Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der gefürchtete Riese Zukata hat sein Ziel erreicht und herrscht nun über das Kaiserreich. Doch seine Räuber und Kaisergänger missbrauchen die Macht, die er ihnen verliehen hat. Besonders das Ziehende Volk hat unter der Willkür der Tyrannen zu leiden. Wutentbrannt macht Sorayn sich auf, um den Kaiser zur Rechenschaft zu ziehen. Trotz seiner ungeheuren Stärke ist der junge Mann jedoch nicht so unbesiegbar, wie er dachte: Seine Gegner haben seine Schwachstelle gefunden, sein Herz. In der Zwischenzeit entdeckt Blitz in den unterirdischen Gewölben eines Klosters eine geheimnisvolle Schriftrolle aus Rinland. Kann er mit Hilfe der uralten Briefe herausfinden, wieso das Meer über die Ufer tritt und wie man der Flut entgeht? Bald müssen die Helden sich entscheiden, ob der Kampf gegen Zukata wirklich das Wichtigste in ihrem Leben ist. Der Thron des Riesenkaisers ist der spannende Abschluss der Trilogie Sehnsucht nach Rinland.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 1022
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Lena Klassen
Band 3 der Trilogie „Sehnsucht nach Rinland“
Roman
Der gefürchtete Riese Zukata hat sein Ziel erreicht und herrscht nun über das Kaiserreich. Doch seine Räuber und Kaisergänger missbrauchen die Macht, die er ihnen verliehen hat. Besonders das Ziehende Volk hat unter der Willkür der Tyrannen zu leiden.
Wutentbrannt macht Sorayn sich auf, um den Kaiser zur Rechenschaft zu ziehen. Trotz seiner ungeheuren Stärke ist der junge Mann jedoch nicht so unbesiegbar, wie er dachte: Seine Gegner haben seine Schwachstelle gefunden, sein Herz …
In der Zwischenzeit entdeckt Blitz in den unterirdischen Gewölben eines Klosters eine geheimnisvolle Schriftrolle aus Rinland. Kann er mit Hilfe der uralten Briefe herausfinden, wieso das Meer über die Ufer tritt und wie man der Flut entgeht? Bald müssen die Helden sich entscheiden, ob der Kampf gegen Zukata wirklich das Wichtigste in ihrem Leben ist.
Fesselnd bis zur letzten Seite - Der Thron des Riesenkaisers ist der packende Abschluss der Trilogie Sehnsucht nach Rinland, in der es um die Sehnsucht nach Heilung und Geborgenheit in Gott geht, zwischen Pflicht und Ehrgeiz, Schuld und Hoffnung. Dazu bedient sich die Trilogie zahlreicher biblischer Motive.
Die weiße Möwe bildet den Auftakt; Der Erbe des Riesen ist der zweite Band der Fantasy-Trilogie Sehnsucht nach Rinland.
„Sprachlich wunderschön.“ Titus Müller
„Ein Fantasy-Schinken der außergewöhnlich guten Art!“
„Wunderbar fesselnd geschrieben.“
„Die Story ist absolut filmreif, nie vorhersehbar, super interessante Charaktere und unglaublich spannend bis zur letzten Seite.“
„Mit dieser weißen Möwe fliegt man direkt ins Land der Fantasie und möchte nie mehr weg von diesem Ort.“
Lena Klassen lebt leider nicht auf einer Insel, braucht aber das Meer. Oder wenigstens einen Sturm und ein gutes Buch. Sie hat Literaturwissenschaft, Anglistik und Philosophie studiert und über phantastische Literatur promoviert. Mit ihrer Familie lebt sie in einem kleinen Haus mit großem Garten im ländlichen Westfalen.
Lena Klassen hat bereits zahlreiche Romane und Kinderbücher veröffentlicht. Im Neufeld Verlag erschien neben der Rinland-Trilogie auch der Roman Caros Lächeln.
www.lenaklassen.de
Dieses Buch als E-Book:ISBN 978-3-86256-768-3
Dieses Buch in gedruckter Form:ISBN 978-3-937896-82-3, Bestell-Nummer 588 782
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar
Umschlaggestaltung: spoon design, Olaf JohannsonUmschlagbilder: © ShutterStock®Satz: Neufeld Verlag
© 2009 Neufeld Verlag Schwarzenfeld
Nachdruck und Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages
www.neufeld-verlag.de / www.neufeld-verlag.ch
Folgen Sie dem Neufeld Verlag auch in unserem Blog: www.neufeld-verlag.de/blog sowie auf www.facebook.com/NeufeldVerlag
Mehr E-Books aus dem Neufeld Verlag finden Sie bei den gängigen Anbietern oder direkt unter https://neufeld-verlag.e-bookshelf.de/
Zu diesem Buch
Leserstimmen zur Rinland-Trilogie
Über die Autorin
Die Welt
Was bisher geschah
Die Personen dieser Geschichte
Drittes Buch: Der Thron des Riesenkaisers
1. Sorayns Boot
2. Der Silberne Krug und eine Kette aus Eisen
3. Tribut
4. Kein Entrinnen
5. Ein alter Bekannter
6. Schläge ins Gesicht
7. Die Last auf den Schultern
8. Das Herz der Königin
9. Schlafmut
10. Gefangen sein
11. Kalter Wind
12. Ein wichtiges Schriftstück
13. Mein Labyrinth
14. Mein Lied
15. Das Fest der Brücke
16. Briefe aus Rinland
17. Über die Brücke
18. Deinetwegen
19. Begraben
20. Die Macht deiner Stimme
21. Ketas Hände
22. Zukatas Frau
23. Die Falle
24. Gekrönt
25. Hinunter
26. Nach dem Winter
27. Der Thron des Riesenkaisers
28. Sorayns Schiff
Über den Verlag
Wir befinden uns im Kaiserreich Deret-Aif, einem Staatenbund aus vierundzwanzig Königreichen. In der Hauptstadt Kirifas sitzt der gefürchtete Riese Zukata auf dem Thron und herrscht über das große Reich, das er unter seinen Getreuen – Räubern und Betrügern – aufgeteilt hat. Jeder, der sein Brandmal trägt, darf sich »Kaisergänger« nennen und tun, was ihm beliebt. Von den Küsten her kommt weitere Bedrängnis; die Inseln versinken im Meer, das Wasser steigt.
Nachdem Mino, das Albinomädchen von den Glücklichen Inseln, ihren Jugendfreund Blitz daran gehindert hat, mit ihrem Bruder und ein paar Freunden auf das kleine Segelboot Die Weiße Möwe zu gehen, um die sagenhafte Insel Rinland zu suchen, bleibt nichts mehr, wie es war. Blitz läuft von zu Hause fort und fällt in die Hände des Riesenprinzen Zukata, der ihn dazu zwingt, seiner Räuberbande beizutreten. Mino verliert in einem Sturm ihr Gedächtnis und wird vom Riesen Keta, dem Wanderheiler, aufgelesen. Beide Riesen sind Söhne des gütigen Kaisers Kanuna, der soeben zum zweiten Mal geheiratet hat. Als die Geburt der kleinen Prinzessin Manina verkündet wird, verlangt Zukata von seinem Vater den Segen, der ihn zum legitimen Erben macht. Doch diesen Segen hat Keta sich bereits erschlichen; ihm verdankt er seine heilenden Hände.
Wutentbrannt entführt Zukata die kleine Prinzessin. Während Keta zusammen mit Mino und einigen Gefährten aus dem Volk der Zintas nach ihnen sucht, kümmert Blitz sich in Zukatas Räuberlager um die Kleine und beschließt zu fliehen. Mit einem Pilgerschiff kehrt er zurück ins Kaiserreich, lernt auf dem Weg die junge Novizin Ilinias kennen und lieben und bringt Manina schließlich heil nach Hause zu ihren Eltern. Blitz und Ilinias bleiben am Kaiserhof. Als Mino ihn dort trifft, findet sie ihr Gedächtnis wieder, doch da er verheiratet ist, kehrt sie tiefunglücklich nach Hause zurück.
Um sich an Blitz zu rächen, zerstört Zukata das friedliche Leben auf den Glücklichen Inseln. Er entführt Erion, den Sohn des Weinfürsten der Insel Neiara, und zwingt dessen Eltern dadurch in seinen Dienst. Erion bewährt sich in Zukatas Bande und wächst zu seiner rechten Hand heran; ihm verdankt Zukata die Hochzeit mit Prinzessin Sidini von Yos, durch die der Räuberprinz seine Macht im Osten ausbauen kann.
Mino bekommt heimlich ein uneheliches Kind, doch sie muss die kleine Maja bei ihren Freunden aufwachsen lassen und den Gutsverwalter Norha heiraten, der sich immer tiefer in kriminelle Machenschaften verstrickt. Als ihr Leben ernsthaft bedroht ist, flieht sie mit Hilfe ihrer Freunde Jamai und Kroa.
