»Kennt ihr den?«, fragte Thorsten misstrauisch.

»Das ist mein Nachbar«, erklärte ich mit einem säuerlichen Lächeln. Mein Leibwächter. Mein persönlicher Gestaltwandler, der für mich töten würde, also seid schön nett zu ihm und zu mir.

»Hi«, begrüßte Alec uns alle. Mich schaute er ein wenig länger an als nötig. »Ich suche das Sekretariat. Da könnt ihr mir doch bestimmt helfen?«

Sein Deutsch war erstaunlich gut. Ein bisschen nervös machte es mich schon, mit Nicolas, dem besten Geheimagenten des Schlangenclans, befreundet zu sein. Er war bestimmt weitaus talentierter und gefährlicher, als ich überhaupt ahnte. Es würde schwierig werden, mein Geheimnis vor ihm zu bewahren.

»Du willst dich hier anmelden?«, fragte ich, da Franzi nur mit offenem Mund starrte. Sie sah aus wie ein frisch gefangener Fisch. »Das ist übrigens Alec«, stellte ich ihn den anderen vor. »Er wohnt seit Neuestem in meiner Straße. Seit … Sind es schon zwei Wochen? Und das sind Thorsten, Lukas, Franziska kennst du ja schon, und Sarah.«

Er nickte ihnen allen freundlich zu. Die beiden Mädchen waren wie gelähmt. Die Jungen waren auf der Hut, das konnte ich spüren. Thorsten legte besitzergreifend den Arm um Franzis Schultern.

»Mich anmelden?« Alec lachte. »Würde ich gerne, bei so netten Mitschülern, aber dafür bin ich leider etwas zu alt. Ich studiere Sport an der Uni.« Wo man ihn wohl kaum je zu Gesicht bekommen würde, weil er damit beschäftigt war, auf mich aufzupassen. »Und ich leite demnächst eine AG hier am Gymnasium und muss noch ein paar Kleinigkeiten klären. Zeigst du mir das Sekretariat?«

Ich spürte die Blicke der anderen in meinem Rücken, als wir gemeinsam das Gebäude betraten. Alec lachte leise in sich hinein.

»Das mit der AG, meinst du das ernst?«, fragte ich.

»Natürlich. Ich werde Selbstverteidigung unterrichten.« Alecs blaue Augen blitzten vergnügt. »Wenn ich ständig in deiner Nähe sein soll, brauchen wir eine Erklärung. Dass ich dein Nachbar bin, ist nicht genug. Du wirst an meiner AG teilnehmen und dort lernen wir uns etwas besser kennen.«

»Ich geh in keine bescheuerte AG! Ich hasse Sport!«

»Oh, du hast meinen Sportunterricht noch nicht erlebt. Es wird dir gefallen, ich versprech’s.«

»Das bezweifle ich«, meinte ich düster. »Hier ist das Sekretariat. Wen hast du bestochen, um den Job zu kriegen?«

»Ein Wandler im Stadtrat genügt, wenn er mit der Direktorin befreundet ist.«

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Eine Schlange im Stadtrat? Wer?«

Aber er lachte nur über meine Wut. »Du wirst dich für diese AG anmelden und dann sehen wir weiter.«

Als er die Tür öffnete, sah ich noch kurz das Aufleuchten im Gesicht von Frau Schiep, unserer Sekretärin, und ihre Stimme klang ganz anders als sonst, tiefer und weiblicher, als sie ungläubig fragte: »Herr Hudson?« Man brauchte nicht Gedanken lesen zu können, um ihre zu erraten. Kann das denn wahr sein? Oh, was für ein Glück!

Ich kochte innerlich, als ich zu meinen Freunden zurückkehrte, aber sie hielten meine geröteten Wangen wohl für das Zeichen von verliebter Schwärmerei.

»Das ist also euer Nachbar«, sagte Lukas resigniert.

»Der hat schon eine Freundin, wetten?«, fragte Sarah.

»Ich kann ihn ja mal fragen«, bot ich an.

Sarah musterte mich ungläubig. »Das würdest du tun?«

Sie hätten mich nicht darum beneiden müssen, dass ich so locker mit ihm umgehen konnte. Wir waren gemeinsam Spione gewesen in der Höhle des Löwen, im Hauptquartier der Feinde, Alec und ich. So etwas schweißt zusammen. Seite an Seite hatten wir gekämpft, in einem Kampf auf Leben und Tod, und ohne mich wäre er gestorben. Ich hing an ihm, aber auf eine ganz andere Art, als sie dachten. Eher so, wie man an einer zahmen Raubkatze hängt, die einem immerzu mit ihren riesigen Tatzen auf die Füße tritt.

Franzi seufzte, als die Schulglocke uns in die Klassenzimmer rief. Wir hatten unterschiedliche Kurse und mussten uns daher auf dem Gang trennen, aber bevor sie in ihre Geschichtsstunde verschwand, schüttelte sie den Kopf.

»Komisch«, sagte sie. »Du warst früher nicht so.«

»Wie denn?«, fragte ich zurück.

»Du warst viel nervöser«, befand sie. »Jedenfalls viel nervöser als ich.«

»Unsicher, meinst du?« Hm, sie hatte recht. Nicht einmal diese Frage klang unsicher. »Stört es dich, wenn andere sich weiterentwickeln?«

Ihre Lehrerin kam schon den Flur entlang, wir hatten keine Zeit zum Weiterreden. Natürlich konnte ich meine beste Freundin nicht täuschen. Ich war als eine andere aus den Sommerferien zurückgekommen, aber ich konnte ihr nicht erklären, warum.

* * *

Die Katze lag vor meiner Zimmertür und gähnte ausgiebig, als sie mich die Treppe hochsteigen sah.

»Nein. Du kommst nicht mit rein, ich bin sauer.«

Egal ob als Mensch oder als Tier, unschuldig dreinzublicken war Alecs Spezialität.

