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Die Saga um Mino, Blitz und die Riesen geht weiter! Zukata, der grausame Riesenprinz, gibt sich noch lange nicht geschlagen. Neben der Kaiserwürde verfolgt er nun noch ein anderes Ziel: die Rache an Blitz, der seine Pläne vereitelt hat. Um Blitz an seiner empfindlichsten Stelle zu treffen, sät er die böse Saat von Gier und Machtgelüsten in Blitz' Heimat, den Glücklichen Inseln. Während er im Osten seine Herrschaft ausbaut, wächst auf der Insel Neiara ein ganz besonderes Kind heran, der einzige Gegner, der es mit Zukata aufnehmen kann: Sorayn, Blitz' Sohn. "Der Erbe des Riesen" ist der zweite Band der Fantasy-Trilogie "Sehnsucht nach Rinland", in der es um die Sehnsucht nach Heilung und Geborgenheit in Gott geht, um eine nicht auszulöschende Sehnsucht zwischen Pflicht und Ehrgeiz, Schuld und Hoffnung. Dazu bedient sich die Trilogie zahlreicher biblischer Motive.
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Seitenzahl: 894
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Lena Klassen
Band 2 der Trilogie „Sehnsucht nach Rinland“
Roman
Die Saga um Mino, Blitz und die Riesen geht weiter! Zukata, der grausame Riesenprinz, gibt sich noch lange nicht geschlagen. Neben der Kaiserwürde verfolgt er nun ein weiteres Ziel: die Rache an Blitz, der seine Pläne vereitelt hat. Um Blitz an seiner empfindlichsten Stelle zu treffen, sät Zukata die böse Saat von Gier und Machtgelüsten in Blitz‘ Heimat, auf den Glücklichen Inseln.
Doch während er im Osten seine Herrschaft ausbaut, wächst auf der Insel Neiara ein ganz besonderes Kind heran, der einzige Gegner, der es mit Zukata aufnehmen kann: Sorayn, Blitz‘ Sohn.
Der Erbe des Riesen ist der zweite Band der packenden Fantasy-Trilogie Sehnsucht nach Rinland.
Die weiße Möwe bildet den Auftakt; das letzte Buch dieser Serie ist Der Thron des Riesenkaisers.
„Sprachlich wunderschön.“ Titus Müller
„Ein Fantasy-Schinken der außergewöhnlich guten Art!“
„Wunderbar fesselnd geschrieben.“
„Die Story ist absolut filmreif, nie vorhersehbar, super interessante Charaktere und unglaublich spannend bis zur letzten Seite.“
„Mit dieser weißen Möwe fliegt man direkt ins Land der Fantasie und möchte nie mehr weg von diesem Ort.“
Lena Klassen lebt leider nicht auf einer Insel, braucht aber das Meer. Oder wenigstens einen Sturm und ein gutes Buch. Sie hat Literaturwissenschaft, Anglistik und Philosophie studiert und über phantastische Literatur promoviert. Mit ihrer Familie lebt sie in einem kleinen Haus mit großem Garten im ländlichen Westfalen.
Lena Klassen hat bereits zahlreiche Romane und Kinderbücher veröffentlicht. Im Neufeld Verlag erschien neben der Rinland-Trilogie auch der Roman Caros Lächeln.
www.lenaklassen.de
Dieses Buch als E-Book:ISBN 978-3-86256-767-6
Dieses Buch in gedruckter Form:ISBN 978-3-937896-67-0, Bestell-Nummer 588 667
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar
Umschlaggestaltung: spoon design, Olaf JohannsonUmschlagbilder: © ShutterStock®Satz: Neufeld Verlag
© 2008 Neufeld Verlag Schwarzenfeld
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Zu diesem Buch
Leserstimmen zur Rinland-Trilogie
Über die Autorin
Die Welt
Was bisher geschah
Die Personen dieser Geschichte
Zweites Buch: Der Erbe des Riesen
1. Das Glück der Inseln
2. Zu viele Geheimnisse
3. Keine Wahl
4. Dieses Mal
5. Ein besonderes Kind
6. Auf der Insel
7. Ilinias’ Schmerz
8. Blitz’ Schmerz
9. Prinzessin Sidini
10. Halb
11. Meine Hände
12. Im Wasser
13. Entdeckt
14. Die Brücke
15. Ich bin es
16. Der Wunsch zu versinken
17. Entfesselt
18. Möwe
19. Gejagt
20. Die Botschaft des Prinzen
21. Zu Hause
22. Mein Berg
23. König der Riesen
24. Zu den Menschen
25. Hier bin ich
26. Meerwasser
27. Der Erbe
28. Hirte des Volks
29. Sieg
30. Die letzte Kerze
Über den Verlag
Das Kaiserreich Deret-Aif steht im Mittelpunkt dieser Welt. Dreiundzwanzig Königreiche gehören dazu, von Salien im Norden bis zum Gebirge der Riesen im Süden. Zentral liegt das Königreich Aifa mit der Hauptstadt Kirifas. Hier herrscht der beliebte Kaiser Kanuna, ein Riese voller Weisheit, mit seiner zweiten Frau Fanes; hier wächst die junge Prinzessin Manina heran.
Im Osten grenzen Sandart und Yos an das gewaltige Reich, im Westen liegen die Glücklichen Inseln, Arima und Neiara. Von dort kommen das beste Obst, der beste Wein.
Über das Meer führt eine Brücke nach Rinland. Auf dem Meeresgrund steht Rin, der göttliche Riese, und hält mit seinen eigenen Händen die Brücke fest. Sie ist nicht zu sehen; erst in der Stunde des Todes findet sich jeder dort wieder, wo es gilt, den Fuß auf die Brücke zu setzen und den Weg nach Rinland zu gehen. Nur wer genug Hoffnung und Sehnsucht in sich trägt, kann über die schmale Brücke gehen, ohne abzustürzen.
Das 16-jährige Albinomädchen Mino und der dunkelhaarige Blitz, beide aus Arima, haben immer davon geträumt, gemeinsam durchs Kaiserreich zu reisen. Doch dann hindert Mino ihren besten Freund daran, auf das Schiff zu gehen, das in die andere Richtung fährt – auf der Suche nach Rinland. Wütend läuft Blitz von zu Hause fort und gerät unter die Räuber. Mino verschlägt es während eines Sturms ebenfalls auf das Festland, allerdings hat sie das Gedächtnis verloren und weiß nicht mehr, woher sie stammt. Sie wird von dem Wanderarzt Keta aufgelesen und mit auf seine Wanderungen genommen; Keta ist einer der ungeratenen Zwillingssöhne des Riesenkaisers Kanuna. Seit er sich durch List von seinem Vater segnen ließ, besitzt er heilende Hände, die er zum Wohl des Volkes benutzt.
Blitz wird unterdessen ein Mitglied der Räuberbande des älteren Riesenprinzen Zukata. Wie alle von Zukatas Männern wird er gebrandmarkt und kann daher nicht mehr fliehen, außerdem beeindruckt ihn Zukatas Persönlichkeit mehr und mehr. Als der räuberische Prinz erfährt, dass sein Vater mit seiner zweiten Frau ein Kind bekommen hat, reist er in die Hauptstadt und erfährt dort, dass der Segen längst seinem Bruder gehört. Wutentbrannt entführt er seine kleine Halbschwester Manina und flieht mit ihr ins Ausland; er will das Kind erst herausgeben, wenn er öffentlich zum Erben erklärt worden ist.
Keta und Mino machen sich zusammen mit ein paar Freunden (darunter der Junge Jamai aus dem Zinta-Volk) auf die Suche nach der entführten Prinzessin. Es gelingt ihnen, Zukatas neues Räuberlager zu finden. Nach einem Kampf der gleich starken Brüder einigen sie sich auf einen Austausch von Geiseln – für Manina soll Mino bei Zukata bleiben. Doch bevor es dazu kommt, nutzt Blitz Zukatas Abwesenheit aus und flieht mit dem Kind, um es selbst dem Kaiserpaar wiederzubringen. Auf seiner gefahrvollen Flucht – immer auf der Hut vor Zukata und seinen Männern – erfährt Blitz immer wieder unverhofft Hilfe von den Menschen. Aus einem Kloster nimmt er das Mädchen Ilinias mit, um als Familie unauffälliger reisen zu können, und verliebt sich in sie. Als er schließlich in der Stadt des Kaisers anlangt, ist er bereits verheiratet. Hier trifft er endlich Mino wieder, die Zukata zusammen mit Jamai und dem Zwerg Kroa von Blitz’ Spur abgebracht und schließlich sogar gefangen genommen hat, um Maninas Rückkehr zu ermöglichen. Jetzt endlich erlangt sie auch ihr Gedächtnis wieder und findet den Mut, ihm ihre Liebe zu gestehen, leider zu spät.
Bevor alle auseinandergehen, trifft ein weißer Vogel mit einem Brief aus Rinland ein – das Schiff ist tatsächlich auf der paradiesischen Insel angekommen.