Auch Blitz und Ilinias bekommen ein Kind, Sorayn, einen missgebildeten und unter fürchterlichen Schmerzen leidenden Jungen. Sein Körper kann sich nicht entscheiden, ob er ein Mensch ist oder – durch seine Mutter, Zukatas Tochter – ein Riese. Ilinias gibt ihn fort, lässt Blitz jedoch glauben, er sei ertrunken. Sorayn wächst auf der Insel Neiara auf; von Menschen verachtet, wendet er sich den Tieren und den Büchern zu. Seine Briefe verzaubern das Mädchen Maja, in das er sich verliebt hat, doch über sein schreckliches Äußeres kann sie nicht hinwegsehen. Verzweifelt steckt Sorayn seine Energie in den Kampf gegen den tyrannischen Inselherrn. Sein Vater Blitz, der endlich herausgefunden hat, dass er noch lebt, ermöglicht ihm die Flucht, gerät jedoch in Gefangenschaft. Alle seine Freunde halten ihn für tot.
Sorayn gelangt ins Gebirge, wo er im Kampf mit den dort lebenden wilden Riesen sein wahres Wesen findet und sich zu ihrem König aufschwingt. Als Zukata nach dem Tod des Kaisers eine Armee aufstellt, um sich die Herrschaft über Deret-Aif zu sichern, macht sich auch Sorayn mit seinen Riesen auf nach Kirifas. Unterwegs findet er Maja wieder, die den nunmehr attraktiven Mann Hals über Kopf heiratet und ihn zu Keta führt, von dem Sorayn sich den Segen erzwingt. Es gelingt ihm auch, Manina dazu zu bewegen, den Thron für ihn freizumachen. Doch die Geschichte geht nicht so aus, wie Sorayn sich erhofft hat: Enttäuscht wendet Maja sich von ihm ab. Der Segen untermauert seinen Anspruch auf die Krone, macht es ihm aber unmöglich, den Tod von Menschen zu ertragen. Um einen blutigen Krieg zu vermeiden, überlässt Sorayn Zukata den Thron.
A I R E: eine Nonne, hat vor Jahren von ihrer Freundin Ilinias einen Eimer Waschwasser über den Kopf geschüttet bekommen
B L I T Z: Ausbruchskünstler, Träumer, Krieger und Seemann, ein Mann, den man nicht so schnell vergisst
D O G L A: Kapitän eines Frachtschiffs, muss auf seine Kajüte verzichten
D R E A: der Führer einer Gruppe Pilger
E D M O N D A: eine Prinzessin aus dem hohen Norden, die Kälte hasst
E R I O N: Zukatas rechte Hand, höflich und gut aussehend, hat viele fiese Ideen
F R I A: eine Riesin, ist schon lange nicht mehr mit Sorayn zusammen
I L I N I A S: Zukatas Tochter, eine verbitterte Amazone
J A M A I: ein Mann aus dem Ziehenden Volk, liebt Mino seit vielen Jahren
K A N I J A: eine Fürstin am Kaiserhof mit unfehlbarem Geschmack
K E T A: der Zwillingsbruder des Kaisers, ein Wanderheiler ohne Ehrgeiz, von den Ziehenden »Remanaine« genannt
K R O A: ein Zwerg, unzertrennlicher Freund von Mino und Jamai
L I A D E T T: Norhas Gemahlin, kommt nur am Rande vor und verdient auch nicht mehr
M A J A: ein hübsches Mädchen mit Herz und Musikalität, Sorayns Frau
M A N I N A: eine blonde Prinzessin, Zukatas Halbschwester, war früher Kaiserin
M I N O: auch »Möwe«, zieht mit ihren Freunden durchs Land und sehnt sich nach Ankunft
N O R H A: war früher, als er Mino heiratete, eigentlich noch ganz nett. Jetzt nicht mehr
O D A D: ein greiser Fürst in einer Burg
O K A: der König von Wenz, unterwirft sich nicht Zukata
O R I: ein kleines Mädchen mit einem schweren Leben
P I D O R: ein Fürst, der hohen Tribut verlangt
R I N: der größte aller Riesen, hat die Welt erschaffen
R O N A: eine einfache Frau, die dankbar ist
R U B A R: König von Salien, zieht den Kopf ein
R U F I N: ein Mönch, der ungern mit Frauen spricht
S C H A V I L A I: früher Ilinias’ Freundin, jetzt eine stolze Äbtissin
S E T T A N: als engster von Zukatas Vertrauten wurde er König von Laring
S I D I N I: Zukatas Frau, ein zartes Wesen, bringt ihn in Rage
S O R A Y N: Sohn von Blitz und Ilinias, ein Mann mit einzigartigen Talenten
S T O L L O: Wirt, beschäftigt zwei Prinzessinnen und weiß nichts davon
S U R E S C H: ein Piratenkapitän, der einen gefährlichen Mann aufgabelt
T A M A I T: Majas Bruder, treu und kampferprobt
T O R I S: ein Mann aus dem Ziehenden Volk, Majas Vater
U S E: ein kranker Riese
V A R I T I: Ketas Frau, weise und gütig
W I L U: Piratenkapitän, bekommt es mit der Angst
Z U K A T A: ein reizbarer Riese, der Kaiser von Deret-Aif
D A SG R A U EW A S S E Rleckte gierig an den Steinen. Mit unzähligen Fingern und Zungen streckte es sich nach ihnen aus und glitt dann wieder zurück, nur um im nächsten Moment einen neuen Angriff zu starten.
Der schwarzhaarige Mann, der in Ufernähe auf einem moosbewachsenen Balken saß und den Wellen bei ihrem Spiel zuschaute, wirkte in seiner durchnässten, zerlumpten Kleidung wie ein Schiffbrüchiger. In seinen Augen lag das ungläubige Staunen eines Menschen, der noch nicht recht begreift, dass er entkommen ist.
Ein Windstoß peitschte ihm die Gischt entgegen; mit tausend kleinen Nadelstichen neckte und quälte sie ihn. Dennoch wandte er sich nicht ab, sondern hielt sein Gesicht dem Meer entgegen, hungrig nach der Berührung. Schließlich hob er den Blick. Über den Himmel rasten die Wolken, tief und dunkel, und wie zur Bestätigung dessen, was er längst hätte begreifen müssen, schnappte die erste Welle mit kalten Zähnen nach seinen Füßen.
Blitz stand auf. Er war müde bis in die Knochen, aber den Sturm hier abzuwarten, grenzte an Selbstmord. Lange genug war er in der schwarzen Burg, die sich über den Klippen erhob, eingesperrt gewesen; darauf, sein Leben zwischen finsteren Wassermassen zu beschließen, legte er es nicht an. Zu den schnellen, gewandten Bewegungen, die ihm sonst eigen waren, war er jetzt, nass, durchgefroren und erschöpft, nicht in der Lage. Wie ein uralter Mann fühlte er sich, während er steifbeinig über die Steine kletterte, landeinwärts. Der Wind zerrte an seinen Kleidern. Die Hütten der Fischer, in denen er jetzt gerne Zuflucht gesucht hätte, standen schon lange nicht mehr. Das Meer holte sich die Insel zurück; hier oben, wo er sich jetzt umdrehte, um noch einmal auf die aufgewühlte See hinauszuschauen, hatten früher einmal eine Reihe Weinstöcke Frucht getragen. Stümpfe ragten ins hohe, vom Wind niedergepeitschte Gras. Auf dieser Seite Neiaras gab es wahrscheinlich erst einen Unterschlupf, wenn er dem Weg nach oben in die Hügel folgte. Besondere Ansprüche hatte er keine. Auf einer Insel, die augenscheinlich verlassen war, gab es keine Hoffnung auf einen warmen Platz am Kamin, einen Teller Suppe und ein weiches Bett. Als er dem Weg zwischen den Hügeln hindurch folgte, tauchte ein baufälliges Haus vor ihm auf. Durch die große Toröffnung wankte er in einen offenen, von Schutt überfüllten Hof. Der immer stärker werdende Regen trieb ihn in einen der leeren Räume. Es trommelte aufs Dach, als würde der Sturm mit aller Macht versuchen, ihm zu folgen, aber er fand eine trockene Ecke, rollte sich zusammen und schlief.
Das Unwetter tobte die ganze Nacht. Blitz bekam nicht viel davon mit. Kälte und Nässe und das Heulen des Windes – das alles hatte er als Gefangener im Schloss fast tagtäglich miterlebt. Doch immerhin hatte er dort, wenn er morgens aufwachte, fast immer etwas zu essen bekommen. Hier jedoch konnte er seinem knurrenden Magen keine befriedigende Antwort geben. Er durchstöberte das verfallene Haus. Groß war es, viel größer als die üblichen Häuser auf den Glücklichen Inseln. Was war das hier – der Besitz des Weinfürsten Wikant, bevor er auf die Idee verfallen war, sich ein Schloss zu bauen? Und nun gab es für die Gäste nichts als Regenwasser, das nach Salz und Meer schmeckte.
Er musste unbedingt von dieser Insel herunter. Am besten noch heute, solange er bei Kräften war. Dass der Hafen nicht mehr existierte, hatte er gewusst, doch es musste doch irgendwo noch ein Boot zu finden sein, wenigstens ein kleines! Besaßen Wikant und Tinek nicht wenigstens ein einziges Schiff, um fliehen zu können? Die Antwort gab er sich selber. Sie waren nicht geflohen und sie hatten nicht den winzigsten Kahn.
