Der Verräter des Herrgotts - Karl Layton - E-Book

Der Verräter des Herrgotts E-Book

Karl Layton

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Beschreibung

Ein Milliardär gründet eine eigene Kolonie in den Weiten des Spiralarms. Es sind Fundamentalisten, die sich in einer vorgeblichen"Vereinigungskirche" dem expansiven Kurs der bisherigen Föderationsregierung entgegenstellen. Moderne Kriegsschiffe der Kirche werden zu einer Bedrohung für die Föderation. Gleichzeitig treten in großen Abschnitten des Hyperraums Anomalien auf, die ihre chaotischen Auswirkungen auch in die Nähe von bewohnten Planeten und sogar in den Normalraum ausdehnen. Ein alter Admiral ist verschollen und gilt als Verräter. Das ultramoderne Raumschiff EFS NEMESIS wird beauftragt, dem unbegreiflichen Verschwinden der Rasse der Luminos nachzugehen. Und es gibt einen Zusammenhang mit dem Verschwinden des Admirals. In diesem zweiten Band des Föderation-der-Erde - Zyklus von Karl Layton, der unabhängig von den bisherigen Bänden (Band 1 und Prequel) zu lesen ist, wird der Spannungsbogen einer galaxisweiten Space Opera aufgebaut, der sich bin hin zu anderen Universen erstreckt. In einem furiosen Finale entscheidet sich das Schicksal von Abermilliarden Menschen.

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Inhaltsverzeichnis

Die Anomalie

Der Auftrag

Die Suche

Neue Wege

Personenverzeichnis

Zeitleiste

DIE ANOMALIE

08:23 Uhr, Mittwoch, 30.05.2255 Greenwich-Erdzeit

An Bord der EPS Devilbuster, 864 Lichtjahre von der Erde entfernt

Für Jes Weber, Captain und einziger Pilot des privaten Frachters EPS Devilbuster, ist es wieder einer der langweiligen Frachtflüge, die sich endlos dahinziehen, während ihr alter Frachter mit seinen vierhundert Licht durch den Plus-100 Hyperraum fliegt. Mit abgeschalteten Antienergie/Energie-Triebwerken schiebt er sich stur durch diesen fremdartigen Raum und benutzt die Steuerdüsen nur dann, wenn es zur Kurskorrektur sein muss. Die rothaarige Frau mit ihrem wuseligen Lockenkopf, etwas korpulent geworden über die Jahre, sitzt bequem im Kapitänssessel und starrt auf den Hauptbildschirm, auf dieser kleinen, mit Krimskrams vollgestellten Brücke. Denn im Zeitalter von Antigravaggregaten sind die Zeiten vorbei, in denen Raumschiffe alles festgezurrt und perfekt verstaut haben müssen. Kisten und Kasten stapeln sich hier und auf der grauen, fleckigen Hauptkonsole lagern sogar Lebensmittel, die wirklich nicht mehr alle bissfrisch sind. Sogar der Sitz für den Copiloten rechts ist vollgestopft mit allerlei Taschen und Boxen. Der Hauptbildschirm zeigt das übliche konturlose Grau des Hyperraums, durchsetzt mit den zahllosen bunten Blasen, wo sich andere Universen in den Hyperraum hineinstülpen. Es ist nicht der normale Hyperraum des Einsteinuniversums, dieser Plus-100-Raum, sondern eben der eines Paralleluniversums, in dem die Zeit um den Faktor einhundert schneller verläuft. Was ausgesprochene Vorteile bei langen Reisen bedeutet. Eben eine Zeitabweichung mit Faktor Einhundert. Während sich Jes Weber einhundert Stunden lang in ihrem alten Frachter langweilt, vergeht auf der Erde oder irgendwo anders im Einstein-Normalraum nur eine Stunde. Was die Zeit nicht daran hindert, sich kaugummiartig langzuziehen auf den langen Reisen. Seufzend streicht Jes über das verbraucht wirkende Material ihres Sessels und der Konsole. Sie kann ja dankbar sein, denkt sie, dass sie den alten Frachter überhaupt ihr Eigen nennen kann. Denn sie ist wohl die einzige Privatperson auf der Welt, die nicht zu den Superreichen gehört, die ein Raumschiff im Privatbesitz hat. Der Grund dafür ist eine längere Geschichte. Eine um den Planeten Bluepond und eine angreifende Flotte der Beelze-Rasse, die sie damals als Captain der Space Navy mit Mann und Maus vernichtet hat. Inklusive der Rettungskapseln und ihrer Beelze-Insassen. Eine Maßnahme, die sie immer noch als völlig angemessen empfindet in Anbetracht der Tatsache, dass die Beelze eine Rasse aus genetisch hochgerüsteten Superkriegern sind, jedenfalls im männlichen Teil. Und was die genetisch aufgerüsteten, drei Meter hohen Superkrieger mit den Föderations-Wissenschaftlern gemacht hätten, wenn sie es bis zum Planeten Bluepond geschafft hätten, das will sie sich lieber nicht vorstellen. Aber sie war wegen ihres Gewaltexzesses, wie es der Taktische Direktor der Earth Federation Space Navy genannt hatte, entlassen worden. Aber sie hatte Hilfe bekommen. Von einem gewissen Admiral Brander. Thomas Brander, der Staatsgründer der Föderation der Erde und Gründer der Raumflotte, der irgendwie immer seine Finger in allem hat, was mit der Navy zu tun hat, wie man sagt. Brander hatte einige Strippen gezogen und so war ein Frachter, der eigentlich nicht mehr raumtüchtig war, wieder mit abgezweigten Flottenressourcen raumtüchtig gemacht worden. Und Jes fliegt seither durch die Einsamkeit des Raums und bemüht sich, sich nicht von den Hyperraumblasen hypnotisieren zu lassen. Und sich nicht von den radikalen Fraktionen der Greys und ihrer Untertassenraumschiffe oder von den Luminos und ihren eigenartig geformten Raumern erwischen zu lassen. Obwohl man von den Luminos neuerdings nichts mehr hört. Wohl schon seit zwei Jahren. Die Navy hält sich mit Informationen zurück, aber soweit man den Nachrichten glauben kann, wird erforscht, wieso man selbst in der Nähe von Luminos Prime keine Luminosschiffe mehr gesichtet hat.