A H I N E H L: bedeutungsvolles Kosewort, »der von allen am meisten Geliebte«
A L I K A: eine Kriegerin, die auf Arima lebt und Unkraut jätet, mit Blitz’ Bruder verheiratet
A L I O S: ein Schmied auf der Insel Neiara
B I N A J A T J A: die Besitzerin der Obstplantagen auf der Insel Arima, Minos Mutter
B L I T Z: stammt von der Insel Arima, hat eine Zeitlang unter Zukatas Räubern gelebt und ist jetzt der Erzieher der Prinzessin Manina
E LJ A T I: Blitz’ älterer Bruder, lebt auf Arima
E R I O N: der Sohn des Weinfürsten von Neiara, ein verwöhnter Junge, Spitzname »Blöd«
F A N E S: die Kaiserin von Deret-Aif, eine Riesin
F R I A: eine blonde Riesin aus den Bergen
F R E T: Frias Bruder, aufgrund seiner Stärke der König der Riesen
H Ü R T I: der König von Yos
I L I N I A S: Blitz’ Frau, hat ihre Kindheit im Kloster verbracht, bevor sie von Blitz entführt wurde, kämpferisch und atemberaubend schön
J A M A I: ein Mann aus dem Volk der Zintas, früherer Weggefährte von Mino
K A N U N AE LS C H A T T I K– ein Riese, der mächtige Kaiser von Deret-Aif
K E L O N: der Verwalter des Weinfürsten von Neiara
K E T A: auch Remanaine genannt, ein Riese mit heilenden Händen, der zweitälteste Sohn des Kaisers und seiner verstorbenen Frau Vinja
K R O A: ein Zwerg, der vor Jahren entscheidend zu Maninas Rettung beitrug
L I A D E T T: eine hübsche kleine Gräfin mit losem Mundwerk
L I R A V A H: die alte Lehrerin von Blitz und Mino
M A J A: Minos Tochter, ein Mädchen mit Mut und Musikalität
M A N I N A: die Tochter des Kaiserpaars und trotzdem ein Mensch. Eine Prinzessin durch und durch
M I N O: auch Möwe genannt. Als sie ihr Gedächtnis verloren hatte, zog sie ein paar Jahre mit Keta durchs Land. Unsterblich in Blitz verliebt
M O N T A: der Arzt der Fürstenfamilie von Neiara
N O R H A: der Bruder des Weinfürsten von Neiara, wird als Verwalter auf Arima eingestellt
R I B A: eine Riesin im Gebirge
R I N: erschuf die Welt und hält die Brücke
R U G A N: ist Arzt im Palast des Kaisers, weiß auch nicht alles
S A R I K A: eine Amazone aus Salien, Leibwächterin des Kaisers
S E T T A N: ein Räuber, Zukatas rechte Hand
S I D I N I: die Tochter des Königs von Yos, schon fast zu alt zum Heiraten
S O R A Y N: ein bemerkenswertes Kind, der Einzigartige
T A M A I T: der Sohn von Alika und El Jati
T I N E K: die Weinfürstin von Neiara
T O R I S: ein Mann aus dem Zinta-Volk; mit ihm tröstete Mino sich über Blitz’ Heirat hinweg
V A R I T I: Ketas Frau, gehört zum Volk der Zintas
W E R I E: Hebamme auf Arima, lässt sich nicht gerne helfen
W E R S O M: der König von Sandart
W I K A N T: der Weinfürst von Neiara
Y E R S: ein alter Fischer auf Arima
Z U K A T A: der älteste Sohn des Kaisers, ein gewalttätiger Räuber mit großen Träumen
Irgendwo dort liegt die Insel der Träume,Umgeben von tosenden Wogen.Goldweiß des Strandes und Nachtgrün der BäumeVerschmelzen zum flammenden Bogen.
Wer ihn durchschreitet, dem öffnen sich PfortenZu frühlingsbunt blühenden Gärten,Kleepfade führen zu sommernden Orten,Die warme Vertrautheit bewahrten.
Berge erheben sich uralt und dunkel,Und Bäche wie Silber und PerlenSpielen zu Tale, umsäumt vom GefunkelDes Taus auf den Blättern der Erlen.
Manche schon segelten mutig durch Meere,Ersehnten, was alle besingen;Einige baten den Wind, sie trotz SchwereZu jener Insel zu bringen.
Wer ging schon fort ohne Angst, denn so viele,Die kehrten nach Hause, zerschlagen.Wenige kamen ans Ziel aller Ziele,Der Wind kann nur Seeschwalben tragen.
Ich aber stehe im Hafen und lauscheDem Ungestüm schäumender Fluten,Während dort oben Bergbäche rauschenIn rotgoldnen Sonnenlichtgluten.
Liebster, wir machen uns gischtweiße SchwingenUnd trotzen dem Sturm und den Wellen.Lass uns den Traum aller Träume erringen,Den Trank aus den ewigen Quellen.
» D I EG L Ü C K L I C H E NI N S E L N « ,sagte der Kapitän. »Obst und Wein. Etwas Besseres findet Ihr nirgends.«
Zukata knurrte nur. Aus dieser Entfernung sahen die Inseln nicht bemerkenswert glücklich aus. Sie waren nichts als zwei blasse, farblose Erhebungen am Horizont. Von hier aus machte es keinen Unterschied, ob sie grün und fruchtbar waren oder schwarz und verbrannt.
»Welche Insel ist es?«, fragte er.
»Die rechte«, antwortete der Kapitän. »Das ist Arima.«
Man konnte jetzt die Steilküste auf der einen Seite erkennen; zur anderen Seite hin lief die Insel flach aus. Dort duckte sich eine Siedlung hinter die Dünen, im Hafen lagen einige kleine Segelschiffe und Boote vor Anker.
»Wir werden sie verbrennen, bevor sie wissen, was geschieht«, zischte Settan. »Wir werden über sie kommen, über die kleinen, dummen Fischer und Gärtner. Dann wird es dir wieder besser gehen, Herr.«
Zukata wandte ihm sein finsteres Gesicht zu. »Was weißt du davon, wie es mir geht? Was willst du davon wissen?«
»Ich … Herr, ich dachte nur …«
»Ich will an Land gehen«, bestimmte Zukata. »Aber nicht im Hafen. Und niemand unternimmt irgendetwas, bevor ich es sage.«
»Wir können ein Boot hinunterlassen …«
Auch den Kapitän der Perlentaucher brachte ein einziger Blick des Riesen zum Schweigen. Da er sich nicht auf die Rolle eines bloßen Befehlsempfängers reduzieren lassen wollte, und um den Respekt seiner Mannschaft nicht zu verlieren, tat er regelmäßig seine Meinung kund und bereute es jedes Mal wieder. In diesen Tagen gehörte Mut dazu, sich in Zukatas Nähe aufzuhalten.
»Ähm, dann – wie Ihr wollt …« Er entfernte sich schleunigst. Settan hielt treu aus. Ihn schickten die Räuber zu Zukata, wenn sie wissen wollten, wie es weiterging. Sie freuten sich schon darauf, nach dieser nervenzermürbenden Schiffsfahrt wieder festen Boden unter den Füßen zu haben und ihren Frust auf der Insel dort an den harmlosen Leuten auszulassen. Lange genug hatten sie auf engstem Raum miteinander ausgeharrt. Sie waren wie Jagdhunde, die darauf brannten, von der Kette gelassen zu werden. Und er würde sie jetzt bald loslassen, er würde sie auf seine Feinde hetzen.
Unter Zukatas grimmigem Blick wurde Settan klein. »Herr, ich dachte …«
»Ihr bleibt hier!«, befahl Zukata. »Kommt den Inseln nicht näher. Gebt den anderen Schiffen Bescheid!«
Er brauchte kein Ruderboot, um zu der Insel überzusetzen. In der Tat hatte der Plan, den er mit seinen Männern abgesprochen hatte, anders ausgesehen. Er hatte ihnen versprochen, mit drei Schiffen gleichzeitig anzulegen und das Werk der Verwüstung zu beginnen, während das vierte Schiff etwas weiter draußen blieb und darauf achtete, dass niemand entkam. Warum er ihnen jetzt befahl zu warten, warum er ins Wasser sprang und nach Arima schwamm, erklärte er keinem von ihnen. Ohne weiteres mutete er seinen Männern den Verzicht auf den ersehnten Landgang zu. Ob diese Insel zerstört wurde oder nicht und wann das geschah, entschied immer noch er.
Die Unruhe, die seinen ganzen Körper erfüllte, legte sich im kalten Wasser ein wenig. Auch er war zu lange auf diesem Schiff gewesen, statt schnellen Schritts durch die Wälder zu marschieren. Es tat gut, den Kampf gegen die Wellen aufzunehmen. Grün. Ja, er konnte jetzt sehen, wie grün sie war. Ein riesiger Garten, eine Perle mitten im Meer. Das war also der Ort, an den Blitz sich zurückgesehnt hatte, während sie miteinander unterwegs gewesen waren. Das hier war Blitz’ Heimat, das war der Ort, der seine Erinnerungen nährte, der ihm von weitem Kraft gab. Zukata hatte geschworen, Blitz zu verschonen, diesen kleinen Verräter, der ihn so enttäuscht hatte, aber er hatte nicht versprochen, ihn gänzlich unbehelligt zu lassen. Es gab auch andere Möglichkeiten, jemanden zu vernichten, ohne Hand an ihn zu legen. Irgendwann würde der Tag kommen, an dem Blitz nach ihm suchte, um ihn zu bitten, sein Leben zu nehmen statt das der anderen. Es würde ein Tag kommen, herrlich und grün, ein Tag, an dem Blitz vor ihn hingekrochen kommen würde, um ihn anzuflehen, die Strafe endlich zu vollziehen.