Tinek! Blitz sah hoch zur schwarzen Burg; von hier aus konnte er nur die Spitze einer Zinne erkennen. Er musste die Fürstin mitnehmen, wenn er ging, so unwahrscheinlich es auch war, dass er eine Möglichkeit fand, von hier zu verschwinden. Sie hatte keine Hoffnung gehabt, das wusste er, er hatte es gesehen, wenn sie ihm die kärglichen Mahlzeiten brachte, die sie irgendwie aus irgendetwas zusammenkratzte. Zuversicht, die Tag für Tag schwand …
Blitz schauderte, wenn er nur an dieses Schloss dachte, den Ort, an dem sie ihn wie ein seltenes Haustier eingesperrt hatten, doch er zwang sich dazu, den Weg zu wählen, der ihn darauf zuführte. Er musste Tinek sagen, dass sie nicht aufgeben durfte. Er würde einen Weg finden, ein Boot, ein Floß, irgendein Gefährt.
»Tinek!« Seine Stimme war heiser, sein Hals brannte. Da stand er, vor sich eine unüberwindbare Schlucht. Steil ging es hinunter in eine finstere Tiefe, aus der das Wasser zu ihm hinaufrauschte. Der Sturm hatte die Zugbrücke weggerissen – niemand würde diese Burg je wieder betreten. »Tinek!« Er schrie, so laut er konnte, aber keine Hand zerrte die Bretter fort, kein Gesicht, bleich und ausgezehrt, erschien an einem der zugenagelten Fenster. Schließlich gab er es auf. Er wandte der Burg den Rücken zu und ging – und drehte sich noch einmal um, rasch, falls sie sich doch entschlossen hatte, sich zu zeigen – aber niemand rief ihn zurück. Alles blieb still. Nur das Meer, niemals müde, niemals still, lockte ihn hinaus ins Ungewisse.
Was brauchte man, um ein Floß zu bauen? Bretter gab es hier genug; das Dorf schien vor seinen Augen zu zerfallen. Doch Werkzeug gab es hier keins. Am Ende würde ihm nichts übrig bleiben, als sich mit einer Holzbohle allein aufs offene Meer hinauszuwagen und dort jämmerlich unterzugehen. War er dazu aus der Gefangenschaft entkommen – um auf einer verlassenen Insel zu sterben?
»Nicht dafür«, sagte er laut, sagte es trotzig, rief es den Wolken zu, als könnte dahinter, seinen Blicken verborgen, ein Riese stehen, der ihm zuhörte – der nur die Hände auszustrecken brauchte, um sein Schicksal zu wenden. »Nicht dafür! Um hier zu sterben? Ist das deine Gnade, Rin? Erst Freiheit und dann Tod? Nie und nimmer!« Es musste irgendwo einen Ausweg geben, eine Möglichkeit zur Rettung. »Es gibt sie!«, rief er dem unsichtbaren Riesen zu. »Ich werde sie finden, irgendwo hier … Ich gebe nicht auf! Du hattest so viele Gelegenheiten, mich nach Rinland zu holen. Du hast sie alle nicht genutzt. Hundert Mal wäre ich fast gestorben … und du hast mich noch nicht gerufen. Es gibt eine Möglichkeit. Zeig sie mir!«
Er durchsuchte die Häuser, erfüllt von einer Hoffnung, die so wie er einfach nicht sterben wollte, eine Hoffnung, immer ein Stück lebendiger als er selbst, ihm immer einen Schritt voraus. Die Bewohner hatten alles mitgenommen, was sich nur mitnehmen ließ. Wo waren sie hingezogen? Nach Drian, zum nächstgelegenen Festland? Oder hatten sie sich verstreut, übers ganze Kaiserreich, jeder dorthin, wohin das Schicksal ihn verschlug?
Wo Ilinias wohl war? Und Sorayn. Er setzte sich, den Rücken gegen eine Hauswand gelehnt, und dachte an seinen Sohn, an jenen unvergleichlichen Moment, in dem er den Jungen gefunden und im Arm gehalten hatte.
Rin ließ niemanden gehen, dessen Zeit noch nicht gekommen war. Wahrscheinlich war es vermessen zu glauben, dass der größte aller Riesen dieses Kind nur dafür am Leben gehalten hatte, dass Blitz es einmal umarmen konnte. Und doch war diese Erinnerung ein Schatz in seinem Herzen. Wie Gläser voller Eingemachtem bewahrte er sie in seinem Herzen auf, ein Keller, in den er hinuntersteigen konnte, um nach Belieben zu genießen. Den Duft vergangener Tage. Die Stunden, in denen er mit Mino ihr Baumversteck eingerichtet hatte … das waghalsige Klettern an der Steinküste, dieses unvergleichliche Gefühl, das Leben selbst bezwungen zu haben … Ilinias, wie sie vor ihm herlief, das flatternde weiße Haar … Manchmal war er kurz davor gewesen, gerade dieses Glas auf dem Boden zu zerschmettern und alle Erinnerungen an das Mädchen, das er aus dem Kloster entführt hatte, zu vernichten, nachdem der Geschmack der Bitterkeit alles Gewesene nachträglich durchdrungen hatte. Aber da war es noch, dieses Bild, wie sie lief und wie sie lachte, und dass er geglaubt hatte, in ihr all das gefunden zu haben, wonach er sich sehnte. Er hätte mit Mino fliehen können – und war doch bei Ilinias geblieben, die den gemeinsamen Sohn weggeworfen hatte wie einen zerbrochenen Teller.
Mino. Oh nein, denk nicht an Mino. Denk nicht an dieses andere blonde Mädchen, tu dir das nicht an. Aber auch das war einer der Augenblicke, die er in seinem Vorratskeller aufbewahrte, ein Glas, in dem der Geschmack lieblicher Pfirsiche und Aprikosen sich mit der Schärfe von Pfefferschoten mischte und ihm die Zunge verbrannte. Denk nicht daran, wie du ihre Hand gehalten hast. Denk nicht an die Umarmung, an dieses Gefühl innigster Nähe, das du bei Ilinias nicht einmal dann gefunden hast, wenn ihr zusammen im Bett wart. Denk nicht an Mino. Aber er konnte nicht anders. Hier, entkommen und doch dem Tod näher als je zuvor, konnte er nicht anders, als jeden Moment hervorzuholen und noch einmal auszukosten, einmal und ein zweites Mal und immer wieder. Mino im Schlossgarten, die auf ihn zulief, seinen Namen auf den Lippen. Mino, erwachsener geworden, fraulicher, genauso gebunden wie er … Ahinehl.
Was er auf dieser Welt am allermeisten liebte. Mino. Und Sorayn. Und beide hatte er nur kurz im Arm gehalten. Viel zu kurz. Liravah war es gewesen, die sich um seinen Sohn gekümmert hatte. All die Jahre war Sorayn bei ihr gewesen. Ganz in der Nähe musste ihre Hütte sein. Von dieser Seite war Blitz nie über die Insel gewandert, aber wenn er es sich recht überlegte, hatte das Häuschen seiner ehemaligen Lehrerin in jenem Waldstück gestanden. Man musste nur den Hügel herabsteigen, zwischen den Bäumen hindurch …
Sein Herz schlug hoch auf, als er die Hütte hell durch die Stämme schimmern sah. Der Wald hatte es vor den Stürmen beschützt, die über die Dörfer der Insel hinweggefegt waren. Genauso wie damals sah es aus, als er und Ilinias hergekommen waren. Ihr Kuss brannte immer noch auf seinen Lippen. Und Sorayn, damals noch zu klein zum Laufen, hatte in Liravahs weise Augen geblickt.
Das kleine Haus war schon lange verlassen. Die Tiere hatten es für sich in Anspruch genommen, und der Wald erdrückte es fast mit seiner innigen grünen Umarmung. In den kostbaren Büchern der alten Lehrerin hatten kleine Tiere ihre Schlafstätten gebaut, in den Winkeln unter dem Dach klebten Nester. Durchs Fenster sah Blitz auf den Tümpel hinaus. Wild zugewachsen reichte der Teich beinahe bis an die Außenmauer. Die Blumen, in ein altes Boot gepflanzt, wucherten wild, vom Gestrüpp noch nicht ganz verdrängt.
Ein Boot.
Blitz starrte eine Weile auf das, was er da vor sich hatte.
Ein Teich. Blumen, die sich nicht hatten unterkriegen lassen. Ein Boot.
Er nahm sich nicht die Zeit, aus dem Haus zu laufen. Die Glasscheibe war längst geborsten; er sprang durch die Fensteröffnung und kniete mit zitternden Händen vor dem ungewöhnlichen Pflanztrog. Die größtenteils abgeblätterte Farbe war immer noch zu erkennen. Blassblau. Ein blau gestrichenes kleines Ruderboot.
Er riss die Blumen und das Kraut aus, griff mit bloßen Händen in die Erde, hob eine Handvoll nach der anderen hinaus.
»Lass es nicht beschädigt sein … Ein Boot! Lass es heile sein, bitte! Oh Rin, bitte!«
Hunger und Müdigkeit waren vergessen, während er mit bloßen Händen die Erde hinausschaufelte und einen immer größer werdenden Haufen neben sich auftürmte. Es war tatsächlich ein Boot, das er aus dem Erdreich zog. Klein, eine Nussschale wie für ein Kind, und natürlich nicht unbeschädigt. Eine der Bohlen war zersplittert, aber das restliche Holz fühlte sich gut an und würde dem Wasser und seinem Gewicht standhalten. Zum Reparieren würde er ein paar Bretter benötigen, irgendetwas Passendes würde sich schon finden. Und etwas zum Verkleben – Pech vielleicht oder Harz? Es musste nicht lange halten. Nur eine Fahrt, eine einzige Fahrt.