Jes hat einen Kurs gewählt, der die Reise noch etwas länger machen wird, aber dafür nicht auf den direkteren, üblichen Schiffslinien liegt. So kann sie auf Geleitschutz verzichten, denn in der Einsamkeit des Raumes sind Zufallsbegegnungen völlig unwahrscheinlich. Die Reise zur Sternenbasis 12, die man auch Farout Station nennt, hat eine Länge von etwa 1200 Lichtjahren. Damit braucht die Devilbuster dafür geschlagene drei Jahre Bordzeit. Drei Jahre, in denen im Normalraum allerdings nur etwa zwölf Tage vergehen. Doch das lässt die Zeit an Bord des Frachters trotzdem unendlich lang werden. Kaum ist Jes weggesackt in einen traumlosen Schlaf, da wird sie gleich wieder geweckt, als hinter ihr das schmatzende Geräusch der Luke zum Kontrollraum erklingt und gleich darauf Gläser hell klingen. Jes lächelt und dreht sich um. Es kann niemand anderes als Darla sein. Darla Lawrence, ihre Lebensgefährtin und Helferin für alle möglichen Dinge, die an Bord erledigt werden müssen. „Butlerin“ nennt Jes sie auch manchmal neckend. Denn Darla ist jemand, auf den der Term „sie hat nichts gelernt“ absolut zutrifft. Immer mehr Menschen gibt es auf der überbevölkerten Erde, die sich dort in übervollen Siedlungen gewissermaßen stapeln. In riesigen Hochhaussiedlungen oder gar schwebenden Städten, Unterwasserstädten oder Habitaten im Orbit der Erde oder freischwebenden, riesigen Raumstationen irgendwo in der Peripherie des Solsystems. Oder natürlich auf Luna oder dem Mars. All die Leute zu versorgen funktioniert insbesondere durch die Fähigkeit der Menschheit, mittlerweile irgendeine Grundmaterie atomar und molekular in alles Mögliche umzubauen. Die überreichliche Versorgung mit Energie, die einfach von einem höherwertigen Kontinuum durch die sogenannte XU-Technologie abgesaugt wird, macht es möglich. So durch ein BASIC genanntes, staatliches Versorgungsprogramm mit allem Notwendigen und noch einigem an Luxus versorgt, sehen viele Menschen nicht mehr die Notwendigkeit, noch irgendetwas zu lernen oder gar zu arbeiten. Zu diesen Menschen gehört Darla. Darla hat sich ein kurzes, rosa Kleidchen angezogen, das gut zu ihrer gebräunten Haut und ihrem schwarzen Haar mit einer roten Rose darin passt, wie Jes denkt. Darla ist barfuß und Jes lächelt über ihren rosa Nagellack, als sie schief grinsend mit einem Tablett und zwei Bechern Kaffee hereinkommt. Der Duft des Gebräus erfüllt die enge Brücke. „Du hast noch nicht genug Flecken auf dem Overall, dachte ich mir“, erklärt Darla lächelnd. Jes fährt mit ihrem Sessel herum und nimmt dankbar einen Becher entgegen, während sich Darla einfach vor ihre Füße hinhockt. Schließlich ist der andere Sessel durch Krimskrams besetzt.

„Das ist besser ein starker Kaffee, wir haben noch über zwei Jahre bis Raumbasis 12“, gluckst Jes, die sich mit Darlas Anwesenheit sofort besser fühlt. Nun ist es erst drei Wochen her, dass der Bordcomputer der Devilbuster Jes aus ihrem Stase-Schlaf geweckt hat, aber die Zeit wird eben doch lang. Geweckt wegen leicht unregelmäßig laufender Antimaterie-Injektoren.

„Wusstest du, dass viele Physiker denken, dass Zeit gar nicht existiert?“, fragt Darla grinsend.

„Für eine ungebildete BASIC-Tusse sagst du manchmal ganz schön kluge Sachen.“ Jes nippt an dem heißen Gebräu. Darla streckt ihr die Zungenspitze raus und fügt einen „Lippenpupser“ mit dem entsprechenden Geräusch hinzu, wie sie ihn so oft macht.

„Du kannst dich wieder in die Stasekiste legen“, erklärt Jes ihrer Gefährtin nicht zum ersten Mal. „Ich habe das mit den Antimaterie-Injektoren wirklich unter Kontrolle.“ Sie deutet auf einen Seitenbildschirm, auf dem bunte Grafiken bis hin zu einer DNA-artigen Spirale alle möglichen geheimnisvollen Dinge anzeigen. Darla seufzt nur, als sie die Grafiken sieht. „Ah-ah“, macht Darla in verneinender Betonung. „Wir haben abgemacht, dass ich wach bin, wenn du wach bist.“ Jes nickt. „Noch ein paar Tage, dann können wir uns beruhigt wieder in die Kiste legen. Zwei Jahre wird es also nicht dauern.“ Jes zwinkert ihrer Gefährtin zu.

Darla macht ein leicht schmollendes Gesicht. „Da vertraue ich ganz unserem Captain.“ Als beide gerade wieder einen Zug vom heißen Kaffee nehmen, gellt plötzlich eine Sirene durch die enge Kammer und rote Warnlampen leuchten über dem Hauptbildschirm und anderswo an den Wänden. „Fuck“, entfährt es Jes und sie spuckt braunen Kaffee auf ihren ohnehin schon fleckigen Bordoverall. Als sie auf den Hauptschirm sieht, schluckt sie schnell runter, was sie noch an Kaffee im Mund hat. Denn die sonst grundsätzlich immer gleichbleibenden Extrauniversaltaschen, jene bunten Interferenzen fremder Universen, sie… bewegen sich. Etwas, das sonst wirklich niemals vorkommt und das sie entsprechend in ihrem langen Raumfahrerleben auch noch nie gesehen hat. Nicht vorher bei ihrer Karriere bis hin zum Commander bei der Space Navy und nicht in ihrer Zeit als Frachterkapitänin. Denn Extrauniversaltaschen bewegen sich einfach nie und verändern auch nicht ihre Größe, wie sie es jetzt gerade tun. „Was zur Hölle?“, entfährt es Jes und Darla ist aufgestanden und starrt auf den Hauptbildschirm. „Die tun das doch sonst nicht, oder?“, fragt sie. „Allerdings nicht“, murmelt Jes. „Und… sieht es nicht so aus, als ob die Dinger auf uns zu kommen?“, fragt Darla. Jes antwortet nicht, denn sie drückt schon auf diversen Touchscreens herum, um das Schiff herumschwenken zu lassen. Die Backbord-Gravitondüsen geben an Impulsen, was sie können. „Schwenke um hundertachtzig Grad herum und gebe dann voll Schub“, keucht Jes und lässt dabei die Frontdrüsen zum Bremsen feuern, was sie hergeben. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis der Frachter herumgeschwenkt und wieder ein normaler, bewegungsloser Hyperraum auf dem Frontschirm zu sehen ist. Auf einem zweiten Schirm lässt Jes das Bild nach Achtern anzeigen, das immer noch die wabernden Extrauniversaltaschen zeigt. „Keine Ahnung, was hier los ist“, stößt Jes atemlos hervor. Sie sieht wie gebannt auf den Bildschirm mit der Rückansicht, da gibt Darla einen unterdrückten Schrei von sich und zeigt auf den Hauptbildschirm. „Was…?“, beginnt sie eine Frage. Jes sieht sofort auf den Bildschirm und ihr bleibt der Mund offen stehen. Es ist, als hätte sich dort eine Art mechanische Öffnung im Raum gebildet. Anders kann sie es in diesem Anblick nicht umschreiben. Wie eine Art stählernes, rundes Tor, in dem sich gerade irgendein Lamellenverschluss langsam öffnet, im Hyperraum unmittelbar vor der Devilbuster. Nur dass das Ding merkwürdig flimmert. „Das Tor…“, stößt Jes hervor. „… zur Hölle“, ergänzt Darla mit schwacher Stimme, als das Schiff schon hindurchfliegt. Jes sieht, dass es nichts als Schwärze hinter dem Tor gibt, doch im nächsten Augenblick sieht sie überall ein helles oranges Leuchten wie von glühenden Kohlen. Gleißender Feuerschein ist überall um das Schiff herum und auf dem Statusbildschirm erscheinen rote Temperaturwarnungen. Alle möglichen Systemanzeigen wechseln von Grün auf Rot. Sie merkt, wie ihr heiß wird. „Schilde auf einhundert Prozent“, gibt die emotionslose Stimme des Bordrechners über die Frontlautsprecher am Hauptbildschirm bekannt. Doch es wird immer heißer und heißer und bald sind beide Frauen völlig verschwitzt. Jes drückt hektisch auf den Touchscreens und Tastaturen herum, aber sie weiß nicht, was sie machen soll.