Dies war der Beginn. Er würde Arima zerstören, und was nützte es Blitz dann, dass er in Kirifas am Kaiserhof lebte und dort jedermanns Liebling war? Ein Hund, dem sie den Kopf tätschelten, weil er so brav gewesen war. Der Kaiser und die Kaiserin fütterten ihn, sie ließen ihn mit ihrer kleinen Tochter spielen, die Blitz aus Zukatas Händen gerissen hatte. Blitz lebte nun in diesem Schloss, das Zukata ihm als seinem Ziehsohn hatte öffnen wollen, lebte dort ohne ihn, dort, wo sie alle über den betrogenen Prinzen lachten.
Seine Füße fühlten Grund. Wütend schritt er den Strand hinauf, der an dieser Stelle steinig und menschenleer vor ihm lag. Zornig stapfte er auf all das herrliche Grün zu, auf diesen Garten im Meer, wo man Verräter aufzog, wo sie gediehen und gesund und stark wurden, um ihr elendes Werk zu beginnen.
Er drehte sich um und sah seine Schiffe weit draußen kreuzen. Blitz hatte sich mit dem Falschen angelegt. Überall im ganzen Kaiserreich hatte Zukata seine Leute. Diese Schiffe, die er zu seiner Zeit als Pirat gekapert hatte, waren jahrelang für ihn zur See gefahren. Einen Anteil der Beute hatten die Kapitäne stets für ihn zur Seite gelegt – keiner wagte je, ihn zu betrügen –, und niemand hatte Verwunderung geäußert, als er sie wieder in seinen Dienst gerufen hatte. In Jolis hatte er sie gefunden, dort, wo die Piraten ganze Dörfer ihr Eigen nannten, geduldet von einem König, der blind tat, nachdem er einmal gehörig erschreckt worden war. Man musste nur wissen, wie man mit den Leuten umzugehen hatte. Manche reagierten auf die Verlockung des Goldes besser als auf jede Drohung. Manche wurden empfindlich, wenn man auf ihre Familie zu sprechen kam. Aber irgendwann gehörten sie ihm alle. Alle ohne Ausnahme.
Er wandte sich dem felsigen Strandabschnitt zu, der zwischen großen Steinen in einen Wald überging. Dort ging es zum Steilhang hinauf, in der anderen Richtung lagen der Hafen und die Fischerdörfer.
Zukata hatte nicht damit gerechnet, einen so schönen Wald auf dieser kleinen Insel zu finden, große Bäume, die dem Wind trotzten, nicht nur verkrüppelte Kiefern, sondern hohe, schlanke Laubbäume mit grünen Blättern in allen Schattierungen. Es war hier wärmer als draußen auf dem Meer, seine Kleider trockneten schon an seinem Körper. In der Sonne wuchsen die Plantagen, gezähmte Bäume, die Frucht liefern mussten. Aber es war der wilde Wald, den er liebte, nicht diese beschnittenen Apfelbäume. Die weitverzweigten Stämme und das Dickicht darunter, das sich an die Hosenbeine heftete wie ein bissiger Hund.
Ich bin nicht zahm.
Hatte Blitz das gesagt? Immer hatte er darauf bestanden, dass er anders war als die anderen Räuber, anders als die Männer, auf die Zukata sich verließ.
Der Hang wurde steiler. Von hier aus hatte er einen grandiosen Blick auf das Meer. Die Küste von Drian war nicht zu sehen, aber sehr weit weg konnte sie nicht sein. Dort, auf dem offenen Meer, die Masten der Piratenschiffe. Und wenn er sich umdrehte, konnte er fast die halbe Insel überblicken, über Schafweiden – zunächst hielt er die weißen Flecken für Steine, bis er merkte, dass sie sich bewegten – und einen Teil der Obstgärten bis hin zu ein paar kleinen Dörfern, die sich an den Hang schmiegten.
Die salzige Seeluft füllte seine Lungen.
Und noch weiter hinten die schattenhaften Umrisse der anderen Insel. Neiara.
Er konnte es zerstören. Alles. Diese Insel, die zweite Insel, alles, was sich glücklich nannte und ihn dann verriet. Er dachte über seine Rache nach, aber unter dem blassblauen Himmel und dem ewigen Rauschen der Brandung fühlten sich diese Gedanken nicht mehr heiß und befriedigend an, sondern kühl und fremd. Er konnte es zerstören. Aber vielleicht, dachte er, und dieser neue Gedanke hatte etwas an sich, das ihm über alle Maßen gefiel, vielleicht wäre es noch besser, es zu besitzen.
Eine ganze Weile stand er da und bewegte einen neuen Plan in seinem Inneren. Ich bin nicht zahm, hatte Blitz gesagt, ich bin frei, in mir ist der Traum von den Inseln …
Es gab auch eine andere Möglichkeit, sich zu rächen. Eine viel subtilere, aber genauso wirksame Möglichkeit, Blitz den Boden unter den Füßen wegzureißen. Seinen Männern würde das nicht gefallen. Aber hatte er sich je darum geschert?
Man konnte kein Weingut besitzen, ohne sich für Wein zu interessieren. Wikant probierte den Wein nicht nur, er trank ihn. Den ganzen Becher. Es war sein dritter und bestimmt nicht der letzte. Tinek, seine Frau, öffnete den Mund, um ihm Vorwürfe zu machen – er wusste das, denn er war es gewöhnt –, aber zu seiner Überraschung besann sie sich mitten im Satz.
»Wikant, du solltest nicht …! Ich muss mit dir über Erion reden.«
»Über Blöd?«, fragte er.
»Nenn ihn nicht so!« Aber wenigstens fauchte sie nicht. Sie konnte es nicht leiden, wenn er ihren gemeinsamen Sohn so nannte, aber Erion war nun einmal blöd. Wikant fand, dass er als Vater das Recht hatte, die Dinge beim Namen zu nennen. Erion war in jeder Hinsicht eine Enttäuschung. Er interessierte sich nicht für den Weinanbau. Mittlerweile war er dreizehn und eigentlich alt genug, um in die Lehre zu gehen. Aber er benahm sich immer noch wie ein Kind, das keinerlei Verpflichtungen hatte. Weder interessierte er sich für die Traditionen der ältesten Familie von Neiara noch für sonst irgendetwas, das Wikant als sein Vater hätte fördern können. Er wollte Erion ja gar nicht in den Weinbau zwingen, jedenfalls noch nicht. Aber seinem Sohn zu erlauben, einfach in den Tag hinein zu leben, das ging ebenfalls nicht.
»Gut. Dann reden wir über Blöd.«
Tinek verzog das Gesicht, aber sie hatte wohl wirklich vor, ein ernsthaftes Gespräch zu führen, denn sie ließ sich nicht ablenken.
»Erion möchte Aufseher werden«, sagte sie. »Aber er muss doch erst einmal etwas lernen.«
»Wie kommt er bloß darauf?«, fragte Wikant. »Wie will er etwas beaufsichtigen, von dem er nichts versteht?«
»Er will einfach nur aufpassen, was andere tun.« Sie seufzte. »Wikant, ich glaube, es war ein Fehler, dass wir das Wort Weinfürst ans Gut schlagen ließen. Er ist irgendwie in dem Glauben aufgewachsen, er wäre der Sohn eines Fürsten.«
Wikant griff nach dem nächsten Becher. Er lachte. Nach Tineks ernsthaftem Beginn hatte er mit einer weitaus schlimmeren Nachricht gerechnet. »Lass ihn doch. Er ist ein Kind.« Es ärgerte ihn ja selbst, aber er wusste mittlerweile, dass mit dem Jungen nichts anzufangen war.
»Wikant, verstehst du nicht? Er will nichts lernen, weil er glaubt, er muss das alles nicht wissen! Das Einzige, was überhaupt in seinen Schädel hineingeht, sind diese ganzen königlichen Familien auf dem Festland. Er lernt die Namen von Königen auswendig! Von Herrschaftshäusern! Stammbäume fremder Familien!« Sie machte eine Pause, aber da Wikant nichts sagte, fuhr sie fort: »Er glaubt, er könne sich zurücklehnen und zusehen, wie andere schuften.«
»So wie ich, meinst du.«
»Nein! Nein – nun ja.«
»Blöd«, flüsterte Wikant. Er würde mit dem Jungen ein ernstes Wörtchen reden müssen, und nur, damit Tinek zufrieden war. Nützen würde es sowieso nichts. Bei diesem Schnösel war alles vergebens.
Er wollte gerade trinken, als die Tür heftig aufgestoßen wurde. Vor Schreck zuckte er zusammen und goss sich den Wein über das Hemd. »Ver-«
Er hatte seinen Fluch nicht einmal zu Ende gesprochen, als Kelon hereinstürzte. Kelon war in der Kelterei für alles und jedes zuständig, ein kundiger und verlässlicher Mann, der die Verantwortung übernahm, wenn Wikant sich seinen Traurigkeitsanfällen hingab. Vielleicht stellte sich Blöd einen ähnlichen Posten vor, aber dann hatte der Junge nicht begriffen, wie viel dazu gehörte, überall dabei zu sein und zu überprüfen, wie die Dinge liefen.