Die See lag erstaunlich ruhig vor ihm, als hätte sie sich langsam vom letzten Sturm erholt und atmete tief durch, bevor das nächste Unwetter heraufzog. Noch ließen sich am Himmel keine Wolken blicken und der Wind war zwar frisch, aber nicht sehr stark. Das Meer, das er seit seiner Kindheit kannte, war unberechenbarer geworden und blieb doch vertraut. Als Blitz ins Boot stieg, wusste er, dass sich die Wetterlage innerhalb kürzester Zeit ändern konnte, doch er zögerte keinen Moment. Dies war seine einzige Gelegenheit zur Flucht. Eine zweite Chance würde es nicht geben.
Das Festland war nicht weit, aber ohne die Strömung, auf die er sich stets verlassen hatte, war nicht gewiss, wo er ankommen würde. Die Flut sollte ihn in Küstennähe tragen. Doch auf dieses unruhige, unwillige Meer war kein Verlass. Wie friedlich es tat, seine wilde, unbezähmbare Freundin! Launisch, mutwillig, vielleicht in der Stimmung, ihn zu verschlingen, vielleicht willens, ihm zu helfen. Wer konnte das wissen? Aber hier war das Boot. Hier war er, bereit, dem Tod erneut ein Schnippchen zu schlagen. Alles andere ging ihn nichts an; es würde kommen, wie es kommen musste.
Wieder einmal gab er sich ganz in die Hände des Riesen.
Glänzende Tropfen perlten von dem behelfsmäßigen Paddel. Die Sonne küsste seine trockenen Lippen. Als er um die Insel herumruderte, sah er noch einmal hoch zu Tineks und Wikants schwarzem Schloss auf der Spitze der Felsnadel. Dort, über dem Donnern der Brandung, war sein Gefängnis gewesen. Bitterkeit über die verlorenen Jahre wollte ihn erfüllen, stand schon bereit wie ein grimmiger Soldat in voller Rüstung, um in der Kammer seines Herzens wild mit der Lanze um sich zu stechen.
»Nicht verloren«, stieß er hervor, »nein, das nicht. Dort habe ich gelebt wie ein Prinz in einem Schloss. Wie ein Matrose auf seinem Schiff. Wie ein Einsiedler im Wald. Ich habe kein einziges Jahr verloren.« Und zugleich kam der Ruf aus seinem Mund: »Hilf mir. Oh Rin, bitte, hör mich an. Ich fürchte mich davor, dass mir die Zeit durch die Finger rinnt. Lass mich nicht verloren sein. Ich wünsche mir, dass kein Tag meines Lebens vergeudet war.«
Konnte er nicht einmal einen Gedanken denken, ohne dabei um Hilfe zu bitten? Er schloss für einen Moment die Augen, fühlte die Sonne auf dem Gesicht, den Wind, das Meer.
Lass mich nicht verloren sein …
Glück füllte sein Herz. Er war frei. Was brauchte er mehr als das – frei zu sein und ein Boot zu besitzen? Was scherten ihn der Hunger, die Nadelstiche der Kälte, die nassen Füße?
Erschrocken blickte er nach unten, wo eine Pfütze sich um seine Füße ausbreitete. Ein Leck! Die Reparatur hatte nur kurz gehalten. Immer schneller drang das Wasser durch den Riss. Und dabei war das Land schon zu sehen! Dort hinten – fern und noch leicht verschwommen, die sanften Erhebungen der Küste von Drian. Es durfte nicht wahr sein!
»Was machst du, Rin?«, fuhr er auf, während er verzweifelt Wasser schöpfte, hastig, mit bloßen Händen, ein Kampf gegen einen übermächtigen Feind. »Was tust du denn? Warum nimmst du mir dieses Wunder wieder weg? Rin! Rin!«
Rin antwortete nicht. Er antwortete nie, immer blieb er unsichtbar, immer einen Schritt hinter ihm oder vor ihm, immer lag dieses wissende Lächeln in der Luft.
»Tu das nicht! Oh nein, nicht jetzt, nicht jetzt!«
So schnell, wie das Wasser stieg, konnte er nicht schöpfen. Hier, mitten im Wasser, hier versagte der Kahn, hier, zwischen der Insel und dem Kaiserreich, musste er untergehen? Blitz konnte nur noch zusehen, wie das Meer sich lachend über das winzige Gefährt hermachte und es mit gierigen Zähnen herunterschluckte. Ihn ließ es übrig, als sei er eine Gräte, ungenießbar. Oder als sei er ein besonderer Leckerbissen, den es sich noch aufsparte. Denn entkommen lassen würde es ihn nicht. Von hier aus war es unmöglich, das Land schwimmend zu erreichen, er wusste das, und doch schwamm er los.
So lange ich kann. Ein Schwimmstoß und noch einer. Langsamer. Während das finstere Wasser meine Kleidung tränkt und die Tiefe mich ruft. Ist es dein Ruf, Rin, zu dir? Hältst du deine Hände unter mir, ausgebreitet, um mich zu dir zu holen?
»Noch nicht!«, rief er, doch eine große Woge schwappte über ihn und erstickte seinen Ruf.
Zu dir. Er konnte es fühlen, Rin war da. Ein Riese, größer als alles, ein Riese mit einem Lächeln. Fast konnte er es sehen. Fast konnte er seinen Atem auf der Stirn spüren und die großen warmen Hände.
Hab keine Angst.
Fast hätte Blitz gelacht. Während er mit den Wellen kämpfte und keinen Augenblick nachließ, war es doch so, als würde er nicht im kalten Wasser um sein Leben ringen, sondern als würden ihn die Hände des Riesen über die Untiefen hinwegtragen. Er atmete Wasser ein, hustete und spuckte und würgte, und doch glaubte er dieser Stimme, die zu ihm sagte: Gib nicht auf. Hab Mut. Sei stark. Fürchte dich nicht.
Wie war es möglich, sich gleichzeitig der Kraft des Riesen zu überlassen und weiterzumachen? Trotz Kälte und Schwere unermüdlich Arme und Beine zu bewegen? Wie konnte er einverstanden sein mit dem, was ihn erwartete, und doch immerzu weiterschwimmen, mit einer Ausdauer, die der eines Riesen gleichkam?
»Ich hab ihn! Na los. Und hepp!«
Arme um seine Schultern. Blitz brauchte eine Weile, bis er begriff, dass die Hände, die ihn gepackt hatten, nicht dem Riesen gehörten, der ihn begleitete, sondern einem Mann, und dass auch die anderen Hände zu fremden Menschen gehörten. Dass das Boot, in das sie ihn zogen, echt war. Und dass das Schiff, zu dem sie ruderten, schon eine ganze Weile in der Nähe gewesen sein musste. Er hatte es nur nicht gesehen.
Erst als sie ihm an Bord geholfen hatten, als er an Deck saß, ein grobes Tuch um die Schultern, und einige Schlucke eines sehr starken und sehr übelschmeckenden Getränks hinuntergekippt hatte, wurde ihm allmählich bewusst, wo er gelandet war. Etwas Vertrautes war an den Gestalten, die ihn umringten, an der Art, wie sie redeten, wie sie aussahen, wie sie lachten. Seeleute hatten immer eine raue Sprache, aber diese hier waren fast zu gut gekleidet für ein solches Schiff, das nicht nach einem Handelsfrachter aussah. Schöne Hemden mit großen Knöpfen, geflochtene Ledergürtel, gefärbte Tücher. Wenn dies ein reiches Kaufmannsschiff gewesen wäre, das gerade besonders gute Geschäfte gemacht hatte, hätte der Kapitän darauf geachtet, dass an Bord alles sauber war, die Galionsfigur neu gestrichen, die Segel geflickt. Doch dieses Schiff wurde schlampig geführt, von Leuten, die lieber tranken, als die Bohlen zu schrubben. Kein nüchterner Kapitän hätte so etwas geduldet. Diese Leute hier waren nicht stolz auf ihr Schiff, und wenn sie es doch waren, dann liebten sie es nicht. Lange genug hatte er unter Räubern gelebt, um zu erkennen, zu welchem Schlag ein Mensch gehörte. Das hier waren unzweifelhaft Piraten. Er musste sich nicht einmal umwenden und zu der schwarzen Flagge hinaufsehen.
»Oh bitte, Rin«, murmelte er. »Musste das wirklich sein?«
Er fühlte immer noch das Lächeln über sich, ein riesiges, gütiges und zudem äußerst amüsiertes Lächeln.
»Kapitän Suresch will dich sehen«, teilte ihm einer der Matrosen mit. Blitz ließ die Decke liegen, obwohl ihm immer noch kalt war, doch eingewickelt wie eine melgianische Pilgerin wollte er nicht vor dem Herrn des Schiffs erscheinen. Dass er kein Hemd trug, keine Schuhe und auch seine Hosen kaum bis zu seinen Waden reichten, würde einen Piraten nicht stören. Falls der Kapitän beschloss, ihn am Leben zu lassen, würde man ihm andere Kleidung geben; falls nicht, spielte es sowieso keine Rolle, was er anhatte. Das Messer, das er im Gürtel trug, nahmen sie ihm nicht ab. Besser für sie, dass sie es nicht versuchten.