»Ich werde nicht an deiner blöden Sportgruppe teilnehmen.« Ich hatte die ausgehängte Liste am Schwarzen Brett gesehen. Franzi und Sarah hatten sich als Erste eingetragen. Zu allem Überfluss fing der Kurs auch schon nächste Woche an. »Ich lasse mir doch nicht meine Hobbys von dir vorschreiben.«

Die bernsteinfarbene Katze beobachtete mich von der Schwelle aus. Ich hatte nicht übel Lust, ihr die Tür vor der Nase zuzuknallen. Aus der Küche hörte ich meinen Vater singen. Anscheinend lief es ganz gut mit seinem neuen Job, auch wenn das bedeutete, dass es erst einmal keinen Kuchen geben würde. Dafür briet er etwas; der Duft von Knoblauch und Paprika zog ins obere Stockwerk.

Ich seufzte. »Na gut. Komm rein. Aber danach brauch ich ein bisschen Zeit für mich. Und zum Lernen.«

Ich ließ den Kater herein und warf eine Decke über ihn, bevor ich ihm den Rücken zuwandte und mich an meinen Schreibtisch setzte.

»Du kannst ruhig gucken.«

Alec stieß mit dem Kopf gegen die Dachschräge und mit dem Knie gegen mein Tischchen, aber wenigstens trug er ein T-Shirt und eine lange Hose.

»Kannst du dich neuerdings mit Klamotten verwandeln?«, fragte ich beeindruckt.

»Hatte ich unter deinem Bett versteckt, für alle Fälle.«

Ich sprang so hastig auf, dass ich meinen Stuhl umwarf. »Du warst in meinem Zimmer, während ich nicht da war? Das verstößt gegen die Regeln!«

Er griff zu seiner Wunderwaffe: seinem schönsten Du-kannst-mir-doch-nicht-böse-sein-Lächeln. »Eine sinnvolle Ausnahme, findest du nicht? Du hast gesagt, du brauchst Privatsphäre, aber wenn du sowieso nicht da bist …«

Ich hatte nicht übel Lust, ihn gehörig anzubrüllen, aber es hätte doch keinen Zweck gehabt. »Mein Zimmer ist auch dann tabu, wenn ich nicht zu Hause bin! Das ist einfach nur peinlich, verstehst du das nicht? Wenn hier Wäsche rumliegt … oder Post … oder … na ja, Sachen, die privat sind, eben.«

»Du bist sehr ordentlich. Hier liegt nie etwas herum. Du schreibst keine geheimen Briefe, und deine Wäsche bringst du immer gleich weg.« Er ließ sich auf mein kleines Sofa sinken und lachte leise vor sich hin. »Dein Vater singt ziemlich gut.«

»Er hat auch eine Gesangsausbildung«, erklärte ich, ohne zu erwähnen, dass mein Vater sein Musikstudium nie beendet hatte, weil er seine Leidenschaft für das Theater entdeckt hatte.

»Kochen kann er auch.« Alec schnupperte. »Du musst mich mitnehmen, wenn du runtergehst.«

»Gerne. Du wirst unterm Tisch sitzen und Katzenfutter aus der Dose schlabbern.«

»Das ist Folter!«, protestierte er. »Du musst mich ihm vorstellen, Kiara.«

»Als was denn?«, fragte ich. »Als unseren Nachbarn? Wir haben noch nie unsere Nachbarn zum Essen eingeladen.«

»Dann tust du das eben heute zum ersten Mal. Ich werde mich jetzt verwandeln, um ungesehen rauszukommen, und gleich klingele ich unten an der Haustür.«

Es ging so schnell, dass man nicht dabei zusehen konnte. Immer noch empfand ich es als ein Wunder, dabei hatte ich es oft genug erlebt. Eben noch saß er vor mir, mit lächelnden blauen Augen, und im nächsten Augenblick war er verschwunden und ein braungestromter Kater kämpfte sich aus dem T-Shirt heraus. Ich warf die Sachen wieder unter mein Bett und beobachtete ihn dabei, wie er die Treppe hinunterlief, meinem Vater auswich, der gerade aus der Küche kam, und schnurstracks durchs Wohnzimmer marschierte, wo die Terrassentür noch einen Spaltbreit offen stand.

Wenig später stand er als netter Nachbar vor der Tür, fragte nach seinem Kater und lud sich mehr oder weniger selbst zum Essen ein.

Mein Vater ließ sich nicht so schnell von Alecs Charme einwickeln wie meine Mutter. Es passte ihm nicht wirklich, unsere vertraute Zweisamkeit mit einem Fremden zu teilen, aber in der Gegenwart des fröhlichen Amerikaners konnte einfach keine unbehagliche Atmosphäre aufkommen. Es dauerte gar nicht lange, und sie kamen auf eins von Papas Lieblingsthemen zu sprechen: die Haltung und Zucht von Papageien. Bald fachsimpelten sie gemeinsam über Volieren und Freiflug und die Schwierigkeit, einen geeigneten Partner für die sensiblen Vögel zu finden.

Ich war hier überflüssig. Nicht einmal Alec schien es zu stören, als ich mich verzog; sein Projekt lautete heute offensichtlich »Erobere die Familie«.

Ich schloss die Zimmertür hinter mir.

Und rief eine Prager Nummer an.

»Bist du allein?«, fragte ich.

»Ja.« Wie immer schickte seine Stimme ein Prickeln durch meinen ganzen Körper, von Kopf bis Fuß und wieder zurück. »Ich bin draußen auf der Terrasse und lese. Lasse mir die Sonne ins Gesicht scheinen. Vermisse dich. Das Übliche.«

»Was liest du denn?«, fragte ich neugierig. »Immer noch Kafka?«

»Nein, mittlerweile bin ich bei Jan Neruda angekommen. Der hat auch hier in Prag gelebt, sie haben sogar eine Straße nach ihm benannt. Nette Geschichten über Spießbürger, die auf der Kleinseite leben.«

»Du liest nette Geschichten?«, wunderte ich mich. »Ohne Tod und Verhängnis?«

»Im Moment reichen mir die Abgründe der ganz normalen kleinen Leute.«

»Ich erinnere mich gut an diese Straße«, sagte ich. »Da waren wir an dem Nachmittag, als das Gewitter uns überrascht hat.«

»Unter den Birnbäumen. Als ob ich das je vergessen könnte. Das sollten wir wiederholen.« Er machte eine kurze Pause. »Und diesmal schreist du nicht, wenn ich dich küssen will.«

»Das war kein Schrei. Das war die Vorfreude.«

»Es hat sich aber angehört wie ein Schrei.«

Die Erinnerung an einen der schönsten Tage meines Lebens brachte mich auf das, was ich ihm eigentlich mitteilen wollte.

