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Der verwaiste Sarg Autor: Grit Roß Nach Jahren der Stille nimmt Ida an der Beerdigung ihrer Kindheitsfreundin Marie teil. Doch eine ominöse Botschaft bewegt sie dazu, den geschlossenen Sarg zu öffnen – und er ist leer. Wie kann das sein? Ida ist voller Fragen und zweifelt am Tod ihrer Freundin. Entschlossen begibt sie sich auf eine Spurensuche, die sie in verschiedene Länder führt. Auf ihrer Reise trifft sie auf freundliche und zwielichtige Gestalten, die ihr helfen oder sie behindern. Die Wahrheit ist schockierend: Marie lebt und hat ein bewegtes Leben hinter sich, von dem Ida nichts ahnte. Als Ida Marie endlich findet und diese ihr alles beichtet, wird alles, was Ida über ihre Freundin zu wissen glaubte, in Frage gestellt. Am Ende muss Marie für ihre Taten die Konsequenzen tragen. Ein packender Thriller über Freundschaft, Verrat und die Suche nach der Wahrheit. Detailreich und bildhaft: Lebendige Beschreibungen, die Szenen zum Leben erwecken. Spannungsaufbau: Fragen und Geheimnisse halten den Leser neugierig. Innere Monologe: Tiefe Einblicke in die Gedanken und Gefühle der Protagonistin. Dialoge: Natürliche Gespräche, die die Handlung vorantreiben. Reflexionen: Nachdenkliche Passagen, die der Geschichte Tiefe verleihen.
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Seitenzahl: 158
Veröffentlichungsjahr: 2025
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von Grit Roß / Poesieflügel
Buchbeschreibung:
Der verwaiste Sarg
Autor: Grit Roß
Nach Jahren der Stille nimmt Ida an der Beerdigung ihrer Kindheitsfreundin Marie teil. Doch eine ominöse Botschaft bewegt sie dazu, den geschlossenen Sarg zu öffnen – und er ist leer. Wie kann das sein? Ida ist voller Fragen und zweifelt am Tod ihrer Freundin. Entschlossen begibt sie sich auf eine Spurensuche, die sie in verschiedene Länder führt. Auf ihrer Reise trifft sie auf freundliche und zwielichtige Gestalten, die ihr helfen oder sie behindern.
Die Wahrheit ist schockierend: Marie lebt und hat ein bewegtes Leben hinter sich, von dem Ida nichts ahnte. Als Ida Marie endlich findet und diese ihr alles beichtet, wird alles, was Ida über ihre Freundin zu wissen glaubte, in Frage gestellt. Am Ende muss Marie für ihre Taten die Konsequenzen tragen.
Ein packender Thriller über Freundschaft, Verrat und die Suche nach der Wahrheit.
Über den Autor:
Grit Roß alias Poesieflügel
Grit Roß, geboren 1971, schreibt seit ihrer Kindheit Lyrik. Unter ihrem Pseudonym “Poesieflügel” hat sie Gedichtbände und Wandkalender veröffentlicht, die Poesie und Fotografie vereinen. Nun präsentiert sie mit “Der verwaiste Sarg” ihren ersten Thriller, der durch Spannung und unerwartete Wendungen besticht.
Merkmale ihres Schreibstils:
Detailreich und bildhaft: Lebendige Beschreibungen, die Szenen zum Leben erwecken.
Spannungsaufbau: Fragen und Geheimnisse halten den Leser neugierig.
Innere Monologe: Tiefe Einblicke in die Gedanken und Gefühle der Protagonistin.
Dialoge: Natürliche Gespräche, die die Handlung vorantreiben.
Reflexionen: Nachdenkliche Passagen, die der Geschichte Tiefe verleihen.
1. Auflage, 2024
© Grit Roß
Der verwaiste Sarg
Marie, wo bist du?