„Jes. Jes, Schatz!“

Die Kapitänin sieht sich verzweifelt nach Darla um.

„Darla?“

Die Angesprochene schmiegt sich an die rothaarige Kapitänin. „Bleib jetzt ganz nah bei mir, Jes.“

Beide Frauen klammern sich aneinander, als die Schirme kollabieren. Danach hat die Devilbuster nur noch Sekunden.

DER AUFTRAG

14:00 Uhr, Mittwoch, 30.05.2255 Greenwich-Erdzeit

Kolonie „Gottes Neue Welt“, etwa 1500 Lichtjahre von der Erde entfernt. Hauptstadt Santa Maria, Kathedrale der Silberritter

Paulus

Das Kreischen des Weckers weckt Paulus. Er wird mürrisch wach. Der Tag, der vor ihm liegt, ist voller Herausforderungen und eine ruhmreiche Mission lockt. Aber auch unsagbare Qualen liegen vor ihm. Das übliche halt, denkt er. Neben ihm bewegt sich Dolores. Dolores, die üppige Nonne vom Orden der Gratificadas, die mit ihm das Bett geteilt hat. Die Gratificadas, die Ordensfrauen, deren spezielle Aufgabe es ist, die Ritter der Wahren Menschheit zu belohnen für all ihre Opfer. Ritter, von denen er einer ist. Nur wieso, denkt er, muss man, um Gottes Werk zu tun, immer in gottloser Frühe aufstehen? Dolores dreht sich zu ihm um, während er eben noch ihren Rücken bewundern konnte. Ihre großen Brüste werden nur unvollkommen von den seidigen Laken bedeckt. Er kann nicht umhin, sie wieder zu bewundern. Dolores blinzelt verschlafen in das grelle Licht, das durch das kleine Fenster in die Kammer fällt. „Der Morgen kommt immer“, murmelt sie. Bei diesen Worten verspürt Paulus Unruhe in den Eingeweiden. Denn was vor ihm liegt, wird alles andere als ein Vergnügen sein. Unter anderem wird er wohl in etwa einer Stunde sterben. Wie schon des Öfteren, denkt er verschmitzt. Belustigt stellt er fest, dass Dolores immer noch ihre Nonnenhaube auf dem Kopf trägt. Mit einem ärgerlichen Schnaufen rupft sie sich die Haube vom Kopf, so dass ihr kurzgeschnittenes rotes Haar zum Vorschein kommt. Er bewundert die Sommersprossen auf ihrem Gesicht im Licht der Morgensonne. Oder von dem, was man hier als Morgensonne hat. „Dass du auch immer willst, dass ich die Haube sogar im Bett trage“, murrt sie. Paulus grinst nur. „Möchtest du einen Kaffee, Ehefrau?“, fragt er neckisch. Denn nach dem Brauch der Vereinigungskirche der Wahren Menschheit ist eine Begleitung für eine Nacht wie Dolores natürlich mit ihm verheiratet. Für die eine Nacht.

„Weißt du Paulus“, beginnt sie mürrisch. „Es fällt langsam auf, dass du immer mich als deine Belohnung auswählst. Sandra macht schon genug Andeutungen. Du solltest mal eine andere nehmen.“ Er steht auf, nackt wie er ist.

„Ich liebe nur dich, meine werte Gattin“, lacht er. Statt einer Antwort setzt sich Dolores im Bett auf. „Computer. Scheidung!“, ruft sie. Sofort erscheint das holografische Abbild eines alten, weißhaarigen Mannes in weißen Gewändern. Paulus beobachtet ihn verschmitzt und sieht erwartungsgemäß, wie die Holoprojektion Dolores mit einem ausgestreckten Zeigefinger zurechtweist. „Erst Anziehen bitte! Bedecke deine Blöße, Ordensfrau!“, grollt die Projektion. Paulus gackert und geht ins Bad. „Du musst deine Kurven schon bedecken, oh Gesegnete Mutter vom Orden der Gratificadas“, lacht er und schließt die Tür. „Schlaumeier“, grummelt Dolores, die sich ihre schwarze Nonnenkleidung zusammensucht und ihre weiße Haube wieder aufsetzt. „Duschen kann ich ja bei uns drüben.“

Im Spiegel im Badezimmer besieht sich Paulus sein zerfurchtes Gesicht. Zerfurcht wäre es auch ohne die zahlreichen rituellen Tätowierungen, deren schwarze Linien sein Gesicht verunstalten. Oder eher in etwas wie eine Raubtiermaske verwandeln. Linien, die je nach Ausgestaltung sowohl Verdienste auf Missionen für die Kirche wie auch disziplinarische Tadel darstellen. Beide Linien, die dicken für die Verdienste und die dünnen, gewundenen für die Tadel, halten sich erstaunlich die Waage. „Na dann mal auf in den Tod“, grummelt er und greift nach dem Rasierapparat, um in seinem irgendwie selbst für ihn alptraumhaft aussehenden Gesicht wenigstens die Bartstoppel zu entfernen.