»In den Herbstferien komme ich nach Prag. Mercier hat meinen Eltern erzählt, dass da eine Art Musikkurs stattfindet. Oder ist es im Oktober zu kalt für ein Picknick auf dem Hügel?«

»Mir fällt schon was ein, was wir unternehmen können«, versprach er. »Wenn du dir überlegst, wie du deinem eifrigen Wächter entkommst. Sitzt er nicht neben dir und belauscht dich, diese Ratte?«

»Er ist unten bei meinem Vater und isst das Gemüse auf, das Papa für mich gebraten hat.«

»Er spricht mit deinem Vater?«

Ich hörte die Eifersucht in seiner Stimme. »Ich bin mir sicher, Papa würde dich lieber mögen.«

Er schwieg. Wir konnten beide gut schweigen. Es reichte zu wissen, dass wir uns nahe waren, trotz der vielen hundert Kilometer, die zwischen uns lagen, und der Komplikationen, die uns zu Meistern der Heimlichtuerei machten.

»Mir ist danach vorbeizukommen«, sagte er dann. »Gut oder schlecht?«

»Gut.« Gut, gut, gut. »Es könnte sein, dass Alec vor der Tür liegt, aber ich bin dabei, ihn zu erziehen. Vielleicht schaffe ich es, ihn aus dem Haus zu werfen.«

»Das bezweifle ich.«

»Alec ist stur. Du kannst nicht erwarten, dass ich das in ein paar Tagen hinbiege.«

»Ich bin auch stur. Und mich hast du doch ganz gut im Griff.«

»Ach«, meinte ich, »bei dir wende ich ein paar spezielle Methoden an. Soll ich die auch bei Alec testen?«

»Untersteh dich.« Er lachte leise. »Bis nachher, mein Schatz.«

Ich sah auf die Uhr. Fünfhundert Kilometer – solange das Beamen nicht erfunden worden war, würde das eine Weile dauern, egal als was er sich auf den Weg machte. Ich fing jetzt schon an zu warten.

Alec war immer noch unten bei meinem Vater. Sie hatten sich mittlerweile ins Wohnzimmer gesetzt und Papa zeigte ihm seine Filmsammlung. Ich hörte ihr Gelächter bis in mein Zimmer. Es war diese unwiderstehliche Mischung aus Attraktivität und herzlicher Offenheit. Bei Alec fühlte sich jeder wie etwas Besonderes. Genau aus diesem Grund hatte ich ihn zu Beginn unserer gemeinsamen Zeit in Prag für den zukünftigen König des Feindesclans gehalten. Es war nicht nur sein Aussehen, sondern seine Gabe, mit Menschen umzugehen.

Wenigstens war er im Moment beschäftigt. Ich schloss sorgsam die Tür ab und öffnete das Dachfenster. Nasskalte Herbstluft strömte herein. Obwohl die Tage noch recht warm waren, kühlte es nachts bereits merklich ab. Bald würde meine Mutter die Töpfe mit den Kübelpflanzen hereinholen und mein Vater würde sämtliche Kürbissuppenrezepte durchprobieren, bis er die perfekte Variante gefunden hatte. Im nächsten Herbst wusste er dann nur leider nicht mehr, welche gewonnen hatte, und das Spiel ging von vorne los. Es gab Schlimmeres. Ich mochte Kürbissuppe.

Ohne es zu merken, musste ich eingeschlafen sein, obwohl ich doch warten wollte. Aber irgendwann spürte ich eine Hand an meiner Wange, eine Hand, die sich weiter vortastete und erkundete, ob ich unter der Decke etwas anhatte. Hatte ich, ja. Aber eigentlich nicht besonders viel.

Ich öffnete die Augen. Im dunklen Zimmer waren nur seine Umrisse zu erahnen. »Warum hat das so lange gedauert?«

»Hat es gar nicht«, flüsterte er. »Du bist ungeduldig, das ist dein Problem.«

»Bin ich nicht«, protestierte ich. »Und jetzt komm endlich.« Ich zog ihn näher heran, grub meine Hände in sein Haar und küsste ihn.

3 – Weil es immer zwei sind

  3   Weil es immer zwei sind

Ich packte die Geige aus, klemmte sie mir unters Kinn und setzte den Bogen schwungvoll an die Saiten.

Mein Geigenlehrer, der angesehene Professor Mercier, schüttelte den Kopf. »Du glaubst doch wohl nicht, dass wir Zeit zum Üben haben, Kiara?«

Manchmal wünschte ich mir wirklich, er würde mir dabei helfen, mein katastrophales Geigenspiel zu verbessern. Schon das letzte Mal hatten wir nur geredet, das heißt, er hatte versucht, mich auszufragen. Es musste für ihn sehr frustrierend sein, wie schlecht ich mittlerweile auszuhorchen war, obwohl ich ihm doch früher jede Kleinigkeit anvertraut hatte.

»Hat Nicolas dich hergebracht?«

Ich seufzte. »Er hat Abstand gewahrt, als wäre er nur zufällig in der Straßenbahn.«

Mercier war unzufrieden. »Du musst dich schneller mit ihm anfreunden, Kiara, sehr viel schneller.«

»Mit meinem Vater versteht er sich schon gut, hat er das nicht erzählt?«

»Er muss sich mit dir gut verstehen. Ihr habt keine Zeit, wochenlang umeinander herumzuschleichen. Unsere Feinde schlafen nicht. Es wäre mir sehr lieb, wenn sie wissen, dass du nicht allein bist.«

»Ich bin ziemlich stark«, sagte ich.