Es gehörte nicht zu Kelons Aufgaben, hier einfach so hereinzuplatzen. Höchstens vielleicht, wenn es brannte.
Tinek sprang auf. »Was ist passiert?«
»Piraten!«, rief Kelon. »Sie haben den Hafen blockiert, sie sind überall, sie kommen die Straße hoch – hierher!«
Wikant vergaß sein Hemd. Er stand auf. Und dann stand er da und wusste nicht, was er tun sollte. Sie sahen ihn an, beide, Kelon und Tinek, als wäre er derjenige, der sie retten konnte. Er war der Weinfürst. Er musste etwas tun, den Piraten entgegentreten und sie vertreiben. Aber stattdessen stand er nur da und konnte sich nicht rühren.
»Wikant!«, schrie Tinek. »So tu doch was!«
»Was?«, fragte er zurück. »Wir haben keine Waffen. Oder doch? Im Keller?«
»Dort könnten ein paar Hellebarden liegen«, gab Kelon zu. »Und an der Wand im Empfangssaal hängt ein Schwert.«
»Erion!«, rief Tinek plötzlich. »Wo ist Erion? Erion!« Laut nach ihrem Sohn schreiend rannte sie aus dem Zimmer.
Wikant trat ans Fenster. Von hier aus konnte man das Dorf und den Hafen überblicken; vielleicht war es keine schlechte Idee, sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Tatsächlich sah er ein großes fremdes Segelschiff zwischen den kleineren Booten liegen. »Es sieht nicht aus wie ein Piratenschiff«, sagte er zu Kelon. »Vielleicht übertreibst du ein bisschen?«
»Wenn es doch nur so wäre«, seufzte der Mann. »Wikant, wir sollten ein paar Dinge verstecken, die von Wert sind.«
»Hast du das Tor verriegelt?«
»Natürlich.«
Wikant nickte erleichtert. »Dann brauchen wir auch nichts zu verstecken. Durchs Tor kommt niemand.«
Es war ein stabiles Tor aus uralten Eichenbohlen. Warum regten sich alle so auf? Selbst wenn es Piraten waren, die die Insel heimsuchten, würden sie sich an den Dörflern schadlos halten und nicht ins Gut kommen. Er trat zurück an den Tisch, auf dem noch der halbvolle Becher stand. »Wir sollten einfach Ruhe bewahren und …«
Bumm.
Der Schlag war so heftig, dass die Wände vibrierten. Wikants Becher schwappte schon wieder über. »Was war das!«, rief er aus. »Jetzt reicht es aber!«
»Sie sind am Tor«, sagte Kelon. »Ich – ich gehe mal nachsehen.« Es klang, als hätte er lieber gesagt: Ich gehe mich verstecken. Aber Kelon war hier für alles zuständig. Und deshalb tat er seine Pflicht und ging, um einen Blick auf das schützende Tor zu werfen.
Bumm.
Wieder das laute Dröhnen, begleitet von einem Krachen, dass Kelon durch Mark und Bein ging. Er nahm all seinen Mut zusammen, um den Feinden entgegenzutreten. Ein paar Arbeiter hatten tatsächlich die Hellebarden aus dem Lager geholt und bemühten sich, Haltung anzunehmen und wie Soldaten auszusehen. Die Verteidiger standen im Hof und wichen bei jedem Krachen einen Schritt zurück.
»Für den Fürsten!«
Es war nicht Kelon, der gerufen hatte. Wikant drehte sich um und sah Erion dort stehen, mit einem langen Stock bewaffnet, an den er ein Küchenmesser gebunden hatte.
»Was hast du da, einen Besenstiel?«
Der Junge war blass. Sein dunkelblondes Haar fiel ihm strähnig in die Stirn, aber er versuchte krampfhaft, wie ein Prinz auszusehen. Vielleicht hoffte er, aus seinen Augen würde Mut und Zuversicht strahlen, aber es wäre wirkungsvoller gewesen, wenn er nicht so heftig geblinzelt hätte.
»Blöd! Komm da weg!«
Erion drehte sich um und schrie auf, als er den dunklen Fleck auf dem Hemd seines Vaters bemerkte. »Du bist verletzt! Ich werde dich rächen!«
Der Weinfürst grinste, während er mit vorsichtig tastenden Schritten über den Hof ging. Er schien zu schweben, leichtfüßig und gleichzeitig halb tot, das selige Lächeln eines glücklich Sterbenden auf den Lippen.
Kelon biss die Zähne zusammen und wandte sich an die zitternden Arbeiter.
»Nein«, sagte er. »Nicht für den Fürsten. Für Neiara. Für eure Familien draußen im Dorf. Für jeden einzelnen von uns. Wir sind keine Krieger. Aber wir wissen, was uns erwartet, wenn wir nichts tun.« Dasselbe, was uns erwartet, wenn wir uns wehren, dachte er. Sie werden keinen von uns verschonen. Sie werden uns alle niedermähen. Wenn das wirklich Piraten sind, dann gnade uns Rin.
Bumm.
Es war so dumm, sich ihnen in den Weg zu stellen. Es gab nichts Dümmeres. Aber wenn sie sich verbarrikadierten – irgendwo im Keller, wo die Piraten sie vielleicht nicht finden würden – und später nach oben kamen und sahen, wie das Gesindel im Dorf gewütet hatte … Wer würde dann noch leben wollen?
Bumm. Und das Tor zerbarst. Und dann Stille.
»Für den Fürsten!« Eine helle Jungenstimme hallte durch den Hof. Kelon hielt die Luft an, als er den Sohn seines Arbeitgebers nach vorne rennen sah, die selbstgebastelte Lanze in der Hand. Er erwartete, jeden Moment die Piraten hereinstürzen zu sehen; der Junge lief ihnen direkt in die Arme.
»Nein!« Er hörte Tineks Aufschrei. »Oh nein! Erion!«
Ein Mann schritt über die zersplitterten Balken. Hinter ihm kam eine Horde wilder, bärtiger Gestalten – die Piraten, der Abschaum der Meere. Aber es war ihr Anführer, der alle Blicke auf sich zog, ein Mann, mindestens zwei Kopf größer als die anderen und doppelt so breit: Ein Riese. Sein blondes Haar, zu einem Zopf geflochten, der sorgfältig gestutzte Bart und die Kleidung, die er trug, ließen ihn eher wie einen vornehmen Herrn aussehen als wie einen Piraten. Keine Lumpen, sondern Beinkleider, Wams und Umhang aus allerfeinstem, dunkelblauem Stoff – Kelon erkannte sofort, dass dieser Mann kein gewöhnlicher Räuber war. Und doch, ein einziger Blick in dieses Gesicht genügte und man wünschte sich, es nie wiederzusehen. Zu fliehen und sich zu verstecken und ihm nie, nie wieder zu begegnen. Nicht, weil er hässlich war oder schrecklich anzusehen, sondern weil er lächelte, weil er hier hereinkam und lächelte, und weil ihm in dem Moment, in dem er das Gut betrat, alles hier gehörte, alles und jeder.
Erion, mitten im Lauf, konnte nicht mehr anhalten, als der Riese erschien, und als würden ihn die verzweifelten Schreie seiner Mutter noch mehr anfeuern, stürmte er geradewegs auf den Eindringling zu.
Sie sahen alle, dass dies das Ende war. In keinem flammte die Hoffnung auf, der Junge könnte es schaffen, könnte seine alberne Waffe dem Feind in die Brust bohren. Sie sahen ihn nur in den Untergang rennen. Der Riese wandte dem schreienden Angreifer das Gesicht zu und lächelte ihm mit mildem Erstaunen entgegen. Er bewegte lässig die Hand und pflückte den Jungen mitsamt Besenstiel und Messer vom Boden auf. Einen flüchtigen Moment, nur einen Lidschlag lang, hielt er ihn, dann ließ er ihn fallen wie ein lästiges Insekt, das er sich vom Ärmel geklaubt hatte. Tinek schrie wieder, aber Erion war unverletzt geblieben. Er setzte sich auf und blickte überrascht um sich.
»Für den Fürsten«, wiederholte der Riese die Worte des Jungen. »In der Tat, deshalb bin ich hier. Du?« Er richtete die Frage an Kelon, der wie erstarrt neben den Arbeitern stand und noch am meisten wie der Besitzer von irgendetwas wirkte.
Kelon drehte sich halb und nickte zu Wikant hinüber, der gelähmt dastand und immer noch aussah wie jemand, den man gerade erst ermordet hatte.
Der Riese hob kaum merklich die Brauen, aber verächtlicher hätte eine so kleine Geste kaum sein können.