Der Anführer der Piraten war ein großer, kräftiger Kerl mit einem Bart, der in seinem Gesicht wucherte wie Unkraut. Er musterte Blitz aus dunklen, halb zusammengekniffenen Augen.
»Schiffbrüchig, eh?«, fragte er. »Und wie, bitteschön, kommst du dazu, mitten im Meer zu schwimmen, ohne ein untergegangenes Schiff weit und breit?«
»Ich hatte ein Boot«, erklärte Blitz.
»Ein Boot? Haben sie dich ausgesetzt? Was hast du ausgefressen? Sag es mir lieber gleich, ich finde es doch heraus.« Suresch ließ seinen Blick über Blitz’ zahlreiche Narben wandern. »Wie heißt du? Von welchem Schiff bist du?«
»Er lügt. Weder die Löwenbiss noch die Greifenklaue sind in diesen Gewässern unterwegs«, warf ein anderer Pirat ein, bevor Blitz überhaupt antworten konnte.
Blitz schenkte dem Sprecher, einem langen, hageren Mann neben dem Kapitän, ein abfälliges Lächeln und legte die Hand ganz ruhig an den Griff seines Messers. »Du nennst mich einen Lügner? Was bist du hier, der Maat? Wenn ich mich einen Lügner schimpfen lasse, dann allerhöchstens vom Kapitän dieses Schiffes.« Wenn man solchen Leuten nicht von vornherein zeigte, dass man keine Angst hatte, war man verloren.
»Warte, du …«
Kapitän Suresch hob die Hand, und der Maat ließ die Fäuste wieder sinken und trat einen Schritt zurück.
»Ich habe nie behauptet, ich wäre von der Löwenbiss oder der Greifenklaue«, sagte Blitz und wunderte sich darüber, wie die Piratenschiffe heutzutage hießen.
»Von welchem Schiff bist du dann?«, verlangte der Kapitän zu wissen.
»Ich bin …«
»Er lügt«, rief der Maat, bevor Blitz zu Ende reden konnte. »Er denkt sich gerade eine Geschichte aus!«
»Mein Name ist Jakebeny.« Seinen eigenen Namen durfte er nicht nennen, nicht, wenn die Gefahr bestand, dass Zukata davon erfuhr, dass er noch am Leben war. Den Namen seines Vaters zu tragen, erfüllte ihn mit einem erhabenen Gefühl des Stolzes. Auch dies war wie ein Schlag in Zukatas Richtung. Sieh her, ich habe schon einen Vater, nach dem ich mich nenne. Nicht du. Niemals du. »Ich bin von der – äh, Riesenfaust.«
»Nie gehört«, knurrte der Maat, doch diesmal scheuchte ihn Suresch mit wenig sanften Worten ganz fort, und trat so nah an Blitz heran, dass dieser seinen stinkenden Atem riechen konnte.
»Ich erkenne Zukatas Auserwählte, wenn ich einen vor mir habe, Jakebeny«, sagte er. »So wie jeder hier. Denkst du, ich wüsste nicht, was ich einem Kaisergänger schuldig bin?«
Blitz sagte nichts dazu. Aber die Narbe an seinem Arm schien aufzubrennen, dieses Zeichen, das ihn für immer mit Zukata verband: das eingebrannte Z und darüber die Krone. Zukata, der Kaiser. Damals hatte der Riesenprinz noch davon geträumt, eines Tages in Kirifas auf dem Thron zu sitzen, und dieses Zeichen, das er allen seinen Gefolgsleuten eingebrannt hatte, war wenig mehr als die Verheißung von Macht und Einfluss und unermesslichem Reichtum gewesen. Schlimmer noch – für jeden, der Zukatas Zeichen, das Mal eines Verbrechers, an sich trug und von Soldaten aufgegriffen wurde, bedeutete es das Todesurteil. Doch nun war Zukata selbst der Herrscher des gesamten Kaiserreichs und das Brandmal verlieh allen seinen Gefolgsleuten die Macht, im Namen des Kaisers Befehle zu erteilen.
Blitz konnte die Narbe nicht ausstehen, doch er hatte nicht die Absicht, den Irrtum des Kapitäns aufzuklären. »Ich kann nicht erklären, wie ich hierher geraten bin«, behauptete er. »Aber ich verlange, bis zum nächsten Hafen mitzufahren.«
»Die Krone ist kaum noch zu erkennen«, bemerkte Suresch. »Du warst ein Mitglied von Zukatas alter Bande, richtig? Du warst von Anfang an dabei?«
»Das stimmt.«
»Und du hast kein Königtum bekommen wie die anderen? Keinen Thron und kein Gut?« Wieder glomm das Misstrauen in den geröteten Augen auf.
»Die letzten Jahre habe ich in einem Schloss gewohnt«, bekannte Blitz freimütig, natürlich ohne zu erwähnen, dass er dort in einem winzigen Zimmer hinter einer schweren Tür gelebt hatte, die sich niemals öffnete. »Aber ich habe das Meer vermisst und Schiffsplanken unter meinen Füßen. Sehe ich aus wie jemand, der von goldenen Tellern speist? – Wo ich gerade dabei bin, gibt es vielleicht etwas Essbares an Bord?«
Der Kapitän lächelte breit. »Das gibt es.« Er schlug Blitz auf die Schulter und rief einen Matrosen, der ihn hinunter zur Kombüse führen sollte. Vielleicht fragte Suresch sich, ob der Gerettete ein Kaisergänger war, der in Ungnade gefallen war. Aber solange das nicht erwiesen war, blieb ihm nichts anderes übrig, als jeden seiner Wünsche zu erfüllen.
Wer so ausgehungert war wie Blitz, hatte nur einen Wunsch.
Er war auf der Adlerschwinge gelandet, einem Schiff, das die westlichen Gestade abfuhr, um Handelsschiffe zu »begleiten« und den dafür fälligen Zoll einzuziehen. Ihr Kurs führte sie nordwärts, um die Insel der Amazonen herum, in Richtung Sandart. Kapitän Suresch fürchtete, Blitz könnte einen Auftrag haben, der sie dazu zwang, seinetwegen einen Umweg zu machen. Die Piraten mussten in den Norden, bevor die Zeit der Stürme begann, hatte er dem Geretteten erklärt und ihn dabei angefunkelt, als könnte ein einziger Blick genügen, um einen Kaisergänger dazu zu bringen, klein beizugeben. Blitz musste sich so schnell wie möglich etwas Glaubwürdiges einfallen lassen. Er wollte den Gehorsam des Freibeuters gegenüber Zukata nicht auf die Probe stellen und noch einmal die Frage aufwerfen, warum er nicht in seidenen Gewändern auf einem Königs- oder Fürstenthron saß, sondern in abgerissenen Lumpen im Meer getrieben war. Deshalb dachte er sich schnell etwas aus, das mit Sureschs Plänen beeindruckend gut zusammenpasste.
»Ihr könnt mich auf der Insel der Amazonen absetzen.«
»Für den Kaisergänger fahre ich ans Ende der Welt«, meinte Suresch großspurig und beäugte seinen Gast eindringlich.
»Im Ernst«, meinte Blitz und schaute über seine Schulter, als befürchtete er, sie könnten belauscht werden. »Die Insel ist mein Ziel. Ich habe dort – etwas zu tun.«
»Du, ein Mann, auf der Insel der Amazonen?«
Auf jeden Fall klang es geheimnisvoll genug. Nicht einmal der Kapitän eines Piratenschiffs würde darauf bestehen, alles über den Auftrag eines Kaisergängers zu erfahren. Suresch nickte und ließ ihn zufrieden. Und Blitz atmete auf. Die Amazonen kannten ihn; wenn er irgendwo Hilfe bekommen konnte, dann dort.
In der Zwischenzeit machte er sich an Bord der Adlerschwinge nützlich. Die Piraten hatten schon am ersten Tag den Seemann in ihm erkannt und hielten ihn für einen Freibeuter wie sie – welcher ehrliche Matrose hätte jemals Zukatas Zeichen getragen? Befriedigt nahmen sie zur Kenntnis, dass er sich nicht wie ein großer Herr aufführte, der in seiner Kajüte saß und sich bedienen ließ. All das hätte ihm zugestanden, aber seine Hände sehnten sich nach dem glatt polierten Holz der Planken, nach Tauen und Segeltuch unter seinen Händen. Der Wind brachte den Geruch von Salz und Tang mit. Über ihnen kreiste ein Möwenschwarm und wartete darauf, an ihrer Beute teilzuhaben. Der Ruf der Vögel war Musik in seinen Ohren. Das Rauschen der Wellen, das Knarren des Holzes, das Knattern und Schlagen der Segel – all das gehörte so sehr zu seinem Leben, dass Blitz sogar hier, inmitten von Verbrechern, das Glück fand. Er ließ sich sein Erschrecken nicht anmerken, wenn sie mit ihren Raubzügen prahlten, mit den Grausamkeiten, die sie begangen, und den Reichtümern, die sie errungen hatten. Ein wenig war es wie damals, als er unter die Räuber gefallen war und mit Männern aß, die eben von einem Mord nach Hause gekommen waren. Er hörte zu und seine Augen schienen ein wenig dunkler zu werden, und er lachte nicht mit, wenn sie grölten, aber er zuckte nicht zurück. Niemals wurde das Entsetzen in seinem Gesicht sichtbar. Manchmal lächelte er, als würde er träumen, aber sie sollten nicht erfahren, was er dachte.