Von Grit Roß / Poesieflügel
Meine Freundin Marie war ein bezauberndes, jedoch schüchternes Mädchen. So oder so ähnlich hatte ich noch vor einigen Wochen meine Trauerrede begonnen. Heute würde ich es nicht mehr sagen. Alles, was ich über Marie zu wissen glaubte, wurde infrage gestellt. Das Mädchen und ich waren seit unserer Kindheit befreundet. Seit der 3. Klasse gingen wir auf dieselbe Schule. Als kleines Kind hatte sie goldene Haare, die ihr engelhaftes Gesicht einrahmten. Jeder, der sie sah, dachte, sie sei nicht von dieser Welt. Mehr oder weniger stimmte das auch. Sie kam aus Ungarn. Marie war sonderbar still und unnahbar. Ich dagegen das hässliche Entlein, eher etwas kräftig, rothaarig, sommersprossig, aber nicht so keck wie Pippi Langstrumpf. Mein Name schlicht und einfach Ida. Die Musik verband uns. Jeden Dienstag und Donnerstag erprobten wir unser Können, wetteiferten mit unseren schiefen Tönen. Sie mit dem Cello, ich mit der Querflöte. Seit dem ersten Tag, an dem das blonde Mädchen unsere Schule betrat, gehörten wir zur ansässigen Straßenclique. Micha, unser Anführer war öfter ziemlich ruppig, der dahin schmolz, sobald er Marie ansah. Unsere Gang traf sich jeden Tag im Hinterhof der Kichert Straße 42. Eine Wohnanlage, gebaut noch vor dem 2. Weltkrieg. Die Fassaden waren trist und grau. Hier und da gab es noch Einschusslöcher. In der Mitte des Hofes gab es ein Blumenrondell. Ausgelassen spielten wir Einkriegezeck, turnten, zum Ärgernis der Anwohner, auf der Teppichklopfstange.
Ich erinnere mich, als wäre es erst gestern gewesen. An einem der ersten Frühlingstage, als die Sonne schien, beschloss unsere Gruppe, sich mit Klingelstreichen zu vergnügen. Emma und Lutz, die Größten von uns, liefen vorneweg. Unser Ziel war die beleibte, alte Frau Strohbach. Sie wohnte Parterre und hatte stets die Vorhänge zugezogen. Die Wohnung hatte eine ebenerdige, separate Eingangstür. Natürlich klingelte der Chef unserer Bande. Wir rannten sofort hinter das Gebüsch gegenüber der Tür. Alle, bis auf Marie. Sie blieb einfach stehen, wie gebannt, und starrte auf die geschlossenen Vorhänge. Was war nur mit ihr los? Wir riefen nach meiner Freundin, doch sie reagierte einfach nicht. Knarrend ging die Tür der Strohbachen auf. Fragend schaute die Alte auf Mariechen. Da kniete sich unser Engel nieder und begann zu weinen. Die gute Frau versuchte herauszufinden, warum Marie weinte. Als sie sich keinen Rat mehr wusste, schlurfte sie in die Wohnung und kam mit einem riesigen Lutscher wieder heraus. Sie strich dem Mädchen über das Haupt und reichte ihr die Süßigkeit. Sofort grinste das Kind bis über beide Ohren, stand auf und lief an uns vorbei die Straße hinunter. Wir klingelten nie wieder bei Frau Strohbach.
Jeden Samstag gingen wir gemeinsam zum Bäcker, um Brötchen für das Sonntagsfrühstück zu kaufen. Mit hochrotem Kopf stammelte ich herunter, was ich bringen sollte. Es waren immer sechs Brötchen und ein Bauernbrot. Doch für mich war jeder Sonnabend eine Premiere. Marie legte jedes Mal nur stumm ihren Zettel auf den Tresen. Die Verkäuferin sah sie immer mitleidig an. Vielleicht dachte sie, dass Mariechen nicht sprechen konnte. Am Ende gab die Bäckerin ihr immer eine Schnecke mit Zuckerstreuseln. Diese ließen wir uns vor dem Laden schmecken, wobei meine Freundin mehr die Streusel aß.
Über die Jahre hinweg war meine Mitstreiterin im Cellospielen zu einer wahren Meisterin geworden, sodass es niemanden verwunderte, als sie zum Musikstudium zugelassen wurde. Von da an trennten sich unsere Wege. Sie zog nach Weimar in eine Studenten-Wohngemeinschaft, während es mich zur Polizei verschlug. Ich erhielt eine kleine Neubauwohnung mit Küche und Durchreiche. Während Marie eine steile musikalische Karriere hinlegte, hatte ich mich zur Kriminalpolizei durchgeschlagen. Unsere Begegnungen wurden seltener, jeder war mehr oder weniger in seiner eigenen Welt gefangen.