»Vielleicht können wir Euch – einladen?«, fragte Tinek mit zitternder Stimme und schien nicht einmal zu merken, dass sie ihn angeredet hatte wie einen adligen Herrn. »Ein … ein Glas Wein?«
Sie bebte unter seinem Blick, aber dann verzog sich sein Mund zu einem nicht mehr abfälligen, sondern eher amüsierten Lächeln. »Ist das nicht ein Weingut hier?«
»Ja! Ja, das … ist es.« Tineks Stimme sank von aufgeregt wieder zu verängstigt. Sie beobachtete, wie Erion sich aufrappelte und auf dem Pflaster nach seinem Stock tastete. »Bitte, Herr, bitte tut ihm nichts, er ist nur ein Kind.«
»Dies ist ein Weingut«, sagte der Riese zu seinem Gefolge. »Und wir sind eingeladen, wie ihr gehört habt. Ich bin sicher, der gute Mann dort«, er wies auf Kelon, »wird sich darum kümmern, dass ihr ordentlich bewirtet werdet.«
Als die Piraten auf ihn zuströmten, wankte Kelon, aber er hielt sich aufrecht und gab seinen Arbeitern mit einem Wink zu verstehen, dass sie die Waffen niederlegen sollten. Er hatte keine Ahnung, was dieser Kerl vorhatte, aber vielleicht würde dieser Tag doch nicht mit einem Blutvergießen enden. Es war nur sein Herz, das blutete, während er die Eindringlinge in den Weinkeller führte.
Zukata legte seine Hand auf die Schulter des Jungen. »Und du führst mich in euren Thronsaal oder was immer ihr für einen Raum habt, um darin Gäste zu empfangen.«
Erion stolperte vorwärts, und hinter ihnen kamen Tinek und Wikant, als würden sie abgeführt.
Natürlich gab es keinen Thronsaal. Auch auf die edelsten Besucher wartete nur ein aus dunklem Holz vertäfeltes Zimmer mit einem Kristallleuchter an der Decke. Auf dem Tisch standen und lagen noch mehrere geleerte Becher. Hastig machte Tinek sich daran, abzuräumen, während der Riese aus dem Fenster auf die kleine Hafenstadt hinausblickte. Seine Hand lag immer noch schwer auf Erions Schulter.
»Das sieht Blöd mal wieder ähnlich«, murmelte Wikant verdrossen. »Sich selbst zur Geisel zu machen.«
Er hatte nicht laut gesprochen, aber der Riese hob den Kopf. »Blöd? Du nennst deinen Sohn Blöd?«
»Ich heiße Erion«, knurrte der Junge. »Erion von Neiara.«
»Wo ist der zweite Sohn?«
»Wir haben nur diesen einen, Herr«, sagte Tinek. Sie war mit dem Tablett auf dem Weg zur Tür und zögerte. Ob es klug war, jetzt hinauszugehen und den Feind mit ihrer Familie alleinzulassen?
»Ach.« Der Riese hob wieder die Brauen. »Ich nahm schon an, ihr hättet mindestens zwei. Wenn ihr den einen beschimpft, müsstet ihr doch noch einen anderen haben, den ihr bevorzugt?«
»Nein, nur den einen«, wiederholte die Frau.
Das Gesicht des Jungen verzog sich zu einer wütenden, trotzigen Grimasse. Trotzdem bewahrte er Haltung. Er stand neben dem Riesen, als würde er zu ihm gehören. In seinen Augen lag nicht der Wunsch, seine Eltern möchten ihn retten, sondern das dringende Verlangen, sich in dieser Situation zu beweisen. Er weinte nicht, obwohl es um seine Mundwinkel zuckte.
Tinek hatte sich entschieden, nicht hinauszugehen. Sie stellte das Tablett neben die Tür und holte aus einem hohen, mit Intarsien verzierten Schrank ein weißes Tuch, mit dem sie den verschütteten Wein aufwischte.
»Möchtet Ihr etwas essen?«
»Essen können wir später, nachdem wir alles besprochen haben«, sagte der Riese.
»Was gibt es denn zu besprechen?«, fragte Wikant, der bis jetzt möglichst unauffällig an der Wand gestanden hatte, und schlurfte ein paar Schritte näher. »Äh, Herr?«
Tinek eilte ängstlich vor und reichte dem Riesen hastig einen Becher Wein, den sie entweder im Schrank gefunden und sonstwie hergezaubert hatte. Er nahm ihn aus ihrer Hand und führte ihn zum Mund.
»Dieser Wein ist dreizehn Jahre alt«, flüsterte Wikant. »Warum hast du ihn aufgemacht? Er war für Erions Hochzeit bestimmt.«
»Was tut er dann in diesem Schrank?«, zischte sie zurück. »Das war dein geheimer Vorrat, wenn du so tust, als würdest du hier arbeiten.«
»Die Glücklichen Inseln«, sagte der Besucher, als wäre er ein Gast, den sie zu einer Weinprobe eingeladen hatten. »So schmecken sie also?«
»Gefällt es Euch?«
Der Riese sah auf den Becher in seiner Hand. »Selbst in Kirifas trinken sie ihn, also muss er gut sein. Gegen das, was man auf einem Piratenschiff zu trinken bekommt, ist alles andere umwerfend.« Er lachte. »Neiara, das Königreich des Weins! Das Königreich des Glücks. Nennt ihr es so? Würdet ihr es so nennen?« Er stürzte den Wein hinunter und begegnete ihren erschrockenen Blicken mit einem Lächeln. »Wisst ihr, wer ich bin? Nein? Ich bin Prinz Zukata, der Sohn Kaiser Kanuna El Schattiks, des Gesegneten. Ich bin der, der nach ihm auf dem Thron in Kirifas sitzen wird. Und das bedeutet, ich bin auch euer zukünftiger Kaiser.«
»Huh«, meinte Erion ehrfürchtig, »das ist …«
»Sei still, Blöd«, fuhr Wikant dazwischen. »Das geht uns nichts an. Neiara gehört nicht zum Kaiserreich.«
»Noch nicht«, sagte Zukata. »Habt ihr euch je gefragt, warum die Glücklichen Inseln frei sind? Warum sie nicht längst von den Küstenländern annektiert worden sind? Sicher nicht, weil ihr so eine schlagkräftige Truppe habt. Das haben wir heute ja gesehen.«
»Warum – warum dann?«, stammelte Wikant, nachdem Zukata ihn lange angesehen hatte, als erwarte er wirklich eine Antwort von ihm.
»Der Schutz des Kaisers«, erklärte Zukata. »Ja, schon immer hat der Kaiser, den ihr nicht als euren anerkennt, euch beschützt. Nur der Kaiser verhindert, dass Drian oder Tors euch einfach schlucken. Nur der Kaiser, der euch angeblich nichts angeht, gibt euch die Freiheit, hier euer eigenes Leben zu führen. Habt ihr euch nie gefragt, warum?«
»Ähm, warum?«
Zukata hielt seinen leeren Becher Tinek vor die Nase, und sie schenkte ihm hastig nach. Er trank ein paar Schlucke, bedächtig, genießerisch.
»Vielleicht war es der Fischerkönig«, sagte er dann langsam. »Weiß ich es denn? Ich rate nur. Ich bin noch nicht Kaiser. Was weiß ich von den geheimen Verabredungen, die hinter verschlossenen Türen getroffen wurden? Was weiß ich von der Freiheit dieser Inseln? Ich weiß nur eins. Wenn ich Kaiser bin, lieber Wikant, verehrteste Tinek«, beide zuckten zusammen, denn sie hatten nicht erwartet, dass er ihre Namen kannte, »dann werden diese Inseln zu meinem Reich gehören, ohne Wenn und Aber. Dann werde ich sie für Deret-Aif in Anspruch nehmen.«
»Aber«, begann Wikant, »aber das …« Er verstummte. Was wollte er sagen? Das geht nicht? Es ist nicht recht?
»Bis ich Kaiser werde«, sprach Zukata weiter, »können noch viele Jahre vergehen. Ich bin hergekommen, damit ihr Zeit habt, euch darauf vorzubereiten. Nicht, dass ihr meint, ihr müsstet ein Heer aufstellen, um euch gegen die Soldaten aus dem Kaiserreich zu verteidigen. Wie viele Krieger passen auf diese Insel? Vergesst es. Was ich euch bringe, ist keine Warnung, sondern ein Angebot.«
»Was für ein Angebot?«, fragten Wikant und Tinek gleichzeitig, er misstrauisch, sie eifrig.
»Fürst Wikant.« Zukata warf ihm den Titel hin wie etwas Schmutziges. »Nennst du dich nicht so? Dabei bist du nichts als ein Mann, der durch Erbschaft um einiges reicher ist als der Rest der Inselbewohner. Du bist kein Fürst, so wenig wie die Apfelkönigin in Arima eine Königin ist. Falls es je einen König auf den Glücklichen Inseln gab, muss es der Fischerkönig gewesen sein, der sich Freund des Kaisers nennen durfte, doch es gibt niemanden mehr mit dem Anspruch auf diesen Titel. Wenn ich Kaiser bin, wird das Königreich Drian seine Grenzen um einen Weinberg und einen Obstgarten erweitern – es sei denn, die Glücklichen Inseln schaffen es bis dahin, sich ihr eigenes Königreich aufzubauen.«
»Du willst, dass mein Vater König wird?«, fragte Erion mit leuchtenden Augen.