»Du bist verletzlich, Kiara. Nicolas muss dein Freund sein, sonst ist es für die anderen nicht nachvollziehbar, warum er Tag und Nacht bei dir ist.«

Hatte ich richtig gehört? »Mein Freund? Du meinst, mein richtiger Freund?«

»Jedenfalls soll es für die anderen danach aussehen, wenn es dir lieber ist, die Sache so zu betrachten.«

»Aber …« Warum überraschte es mich eigentlich noch, was Mercier sich ausdachte? Ich hätte mittlerweile auf alles vorbereitet sein müssen. »Ich war damit einverstanden, dass er mein Leibwächter ist. Und meine Katze. Aber das geht zu weit!«

»Kiara … meine Königin. Nicolas muss in deiner Nähe sein, um dich beschützen zu können. Und das geht nun mal am besten, wenn alle ihn für deinen Freund halten. Muss ich das wirklich erklären? Es ist nur ein Spiel, eine Inszenierung für dein Umfeld. Bisher schlägst du dich doch hervorragend.«

»Etienne, da mache ich nicht mit.«

Es kam mir immer noch komisch vor, meinen Lehrer, diesen grauhaarigen älteren Herrn, mit dem Vornamen anzureden. Noch komischer fühlte es sich an, seine Königin zu sein. Nach diesem Sommer in Prag war nichts mehr, wie es gewesen war. Hier im Musikzimmer des Professors hatte es angefangen: Ich hatte ihn dabei überrascht, als er sich in eine Elster verwandelt hatte. In dieser Wohnung hatte er mir eröffnet, dass ich zu den Wandlern gehörte und kein richtiger Mensch war. Auch wenn unser Volk seit vielen tausend Jahren in dieser Welt lebte und sich seitdem mit den Menschen vermischt hatte, hatten wir ihnen eine entscheidende Eigenschaft voraus: Wir konnten uns in Tiere verwandeln. Die meisten nur in ein einziges, das sie in sich finden mussten, andere, die zum Kreis der Krieger oder Ratgeber gehörten, konnten sich ihre Tiergestalt frei wählen und hatten, je nach der Stärke ihres Wandlererbes, mehrere Tiere zur Verfügung. Nur unter großen Schwierigkeiten und mit der Unterstützung eines mürrischen Franzosen hatte ich herausgefunden, dass mir die Gestalt eines Roten Milans gegeben war. Doch zur Überraschung aller hatte ich noch viel mehr in mir entdeckt, ein Talent zur Verwandlung, das seinesgleichen suchte. Dieses Talent machte mich zur Königin des Schlangenclans, der einen Hälfte meines Volkes, obwohl ich von der Seite meiner Mutter her auch zum Clan der Skorpione gehörte, den erbitterten Feinden der Schlangen. Es war nicht ganz einfach, ein Wandler zu sein, und noch schwieriger, immer mit einem geteilten Herzen zu leben. Schlange und Skorpion. Ich war der einzige Mischling, den es gab, aber das wussten nur die allerwenigsten. In meinem Clan hatten nur ein paar Eminenzen etwas davon mitbekommen, das einfache Volk ahnte nichts davon. Sonst hätte es mich wohl kaum so begeistert als seine Königin begrüßt.

»Alec sieht überall Gespenster«, meinte ich. »Ich halte es nicht für nötig, dass wir uns so schnell näherkommen. Meine Eltern wären sehr überrascht, wenn ich plötzlich einen Freund hätte.«

Noch viel überraschter wären sie gewesen, wenn sie gewusst hätten, was ich da in Prag angefangen hatte – eine sehr geheime und sehr gefährliche Beziehung. Mit Alec befreundet zu sein, würde mein Geheimnis sogar schützen helfen. Dass ich mich verändert hatte, fiel allen auf, die mich kannten, und ein attraktiver Freund würde zumindest mein gestiegenes Selbstbewusstsein und mein mangelndes Interesse an anderen Jungs erklären.

Trotzdem konnte ich nicht zustimmen. »Kann er nicht einfach nur mein Kumpel sein?«

Mercier hob die Brauen. »Und wie glaubwürdig wäre das?«

»Er könnte sich als schwul ausgeben.« Das war doch mal eine gute Idee. »Mein schwuler bester Freund – das ist glaubwürdig. Der mit mir shoppen geht, mit mir zusammen meine Freundinnen besucht … Oh Gott, das würde Franzi das Herz brechen.«

»Nein.«

»Nein? Nicht gut? Warum muss eigentlich immer ich Opfer bringen, und nicht Alec?«

»Du hast keine Ahnung von den Opfern, die Nicolas bereits für dich gebracht hat. Kiara, begreifst du nicht? Du kannst kein normales Leben führen, und du darfst auch keinen Freund unter den Menschen haben. Es wäre unglaublich selbstsüchtig, einen gewöhnlichen Jungen mit in diese Geschichte hineinzuziehen. Je früher deine Mitschüler und deine Freunde glauben, dass du in festen Händen bist, umso besser. Kannst du nicht einfach damit anfangen, dich erwachsen zu benehmen?«

»Wenn das bedeuten soll, dass ich eine Beziehung mit Alec vortäusche – nein. Das ist mein letztes Wort.«

Wie sollte man Verliebtheit vortäuschen, ohne sich in Gegenwart anderer zu berühren? Wer würde uns glauben, dass wir zusammen waren, wenn ich immer einen Sicherheitsabstand einhielt?

Mercier seufzte. »Dann kommen wir zum nächsten Punkt: der Skorpionkönig.«

Ich hob den Kopf. »Ja, was ist mit ihm?«

»Ich habe dir erzählt, dass die Skorpione ihren Kampf gegen die Menschheit aufnehmen werden, sobald sie ihren Anführer gefunden haben. Das hast du hoffentlich nicht vergessen.«

»Wie könnte ich.« Schließlich hatte ich den Skorpionkönig verraten sollen. Und hatte versagt. Nun ja, je nachdem, wie man es betrachtete.