»He, und du, Beny?« Einer schlug ihm auf die Schultern. »Erzähl! Was hast du gemacht, zusammen mit Zukata?«
»Du könntest uns Geschichten erzählen, wie?«
In ihren Gesichtern lag die Erwartung, etwas von seinen Abenteuern zu hören zu bekommen, so dass sie damit prahlen konnten. Einer von Zukatas Männern, ja, und er war auf unserem Schiff. Mit uns hat er zusammengesessen und geredet und man hat nicht gemerkt, dass er sich für was Besseres hält. Unser Kumpel ist er geworden, vielleicht wird er sogar Zukata von uns berichten …
»Wir haben viel miteinander erlebt«, sagte Blitz vorsichtig, und ihnen musste es so scheinen, als wüsste er nicht, wie viel er verraten durfte. Von einem Zukata, den man nahe bei sich hatte, einem Zukata zum Anfassen, noch nicht der ferne Kaiser auf dem hohen Thron. »Einmal haben mich die Soldaten erwischt und man wollte mich schon hängen. Und da, Zukata, mit bloßen Händen hat er eine Schneise durch die Wachen geschlagen, mitten im Hof der Fürstenburg, vor allen Leuten!«
Jede Geschichte, die er preisgab, kehrte zu ihm zurück. Oder vielleicht kehrte er zu der Geschichte zurück, zu jenem Ereignis, zu einer Zeit, in der er so unglaublich jung gewesen war und es kaum vermocht hatte, sich gegen einen Mann zu wehren, der sein Herr und sein Vater sein wollte. Die Münder der Piraten standen offen, während er ihnen den gewaltigen Riesen vor Augen malte, einen Zukata, der wie ein Sturm durch die Wälder fegte und alles mitriss, was sich ihm in den Weg stellte.
Blitz lächelte. Und vielleicht spürten sie da, dass er keiner von ihnen war, dass er jemandem gehörte, den sie nie gesehen hatten, und dass er, auch wenn er in ihrer Mitte arbeitete, immer jemand sein würde, dem Zukata seine Zuneigung und sein Vertrauen und sein Zeichen geschenkt hatte und vielleicht auch noch ein Fürstentum oder ein Schloss. Wenn er von dem Herrn des Kaiserreichs sprach, mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Bewunderung und Schrecken – er brauchte sich nicht zu verstellen, denn all dies war in ihm –, fühlten sie sich seltsam berührt und nickten. Nur eine Andeutung, dass er Zukata hintergangen hatte, bloß ein kleiner Hinweis darauf, dass dieser nur zufrieden sein würde, wenn Blitz irgendwann tot zu seinen Füßen lag, und sie hätten ihn in Stücke gerissen.
Je weiter sie nach Norden kamen, um so unmöglicher schien ihr Vorhaben, Sandart zu erreichen. Der Wind pustete ihnen nicht mehr bloß Salzgeruch ins Gesicht, sondern peitschte die Wellen so hoch auf, dass das Deck ständig überspült wurde. Die Wolken schienen mit dem Meer zu verschmelzen, so tief hatten sie sich über die weite See geduckt, und die Adlerschwinge kämpfte sich durch einen grauschwarzen Hexenkessel aus peitschendem, spritzendem, allgegenwärtigem Wasser.
»Ich kann die Insel nicht anlaufen!«, brüllte Kapitän Suresch durch das Tosen und Brüllen des Sturms hindurch. »Wir würden an den Klippen zerschellen!«
»Was tun wir dann?«, schrie Blitz zurück.
Die Antwort des Kapitäns konnte er nicht mehr hören. Eine Woge schleuderte ihn gegen den Mast. Krampfhaft hielt Blitz sich fest, während der Bug des Schiffes sich in den nächsten Wellenberg bohrte.
»Noch nicht, Rin!«, rief er in das Heulen des Orkans hinein. »Noch nicht!« Der Wind riss ihm die Stimme vom Mund und trug sie hinaus in das wirbelnde Schwarz.
D E RJ U N G EM A N Nauf der Lichtung schien so fest zu schlafen, als gäbe es nichts Böses auf der Welt. Sein Pferd, ein langbeiniger Brauner mit schwarzer Mähne, rupfte gemächlich die hohen Halme ab, so weit der Strick an seinem Halfter es zuließ. Als das Mädchen zwischen den Bäumen hervortrat, stutzte der Hengst nur kurz und ließ sich nicht weiter beim Grasen stören.
Der Schläfer lag auf dem Rücken, den Kopf auf einen aus grobem Stoff genähten Reisesack gebettet. Sein blondes Haar klebte ihm verschwitzt an der Stirn. Manina lächelte unwillkürlich. Die Spätsommersonne schien ihm voll ins Gesicht; wenn er nicht bald aufwachte, würde er sich einen schlimmen Sonnenbrand holen. Wahrscheinlich schlief er hier schon länger, als er beabsichtigt hatte. Das hieß, dass er sehr müde gewesen war, als er hier angekommen war, und es nicht einmal mehr bis ins Dorf geschafft hatte, wo es im Silbernen Krug alles gegeben hätte, was Reisende benötigten, um sich zu erfrischen und gut zu erholen. Sie betrachtete ihn und überlegte, von wo er wohl kommen mochte, aus welchem der vierundzwanzig Königreiche Deret-Aifs.
Der Fremde öffnete die Augen und blickte sie verträumt an. Er gähnte, wischte sich die Haare aus der Stirn und setzte sich auf.
»Was für ein wunderschöner Traum«, sagte er. »Oder bist du wirklich?«
Die junge Prinzessin lachte. »Ganz wirklich«, versicherte sie. Seine Stimme war ebenso angenehm wie sein Äußeres. Und ja, auch sie hatte das Gefühl, dass diese Begegnung nicht wirklich stattfand. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass hier, auf dem Weg ins Gasthaus, in dem sie arbeitete, etwas passierte, das ihr Leben von Grund auf änderte. Sie musste nur das staunende Lächeln in seinem attraktiven Gesicht erwidern, in seine ernsten grauen Augen blicken, um zu wissen, dass nichts mehr so war wie zuvor.
Solche Dinge passierten sonst immer nur anderen. Wenn Maja davon erzählte, wie sie auf einer Lichtung ihren tot geglaubten Brieffreund getroffen hatte, senkte die ehemalige Kaiserin manchmal traurig den Kopf. Und kam doch ständig darauf zurück. Sie konnte nicht anders, als immer wieder zu fragen: Wie war es? Wie war dieser Moment, als du ihn erkannt hast? Als du wusstest, dass es Sorayn war?
Aber ihr selbst begegnete niemand, den sie hätte lieben können. Früher war sie davon ausgegangen, dass sie eine Verbindung zum Wohle des Kaiserreichs würde eingehen müssen, dass irgendein König oder Prinz eines Tages neben ihr auf dem Thron saß und mit ihr regierte; eine Aussicht, die damals nicht einmal schmerzte oder ihr Angst einjagte, so selbstverständlich war eine Pflichtheirat, wenn man im Schloss von Kirifas lebte. Doch nun war sie an diesem sonnigen Tag einem Reisenden begegnet, und nun hatte auch sie endlich eine Geschichte, in der eine Lichtung eine Rolle spielte.
»Da hinten«, sagte sie und wies nach Norden, »dort ist das nächste Dorf.« Und dann, sie wusste selbst nicht, warum, ergriff sie die Flucht. Sie eilte an seinem Pferd vorbei, über das hohe Gras zum Pfad, der durch den Wald führte, und sah sich nicht einmal um. Als sie losrannte, verwünschte sie ihre Feigheit. Hatte sie nicht mit Königen und Fürsten gesprochen, Heerführern und Würdenträgern befohlen, zu jener Zeit, als sie noch die Kaiserin von ganz Deret-Aif gewesen war? Aber jetzt lief sie vor einem blonden Fremden davon, der ihr schläfrig in die Augen geblickt hatte, floh vor dieser Lichtung und vor der Geschichte, die dort vielleicht begonnen hatte und genauso schnell wieder zu Ende sein konnte, direkt in Tamaits und Majas Arme.
Das Geschwisterpaar kam ihr bereits entgegen. Beide merkten sofort, dass etwas nicht stimmte, dass etwas geschehen war – und war heute nicht wirklich alles anders als gestern? Hatte sich nicht die ganze Welt verwandelt, zu einer neuen Welt, in der er lebte?
»Hat dir jemand etwas getan?«, rief Maja erschrocken. »Wirst du verfolgt?«
»Nein, nein. Bloß weiter, schnell.« Hastig zog sie ihre Freunde in die Richtung, aus der die beiden gekommen waren. »Ich will nur nicht … ach, vergesst es.«
»Du bist spät dran«, sagte Tamait. »Stollo hat uns losgeschickt, um nach dir zu sehen.«
»Euch beide? Das sieht ihm gar nicht ähnlich.« Stollo, der Wirt des Silbernen Kruges, verzichtete nur äußerst ungern auf eine Arbeitskraft.