Der Saal ist riesig und Paulus kennt ihn schon zur Genüge. Rechts oben auf den Tribünen sitzen zahlreiche Priester in ihren weißen Gewändern mit den aufgedruckten roten, dekorativen Mustern. Unten steht der ehrwürdige Abt Aloisius mit seinem goldenen Amtsstab. Links knien die Ordensschwestern der Gratificadas. Die weißbehaubten Köpfe gesenkt über ihren schwarzen Kutten. Zwölf an der Zahl, die Paulus und seinen treuen Knappen Jacob daran erinnern sollen, welche fleischlichen Freuden die Kirche für erfolgreiche Ritter bereithält. Als Lohn für all die Qualen. Aber das Eindrucksvollste ist natürlich die Capitale selbst, wie sie genannt wird. Eine Art Mutter aller Torbögen. Mehr gestaltet wie eine eigene, kleine Kirche befindet sie sich innerhalb der Kathedrale. Mit dem über eine Treppe theatralisch im Boden versenkten Durchgang in die Sterbekammer, in der gleich sein etwas weniger tätowierter Knappe und er selbst ihr Leben aushauchen werden. Paulus stehen Tränen in den Augen als er kurz vor dem Treppenabgang hochsieht zu einem Alkoven in der Mitte der Capitale. Hier ist in der Art eines kleinen Balkons eine winzige Fläche, auf der eine junge Frau steht. Nur bekleidet mit bänderartigen, weißen Wickeln, die mehr von ihrem Körper zeigen als verhüllen. Vor dem Bauch hält sie eine stählerne Dornenkrone in den zittrigen Händen. Er glaubt Blut an ihren zarten Fingern zu sehen, wo sie sich gestochen hat. Alles ein Zeremoniell, das vom Großen Propheten selbst stammt, wie Paulus weiß. Der Große Prophet Pjotr der Erste. Einst ein Milliardär von der Erde aus Russland und seines Zeichens Gründer der Vereinigungskirche der Wahren Menschheit, die hier auf Welten, die der Föderation unbekannt sind, in aller Heimlichkeit ihr gottgefälliges Reich erbaut hat. Mit völlig neuartiger Technologie, die aus den Forschungsabteilungen der Raummarine der Erdföderation selbst stammt. Dank großartiger Verbindungen selbst in diesen geheimsten Teil dieser Earth Federation Space Navy. Denn vor dem Willen des Einen Gottes kann sich niemand verbergen, denkt Paulus und fügt ein Amen hinzu. Als er und sein Knappe Jacob vor der Treppe ankommen, wird die vorher einschmeichelnde Orgelmusik theatralisch. Die blitzenden Orgelkörper sind links und rechts in die Capitale eingebaut und vibrieren zu der dramatischen Musik. Paulus hebt den Blick und sieht deutlich, wie die junge Frau dort oben zittert. Man sieht es besonders an ihren unbekleideten Oberschenkeln. Ich kenne nicht einmal ihren Namen, denkt Paulus. Aber sie wird sich gleich wegen uns opfern. Sie ist nur eine unechte Frau, kein Teil der Wahren Menschheit, lehrt die Kirche. Doch so sehr Paulus auch daran glauben will, so sehr hat er Mitleid mit der ängstlichen jungen Frau. Er kann sich in etwa zusammenreimen, was ihr geschehen ist. Sie wird höchstwahrscheinlich ein Passagier oder Crewmitglied auf einem zivilen Schiff gewesen sein. Eines der zahlreichen Kolonistenschiffe, die teils mit staatlicher Förderung seit einiger Zeit in den Weltraum aufbrechen. Längst nicht immer mit Geleitschutz durch die Earth Federation Space Navy. Die Kirche kapert manche dieser Schiffe und jüngere Frauen werden dann als Nonnen rekrutiert, ob sie wollen oder nicht. Aber dafür müssen sie einige Bedingungen erfüllen. Sie müssen natürlich der Wahren Menschheit angehören. Das bedeutet, sie dürfen nicht durch die gottlosen Backupanlagen re-inkarniert worden sein und dürfen in ihrem Leben weder Naniten- noch computerbasierte Implantate gehabt haben. Auch nanitenbasierte oder molekülmanipulierende Verjüngungsbehandlungen sind verboten. Die junge Frau hier wird zu der Gruppe gehören, die entweder noch ein Computerimplantat im Hirn hatte, als sie aufgegriffen wurde oder bei der entsprechende Spuren nachweisbar waren. Oder sie hat gar nicht die jugendlichen Mitte Zwanzig, die sie zu haben scheint, sondern hat sich nur durch gottlose Technologie verjüngt, wie so viele Föderationsbürger. Die Inquisitoren der Kirche werden sie überzeugt haben, dass es nur einen Weg für sie gibt, vor Gott Buße zu tun. Indem sie sich als Opferfleisch für die Kirche zur Verfügung stellt. Und sicherlich weiß sie, denkt Paulus traurig, was ihr bevorstehen wird, wenn sie den Willen der Kirche verweigert. Ein weitaus schlimmeres Schicksal wäre das, als die Prozedur, die ihr jetzt bevorsteht. Obwohl die wahrlich grausam genug ist. Er betritt die erste Stufe hinab und sieht, wie die junge Frau mit Entsetzen im Gesicht die Dornenkrone hoch über ihren Kopf hebt. Die Musik erreicht ein andauerndes Crescendo und die Frau steht starr da, die Krone hoch über dem Kopf. Paulus sieht deutlich ihren Bauch zittern und wie schweißüberströmt sie ist. Aber es ist für sie so schmerzloser und schneller, als länger in den Fängen der Inquisitoren zu sein, denkt er traurig. Er sieht, wie sein Knappe mit einem Lächeln im Gesicht und glänzenden Augen zu der Opferfrau hochsieht. Ihm gefällt so etwas, das weiß Paulus nur zu gut. Paulus schließt die Augen und geht in die Tiefe. Hinter und über sich hört er die helle Frauenstimme des Opfers die rituellen Worte förmlich herauskreischen. „Für den Einen Gott der Wahren Menschheit!“. Dann hört man ein grausames Zischen und der süßliche Gestank nach verbranntem Fleisch reicht bis herunter in die Senke, in der Paulus und Jacob jetzt stehen. Den Anblick, wenn helle Energie aus der Dornenkrone fährt und den gesamten Körper einer Opferfrau zu Asche verbrennt, will er nie wieder in seinem Leben mit eigenen Augen sehen. Das erste Mal, wo er vor Jahren hingesehen hat, reicht ihm vollkommen. Mit etwas wackeligen Knien geht er zusammen mit einem wesentlich gefasster wirkenden Jacob in die kleine Kammer, die unter der Capitale liegt. Zwei stählerne Särge stehen hier. Offen, aber mit reihum gehenden Austrittsöffnungen für ein Energiefeld, das bei beiden Särgen als Deckel fungieren wird. Das Gespann Paulus und Jacob hat die grausame Prozedur nun wirklich oft genug durchgemacht, dass er alle Details kennt. Was uns nicht umbringt, macht uns härter, ist eine alte Binsenweisheit, die aber wirklich stimmt, wie er weiß. Obwohl er jedes Mal, wenn er so wie jetzt hier steht, doch denkt, dass das Zerbrechen vielleicht doch eine realistische Möglichkeit ist. Ob er es irgendwann einmal nicht mehr schaffen wird, sich hier zum freiwilligen Tode niederzulegen?