Als wir uns das letzte Mal begegneten, hätte ich sie fast nicht wiedererkannt. Sie war schon immer dünn, doch jetzt war sie nur noch Haut und Knochen. Ihre blonde Pracht war einem schwarzen Etwas gewichen. Das Schlimmste war, dass sie verwahrlost aussah. Sie, die immer die Frau von Welt gewesen war. Ich spürte, dass etwas nicht stimmte. Also lud ich sie in ein Spa-Bad mit Verwöhnprogramm ein. Als wir entspannt in der Fangopackung lagen, fragte ich, was mit ihr passiert sei. Sie wich mir aus. ‘Es wird wieder’, das war alles, was sie sagte.
In den Monaten danach schickte sie mir Karten aus der ganzen Welt. Jeden Monat ein anderer Ort. Nirgends war ein Absender verzeichnet. Ich wollte mich bei ihr bedanken, ihre warme Stimme hören. Doch egal, wann ich versuchte, sie zu erreichen, ihr Telefon war aus. Es meldete sich nur die nette Stimme vom Band. Zunehmend eindringlichere Nachrichten hinterließ ich auf ihrem Anrufbeantworter. Nachts schreckte ich manchmal schweißgebadet hoch, glaubte das Telefon zu hören. Die Angst, dass ihr etwas zugestoßen war, wurde immer größer. Ich recherchierte nach ihrer Agentur. Diese teilte mit, dass sie den Vertrag gekündigt hätte. Gehört hatten sie nichts. Ich beschloss nun, auf dem Dienstweg nach ihr zu suchen. Egal, wie ich den Computer fütterte, es gab keinen Eintrag von einer Marie Scholz. In keinem Melderegister des Landes. Auch ihre Eltern waren unbekannt verzogen. Das konnte doch nicht sein? Der Kartenfluss war versiegt.
Öfter träumte ich von meiner Kameradin, sah sie ertrunken, erhängt oder brennend. Sie rief nach Hilfe, und ich konnte nicht zu ihr. Was sie sagte, verstand ich nicht, vielmehr begriff ich es nicht. Hatte ich nur nicht richtig hingeschaut? Was meinte Marie? Wo war sie?
Und plötzlich klingelte mitten in der Nacht das Telefon. Ich benötigte einige Sekunden, bis ich begriff, dass es wirklich klingelte. Endlich! Die Freude währte nur eine oder zwei Sekunden, bis ich hörte, aber nicht verstand, was mir die Stimme am Apparat sagte: Marie sei tot. Nicht verschollen, nicht krank, tot. Tot! Irgendwer musste mir die Beine weggezogen haben und Nebel in meine Wohnung gelassen haben. Verkrampft hielt ich den Hörer noch in der Hand, als Maries Mutter bereits das Gespräch beendet hatte. Vage erinnerte ich mich am nächsten Morgen, dass ich zugesagt hatte, an der Trauerfeier in zwei Wochen teilzunehmen. Warum hatte ich nicht hartnäckiger nachgeforscht?
Vierzehn Tage später flog ich über das Mittelmeer nach Rhodos. Als ich aus dem Flieger stieg, schlug mir eine drückende Hitze entgegen. Trotz der Wärme zitterte ich, als wäre ich in Sibirien. Das Taxi brachte mich die wenigen Kilometer vom Flughafen zur Heiligen-Kreuz-Kapelle. Davor standen nur drei Personen. Ungewöhnlich, da sich dort sonst immer Touristen einfinden. Schweigend umarmte ich die beiden alten Leute. Maries Mutter war noch immer eine adrette Person. Ihr Vater hingegen sah genauso blass aus wie ich. Er stand wackelig auf einen Gehstock gestützt. Neben ihnen stand der Priester. Obwohl mir ein Regenschauer über das Gesicht lief, hatte ich das Gefühl, dass er es eilig hatte. Vielleicht sah ich es erst jetzt, nachdem … Er trat an mich heran und sagte, die Eltern hätten den Wunsch, dass ich ein paar Worte sage. Wie hypnotisiert folgte ich ihm in die Kapelle. Auf einer Steinplatte lag der geschlossene Sarg. Ich stellte mich neben ihn und stützte mich halb darauf, als könnte meine Freundin mir Kraft geben.