»Sei still, Blöd.« Wikants Gesicht hatte sich verändert, während Zukata sprach. Er war so wütend, dass er kaum sprechen konnte, aber gleichzeitig musste er sich darum bemühen, beherrscht und vorsichtig zu reagieren. »Das geht nicht, Prinz. Ich bin kein König. Ich will kein König sein. Die Leute hier werden das niemals akzeptieren.« Ein hoheitsvoller Zug lag auf seinem Gesicht, er stand aufrecht da und wirkte so nüchtern wie schon seit Jahren nicht mehr. »Wie könnt Ihr so ein unglaubliches Ansinnen hier vortragen? Wenn Ihr diese Insel erobern wollt – wir können Euch nicht daran hindern. Aber von uns zu verlangen, dass wir es selbst tun, dass wir die Menschen hier zu etwas zwingen, was sie nicht wollen, was sie nicht einmal wollen können! Es gab nie einen König hier auf Neiara, noch nie in tausend Jahren …« Er hatte sich verausgabt und sank wieder in sich zusammen.
»Ich möchte schon gern ein König sein«, ließ Erion sich vernehmen.
»Ich sagte, sei still!«
»Einen König werden die Inseln bekommen, so oder so«, sagte Zukata. »Es liegt an euch, ob ihr diese Chance nutzt, es selbst zu sein. Ich werde Deret-Aif größer machen, als es jemals war. Wenn ihr das erste neue Königreich in meinem Herrschaftsbereich sein wollt, dann beglückwünsche ich euch dazu. Wenn nicht – wenn ihr euch Drian unterwerfen wollt, dann bitteschön. Aber das wird deinen Leuten vielleicht noch weniger gefallen.«
»Und was ist mit Arima?«, fragte Tinek. »Habt Ihr schon mit Binajatja gesprochen? Was hat sie dazu gesagt?«
»Die sogenannte Apfelkönigin? Nein, ich werde nicht mit ihr sprechen. Mit euch wollte ich reden. Ich gebe euch nichts vor. Ob jede Insel einen eigenen König hat, wenn ich Kaiser bin – oder eine Königin? –, was geht es mich an? Oder einen König für beide Inseln? Auch das wäre mir recht. Glaubt nicht, dass ihr keine Wahl hättet.«
»Ich werde ein Prinz sein«, flüsterte Erion verzückt.
»Bei Rin, sei endlich still!«, brüllte Wikant.
»Wikants Bruder Norha ist zur Zeit auf Arima«, dachte Tinek laut. »Binajatja hat ihn zu ihrem Verwalter gemacht. Ich meine nur, da sie keine Erben hat … Wenn Norha die Gärten eines Tages übernimmt … Und wir sind hier … Es wäre ja fast so, als wenn wir – Könige über beide Inseln wären?« Sie benutzte das Wort »König«, als wäre es etwas Unanständiges.
»Er ist nur der Verwalter«, beharrte Wikant. »Nichts weiter. Diese beiden Inseln sind in Freundschaft verbunden. Immer nur in Freundschaft.«
»Aber du«, Zukata wandte sich an den Jungen, »du wärst gerne ein Prinz? Du wärst gerne einer der Könige, die an des Kaisers langer Tafel speisen. Du wärst gerne des Riesenkaisers Freund, so wie es Arimas Fischerkönige immer waren – aber offen, nicht heimlich, so dass jeder weiß, wie weit du es gebracht hast. Nicht wahr?«
Erion nickte eifrig.
»Blöd«, flüsterte Wikant untröstlich, als ahnte er schon, was geschehen würde.
»Dann komm mit mir«, sagte Zukata. »Komm mit mir auf mein Schiff. Du wirst der Freund des Kaisers sein, noch bevor deine Eltern sich entschieden haben, ob sie eine Krone tragen möchten.«
»Nein, Herr«, flehte Tinek. »Wir tun es ja. Wir werden Könige werden. Wir werden ein Schloss bauen und einen Thronsaal, in dem wir Euch das nächste Mal empfangen können. Bitte, Prinz! Lasst ihn hier. Wir werden es ja tun. Es kam nur etwas plötzlich. So unerwartet. Aber wir können es schaffen, wir werden es …«
Wikant schüttelte nur stumm den Kopf.
»Es müssen beide Inseln sein«, sagte Zukata. »Ein König für jede Insel oder ein König für beide. Das Königreich der Glücklichen Inseln. Überstürzt nichts. Ihr habt Zeit. Mein Vater ist ein Riese und Riesen leben lange. Zehn Jahre oder zwanzig oder fünfzig? Ein Schloss baut man nicht in fünf Jahren. Oder gar zwei Schlösser, eins für jede Insel? Denkt darüber nach. Und nun könnt ihr euch darum kümmern, etwas aufzutischen. Setz dich hier neben mich, Junge. Deine Mutter wird dafür sorgen, dass wir königlich speisen.«
Diesmal musste Tinek den Raum verlassen. Aber Wikant blieb da. Die ganze Zeit stand er an der Wand, gegen die glatte, kühle Holzpaneele gelehnt, und starrte auf seinen Sohn.
Ü B E RI H N E NW Ö L B T Esich das grüne Dach des Sommers. Hier unten, unter den Zweigen, geschützt von Blättern, hätte es eigentlich angenehm frisch und kühl sein sollen. Mino stöhnte und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Warum ist es so heiß?«
Keta blickte lächelnd auf sie herunter. »Seit wann macht dir das etwas aus?«
Sie lehnte sich gegen einen Baumstamm und rang nach Luft. »Mir ist schwindlig … Oh Rin, was bin ich müde.«
Obwohl der Riese verwundert den Kopf schüttelte, setzte sie sich zwischen die Baumwurzeln, die einen natürlichen Sessel bildeten.
»Ein schöner Platz«, sagte er. »Aber wir wollten heute ein gutes Stück schaffen, Möwe.«
»Mino«, verbesserte sie ihn. Sie legte den Kopf zurück, ihr wurde für einen Moment schwarz vor Augen.
»Für mich wirst du immer Möwe bleiben«, sagte er. »Auch wenn die Möwe, die ich kenne, etwas härter im Nehmen ist. Was ist eigentlich los mit dir?«
»Nichts«, beteuerte sie. »Ich bin einfach nur müde.«
Er kniete sich neben sie und griff nach ihrem Handgelenk.
»Ach, lass das, Vater. Ich bin nicht krank.«
»Vater«, wiederholte er. »Siehst du, und du bist doch Möwe. Nur Mino versucht ständig, sich daran zu erinnern, dass ich nicht ihr Vater bin. Möwe weiß genau, wo sie hingehört.«
Das weißhaarige Mädchen schüttelte den Kopf. »Nach Arima«, sagte sie leise. »Ich muss zurück nach Arima … Was ist mir schwindlig.«
»Trink.« Er reichte ihr die Wasserflasche, die sie durstig leerte. Aufmerksam beobachtete er sie. »Diese Reise ist anders als alle unsere vorherigen Wanderungen.«
»Natürlich«, sagte sie. »Ich habe mein Gedächtnis wieder. Wir haben ein Ziel, wir wandern nicht mehr einfach so durch die Gegend. Du bringst mich nach Hause. Natürlich ist es anders.«
»Das meine ich nicht.« Er betrachtete sie nachdenklich. »Möwe«, sagte er, »ich weiß nicht, wie ich dich das fragen soll.«
»Was denn?« Sie goss sich den Rest des Wassers über ihr Gesicht. »Du nimmst doch sonst kein Blatt vor den Mund, Keta.«
»Könnte es sein, dass du schwanger bist?«
Sie ließ die Flasche sinken und starrte den großen, blonden Riesen an, diesen Mann, der wie ein Vater für sie war. Drei Jahre lang, bis sie ihr Gedächtnis wiedererlangt hatte, war er ihre Familie gewesen. Und doch hatte sie ihm nie alles erzählt, was in den Festtagen in Kirifas vorgefallen war. Er hatte es nie erfahren sollen. Niemand hatte es je wissen sollen und sogar sie selbst, so hatte sie sich geschworen, würde es vergessen, als wäre es nie passiert.
»Schwanger?« Ihre Augen begegneten sich, ihre blassen Albinoaugen, seine blauen Himmelsaugen. Er konnte den Schrecken in ihrem Blick erkennen, bevor sie das Gesicht abwandte.
Keta machte keinen Hehl aus seiner Verwunderung. »Möwe! Möwe, das … Und auch von ihm – nein, das hätte ich nicht erwartet. Lässt sich von allen feiern, der kleine Held, und dann das!« In sein Gesicht trat der Zorn. Er ballte die Fäuste. Mino war den Anblick eines wütenden Riesen gewöhnt und ließ sich nicht so schnell beeindrucken.
»Nein, Keta …«
»Ich rette ihm das Leben und er dankt es mir auf diese Weise? Du warst verwirrt. Du warst so verletzlich in diesem Moment, in dem dir alles wieder ins Gedächtnis kam … Wie konnte er das ausnutzen? Und dabei hat er diese schöne, junge Frau! Das ist der Mann, dem der Kaiser seine Tochter anvertraut? Das ist der Mann, für den ich den Segen geopfert habe?«
»Du hast was?«, fragte Mino verblüfft. Sie vergaß für einen Moment, was sie ihm hatte sagen wollen. »Du hast für Blitz den Segen hergegeben? Wie soll ich das verstehen?«
»Ich habe Zukata dazu gebracht, Blitz zu verschonen«, erklärte Keta grimmig, und in diesem Moment erkannte Mino, dass sie nicht die Einzige war, die Geheimnisse hatte.