„Was sagst du eigentlich zu Jackson?“, fragt ihn da plötzlich Jacob. Da unten vor den beiden Särgen.

„Wer?“ Paulus ist durcheinander, was sein Knappe hier fragt. Jacob verdreht die Augen. „Jackson. Anthony Jackson, Unionisten, der nächste Präsident der Föderation. Wird im September vereidigt. Das musst doch selbst du mitbekommen haben.“ Er grinst Paulus an. „Verehrter Herr Ritter“, setzt er sarkastisch hinzu. Denn obwohl Jacob „nur“ sein Knappe ist, haben die beiden Ordensangehörigen einen sehr lockeren Umgangston.

„Nun… Jackson ist sicherlich besser als DeKlerk“, weicht Paulus aus. Er hat jetzt nicht den Nerv, die lächerliche Politik der Earth Federation zu diskutieren. Natürlich ist Jackson für die Interessen der Vereinigungskirche besser als die vorherige Präsidentin DeKlerk. Man muss sich das einmal vorstellen. Eine Frau als Oberhaupt der Föderation. Das würden nur die progressivsten Kräfte der Vereinigungskirche gutheißen.

Jackson gehört wie auch DeKlerk den Unionisten an. Der Partei, die führend in der Föderation ist und im Wesentlichen die Interessen des alten Westens der Erde vertritt. Der angelsächsischen Welt mit der alten angeschlossenen NATO. Offiziell existiert alles nicht mehr. In der Praxis aber eben doch in Form der Unionistenpartei. Im Gegensatz zu den Föderalen, die von der Planetaren Republik Arret dominiert werden. Dem vom legendären und bei der Kirche verhassten Admiral Brander gegründeten Staat auf dem alten Ancient-Planeten. Die Basis, von der aus er unter Verwendung der aufgefundenen Alien-Raumschiffflotte die Föderation der Erde überhaupt erst gegründet hat. Die Föderalen sind schon lange ausgebootet. Immer noch die zweitgrößte Föderationspartei, aber seit langer, langer Zeit nicht mehr an der Regierung.

„Wenigstens richtet sich Jackson halbwegs nach der Glaubensfront“, merkt Jacob an. „Bleibt ihm ja auch kaum etwas anderes übrig.“ Paulus sagt nichts, sondern besieht sich nervös die beiden Stahlsärge. Er fühlt Panik im Bauch, als er auf den rechten sieht. Der, der gleich seiner sein wird. Draußen ist immer noch die Musik zu hören. Langsam, fordernd, abwartend, hat er den Eindruck. Und es riecht penetrant nach verbranntem Fleisch. Dem der jungen Frau, denkt er voller Grauen.

„Wir müssen langsam in die Kiste, Jacob. So gerne ich auch die Politik der Ungläubigen mit dir diskutieren würde.“ Es hat ja doch keinen Zweck, das hinauszuzögern.

Jacob zuckt mit den Achseln. „Jackson ist ja selbst ein Fake. Ein falscher Mensch. Hat angeblich vor dreißig Jahren einen Bootsunfall gehabt und sich damals aus dem gottlosen Backup reinkarnieren lassen.“ Paulus nickt nur. Die Vereinigungskirche lehnt ebenso wie die weniger radikale Glaubensfront der Erde die Backupanlagen zum gottlosen Re-Inkarnieren von verstorbenen Menschen ab. Sieht die entstandenen Kopien als seelenlose Kunstmenschen an und nicht mehr als richtige menschliche Wesen. Aber er muss zugeben, dass die Kirche selbst Re-Inkarnation praktiziert. Wenn auch mit dem Segen des Propheten, angeblich sanktioniert vom Herrgott selbst und nur zum heiligen Zweck des Glaubenskampfes. Für Gott, Allah, Jahwe und den Drachengott. Und dem heiligen Spagetti-Monster, fügt er in Gedanken immer ketzerisch an. Denn irgendwo in den Weiten des Datennetzes der Föderation gibt es da so eine Witzreligion.

„Rein jetzt!“, stößt Paulus hervor und macht sich selbst Mut. Dazu steigt er umständlich über den hohen Rand des Sarges und bemüht sich, nicht wieder auszurutschen wie beim letzten Mal, wie er sich erinnert. Jacob tut es ihm gleich. „Immerhin hat der Große Prophet jetzt die Glaubensfront als selig anerkannt.“ Selig, ein Begriff, der nicht mehr wie früher im Christentum verwand wird, ist Paulus klar. Eher wie früher das Wort koscher im Judentum oder das Wort halal im Islam. Paulus macht es sich im Sarg so bequem wie es geht. Und starrt direkt auf die schönen Deckengemälde, die Ordensritter bei ihren heiligen Kämpfen zeigen. Und beim Lieben der Ordensschwestern, die nur noch mit ihren weißen Hauben bekleidet sind.

„Dann gute Nacht, Jacob.“

„Gute Nacht, Ritter Paulus.“

Ein Kribbeln erfüllt seinen Schädel, als die Anlage die Atome seines Körpers scannt.

„Ich sehe dich auf der anderen Seite“, flüstert er, als der Vorgang beendet ist. Dann gibt es nur noch gleißendes Licht und Schmerz, als heiße Energie seinen Körper verschmoren lässt. Er ist fast sofort tot, nach kurzem, intensivem Schmerz. Keiner der beiden kann noch merken, wie eine nanitische, silbrige Masse aus einer sich auftuenden Öffnung in die beiden Särge auf die verschmorte, breiige Masse der zwei toten Körper strömt.

17:09 Uhr, Mittwoch, 30.05.2255 Greenwich-Erdzeit

Kolonie „Gottes Neue Welt“, etwa 1500 Lichtjahre von der Erde entfernt. Hauptstadt Santa Maria, Kathedrale der Silberritter

Paulus

Wo bin ich? Die Frage ist das Erste, was er wahrnimmt. Danach fragt er sich, wer er eigentlich ist. Es dauert eine Weile, bis die Information kommt. Er ist Paulus. Mit bürgerlichem Namen war er einst Peter Halifax. Aus San Francisco. Aufgewachsen in einer lockeren, Tech-verliebten Familie. Als er zwanzig war, sah seine Mutter plötzlich wieder selbst wie zwanzig aus und brachte junge Männer mit ins Haus, die in seinem Alter waren. Einer davon war sein Kumpel Tom von der Uni. Ihre Ehe mit seinem Vater, der Verjüngungsbehandlungen als widernatürlich ablehnte, zerbrach. Vater war nicht religiös, aber sehr naturverbunden. Gehörte zu Lifern. Einer Bewegung, die aus den alten ökologischen Bewegungen der Erde bis hin zur Extinction-Rebellion des frühen 21. Jahrhunderts erwachsen war und davon ausging, dass die gesamte Erde ein lebender Organismus sei. Living Earth eben. Ein Organismus, den die Menschheit mit Überbevölkerung und Klimaregulierung stören würde. Überbevölkerung, die durch die Verjüngungsbehandlungen, welche die Technologie der Alienrasse namens Ancients zur Verfügung gestellt hatte, noch verschlimmert wurde. Allen orbitalen Habitaten, Meeresboden- und Antigrav-Städten und der Kolonialisierung von Luna, Mars, Arret, Cona, Socona, Bluelark und toten Planeten in anderen Sonnensystemen zum Trotz. Sein Vater war nicht auf der Linie der bald entstehenden True Human oder Wahre-Menschheits-Bewegung, aber nahe dran. Die Life-Partei und die Glaubensfront arbeiten im Föderationssenat zusammen und das nicht ohne Grund.