Mit schwankender Stimme erzählte ich von Marie. Meine Freundin Marie war ein zauberhaftes, aber schüchternes Mädchen … Ich weiß nicht, wie lange ich sprach oder was, als ich einen Geist aus der Pforte der Kapelle gehen sah. Vielleicht lag es nur an meiner verschwommenen Sicht? Doch als ich noch einmal hinschaute, war die Tür eindeutig zu. Etwas Weißes lag auf dem Gang. Es zog mich magisch an. Die Worte versiegten, wie in Trance lief mein Körper auf diesen hellen Fleck zu. Als ich näherkam, erkannte ich einen Brief. Meine Hand hob ihn auf. Noch heute, eine Woche danach, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Es konnte nur ein Scherz sein. Ein übler, bösartiger, aber es durfte nicht wahr sein! In roten Buchstaben brannten die Worte: „Mein Beileid. Nichts ist, wie es scheint. Finden Sie Marie, dieses Rabenaas!“ Fassungslos starrte ich die Schrift an. Das durfte nicht sein! Doch der Zweifel hatte schon seinen Fuß erhoben und nagte immer mehr.
Maries Eltern hielten sich an den Händen und schauten bang zu mir herüber. Als der Totengräber an den Sarg trat, hallte ein ohrenbetäubender Schrei durch die Halle. Ich stürzte auf ihn zu. „Öffnen Sie den Sarg! Ich muss Marie noch einmal sehen!“ Verdutzt schaute mich der Priester an. Er trat neben mich, legte seine Hand auf meine Schulter. „Bitte!“, sagte ich leiser, aber eindringlich. Keiner der Anwesenden sprach. Der Totengräber öffnete den Sarg – er war leer.
Fassungslos starrte ich in den leeren Sarg. Zögerlich traten Maries Eltern neben mich. In ihren Augen sah ich die gleiche Ohnmacht und Hilflosigkeit, die auch mich übermannt hatte. Die Mutter verlor jegliche Fassung. Ihre Knie sackten weg. Der Vater versuchte, sie zu stützen. Sein Gehstock zitterte. Er schien jeden Moment nachzugeben. Das alles sah ich. Es berührte mich nicht. Einzig allein der immer stärker werdende Druck der Hand des Priesters auf meiner Schulter spürte ich. Seine Stimme war eisig, als er sagte, sie sei vollständig verbrannt bei der Explosion. Stumm nickte ich. Die Tränen versagten ihren Dienst. Mein forensisches Denken hatte ausgesetzt. Der Totengräber reichte den alten Leuten und mir ein Glas Wasser, welches er aus einem Nebenraum geholt haben musste. Von seiner Abwesenheit hatte ich keine Notiz genommen.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, als der Mann Gottes uns aufforderte, den leeren Sarg zu bestatten. „Marie müsse ein Grab haben!“ Die Eltern hatten sich schneller im Griff als ich. „Sicher, unsere Tochter benötigt ein Grab“, bestätigte die Mutter. Flehend schaute sie zu mir. Auch wenn alles keinen Sinn ergab, willigte ich ein und trottete mit ihnen zum offenen Grab. Gemeinsam versenkten wir das leere Holz. Stumm standen wir noch einige Minuten beisammen. Obwohl die Sonne den düsteren Ort in ein warmes Licht tauchte, fror und zitterte ich am ganzen Leib. Alles trieb mich fort von diesem Ort. Ich umarmte das alte Ehepaar und verabschiedete mich. Ein Leichenschmaus gab es nicht. Es gab auch keine Leiche. Gab es eine Tote? Sollte ich die nächste Maschine nach Deutschland nehmen? Gewiss hätte ich es getan, wäre da nicht diese bleierne Schwäche gewesen. So fuhr ich mit einem Taxi zum GQ-Hotel, das dicht an der Uferpromenade lag.