»Aber – wie konntest du das tun, Vater? Für diesen Preis? Du hast Zukata versprochen, ihn zu segnen? Das durftest du nicht!«
»Ich weiß«, sagte Keta, auf sich und ebenso auf alle anderen zornig, »und nun wünschte ich mir, ich hätte es auch nicht getan!«
»Vater, Blitz hat mit – mit diesem Kind nichts zu tun.« Sie sagte es leichthin, aber in ihr brannte der Schmerz wieder auf, dieser verfluchte Schmerz, der sie wünschen ließ, dass Blitz sehr wohl etwas damit zu tun gehabt hätte. Wieso bekam sie ein Kind? Nur ein einziges Mal war sie schwach gewesen. Wie konnte sie davon schwanger geworden sein?
Ketas Zorn verrauchte auf einen Schlag. »Nicht? Aber – dann hast du Jamai endlich erhört? Und ich dachte schon … Weißt du, irgendwie habe ich es geahnt. Er liebt dich schon so lange. Aber warum ist er dann verschwunden? Warum gehst du überhaupt mit mir nach Arima, Möwe? Habt ihr euch gestritten? Vielleicht – deswegen?«
Mino seufzte. »Muss ich dir wirklich alles sagen?«
Der Riese schrak zurück, vielleicht vor seiner eigenen Neugier, vielleicht, weil das Mädchen, das bis jetzt immer ein Kind für ihn gewesen war, sich auf einmal als erwachsene junge Frau entpuppte, die ihm nicht alles offenbarte.
»Nein«, antwortete er schnell, »nein, das musst du nicht.«
Sie richtete sich langsam auf. »Es geht schon wieder. Wir können weiter.«
»Ich könnte dich ein Stück tragen«, bot er an.
»Ach nein, Vater!«
Wenn er es eilig gehabt hätte, hätte er darauf bestanden. Aber ihm lag nichts daran, möglichst schnell die Glücklichen Inseln zu erreichen und Möwe ihrer Mutter zu übergeben. Nachdenklich ging er neben ihr her und wünschte sich, er hätte irgendjemanden dafür umbringen können, für diese Schwere, die ihm plötzlich auf dem Herzen lag.
Er hatte das Feuer nur entfacht, um die Mücken zu vertreiben. Wärme hatten sie genug. Die Nacht war schwül und lag drückend über ihnen.
»Ein Gewitter wäre jetzt nicht schlecht«, sagte Keta. »Ein Sturm, der die Luft reinigt. Blitz und Donner …«
»Blitz«, wiederholte Mino leise.
»Mein Vater hält sehr große Stücke auf ihn«, sagte Keta. »Ich bin froh, dass ich meine Meinung über ihn nicht ändern muss.«
Nicht einmal ihrem Vater konnte sie ihre wahren Gefühle für Blitz anvertrauen. Wie eine ganze Welt in ihr aufgegangen war, als sie ihn gesehen hatte, erblüht und wieder eingestürzt, alles in einem Augenblick.
»Jamai ist ein guter Junge, Möwe. Weiß er eigentlich etwas von dem Kind? Nein, wie könnte er, wenn du es selbst bis jetzt nicht geahnt hast. Wir müssen ihn benachrichtigen. Alles wird gut, Möwe, das verspreche ich dir. Jamai wird sich mit uns freuen, er …«
»Das Kind ist nicht von Jamai«, sagte sie.
Wieder ging ein Teil ihres Geheimnisses verloren. In seinen erstaunten Augen erblickte sie die ganze Schmach, die über sie hereingebrochen war. Nicht Blitz und nicht Jamai. Nein, Jamai war geflohen, als er gesehen hatte, wie sie Blitz umarmte. Jamai war fort und sie wusste zu gut, warum.
Keta bemühte sich, seine Überraschung zu verbergen. Er schüttelte den Kopf und wandte sich dem Feuer zu – um seine Verlegenheit zu überspielen oder seine Missbilligung? Er legte etwas Holz nach und stocherte in den Flammen. »Ein einzelner Funke könnte diesen ganzen Wald in Brand setzen«, sagte er. »Doch nein, wir kriegen Regen. Riechst du es? Die Wolken kommen. Ich höre schon das Grollen des Donners. Das Unwetter zieht her.«
Möwe konnte noch nichts hören. Die schärferen Sinne der Riesen entlockten ihr jedoch längst kein ungläubiges Lächeln mehr. Sie dachte nicht darüber nach, was passieren würde, wenn der Sturm sie hier im Wald überraschte, zu sehr war sie mit sich selbst beschäftigt. Sie rang mit sich, ob sie Keta noch mehr erzählen sollte. Er würde es akzeptieren, wenn sie ihm nichts verriet. Aber er würde sich darüber Gedanken machen, wer sie war und warum er so wenig von ihr wusste. Nein, er hatte nicht gedacht, dass sie so etwas tun könnte. Blitz, den sie liebte. Jamai, der ihr sein Herz zu Füßen gelegt hatte. Wer kam denn sonst in Frage?
»Toris«, sagte sie leise, sie sah ihn an. »Das ist es doch, was du wissen willst, nicht? Wie kann deine Möwe schwanger sein? Wo sie doch immer auf Blitz gewartet hat, auf ihr altes Leben, tugendhaft und standfest … Treibt sie sich mit fremden Männern herum? Wer ist sie? Ich sehe dir an, dass du dich das fragst. Mach mir ruhig Vorwürfe. Sprich es ruhig aus. Sag es doch: Möwe, das hätte ich nicht von dir gedacht. Das hätte ich wirklich nicht erwartet. Unsere kleine Möwe? Aber so ist es.« Sie lachte bitter auf. »So ist es.«
Keta streckte die Hand aus und wischte eine Träne von ihrer Wange. »Nicht weinen, Schatz. Nicht weinen, Liebes, meine liebe Möwe … Es ist gut. Es ist gut, mein Kind.«
»Gut? Wie könnte es gut sein?« Sie schluchzte auf, sie barg das Gesicht in ihren Händen.
Er setzte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schulter. »Du bekommst ein Kind, Möwe. Wie könnte das schlecht sein? Es wird ein wundervolles Kind und wir werden alle stolz darauf sein. Ich kenne Toris seit seiner Geburt. Er ist ein guter Junge. Du hast keinen Grund, dich zu schämen. Glaubst du, nur weil ich zuerst an Jamai dachte, nehme ich es dir übel, dass es Toris ist?«
»Blitz hättest du es übelgenommen«, wandte sie ein.
»Weil Blitz verheiratet ist. Nur deswegen. Und weil – nun, vielleicht ist es immer so, dass Väter sich Sorgen machen und junge Mädchen trotzdem tun, was sie wollen. Ich habe nicht daran gedacht, wie viel Zeit du mit Toris verbracht hast. Er ist der beste Jongleur, den ich kenne, und ich habe viele gesehen. Ah, deswegen hat er dich also bestürmt, bei der Sippe zu bleiben.«
Sie nickte nur. Sie sagte ihm nicht, dass Toris auch jetzt noch nie mehr als ein guter Freund für sie sein konnte. Er würde, daran zweifelte sie nicht, für sie und das Kind sorgen, wenn sie zur Sippe zurückkehrte; er war ja sogar bereit gewesen, mit ihr nach Arima zu gehen und sesshaft zu werden. Aber sie wusste, dass das kein Leben für ihn war, den Ziehenden, der die Wälder liebte und auf den Jahrmärkten zu Hause war. Und sie war nicht für das Leben einer Zinta geboren worden. Sie lebten in verschiedenen Welten, sie und Toris, und nur eine starke Liebe, so stark wie ihre Liebe zu Blitz, hätte sie dazu bringen können, ihre Pflichten zu vergessen, die daheim auf sie warteten. Nur Blitz hätte sie dazu bringen können, dass sie alles hinter sich ließ, dass sie sich in den Sturm warf und ins Wasser sprang und alles vergaß, ihr ganzes Leben und ihre Vergangenheit und sich selbst. Aber Blitz hatte eine Frau.
Dies, dachte sie, ist eine Krankheit, gegen die nicht einmal der gesegnete Prinz mit den heilenden Händen etwas ausrichten kann. Dies ist ein Fluch, den ich selbst auf mich herabgezogen habe und von dem es keine Erlösung gibt. Dies ist etwas, von dem ich nie, niemals frei sein werde …
Das Gewitter war jetzt direkt über ihnen. Keta legte seine schützenden Arme um sie, aber sie löste sich von ihm und kroch aus dem behelfsmäßigen Unterschlupf, den er aus Ästen und dem Wurzelwerk eines umgestürzten Baumes errichtet hatte. Der Regen peitschte ihr ins Gesicht und durchnässte sie. Hagelkörner schlugen wie winzige Geschosse in ihre Haut ein. Sie hielt sich dem Sturm hin und wünschte sich, er könnte sie verschlingen, sie wünschte sich, er wäre ein Ungeheuer, das Menschen fraß. Aber er konnte weder ihr Gedächtnis auslöschen noch ihre Liebe. Der Schmerz brannte so heiß in ihr, dass nichts sie davon befreien konnte.