Paulus ist plötzlich alles wieder präsent. Kurz zuckt sein erwachender Geist zusammen. Die Schmerzen! Die Qual! Doch nein, es ist vorbei. Er fühlt sich wohl. Er hat die Wiederauferstehung in seinen Astralkörper hinter sich. Doch nach der Wiederauferstehung ist vor dem nächsten Tod, das weiß er nur zu gut. Aber die Rückkehr in seinen alten Körper wird leichter werden. Oder besser in ein Replikat seines alten Körpers. Er beginnt seinen neuen Körper zu fühlen. Natürlich ist der Astralkörper nicht wirklich der Himmlische Körper, den die Menschen sicher einst im Himmelreich nach dem Jüngsten Tag oder gottgefällig zu einem anderen Zeitpunkt erhalten werden. Die Lehre der Vereinigungskirche ist hier unspezifisch, um verschiedene religiöse Vorstellungen mit einzuarbeiten. Ein ätherischer Energiekörper ist es jedenfalls nicht, sondern ein ganz und gar weltlicher. Ein machtvoller, neuer, materieller Körper, der die Ritter der Wahren Menschheit dazu befähigt, Gottes Werk wesentlich effektiver zu verrichten, als mit den schwachen biologischen Körpern, die sie von Geburt an haben. Keine gottlose Re-Inkarnation wie beim offiziellen Backupprozess der Föderation, bei dem sich die Menschen mit jeder Iteration immer weiter von ihrem ursprünglichen Menschsein entfernen. Nein, ein vom Großen Propheten und von Gott selbst gesegneter Prozess, der die Ritter zu seinem Instrument macht. Ritter und Knappen genau gesagt. Paulus öffnet die Augen. Sieht das himmlische Gemälde mit den üppigen Körpern der Nonnen und den in die Schlacht reitenden Ordensrittern vor sich. Mit Kampfschiffen als Schlachtrössern. Als er sich aufsetzt, lächelt er. Wieder einmal stellt er fest, dass er in seinem Astralkörper wesentlich orthodoxer denkt als in seinem biologischen Körper. Die Stärke des Astralkörpers gibt ihm Kraft. Er setzt sich auf und sieht Jacob, der sich im Nachbarsarg ebenfalls erhoben hat. Jacob sieht aus, als hätte jemand aus flüssigem Metall einen Abdruck von seinem früheren Körper nachgegossen. Was auch so etwa das ist, was passiert ist. Mit Wohlgefallen sieht Paulus auf seinen eigenen, stahlglänzenden Köper herunter. Nanitentechnologie, denkt er schmunzelnd. Eine Technologie, welche die Föderation seit dem Nanitenkrieg kaum noch einsetzt. Er erhebt sich mühelos aus dem Sarg. „Gesegnet sei der Eine Gott der Wahren Menschheit“, spricht er die religiöse Formel, in die Jacob sofort einfällt. „Nun auf zu unserem Himmlischen Streitwagen“, fügt Paulus dem Ritus entsprechend hinzu und der Knappe nickt dazu. „Möge der Eine Gott uns Kraft geben“, entfährt Jacobs Lippen, während er den Kopf gesenkt hält. Der nanitische Körper von Paulus analysiert ihm die Zusammensetzung der Luft, die er atmet und weist auf die Verbrennungsrückstände hin, die darin enthalten sind. Kurz stellt sich Paulus die hilflose Frau vor, wie sie draußen auf der Capitale stand. Fast unbekleidet und die tödliche Dornenkrone in der Hand. Trotz der Energie, die ihn im Astralkörper durchflutet, fühlt er einen Stich.

Kurze Zeit später bewegen sich beide Ordensangehörige durch den langen, schmalen Gang, der sie zum Hangar ihres Streitwagens bringen wird. Als sie durch eine sich automatisch öffnende Doppeltür treten, sehen sie ihn vor sich. Die ebenso silbrig schimmernde Außenhülle ihres Himmlischen Streitwagens, wie er oft umschrieben wird. Nach Föderationskategorien wäre er ein Protector oder Großjäger, allerdings einer mit Langstreckenfähigkeiten. Ein korvettengroßes Raumschiff, beschränkt in seiner Funktion auf militärische Einsätze und daher eher wie ein Jäger aufgebaut als ein konventionelles Großraumschiff. Die Michael, ein Himmlischer Streitwagen der Erzengel-Klasse. Sie besteht allerdings im Gegensatz zu ihren beiden nanitischen Besatzungsmitgliedern nicht ganz aus den silbrig glänzenden Naniten, sondern hat nur einen äußeren Schutzmandel aus den Nanobots. Die schmale, geländerlose Fortsetzung des Ganges, aus dem die beiden Ordensmänner heraustreten, führt direkt zur Einstiegsschleuse des Schiffes. Beide Männer schreiten darauf zu in ihren blitzenden Stahlkörpern. „Bin gespannt, was wir diesmal für eine Mission bekommen“, bemerkt Jacob. „Die Jagerei von Greys, die sich in unserem Raum herumgetrieben haben, war ja nicht das Pralle. Und einem Wissenschaftsschiff, das uns an der Supernova neulich zu nahekam, ein bisschen Angst einzujagen unter voller Tarnung, war auch nicht gerade eine erbauliche Mission.“ Paulus seufzt. „Wir tun, was immer das Werk des Herrn ist.“ Jacob nickt. „Natürlich, natürlich, was immer dem Herrn gefällt.“ Jacob macht eine abwiegelnde Geste. „Allerdings ist mir gesteckt worden, dass es vielleicht diesmal eine größere Sache ist. Vielleicht was mit der Föderations-Navy.“ Paulus bleibt an der geschlossenen Luftschleuse stehen. „Wirklich? Vielleicht mal eine Jagd auf eine Navy-Fregatte. Das wäre ja mal was. Den Navy-Leutchen mal beibringen, uns nicht in gottlose Scharmützel mit Gott-weiß-welcher Alienpest da draußen zu verstricken.