»Wir haben erfahren, dass sie bereits Pläne entwickeln.«

»Woher weißt du das?«, fragte ich erschrocken. »Haben wir noch mehr Spione im Palais? Ich dachte, das ist unmöglich, so verschwenderisch, wie sie dort mit Gift umgehen.« Alle Skorpione im Hauptquartier tranken regelmäßig ein bestimmtes Gift, das ihnen sogar schmeckte, eine Schlange jedoch unverzüglich unter die Erde gebracht hätte.

Etienne schien zu überlegen, wie viel er mir anvertrauen sollte. »Es gibt noch andere Orte, an denen Skorpione zusammenkommen. Sie haben weltweit einige wichtige Zentralen, in denen die Kontrollen wesentlich laxer gehandhabt werden. Wir haben ein Netz von Agenten, die uns über alle wichtigen Beschlüsse unserer Feinde in Kenntnis setzen.«

»Die Skorpione haben also etwas beschlossen?«

»Die Informationen sind noch recht vage, aber irgendetwas ist da im Busch … Wir müssen handeln, Kiara, bevor etwas Schlimmes geschieht. Der Clan der Schlangen hat sich dazu verpflichtet, die Menschen zu schützen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass wir Wandler unerkannt und in Frieden leben können.« Etienne rieb sich das Kinn, als würde er an einem unsichtbaren Bart zupfen. »Du kennst immer noch nicht die ganze Geschichte.«

»Welche Geschichte?«

»Leg die Geige hin und setz dich. Es gibt ein paar Dinge, die du wissen musst.«

Ich nahm auf dem Sofa Platz und verschränkte die Finger über meinen Knien. Mein Herz begann wild zu klopfen. Welche Enthüllung erwartete mich hier?

»Ich habe dir erzählt, wie die Wandler in diese Welt gerieten, weißt du noch?«

»Ja, natürlich. Unsere Vorfahren sind vor ein paar tausend Jahren aus Wint Alamar gekommen. Aus einer Welt, in der Magie möglich ist.«

»Es war alles so neu für dich, es gab so viel anderes, mit dem du fertig werden musstest, daher habe ich dir nicht die ganze Wahrheit erzählt. Die Wandler, die in diese Welt gelangten, waren auf der Flucht.«

»Ja, das hast du erwähnt.«

»Hinter ihnen war etwas her, etwas unvorstellbar Böses und Gefährliches. Der Prinz und seine Getreuen wurden von einem Wesen gejagt, das selbst die besten und stärksten Wandler in Furcht und Schrecken versetzte, etwas, dem sich nicht einmal der Prinz entgegenzustellen wagte. Für dieses Wesen sind mehrere Namen überliefert. Manche nennen es den Wolf der Nacht, andere den Wanderer.«

Ich hätte nicht einmal sagen können, ob ich diese allzu märchenhafte Geschichte glaubte, aber etwas daran ließ mich schaudern und verursachte mir Gänsehaut. »Das heißt, wir können niemals zurück nach Wint Alamar, weil dieses Ding dort auf uns wartet?«

Ich kannte Etienne Mercier fast mein ganzes Leben, aber selten hatte er so erschöpft ausgesehen. Er strich sich die kurzen Haare aus der Stirn und seufzte. »Schlimmer. Viel schlimmer. Der Wanderer kam mit uns durch die Tür. Er ist hier. Er ist mitten unter uns. Ich gebe zu, dafür gibt es keinen Beweis. Niemand hat ihn je gesehen, niemand weiß, woran man ihn erkennen könnte. Aber es gibt genug Hinweise. Ich glaube, dass er der wahre Grund für die Entzweiung unseres Volkes ist, dass er uns gegeneinander aufgehetzt hat. Er hätte uns längst vernichten können, doch er genießt es, mit uns zu spielen und dafür zu sorgen, dass wir das gegenseitig erledigen. Ich glaube, Kiara, und mit dieser Meinung stehe ich nicht alleine da, dass er die Skorpione unterwandert hat, dass der Skorpionclan mit seinem Gift durchsetzt ist. Der Wolf der Nacht ist für ihre Stärke und ihre Aggressivität verantwortlich. Wir reden nicht gern darüber, und die meisten würden es abstreiten und behaupten, der Feind sei in Wint Alamar geblieben. Doch ich denke, dass wir sein Handeln nie so deutlich erkennen konnten wie jetzt. Das führt mich zu der Annahme, dass der Skorpionkönig seine Macht dem Wanderer verdankt. Dass er möglicherweise sogar der Wanderer ist.«

Meine Gedanken wurden zu Eis. Sie wollten davonflattern wie aufgescheuchte Schmetterlinge, doch ihre gefrorenen Flügel zerbrachen.

Jacques.

Jacques und die Dunkelheit seiner Augen, die nicht von dieser Welt stammen konnte.

War er der Feind? Hatte ich schon immer den Feind geliebt?

»Wir müssen den Skorpionkönig töten«, sagte Etienne. »Endlich hat der Wanderer eine Gestalt, die wir kennen. Vielleicht ist er zum ersten Mal in unserer langen Geschichte verletzlich, weil er sich ein Gesicht gegeben hat.«

Ich fand keine Worte. Ich dachte nur: Er muss sich irren, er muss sich irren. »Du hast gesagt, dafür gibt es keine Beweise«, brachte ich schließlich heraus.

Jacques, der sterben wollte. Jacques, der zu viel über seine eigene Finsternis wusste, der sich davor fürchtete. Vor seiner Macht, vor dem, was er in sich trug. War es der Wanderer, der Wolf der Nacht? Die Bestie, die unser ganzes Volk vernichten wollte?