Erschöpft ließ ich mich an der Bar nieder. Bestellte ein Glas Diagolos Red. Mit dem Kopf auf den Händen, den Blick in die blutrote Flüssigkeit getaucht, ließ ich meinen Gedanken und Gefühlen freien Lauf. Das dritte Glas schaltete das Chaos in meinem Kopf ab. Mit dem Römer in der Hand trat ich hinaus in die betörende Abendluft. Mein Blick schweifte über das dunkle Wasser zum Fort St. Nicolaus und weiter bis zum Großmeisterpalast, der majestätisch im Scheinwerferlicht alle Blicke auf sich zog. Für einen winzigen Augenblick war ich Tourist. Ich erinnerte mich daran, dass der ursprüngliche Palast vom zweiten Großmeister des Johanniterordens bereits im 14. Jahrhundert errichtet wurde. 1522 eroberten jedoch die Osmanen die Anlage und nutzten sie als Gefängnis. Als ich an die weitere Geschichte des Palastes dachte, kamen mir die Tränen. 1856 zerstörte eine Explosion die Zitadelle. Solch ein Kraftakt der Zerstörung hatte nun Marie ausgelöscht. Gedankenversunken ließ ich mir erneut das göttliche Getränk einschenken. Therapie des Vergessens. Berauscht streckte ich mich Stunden später auf dem luxuriösen Doppelbett aus. Lauschte den Wellen, ließ mich von ihnen treiben. Fort von dem Jetzt und Hier.
Am nächsten Morgen dröhnte mir der Schädel. Es war eindeutig zu viel Rotwein gewesen. Schweren Schrittes schleppte ich mich ins Badezimmer, füllte den Zahnputzbecher mit Wasser und spülte ein Aspirin hinunter. Zu oft waren die Tabletten meine Rettung gewesen. Ein verworrener Traum hatte mich durch die Nacht gejagt. Marie tanzte vor mir hin und her, lachte und lachte, dabei verzog sich ihr Mund zu einer abstoßenden Grimasse. Ihre Augenhöhlen waren tief, als trüge sie eine Maske. In wellenhaften Bewegungen kam sie auf mich zu, öffnete dabei ihren Mund, als wolle sie mich verschlingen. In der flirrenden Luft wisperte sie: „Du Dummerchen, ich lebe.“ Als ich jetzt in den Spiegel blickte, schauten mich zwei Augen an, die der Fratze von heute Nacht ähnelten. Hastig schüttete ich mir kaltes Wasser ins Gesicht.
Als ich wenig später achtlos das Frühstück in mich hineinschob, stellte sich mir die Frage, ob Marie noch am Leben sein könnte. Was wusste ich schon? Der Sarg war leer gewesen. Es hatte eine Explosion gegeben. Unfälle passierten, auch schreckliche. Mein kriminalistisches Denken begann sich zu regen. Bedurfte es nicht enormer Hitze, dass auch die Knochen verbrannten? Dann war da der Zettel. Marie würde ihren Eltern nicht ihren Tod vorgaukeln. Warum sollte sie das tun? Das Gedankenkarussell nahm wieder volle Fahrt auf. Während ich an einem Espresso nippte, beschloss ich, den Priester noch einmal aufzusuchen.