Hat dir dein Kontakt im Konzil das gesteckt?“ Jacob lächelt geheimnisvoll. „Der Herr gibt es den Seinen. Details weiß ich aber auch noch nicht. Unser Michael wird es uns gleich verraten.“ Paulus lächelt, als er das neunmalkluge Mienenspiel seines Knappen in der metallglänzenden Gesichtskopie des Astralkörpers verfolgt. Man fühlt sich doch wie im Originalkörper, wird ihm klar. Von extra Stamina abgesehen. Auch wenn man streng genommen schon gestorben ist, als der biologische Körper von Energie verbrannt und dann von Molekülmanipulator und Naniten teils sogar atomar umgewandelt worden ist in die neue Form. Die Hirnmuster werden 1:1 in eine Hirnnachbildung aus Nanobots übertragen. Aber man fühlt sich wie das alte Original. Das muss, wird ihm klar, die Seele sein, die da transferiert wird. Mag die föderale Wissenschaft auch der Meinung sein, dass es keine gäbe.

„Dann mal schauen, mit wem wir gleich die Klingen kreuzen.“ Der Ritter und sein Knappe betreten ihr Kriegsschiff. Die Schiffe der Erzengelklasse sind im Wesentlichen einhundertdreißig Meter lange Eier; silbrig glänzend durch ihre Nanitenaußenhaut. Innen bieten sie eine enge Luftschleuse, einen Vorraum und einen knappen Kontrollraum für den Ritter und seinen Knappen, die immer die Besatzung eines solchen Schiffes bilden. Es fehlen die Mannschaftskojen und irgendwelche Aufenthaltsräume mit Kantinen und ausladenden Sanitärzellen, wie sie ein Föderationsschiff kennt. Denn die zweiköpfige Crew bemannt das Schiff nur mit ihren Astralkörpern. Oder wie man sagen könnte, mit ihren komplett aus Naniten aufgebauten Alter-Egos. Auch fehlen dem Schiff die Kriechgänge für menschliches Personal und Wartungsschächte für Reparaturdroiden, wie sie die Navyschiffe der Menschheit kennen. Die Vereinigungskirche hingegen setzt bei ihren Himmlischen Streitwagen komplett auf Reparaturen auf Nanitenbasis. Zwar wird vermieden, dass Naniten alles und jenes im Raumschiff mit ihren eigenen Körpern bei Reparaturmaßnahmen ausfüllen, aber die winzig kleinen Helfermaschinen transportieren im Schiff vorhandene Grundstoffe an die entsprechenden Stellen, wo sie gebraucht werden und bauen sie dort ein. So reparieren sich an Bord eines Erzengelklasse-Protectors Dinge wie von Geisterhand und das kompakte Raumschiff ist dadurch sogar langstreckenfähig. Grinsend besieht sich Paulus die beiden Sitze für Piloten und Copiloten in dem spartanischen Cockpit, das nur einen Hauptbildschirm und drei Notpulte mit konventionellen Bildschirmen und ein paar Tasten aufweist neben den beiden unbequemen Stahlsesseln im Zentrum der Brücke. Alles ist darauf ausgelegt, dass die zweiköpfige Besatzung über die üblichen drahtlosen Schnittstellen ihrer Nanitenkörper direkt mit dem Schiffsrechner kommuniziert und nicht etwa konventionelle Terminals benutzt. Jacob hat sich schon niedergelassen in dem stahlglänzenden Sitz, der wie ein Zahnarztstuhl aus der Hölle wirkt, mit einer Stahlklammer für den Hals und sonst komplett geraden Stahlflächen inklusive massiver Armlehnen. Ein Stahlsessel wie aus einem Block. Klobig und einem Menschen sicherlich sofort alle möglichen Schmerzen bereitend. Doch Jacob hat sich bereits darin niedergelassen und sein variabler Körper hat sich längst der eckigen Form der Sitzfläche angepasst. Gerade und ohne Mienenspiel sitzt der Körper des Knappen fast kerzengerade in seinem Sitz und wirkt komplett wie eine Statue. „Ihr seht wieder famos aus, Eure Silbrigkeit“, neckt Paulus und setzt sich selbst. In einer merkwürdig fließenden Bewegung dreht sich der ausdruckslose Kopf des Knappen zu ihm um, ohne dass sonstige Köperteile mit in Bewegung geraten. Das Gesicht Jacobs bleibt fast ausdruckslos. Nur die linke Augenbraue, natürlich in dem silbrigen Nanitenmaterial nur angedeutet, bewegt sich etwas in die Höhe. Paulus lässt das glucksen, während er es sich selbst bequem macht. „Vergiss den Sicherheitsgurt nicht“, versucht er einen Witz, doch Jacob antwortet nicht. Natürlich gibt es keine Gurte, denn die Nanitenkörper können sich molekular mit dem Stahlsitz verschränken. Paulus glaubt eine leichte Vibration im Schiff wahrzunehmen und die Sensoren seines künstlichen Körpers bestätigen das sofort. Die Systeme des Schiffes fahren hoch und beide Besatzungsmitglieder werden mit den in Grün gehaltenen Statusmeldungen versorgt, als sich ihr Himmlischer Streitwagen bereitmacht. Antienergie/Energie (AE/E)-Generator, Gravitonfeldgenerator, Gravitontriebwerke, Warp-Triebwerke, konventionelle Schilde, konventionelle Tarnvorrichtung, 3-Gen- und 4-Gen-Tarnvorrichtung, AE/E-Waffen, Thermowaffen, Disruptoren. Alles scharf und bereit. Gravitonfeldgenerator aktiv und bereit, die normale Schwerkraft an Bord zu halten. Auch die Lebenserhaltung fährt hoch und stattet das Schiff mit einer normalen Raumtemperatur und sogar atembarer Luft aus. Auch wenn die Besatzung beides absolut nicht benötigt. „Es ist schwer“, konstatiert Paulus gedanklich, „sich von den Gewohnheiten des Fleisches zu verabschieden. Selbst wenn man mit so übermächtigen Astralkörpern ausgestattet ist.“

Als das Schiff, die silberglänzende Michael, durch ihre Antigravfelder mühelos die Schwerkraft des Planeten verlässt, da wirft Paulus einen Blick zurück auf den Planeten, der das Zentrum der Vereinigungskirche darstellt. Doch wie immer ist der Anblick alles andere als hübsch. Denn Gottes Neue Welt ist nichts andere als eine der zahllosen toten Welten, die es draußen in der Heimatgalaxis der Menschheit gibt. Die zahllosen Kuppeln und unterirdischen Anlagen sind so angelegt, dass man sie mit bloßem Auge nicht erkennt, passen sie sich doch unbeleuchtet an das Felsgestein an. Das Silbergesicht von Paulus verzieht sich kurz zu einer leichten Grimasse, doch dann konzentriert er sich auf die Meldungen. Das Schiff liegt auf Kurs und wird mit seinem Gravitonantrieb noch etwa einen Tag weiter beschleunigen, bis es den Abstand erreicht hat, ab dem das Einschalten des Warpantriebs gefahrlos möglich ist. Zeit noch für ein paar Gebete, um Kraft für die neue Mission zu erhalten, über die die das Schiff seinen Ritter und seinen Knappen gleich informieren wird.