»Dies ist eins der Dinge, für die es niemals einen Beweis geben kann. Der Wanderer ist uns durch die Tore der Nacht gefolgt, still wie unser Schatten, und er wird seine Identität nicht preisgeben. Wir können ihn nicht an seinen Worten erkennen, nur an seinen Taten. Und manch einer kann es möglicherweise fühlen … obwohl andere Eminenzen das für Unsinn halten, wie ich dir ganz offen sage. Doch ich glaube an das besondere Talent der Sucher, und als Sucher kann ich so einiges wahrnehmen, das begabteren und stärkeren Wandlern verborgen bleibt.«

»Und jetzt?«, fragte ich benommen, aber ich dachte: Nein. Nein, nein, nein.

»Ich wollte mit dir darüber sprechen, weil es für uns schwierig ist, den jungen König und sein Können richtig einzuschätzen. Wenn er sich und seine unendliche Macht an eine sterbliche Gestalt gebunden hat, gibt es Grenzen für ihn.«

Es gibt keine Grenzen für mich. Jacques’ Stimme hallte in mir nach. Ich habe nirgends eine Grenze gefunden.

Ich schluckte. »Was willst du denn wissen?«

Mercier begann durchs Zimmer zu wandern, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Schließlich blieb er wieder vor mir stehen. »Mit deiner Erlaubnis würde ich gerne auf dich schießen lassen.«

»Was?« Ich schnappte nach Luft.

»Wir wissen so gut wie nichts über den Skorpionkönig. Keiner von uns hat ihn je kämpfen sehen. Ist er schnell, ist er stark, über welche Verwandlungen verfügt er? Wir haben nur das, was du uns erzählt hast – dass er ein riesiger Skorpion geworden ist, der bis an die Decke reichte.«

»Und das in einem sehr großen, hohen Saal«, ergänzte ich.

»Eine Kugel würde so einen Panzer sicher nicht durchdringen können, und mit schwereren Geschützen aufzufahren, ist mitten in der Stadt schlecht möglich. Nicht, wenn kein Mensch etwas mitbekommen soll. Wir müssen Jacques Delon kriegen, wenn er in seiner menschlichen Gestalt unterwegs ist.«

»Ihr wollt ins Palais eindringen?« Mein Herz klopfte heftig, ein vertrautes Brennen überzog meine Haut. Kampfbereitschaft.

Was auch immer in Jacques verborgen war, er selbst wusste nichts davon, und in diesem Moment schwor ich mir, dass er niemals etwas davon erfahren sollte. Hatte er den Wanderer wirklich in sich? Wohnte eine fremde, Tausende von Jahren alte Macht in ihm, die sämtliche Wandler vernichten wollte? Selbst wenn es so war, Jacques würde weder absichtlich den Menschen schaden noch unserem Volk, sonst hätte er nicht den Entschluss gefasst, lieber zu sterben, als sein Schicksal anzunehmen. Sobald er sich selbst für eine Gefahr hielt, würde er den Tod wählen.

Das durfte nie, niemals geschehen.

»Wir haben das Gebäude beobachtet. Nahezu jeden Tag gegen achtzehn Uhr verlässt Delon das Haus und geht in die Stadt. Ohne Leibwächter.«

»Ach?«

»Ja, regelmäßig wie ein Uhrwerk. Und er ist immer allein. Er geht zur U-Bahn-Station am Museum, fährt mit der Metro in einen Vorort und besucht dort ein Fitnessstudio.«

Ich war überrascht. »Er trainiert?«

Etienne lächelte. »Ich weiß, das ist erstaunlich. So menschlich, nicht? Irgendwo auf dem Weg dorthin müssen wir ihn erwischen, spätestens im Studio.«

»Ihr wollt ihn also erschießen, während er ein Mensch ist.« Mein Herz trommelte wild, nur mit Mühe bezwang ich es, verurteilte mich dazu, ruhig zuzuhören. Ich musste jedes Detail des geplanten Anschlags in Erfahrung bringen. »Das klingt … hinterhältig.«

Er seufzte. »Ich habe mir schon gedacht, dass du das nicht verstehen wirst. Du denkst wie eine sechzehnjährige Schülerin. Hast du das Wesentliche immer noch nicht begriffen? Wenn Delon der Wanderer ist, dürfen wir nicht einfach einen Jungen in ihm sehen. Dann ist er wie eine Raupe, die sich noch verpuppen muss. Wir müssen die Raupe zertreten, bevor sie ihre Verwandlung vollendet.«

Ich hatte verstanden, mehr, als ich jemals verstehen wollte. Ich begriff sogar, warum er das tun wollte, er, der Lehrer, der tagtäglich mit jungen Menschen Zeit verbrachte, der sich nicht nur mit ihrem Geigenspiel, sondern mit ihren Sorgen und Problemen beschäftigte.

»Zurzeit seid ihr ungefähr gleich stark. Auf der einen Seite ist Jacques Delon bloß ein junger Mann aus dem Königskreis, der außergewöhnlich begabt ist. Auf der anderen Seite … Ich weiß nicht, ob du es fühlen kannst, da du keine Sucherin bist, aber die meisten anderen Sucher, mit denen ich über ihn gesprochen habe, sind davon überzeugt, dass er weder ein Mensch noch ein richtiger Wandler ist. Da ist etwas an ihm, etwas Unbeschreibliches, das sich niemand erklären kann, das wir nicht einmal bei einem König erwartet haben.«

Ich wusste genau, was er meinte. Ich hatte die Dunkelheit wie einen Strom von ihm ausgehen sehen, eine Macht, die imstande war, das Gefüge des Universums zu erschüttern.

»Vom Ende der Welt zu sprechen mag übertrieben klingen, aber ich befürchte, dass uns genau das bevorsteht, wenn wir dem Wanderer die Zeit geben, seine Macht im Körper des Skorpionkönigs auszubauen.«

Ich wollte Einwände erheben und stammelte doch nur irgendetwas Sinnloses.