Keta ließ sie in Ruhe, aber danach, als die Wolken weitergezogen waren, trat er zu ihr und musterte sie besorgt. »Was kann so schlimm sein?«, fragte er, aber sie antwortete nicht.
»Versuch nie, Schmerz mit Schmerz zu bekämpfen«, riet er ihr, aber was scherten sie seine weisen Ratschläge?
Schmerz gegen Schmerz. Es war die einzige Waffe, die ihr zur Hand war.
Es war meine Schuld … Wir hätten beide auf dem Schiff sein können, wir beide, und Blitz hätte dieses andere Mädchen nie getroffen …
»Du bist völlig durchnässt«, meinte Keta. »Du musst dich unbedingt umziehen.«
Sie wollte sein Verständnis nicht und sein Mitleid und seine Fürsorge. Es gab nur einen Weg, damit aufzuhören, sich Vorwürfe zu machen, und das war, die Waffe jemand anders in die Hand zu legen und sich unter den Zorn eines anderen zu beugen.
»Mutter«, flüsterte sie, »ich will zu meiner Mutter …«
Er erfüllte ihr auf dieser Reise fast jeden Wunsch. Damit sie sich nicht überanstrengte, hatte er ihr einen Esel gekauft – er wusste, dass sie Esel weitaus mehr liebte als Pferde – und hatte sich dem Schritt des hin und wieder störrischen Tieres angepasst. Er hatte versucht, Mino durch Geschichten und Lieder aufzuheitern, und wenn sie Appetit auf etwas Bestimmtes bekam, scheute er keine Mühen, es für sie aufzutreiben. Sie fühlte sich wie eine Prinzessin und er war der König. Als sie ihm das sagte, lachte er. »Ja, die Prinzessin des Waldes und der König der Zintas. Und dies ist unser Schloss – ganz Deret-Aif, größer und schöner als jeder Palast. Jedes Dorf ist Kirifas und jede Lichtung, auf der Brombeeren wachsen, ist mein Schlosspark. Du reitest auf dem edelsten Ross aus meinem Stall, meine Liebe. Alles ist dein, ich schenke dir die ganze Welt.«
Doch dann hörte er auf zu lachen und sie beide dachten daran, wem er die ganze Welt versprochen hatte, und Mino fürchtete sich davor, was aus dieser Welt werden könnte, wenn er es tat.
»Was wird das noch für ein Deret-Aif sein, in dem mein Kind aufwachsen wird?«, fragte sie. »Wenn es erst Zukatas Kaiserreich ist?«
»Vielleicht wird der Segen ihn verändern, so wie er mich verändert hat.«
»Aber das weißt du nicht.«
Mino ließ ihren Blick über die Landschaft wandern, durch die sie auf dem Esel mit dem samtweichen Fell ritt. Sie waren in Sitra und durchquerten weite, lichte Felder, in denen die späte Sommersonne wie mit goldenen Fäden ein Netz aus Licht sponn. Ketas glitzerndes Waldschloss war schöner, als jeder Palast es sein konnte. Tränen stiegen ihr in die Augen, wenn sie daran dachte, dass sie bald wieder in einem Haus leben würde, mit einem Dach zwischen sich und dem in allen Farben blühenden Himmel.
»Hab keine Angst«, sagte Keta. »Es ist Rins Segen und dies ist Rins Welt.«
Mino schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist es so … Aber ich werde nie vergessen, welche Mühen es gekostet hat, Zukata Prinzessin Manina abzuringen. Stell dir vor, was es erst kosten würde, wenn wir ihm das Kaiserreich aus den Händen winden müssten, um es zu retten.«
»Und wenn ich mein Versprechen nicht halte?«, fragte Keta, und er musste nicht hinzufügen: Was ist dann mit Blitz?
Ich würde ihn verstecken, wollte sie sagen. Ich verberge ihn, ganz nah bei mir. Ich halte ihn fest, ich beschütze ihn, ich passe schon auf, dass ihm nichts geschieht … Aber Blitz hatte eine Frau.
Bevor sie auf die Fähre stiegen, die vom Drianer Hafen nach Arima ablegte – und natürlich hatte Keta sich durch nichts davon abbringen lassen, sie zu begleiten –, kam ihr plötzlich der Gedanke, ob es nicht doch ein Fehler war. Noch konnte sie umkehren, wieder zurück in den Sommerwald, der sich in einen goldbunten Herbstwald hineinverwandelte. Angst ergriff sie und ihr Herz schlug, nicht in freudiger Erwartung, sondern voll des Wissens, was sie dort in Arima erwartete. Keta merkte wohl, dass sie aufgeregt war, aber er nickte ihr freundlich zu.
»Nun ist es gleich soweit.«
»Ja.« Instinktiv legte sie ihre Hand auf den Bauch, in dem das Kind heranwuchs. Man sah noch kaum, dass sie schwanger war, aber sie konnte manchmal bereits die Bewegungen des Ungeborenen spüren.
»Ich werde dich regelmäßig besuchen«, versprach er, als hätte er das nicht schon unzählige Male gesagt. »Ich muss doch sehen, wie es meiner Tochter, der edlen Kaisergängerin, und meinem Enkel ergeht.« Er grinste. »Dem Urenkel des Kaisers, vergiss das nicht.«
»Ach, Vater …« Sie seufzte. »Ich bin doch bloß ich. Und Arima gehört nicht mal zum Kaiserreich.«
Er lächelte zufrieden, weil sie ihn wieder Vater genannt hatte, und zugleich schmerzlich, denn er wollte sie nicht hierlassen und ihrer alten Familie zurückgeben. Sie war nicht sein Fleisch und Blut, aber es fühlte sich längst so an – und doch durfte er nichts sagen. Er wusste, dass ihre erste Familie ein älteres Recht auf sie hatte.
Sie gingen von Bord, in diesem winzigen Hafen. Die Häuser der Fischer kamen Keta kleiner als sonstwo vor, schmucke weiße Häuschen, die sich aneinanderkuschelten.
»Dort geht es zu den Plantagen«, sagte sie und zeigte auf den Weg, der durch die Dünen führte. »Und das Dorf der Arbeiter liegt hinter den Hügeln.«
Es war unglaublich, wie wenig sich hier verändert hatte. Alles sah noch genauso aus wie vor drei Jahren. Die Häuser, die Menschen …
»Mino?« Sie begegneten einer Gruppe von Obstpflückern, die sie ungläubig anstarrten, sie und den Riesen, der sie begleitete. Auf den Glücklichen Inseln lebte kein Einziger aus Larings Stamm; die Leute wussten nicht, wen sie mehr bestaunen sollten – die totgeglaubte Tochter der Apfelkönigin oder den Hünen, den sie mitgebracht hatte.
»Ja!« Sie lachte. »Ja, ich bin’s!«
Als sie ihr altes Zuhause erreichte, war Binajatja längst benachrichtigt worden. Sie stand vor der Tür ihres Hauses und wartete.
»Wie alt sie geworden ist«, flüsterte Mino. Vielleicht war sonst alles gleich geblieben, aber für ihre Mutter schienen mehr als drei Jahre vergangen zu sein. Tiefe Furchen hatten sich in ihr Gesicht gegraben, aber sie war immer noch schön. Sie stand da wie eine Königin, aufrecht und stolz, auf ihre Würde gestützt wie auf eine Krücke, und lächelte nicht, als sie ihre Tochter wiedersah.
»Mutter!«, rief Mino und umarmte sie, aber Binajatja stand stocksteif da, ohne sich zu rühren.
»Du lebst also doch«, stellte sie fest. »Und du hast es nie für nötig befunden, mich zu benachrichtigen, wenn es dir schon nicht eilig damit war, zurückzukommen?«
»Ich hatte das Gedächtnis verloren …«, begann Mino, aber Binajatja unterbrach sie. »Und wer ist das?« Sie musterte Keta unverhohlen feindselig. »Seit wann gibt es Riesen auf dieser Insel?«
»Das ist Prinz Keta«, sagte Mino. »Er hat mich hergebracht. Und davor hat er mich geheilt, weil ich fast gestorben wäre, und … Oh Mutter, ich habe dir so viel zu erzählen. Du ahnst ja gar nicht, was ich alles erlebt habe!«
Die Apfelkönigin öffnete die Tür. »Komm nach drinnen«, sagte sie, »das brauchen ja wirklich nicht all diese Leute mit anzuhören. – Ihr könnt wieder an die Arbeit gehen, es gibt hier nichts zu sehen.«
Sie konnte nicht verhindern, dass Keta sich bückte und unter dem Türrahmen hindurch über die Schwelle trat.
Es gab nicht viel zu sagen. Die Worte erstarben auf Minos Zunge, bevor sie ihren Mund verlassen konnten. Sie überließ es Keta, ihre Mutter davon zu unterrichten, dass sie eine Kopfverletzung davongetragen und das Gedächtnis verloren hatte. Als er erwähnte, dass sie in der Zwischenzeit bei den Ziehenden gelebt hatte, hob Binajatja die Brauen.