10:58 Uhr, Freitag 01.06.2255 Greenwich-Erdzeit

An Bord des Himmlischen Streitwagens Michael, Nähe Planet Ire, 457 Lichtjahre von der Erde

Paulus

Der Himmlische Streitwagen liegt schon seit vielen Stunden bewegungslos im Raum, geschützt durch seine 3-Gen-Tarnvorrichtung. Eine technische Neuerung, die erst seit dem Ende des zwanzig Jahre zurückliegenden Nanitenkrieges der Menschheit zur Verfügung steht. Noch etwas instabil, wird sie in die neueste Generation der Schiffe der Earth Federation Space Navy eingebaut. Paulus weiß genau, wie die feindliche Space Navy die neuen Schiffstypen ausstattet. Dabei machen zwei Klassen beim Feind den Anfang mit 3-Gen-Technologie. Die Lotus-Klasse-Korvetten und die nagelneuen Nemesis-Klasse-Fregatten, von denen erst wenige Schiffe die Testphase schon abgeschlossen haben. Die 3-Gen-Technik wird ansonsten von Earth Federation-Navyschiffen nur in speziellen Torpedos verwendet und das auch nur bei ausgesuchten Raumschiffen.

Das Kirchenschiff Michael hat dagegen schone eine etwas ausgereiftere Version dieser Tarnvorrichtung – und sogar die noch strikter unter Verschluss gehaltene Tarnvorrichtung der vierten Generation. Alles durch den berühmten Fleet Admiral Javier Esparza, der zweite Oberkommandierende der Space Navy und Nachfolger des Gründungsadmirals Thomas Brander. Schon lange ist Esparza im Ruhestand, aber seit dem Verlust seiner geliebten Tochter Dolores zu Beginn des Nanitenkrieges hat er zu Gott gefunden. Zum Einen Gott der Vereinigungskirche der Wahren Menschheit. So hat es Esparza eingefädelt, dass die Kirche, großzügig finanziert durch den Milliardär Juri Karlow alias Prophet Pjotr der Erste, der Wahren Menschheit einen eigenen Planeten mit ihrer eigenen Kolonie und sogar hochgerüsteten eigenen Raumschiffen geschaffen hat. Raumschiffe, die alles übertreffen, was die Earth Federation Navy derzeit hat und die auch die nächste Generation bereits übertreffen werden. Selbst der Antrieb der Michael, ein Raumverzerrungsantrieb oder eben Warpantrieb, ist etwas, das die gegenwärtigen Navyschiffe nur in jenen spärlich vorhandenen neuen Korvetten der Lotus-Klasse und den neuen Fregatten der Nemesis-Klasse verbaut haben. Die bisherigen Raumschiffklassen der Föderation haben immer noch den alten AE/E-Antrieb, der um ganze Größenordnungen langsamer beschleunigt. Der alte AE/E-Antrieb benötigt den Übertritt in den Hyperraum, um den Naturgesetzen des Einsteinraums zu entgehen und Lichtgeschwindigkeit zu erreichen und zu überschreiten. Hingegen unterliegt der Warpantrieb nicht diesen Einschränkungen. Denn er verzerrt nur den Raum um das Schiff herum, anstatt das Raumschiff selbst zu bewegen. Aber auch Raumschiffe mit Warpantrieb treten in den Hyperraum und dann in den Plus-100 Hyperraum über. Allerdings nur wegen des günstigen umgekehrten Zeitdilatationseffekts.

Lichtgeschwindigkeit könnten sie auch im Normalraum überschreiten. Aber dann würde eine Reise über eintausend Lichtjahre bei der maximal erreichbaren Geschwindigkeit von eintausend Licht immer noch ein Jahr dauern. Hingegen dauert sie durch Benutzung des Plus-100 Hyperraums keine vier Tage.

Jetzt liegt die Michael ruhig im Raum, völlig unsichtbar durch ihr 3-Gen-Tarnfeld, das sie komplett aus dem Normalraum nimmt und beobachtet über Passivscan das Sternensystem mit der New Ireland-Kolonie und insbesondere dem Planeten Ire, wie er benannt worden ist. In dessen Orbit liegen gleich zwei Raumschiffe der Space Navy. Die Korvette Gilgamesh der kompakten America-Klasse und der Zerstörer Atlantis der bauchigen Avalon-Klasse. „Die haben ja viel aufgeboten“, bemerkt Jacob mit ironischem Tonfall. Paulus nickt. „Da haben wir sie. Die Zwischengeneration. Noch alte Technologie wie die Moondreamer-Fregatten, aber alles etwas modernisiert. Aber noch kein Warp und kein 3-Gen. Von 4-Gen ganz zu schweigen.“

„Sie werden“, beginnt der Knappe mit leuchtenden Augen, „ihr gottgefälliges Wunder erleben. Nicht mal die neue Lotus- oder die Nemesis-Klasse der Föderation hätten gegen uns eine Chance. Und diese Schiffe hier schon gar nicht.“

Paulus schweigt einen Moment. „Nun, mit einer Lotus-Korvette oder einer Nemesis-Fregatte zu tanzen hätte durchaus sein Risiko. Aber mit den Americas und den Avalons kommen wir problemlos klar.

„4-Gen-Feuerleitlösung für je einen Warp-Torpedo?“, erkundigt sich Knappe Jacob. Es wäre, ist Paulus sofort klar, eine narrensichere Art und Weise, die beiden Schiffe zu vernichten. Es ist nicht einmal klar, ob die beiden Föderationsschiffe schon 3-Gen-Ortungstechnologie an Bord haben. Sollte das der Fall sein, könnten sie in der Tat 3-Gen-Torpedos erkennen. Zwar sind diese dem Normalraum entrückt, aber eben auf einer Art von Frequenz, die auch die Föderation neuerdings verwendet. Daher könnten aufgerüstete Föderationsschiffe dieser Klassen sie im Anflug sehen, wenn sie über entsprechende Ortungsgeräte verfügen. Im Gegensatz zu 4-Gen-Torpedos. Daher hat sein Knappe Recht. Sie können einfach zwei 4-Gen-Torpedos losschicken und die beiden Föderationsschiffe werden von einer Sekunde zur anderen vernichtet. Sie werden es vorher nicht einmal bemerken.