»Es muss jetzt geschehen«, sagte Etienne unerbittlich. »Und er muss auf der Stelle tot sein, ansonsten erwartet uns das Chaos, wenn er sich in die stärkste Gestalt verwandelt, die er hat. Ein Riesenskorpion, der durch Prag wütet? Das willst du dir nicht vorstellen. Meine Frage an dich ist: Wie schnell ist er? Kann er die Kugel fliegen sehen und sich verwandeln? Ein Geräusch hören, Verdacht schöpfen und sich verwandeln? Den Schmerz spüren und sich verwandeln? Wie viele Sekunden haben wir, um ihn umzubringen?«

»Und das willst du an mir testen?«, fragte ich ungläubig, während die Gedanken wild in meinem Kopf tanzten. »Du willst mich erschießen?«

»Wir müssen deine Reaktionsgeschwindigkeit testen, Kiara. Wir haben nur sehr wenige Erkenntnisse über echte Könige, und noch weniger wissen wir über den Wanderer. Ich könnte mir vorstellen, dass du und Jacques Delon im Moment noch ähnliche Kräfte besitzt. So wie eure Urahnen, die Königsbrüder, gleich stark waren. Vielleicht kann es nicht einen König allein geben, sondern immer nur zwei, in diesem Fall ihn und dich. Nach dem, was du uns erzählt hast, kann er sich in einen kleinen Skorpion und einen großen verwandeln. So ähnlich wie bei dir: Du warst Medusa und die fliegende Schlange. Es ist wie bei allen Königen, die Talent haben, die Verwandlungen haben einen gemeinsamen Nenner. Von daher hoffe ich, dass wir auch in anderen Angelegenheiten von dir auf ihn schließen können.«

»Du willst auf mich schießen«, wiederholte ich dumpf.

»Nicht ich. Dafür habe ich jemanden zur Hand.«

»Doch nicht Alec?«

»Nein, Kiara, für solche Dinge haben wir unsere Leute.«

Mir wurde kalt. Und heiß. Ich dachte: Wie kann er das sagen? Wie kann er?

Und ich dachte an Jacques und seine Dunkelheit.

Aber ich schwieg. Ich machte gute Miene zum bösen Spiel. Ich hatte nicht vor, Etienne zu widersprechen, denn er sollte mir alles verraten, alles.

»Wir müssen den Test draußen durchführen«, sagte er. »Im Wald, wo uns niemand sieht.« Er griff zum Telefon und wählte, legte aber auf, bevor jemand rangehen konnte. »Das war das Zeichen, dass wir die verabredete Zeit einhalten werden. Man wird mit einer Farbpatrone auf dich zielen, also mach dir keine Sorgen. Das gibt höchstens ein paar blaue Flecken.« Aufmunternd legte der Professor mir die Hand auf die Schulter. »Kiara, bitte. Wenn wir uns irren und einen Fehler machen, könnte das mehr als einen Menschen das Leben kosten. Willst du wirklich, dass wir ein Ungeheuer aufwecken, das nicht nur unseren Agenten verschlingt, sondern womöglich echten Schaden anrichtet? Werd erwachsen, ich flehe dich an. Wir spielen hier nicht.«

»Ich weiß«, flüsterte ich.

Wellen der Wut flackerten über meine Haut. Wie schnell konnte man sich verwandeln, wenn man wütend war? Schnell, sehr schnell. Ich könnte ihm seinen Kopf abbeißen und er würde nichts merken. Und dann, den Mund voller Blut, würde ich das Monster sein, das eine ganze Stadt unsicher machte. Ich war dem Skorpionkönig viel, viel ähnlicher, als mein alter Lehrer wusste. Jacques hatte sich längst verpuppt. Sein Potential war größer, als irgendjemand ahnte, und meins auch. Skorpione in verschiedenen Größen? Schlangen in verschiedenen Formen? Dass ich nicht lache.

Und der Wanderer? Was war mit dem Wanderer?

War es ein Fehler, dass ich um Jacques’ Leben gekämpft hatte? Und dass ich immer, immer für ihn kämpfen würde?

* * *

In Etiennes klapprigem Wagen fuhren wir hoch zum Gaisberg, der heute als Übungsplatz für einen Mord dienen sollte. Mein Geigenlehrer war eine der einflussreichsten Eminenzen des Clans, aber man sah ihm seine Macht und seinen Reichtum nicht an. Womöglich gab er sein ganzes Geld dafür aus, Attentäter anzuheuern.

Der kleine, drahtige Mann, den wir auf dem Parkplatz trafen, wirkte eher wie ein Jockey als wie ein Meuchelmörder. Sein freundliches Gesicht mit den hellen blauen Augen strahlte ruhige Gelassenheit aus. Eine Waffe konnte ich nirgends sehen.

»Das ist sie also«, sagte er zu Mercier, bevor er vor mir das Haupt neigte. Ich wusste nicht, ob das seine Anerkennung meiner Position als Königin sein sollte oder die Abbitte dafür, dass er auf mich schießen wollte.

Wie verhinderte man einen Mord? Indem man sich möglichst dumm und langsam stellte, um die Sache einfacher erscheinen zu lassen, als sie war? Oder sollte ich mich unbesiegbar geben, damit der Anschlag ganz abgeblasen wurde? Ich hatte nur noch wenige Augenblicke, um mich für eine Strategie zu entscheiden.

»Geh jetzt los«, sagte Mercier. »Versuch, den Turm zu erreichen.«

Er schickte mich in den Wald, ohne mir irgendetwas zu erklären. Und ohne Schutzweste. Würden es wirklich bloß Farbpatronen sein? Nicht einmal das wusste ich. Nur dass es mir kalt den Rücken hinunterlief, als ich den Wanderweg verließ und zwischen die Bäume trat. Zweige knackten unter meinen Schritten, Blätter raschelten. Die Schatten verwischten alles zu einem Durcheinander von Licht und Dunkelheit, rindenbraunen Stämmen und grünem Gestrüpp. Es roch intensiv nach Pilzen und feuchter Erde.

Ich lauschte. Nichts. Keine Schritte.