»Er wollte, dass ich dableibe«, gab Maja zu, »aber ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Was ist nur passiert, Manina? Du verspätest dich doch sonst nie.«
Das kleine Haus im Wald, in dem die drei lebten – mehr eine baufällige Hütte als ein richtiges Haus –, lag nur wenige hundert Meter von der Gastwirtschaft entfernt, in der sie alle Arbeit gefunden hatten. Tamait kümmerte sich um die Pferde der Gäste, Maja unterhielt sie mit ihrem Flötenspiel, wenn nicht allzu viel zu tun war, und Manina half in der Küche. Es war anstrengend und schmutzig. Nichts für jemanden, der zimperlich und wehleidig war, und manchmal schüttete das blonde Mädchen seinen Freunden weinend das Herz aus. Aber sie gab nicht auf; obwohl sie behütet und verzärtelt aufgewachsen war, fand sie in sich eine Kraft, die sie selbst erstaunte.
»Nun sag schon«, bohrte Tamait, doch Maja schüttelte den Kopf.
»Lass sie in Ruhe«, befahl sie ihrem Bruder. Sie waren nicht blutsverwandt, doch sie hatten fast ihr ganzes Leben in dem Glauben verbracht, sie wären es. Niemand, der sie zusammen sah, wäre auf den Gedanken gekommen, dass sie nicht Bruder und Schwester waren, so hatte sich alles zwischen ihnen eingespielt, und da sie beide schwarzhaarig waren und ihre gebräunte Haut in einem satten Bronzeton schimmerte, war die Ähnlichkeit nahezu vollkommen.
Als das Gasthaus vor ihnen auftauchte – ein langgestrecktes Holzhaus mit einer bunt gestrichenen Tür –, zögerte Manina und blieb stehen. »Ich kann heute nicht arbeiten«, erklärte sie.
»Und warum nicht?«, fragte Tamait.
Stollo erschien auf der Schwelle. »Wo bleibt ihr denn? Marsch, marsch! Soll das Essen sich heute alleine kochen? Muss ich euch alle auf der Stelle fortjagen? Ich mach’s, glaubt mir, das ist genau das, was ich machen werde, wenn ihr nicht endlich herkommt und das tut, wofür ihr bezahlt werdet!«
Maja warf ihm heimlich einen bösen Blick zu. »Manchmal wünsche ich mir wirklich, ich könnte es diesem Sklavenantreiber sagen.«
»Das tust du nicht!«, rief Manina. »Und außerdem – ich bin nichts Besonderes mehr. Wen kümmert es, was ich war? Niemanden. Also lassen wir alles einfach so, wie es ist.«
»Da bin ich mir nicht sicher, dass es niemanden kümmert«, murmelte die junge Frau. Sie schob Manina, die sich immer noch ein wenig sträubte, in Richtung Hintereingang, wo lautes Scheppern verriet, dass jemand seine schlechte Laune an Töpfen und Pfannen ausließ. »Lass dich von Tamait nicht zwingen, etwas preiszugeben, was du für dich behalten willst«, riet sie der blonden Prinzessin.
Manina blieb stehen. »Da war ein Mann auf der Lichtung«, berichtete sie.
»Hat er dich erschreckt?«, fragte Maja alarmiert. »Hat er versucht … Bei Rin, wir sollten dich nicht allein lassen! Wollten wir nicht immer darauf achten, dass du in unserer Nähe bist?«
Maninas Augen glänzten, Röte überzog ihre Wangen. »Nein«, beruhigte sie ihre Freundin, »nein, er schlief … Ich bin einfach nur … ich stand da und habe ihn die ganze Zeit nur angeschaut …«
»Meine Güte«, entfuhr es Maja. Neugierig fügte sie hinzu: »Und dann? Ist er aufgewacht?«
»Ja, ist er. Und ich … ich weiß auch nicht, warum, aber ich konnte nicht dableiben. Was mache ich bloß, wenn er hierher kommt? Ich Dummkopf habe ihm auch noch gesagt, in welcher Richtung der Silberne Krug liegt! Was ist, wenn er drinnen sitzt? Wenn ich ihm das Essen bringen muss? Maja, bitte hilf mir, das kann ich einfach nicht!«
Stollos leuchtend rotes Gesicht erschien am Hinterausgang. »Mädels!«, schrie er. »Das Haus ist voll!«
»Wir kommen«, versprach Maja. »Mach mich nicht wütend, sonst spiele ich ein Lied, das deine Gäste so aufregt, dass sie dich mit Krügen und Tellern bewerfen!«
»Alles nur Gerede«, brummte der Wirt und verschwand wieder.
Die dunkelhaarige junge Frau lächelte aufmunternd. »Und was wäre, wenn er den Silbernen Krug nicht beehrt? Wenn du ihn nie wiedersiehst? Wäre das nicht noch schlimmer? – Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass Stollo merkt, wie unentbehrlich wir für ihn sind. Aber wenn dieser geheimnisvolle Fremde kommt, zeigst du ihn mir, ja? Ich muss doch wissen, wer es schafft, der unnahbaren Manina den Kopf zu verdrehen.«
Sie betraten die Küche, in der ein magerer, pickliger Junge lustlos in einem großen Topf herumrührte. Maja krempelte die Ärmel auf. »Aus dem Weg!« Sie scheuchte Stollos gänzlich zur Küchenarbeit unfähigen Sohn vom Herd fort. »Wir haben Gäste, die hungrig sind.« Sie tauchte einen Löffel in die Suppe und verzog das Gesicht. »Wie oft muss ich dir noch sagen, dass es nichts bringt, zu viel Salz zu nehmen? Die Leute trinken deshalb nicht mehr, sie werden bloß ärgerlich. Hier, nimm den Eimer, du holst jetzt Wasser. Diese Brühe müssen wir verdünnen.« Sie zwinkerte Manina zu, die sich gerade die Schürze umband und ein großes Tablett mit Tellern und Krügen belud. Silbern war keiner davon.
Tausend Gedanken gingen Maja durch den Kopf. Vergiss nicht, wer du bist, Prinzessin Manina. Wähle den Richtigen und wir könnten versuchen, Zukata vom Thron zu stürzen.
Ohne Sorayn.
Sie zwang sich, nicht an Sorayn zu denken. An den Mann, dem sie auf einer lichtüberfluteten Wiese begegnet war, den sie vor einem Bären retten wollte, und dabei hatte sie sich selbst rettungslos verloren, an eine Liebe zu einem Betrüger. Sie hatte sich ihm verbunden, hatte den Bund der Ehe mit ihm geschlossen, glücklich bis zum Zerspringen, bis sie herausgefunden hatte, dass sie ihm nur als Mittel zum Zweck diente, denn ihm war es nur um den Thron von Deret-Aif gegangen. Für Sorayn hatte Manina den Kaiserthron geräumt, hatte sich wie sie alle von seinem Charme bezaubern und von seiner unglaublichen Autorität überwältigen lassen – nur um zu merken, dass die Rücksichtslosigkeit, mit der er seine Pläne durchsetzte, mindestens ebenso groß war. Und doch war Zukata nun Kaiser, obwohl Sorayn versprochen hatte, dass es niemals dazu kommen würde. Was wirklich geschehen war, wusste niemand. Maja hatte Sorayn nicht mehr gesehen, seit sie erschrocken, weinend und wütend von einem blutigen Schlachtfeld geflohen war, auf dem Sorayn und seine Riesen sich ausgetobt hatten. Seit knapp einem Jahr lebte sie nun mit Tamait und Manina in diesem Dorf im Königreich Laring und versuchte, das alles zu vergessen. Vielleicht war ihr Ehemann tot. Vielleicht war es nicht seine Schuld, dass Zukata gewonnen hatte, vielleicht hatte er sich überschätzt und war von seinem Großvater umgebracht worden, bevor er sein ehrgeiziges Ziel erreichen konnte. Sorayn war tot oder er hatte sich, nachdem alles fehlgeschlagen war, einfach aus dem Staub gemacht. Wer konnte es wissen? Besser, sie vergaß ihn. Besser, nicht mehr an die blauen Augen zu denken, die unter den langen, schwarzen Wimpern hervorstrahlten. An sein dichtes schwarzes Haar, seine Haut, an das Glück jener ersten herrlichen Tage, als sie noch geglaubt hatte, es würde nie, niemals enden …
Sie durfte nicht träumen, nichts bedauern, sondern musste sich auf das konzentrieren, was jetzt anstand. Die Suppe. Nein, verdirb sie nicht. Wenn Stollo uns hinauswirft, müssen wir dieses Dorf verlassen und uns etwas anderes suchen. Und Manina will hier nicht weg.
Am Anfang waren sie gemeinsam mit den Zintas in einem bunten Wagen gefahren, doch der ehemaligen Kaiserin gefiel diese Art von Leben überhaupt nicht. Manina sehnte sich nach einem Ort, an dem sie bleiben konnte; ihr gab das Leben der Ziehenden das Gefühl, auf der Flucht zu sein. Deshalb waren sie schließlich hergekommen, im vorigen Jahr, damals noch mit Mino, ihrer Mutter, und deren unzertrennlichen Freunden Jamai und Kroa. Diese drei hielten es nicht aus in dem winzigen Dorf. Die Straße lockte sie, der Wald rief sie, und irgendwann hatte Mino gefragt, ob es sehr schlimm sei, wenn sie gingen.