Frisch geduscht schlüpfte ich wenig später in eine kurze Jeans und ein viel zu weites T-Shirt. Schulterte meinen Rucksack und machte mich auf den Weg zur Rezeption, um nach einer Busverbindung zu fragen. Am Tresen gestikulierte eine junge Empfangsdame betont freundlich zu einem Gast, der ein Kauderwelsch vor sich hin brabbelte. Was er wollte, verstand weder die Rezeptionistin noch ich. Mit ihrem Latein am Ende holte sie eine Kollegin. Diese hatte samt schwarzes Haar. Später erfuhr ich, dass sie Elena hieß und nicht Schneewittchen, wie ich sie in Gedanken taufte. Elena sprach elf Sprachen und stammte aus Russland. Seit nunmehr sieben Jahren lebte sie auf der Insel. Es war ihr eine Leichtigkeit, dem Fremden zu helfen. Ihre Mitstreiterin fragte ich nun nach der Busroute zur Klavidou Peper. Der Weg sei einfach, geradeaus, meinte sie. An der Haltestelle Mandraki solle ich in den Bus 113 steigen. Es seien nur fünf Stationen bis Genesis, dort müsse ich aussteigen. Ob ich nicht lieber laufen wolle, fragte sie. Es sei nur eine halbe Stunde Fußweg. Die Busse wären nicht immer pünktlich. Auch könne ich etwas von der wunderschönen Stadt sehen. Ich ließ mir den Weg auf einer Karte einzeichnen, sagte danke und wandte mich zum Ausgang. Weit kam ich nicht, als Elena rief, es sei eine Nachricht in meinem Fach. Fragend drehte ich mich um. Sie gab mir einen Zettel. Die gleiche blasse Rose zierte ihn wie den vom Vortag. Vermutlich wurde ich blass, als meine Züge mir entglitten. Ob alles in Ordnung sei? Oder sie mir helfen könne? Vielleicht ein Glas Wasser? Elena war rührend besorgt. Ich hielt mich kurz am Tresen fest, bevor ich sagte, dass es schon wieder gehe. Eilig verließ ich die Lobby. Unter strahlend blauem Himmel las ich die neuen Worte: „Sie sind neugierig. Gut! Machen Sie weiter!“ Verstohlen schaute ich mich um. Wer immer diesen Zettel geschrieben hatte, wusste, wo ich war. Was mir jedoch einen Knoten im Magen bescherte, war, dass er wusste, was ich vorhatte. Warum beobachtete mich jemand? Vor allem wer? War es der Mann mit der Zigarre, der leger an der Säule lehnte? Oder der, der sich gerade den Schuh zuband? Vielleicht war es auch der Kellner, der aus der Lobby heraus zu mir schaute? War es ein Mann? Warum denkt man immer gleich, dass es ein Kerl ist? Sollte ich jetzt nicht doch einfach nach Hause fliegen? Alles vergessen? Nein, das war nicht möglich. Das Auftauchen der neuen Nachricht hatte mich eher bestärkt in meiner Annahme. Etwas war faul an der ganzen Geschichte.
Ich trottete die Pl. Eleftherias entlang und grübelte. Am Liberty Gate hielt ich kurz inne. Ein imposantes Tor, das Einlass zur Altstadt gewährt. Es wurde im 14. Jahrhundert als Brücke zu einer Werft errichtet. Allerdings wurde das Original 1910 zerstört. Wer mag hier alles schon entlanggegangen sein? Ich bin nicht als Tourist hier, sagte der Zettel, den ich immer noch verkrampft in der Hand hielt. Vorsichtig schaute ich mich um. Vielleicht gab sich der Schreiber zu erkennen. Es wimmelte von Menschen. Es musste schon ein großer Zufall sein, als Verfolger hier aufzufallen. Ich schaute kurz auf die Karte und setzte meinen Weg fort. Wenig später zog die Porte de la Marine meine Aufmerksamkeit auf sich, die Ähnlichkeiten mit dem Haupttor der Stadt Villeneuve-lès-Avignon hat. Einen kurzen Blick warf ich noch auf den Strand, an dem hauptsächlich die Einheimischen baden, bevor ich in Kanada einbog. Meine Schritte wurden betont langsamer. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich mir keinen Plan zurechtgelegt hatte. Das zeigte nur, wie neben der Spur ich war. Tausend Fragen schwirrten durch meinen Kopf. Plötzlich gab es einen lauten Knall, gefolgt von lautem Gekeife. Irritiert schaute ich mich um. Blieb abrupt stehen. Ich stand auf der Fahrbahn, dicht neben mir ein Auto. In dieses hatte sich ein zweites geschoben. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass der Unfall mutmaßlich durch mich passiert war. Peinlich berührt versuchte ich mich zu entschuldigen. Der Fahrer des vorderen Fahrzeugs winkte mich fort. Ich sollte bloß verschwinden, gab er mir zu verstehen. Über seinen Hintermann ergoss er eine Schimpftirade. Dieser tat mir furchtbar leid.
Mein Gedankenwirrwarr lichtete sich. An der Explosion musste ich ansetzen! Hierzu den Priester befragen. Noch wenige Schritte lief ich an der Straße entlang. Dann sah ich die Umrandung des Friedhofs.