Der Mörder war ein Wandler. Natürlich. Er würde wahrscheinlich fliegen können und hatte das Gewehr irgendwo deponiert. Sobald ich in die Nähe seines Verstecks kam, würde er schießen. Vielleicht beobachtete er mich schon und wartete.

Ich sah mich um, konnte aber nichts Verdächtiges bemerken. Was war er – ein Insekt, ein Eichhörnchen? Am liebsten wäre ich einfach davongeflogen. Verdammt, warum musste ich dieses blödsinnige Spiel mitspielen?

Irgendwo hämmerte ein Specht. Ein zaghaftes Zwitschern antwortete hoch oben in den Wipfeln.

Ich rührte mich nicht von der Stelle, schloss die Augen und konzentrierte mich auf die Geräusche. Da, ein Knacken … Erschrocken schrie ich auf, als mich ein Schlag gegen den nächsten Baum schleuderte. Schmerzhaft schlug ich mit dem Kopf gegen den Stamm. Aber ich hielt meine Gestalt fest, obwohl der Schreck mich in etwas Größeres hineintreiben wollte, obwohl all meine Instinkte nach Kampf schrien.

Jemand stapfte durch den Wald auf mich zu. Nein, leider nicht der Fremde, auf den ich mich am liebsten gestürzt hätte. Es war Mercier.

»Kiara? Alles in Ordnung?«

Ich stöhnte, mir tat alles weh. Mit zusammengebissenen Zähnen zog ich meine Jacke aus, um sie mir anzusehen. Dort breitete sich ein roter Fleck aus, als hätte man mir tatsächlich in den Rücken geschossen.

»Hast du es kommen sehen?«, fragte Etienne begierig. »Hast du irgendetwas gemerkt, bevor du getroffen wurdest?«

»Nein. Das heißt, ja … Ich glaube, ich hab was gehört. Aber dann ging alles so schnell.« Vor Schreck war ich immer noch ganz benommen. »Und wenn das ins Auge gegangen wäre? Ich könnte blind sein!«

»Er trifft nie daneben.«

»Wer ist der Typ überhaupt?« Das Atmen fiel mir immer noch schwer, aber ich war stolz auf mich. Ich hatte mich nicht verwandelt! Hätte ich es geschafft, mich so diszipliniert zurückzuhalten, wenn ich nichts geahnt hätte? Wenn es ein echter Hinterhalt gewesen wäre und ich mich erschreckt hätte?

»Du musst nicht alles wissen, Kiara.«

»Muss ich nicht? Ich bin die Königin!«

»Nicht einmal die Königin muss jeden Namen kennen. So, das Ganze noch mal.«

»Wieso?«, fragte ich entsetzt.

»Du weißt jetzt, wie es sich anfühlt. Das nächste Mal bist du vielleicht schneller, um dem Schmerz auszuweichen. Du bist noch nicht mal in die Nähe des Turms gekommen!«

»Habt ihr nicht wenigstens eine Schutzweste für mich?«

»Das ist kein Spiel.« Wie ich diesen Satz hasste. »Alles, was du empfindest, ist wichtig für uns. In welche Verwandlung zieht es dich? Willst du klein werden und dich verstecken oder würdest du angreifen?«

Es war so verdammt unsinnig. »Ich bin nicht der Skorpionkönig! Ich fühle, was ich fühle. Du kannst von mir keine Rückschlüsse auf ihn ziehen.«

»Ich glaube doch«, meinte er. »Und jetzt weiter, wir haben nicht viel Zeit.«

Ich stolperte vorwärts, weiter über den weichen, knisternden Waldboden. Der Gedanke an Flucht war einfach zu verführerisch. Dummerweise wusste ich nicht, woher der Angriff kommen würde. Andererseits … hatte ich es nicht manchmal gespürt, wenn ein Wandler in der Nähe war? Da ich nichts zu verlieren hatte, blieb ich stehen, horchte, schloss die Augen und versuchte diesmal, mich auf die Gegenwart einer verwandelten Gestalt zu konzentrieren. War da nicht …?

Hinter mir, im Baum! Eine Präsenz, schattenhaft wie ein dunkler Fleck. Ich öffnete die Augen und spähte in alle Richtungen, wobei ich meinen Blick möglichst unauffällig auch über die Stelle wandern ließ, an der ich etwas wahrgenommen hatte.

Dort oben, in der Krone einer Edelkastanie, verborgen im bunten Laub. Nein, kein Eichhörnchen, das sich über die kugeligen Früchte hermachte. Eine Gestalt, die fast mit den Ästen verschmolz – ein Affe, der auf mich anlegte, verborgen im Schatten. Ein Affe! Am liebsten hätte ich laut aufgelacht. Stattdessen tat ich so, als hätte ich nichts bemerkt, und wandte mich wieder um. Es kribbelte in meinem Nacken, so unwohl war mir dabei, der Gefahr den Rücken zuzuwenden. Mich noch einmal abknallen zu lassen kam auf keinen Fall infrage.

Ohne Vorwarnung stürmte ich los, weiter bergauf, sprang über Brombeerranken und Wurzeln, brach wie ein Wildschwein durchs Unterholz.

Der Affe huschte hoch über mir von Baum zu Baum. Blieb ich stehen und horchte, tat er dasselbe. Es gelang mir immer besser, ihn wahrzunehmen, ich musste meine Aufmerksamkeit nicht einmal mehr bewusst auf ihn lenken. Mir wurde auch klar, dass ich diese Fähigkeit wohl schon immer besessen hatte – schon an jenem Tag, als ich die Elster erwischt hatte, hatte ich gespürt, dass jemand mich beobachtete. Ich hatte geahnt, dass mit ihr etwas nicht stimmte und dass noch ein zweites fremdes Wesen in der Nähe war. Vermutlich war das ein körperlicher Sinn, den ich trainieren konnte, denn in einer solchen Klarheit wie jetzt hatte ich die Gegenwart anderer Wandler noch nie empfunden. Von Minute zu Minute fiel es mir leichter, den Standpunkt des Affen auszumachen.