»Geht ruhig«, hatte Maja geantwortet. »Ich bin schon groß, nicht?«
»Wegen dir mache ich mir keine Sorgen«, hatte Mino gemeint. »Du kannst auf dich aufpassen. Aber Manina. Sie hier allein zu lassen …«
Es gab der jungen Zinta einen leichten Stich, dass ihre abenteuerlustige Mutter so leicht dazu bereit war, ohne sie weiterzuziehen. Dass sie sich bloß um die Prinzessin sorgte.
»Sie ist keine Kaiserin mehr«, hatte sie eingewandt.
»Jemand wie sie kann nicht einfach Schankmädchen spielen und glauben, sie wäre ein Mensch wie alle. Zukata könnte sie immer noch als Bedrohung empfinden. Vergiss nicht, er war schon einmal bereit, sie zu töten. Falls er sie je in der Reihe seiner Gegner vermutet … und bei Zukata reicht schon, dass er sich vorstellt, sie könnte ihm im Weg stehen … Du weißt, was ich damit sagen will. Niemand darf wissen, wer sie ist. Sie braucht einen neuen Namen. Keiner darf auch nur etwas ahnen. Die richtige Verbindung – vielleicht mit dem König von Wenz – könnte aus ihr eine ernst zu nehmende Gegenspielerin für Zukata machen. Viele Leute wären auf ihrer Seite. Alle, die genug von den Riesen haben.«
An dieses Gespräch dachte Maja jetzt, während sie versuchte, das versalzene Gebräu, das Stollos mürrischer Sprössling in dem Kessel angerührt hatte, in eine halbwegs genießbare Speise zu verwandeln.
König Oka von Wenz hatte Zukata öffentlich die Gefolgschaft aufgekündigt und seinen Austritt aus dem Kaiserreich erklärt. Ein wahnsinniges Unterfangen, das natürlich keinen Erfolg haben konnte, sondern nur zu weiterem Blutvergießen führen würde. Wenn jedoch Manina sich dazu gesellte und den verwitweten König ehelichte, würde diese Rebellion auf einen Schlag ein ganz anderes Gewicht erhalten. Andere Königreiche würden sich ihnen anschließen. Das Reich würde zerfallen, und irgendwann würde selbst Zukata die Lawine, die auf ihn zurollte, nicht mehr aufhalten können.
Was für eine unglaubliche Verschwendung, wenn Manina ihr Herz einem dahergelaufenen Reisenden schenkte, nur weil sie beobachtet hatte, wie die Sonne auf sein Gesicht fiel! Andererseits war das vielleicht das Leben, das sich die junge Frau wirklich wünschte. Ein Leben ohne Kriege, ohne Verhandlungen, Streitereien, die Verantwortung für Tausende … Ein Leben an der Seite des Geliebten, fernab von allem. Dem Krieg konnte man aus dem Weg gehen, wenn man nur wollte. Manina brauchte ihren wirklichen Namen nie wieder auszusprechen, sie konnte einfach tun, was sie wollte, leben, wie es ihr gefiel, sich ihr eigenes Schicksal gestalten. Sicherheit und Glück.
»Er ist da!« Aufgelöst stürmte das verliebte Mädchen in die Küche. »Du musst jetzt rausgehen, ich kann nicht! Er darf mich nicht sehen, nicht so!«
Maja wollte etwas sagen wie: Seit wann schämst du dich, im Gasthaus zu arbeiten? Sonst bist du doch immer so stolz darauf, dass du arbeiten kannst wie jeder andere auch. Aber sie blickte in das verzweifelte Gesicht ihrer Freundin und sah, dass es für kluge Sprüche nicht an der Zeit war. Sie musste aufpassen; am Ende führte diese Geschichte noch dazu, dass Manina ihre Identität preisgab, nur damit ein abgekämpfter Reisender sie nicht bloß für ein einfaches Schankmädchen hielt. Ehemals Kaiserin von Deret-Aif, Königin von Aifa, Erbin des Throns von Kirifas … und immer noch Prinzessin. Immer noch die Tochter des unvergessenen Kanuna El Schattik und Halbschwester von Zukata.
»Dann füll du die Suppe in die Teller. Sie müsste jetzt schmecken, hoffe ich. Wo ist das Brot?« Mit raschen Handbewegungen ordnete sie alles auf dem Servierbrett an. »Und wie erkenne ich deinen Schläfer?«
»Er ist der schönste Mann, den ich je gesehen habe«, stammelte Manina.
»Ja, sicher. Wenn es dich schon erwischen muss, dann auch richtig, wie? Wie sieht er aus, für Leute, die nicht völlig von Sinnen sind? Dunkel, groß, oder …?« Musste sie denn immer gleich an Sorayn denken, wenn es um den schönsten Mann der Welt ging? Schäm dich, Maja, rügte sie sich selbst. Das Herz taugt nicht, um jemanden zu beschreiben. Das Herz kann nur sagen: Dies ist er, den ich gewählt habe. Dies ist der, der mich verraten hat.
»Blond«, flüsterte die Kaisertochter. »Er ist blond. Er sitzt da hinten in der Ecke, unter dem schwarzen Balken. Du kannst ihn gar nicht verfehlen.«
Sie lächelte verzagt und ängstlich und doch von einem Glück beseelt, das sich nicht leugnen und verbergen ließ.
»Na, dann wollen wir uns den Auserwählten einmal ansehen«, sagte Maja, hob das schwere Tablett hoch und ging hinaus in die Stube.
Mit überlaufenden Krügen kam Stollo ihr entgegen. »Dort«, er bewegte den Kopf und wies damit in die hintere Ecke des Raumes, »der Mann wartet schon länger. Wo bleibt denn endlich das Essen?«
Maja drängte sich an ihm vorbei, ohne einen Tropfen Suppe zu verschütten. Sie balancierte ihre Last vor sich her durch eine mit gut aufgelegten Holzfällern besetzte Bankreihe. Den blonden Mann unter dem geschwärzten Balken sah sie erst, als sie fast vor ihm stand.
Die heiße Suppe spritzte über ihre Schuhe. Das Servierbrett fiel krachend gegen die Bank, der Teller rollte unter den Tisch. Aber sie stand da und konnte sich einen schrecklichen Moment lang nicht rühren. Als sie endlich an Flucht dachte – zwei, drei Atemzüge zu spät –, als sie sich umwandte und rennen wollte, war er schon bei ihr und packte ihr Handgelenk.
»Nun, Maja«, sagte er, und in der plötzlich entstandenen Stille, in der alle verwundert zu ihnen hinsahen, klang seine Stimme laut und deutlich, »wohin so eilig?«
»Lasst mich los«, zischte sie.
»Ganz recht, Finger weg von meinem Mädchen!«, blaffte Stollo.
Manina erschien an der Verbindungstür zur Küche.
Lass sie begreifen und verschwinden, betete Maja im Stillen, oh Rin, er darf sie nicht sehen …
»Rette sich, wer kann!«, schrie sie, so laut sie konnte. »Das ist Erion! Erion von Neiara!« Sie wollte Manina zurufen, dass sie fliehen sollte, dass sie so schnell wie möglich Tamait holen und mit ihm fortlaufen musste, aber sie wollte nicht Erions Aufmerksamkeit auf die Prinzessin lenken. Mit Sicherheit war er wegen Manina hier, irgendwie musste er erfahren haben, dass sie hier wohnte. Aber er hatte sie noch nicht erkannt, noch nicht bemerkt …
Mit schreckgeweiteten Augen starrte Manina zu ihnen herüber.
»Auf der Stelle, hab ich gesagt, Finger weg!« Stollo versuchte Maja von dem Angreifer wegzureißen. Sie flog in die Arme des Wirts, als Erion sie plötzlich losließ.
»Sie gehört mir«, erklärte er mit ruhiger, selbstbewusster Stimme, die verriet, dass er es nicht nötig hatte, um seine Beute zu kämpfen. Vielleicht sah er die Mordlust in den Augen des kräftigen Gastwirtes, in den Blicken der Holzfäller, die regelmäßig hier einkehrten, von denen mehrere drohend aufstanden, jedenfalls zögerte er nicht lange, schob seinen Ärmel hoch und zeigte ihnen das Zeichen, das er an seinem Oberarm trug: ein eingebranntes Z, darüber eine Krone. Mit Befriedigung nahm er zur Kenntnis, wie die Männer zurückwichen.
»Kaisergänger«, sagte Erion stolz. »Unterwegs im Namen des Kaisers. Ihr wisst, was das bedeutet. Ich erkläre diese Frau zu meiner Gefangenen.«
Zögernd öffnete Stollo seine Arme, und nun stand Maja da, auf einmal sehr allein, und wusste kaum noch, wen sie mehr bedauern sollte, sich oder ihn oder Manina.
»Was soll ich denn machen?«, fragte ihr Arbeitgeber leise und verzweifelt. »Ich würde für dich kämpfen, oh ja … Aber ein Kaisergänger?«
»Ist schon gut«, sagte die junge Frau. »Mach dir bloß keine Sorgen um mich.«