Der verwunschene Turm - Sylvia Weill - E-Book
SONDERANGEBOT

Der verwunschene Turm E-Book

Sylvia Weill

0,0
5,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die junge Emma wächst im viktorianischen Zeitalter im Moor von Cornwall bei ihrer Großmutter auf, die eine Kräuterkundige ist, aber auch als Hexe gilt. Sie verlebt eine unbeschwerte, glückliche Kindheit, die jäh endet, als ein Lynchmob aus Dorfbewohnern ihre Großmutter verbrennt, weil sie eine junge schwangere Frau nicht retten konnte. Emma wird zur Familie ihrer Großmutter gebracht, von deren Existenz sie bislang nichts wusste. Hier muss sie sich einleben. Sie lernt die völlig unterschiedlichen Brüder Edward und Harold kennen. Und sie erfährt immer mehr aus der Vergangenheit ihrer Großmutter. Sie findet einen Brief von ihr an Emma, in dem es um ihr Erbe geht. Und dieses Erbe soll sich in dem verwunschenen Turm erfüllen, den niemand betreten darf, weil er verflucht ist. Wird Emma es schaffen, zu ihrem Recht zu kommen und wer ist der Widersacher im Schloss, der ihr nach dem Leben trachtet?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 397

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kurzbeschreibung: Die junge Emma wächst im viktorianischen England bei ihrer Großmutter im Moor von Cornwall auf. Die alte Frau ist für ihre Kräuterheilkunde bekannt, doch ihre hexerischen Anwendungen rufen bei den Dorfbewohnern nicht nur gute Gefühle hervor. Als sie es nicht vermag, eine junge Schwangere und ihr Kind zu retten, hetzt das Dorf gegen die alte Frau und sie fällt der Brandstiftung zum Opfer. Emma wird zum Mündel des Grafen von Weltingham und sieht sich mit einem gänzlich anderen Leben konfrontiert. Nach und nach erfährt sie immer mehr über die Vergangenheit ihrer Großmutter, der Schwester des Grafen, und fällt dem heimtückischen Plan eines Verwandten zum Opfer, der Emma um ihr Erbe bringen will.

Sylvia Weill

Der verwunschene Turm

Edel Elements

Edel Elements

- ein Verlag der Edel Verlagsgruppe GmbH

© 2022 Edel Verlagsgruppe GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2022 by Sylvia Weill

Covergestaltung: Designomicon, München.

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-435-6

www.instagram.com

www.facebook.com

www.edelelements.de

1. Kapitel

Das Nebelmoor an der Grenze zur sagenumwobenen Insel Avalon ist immer meine Heimat gewesen. Einen anderen Ort hätte ich mir niemals vorstellen können.

Meine Eltern waren nach Amerika ausgewandert als ich noch ein Baby war, und so wuchs ich bei meiner Großmutter auf, die weithin als Hexe galt und tief im Nebelmoor ein altes windschiefes Haus bewohnte, das auf einer Lichtung stand. Kein Kind hätte eine schönere Kindheit haben können, als ich sie dort verlebt habe.

Meine Großmutter war eine schlanke, aufrechte und sehr stolze Frau. Von den meisten Bewohnern der umliegenden Orte wurde sie geachtet. Vor allem die Frauen suchten sie auf, wenn sie irgendwelche Beschwerden oder Krankheiten hatten. In den meisten Fällen konnte sie helfen, denn sie hatte ein immenses Wissen über die Heilkräfte der verschiedenen Kräuter und anderer Substanzen, die sie zubereitete, hegte und pflegte. In einem großen Kräutergarten zog sie alles heran, was sie für ihre Patienten brauchte.

Manchmal stahl sich natürlich auch der eine oder andere Mann mit Beschwerden zu ihr, die nur bei Männern auftreten. Da meine Großmutter sehr verständnisvoll war, versuchte sie auch bei ihnen, sehr diskret zu helfen, und ich bin mir sicher, dass sie es fast immer schaffte. Gegen die schlimmen Krankheiten war sie natürlich machtlos, aber das sagte sie ihren Besuchern dann auch unverblümt, damit sie keine falschen Hoffnungen hegten. Damit hoffte sie natürlich auch, die Ärzte nicht noch mehr gegen sich aufzubringen, denn die beobachteten ihr Wirken mit Argusaugen und hätten sie am liebsten eher heute als morgen außer Gefecht gesetzt. Nur der alte Arzt des Nachbarortes, Mr Fullerton, arbeitete mit ihr zusammen und war ein gern gesehener Gast im alten Hexenhaus. Irgendwann einmal verriet mir meine Großmutter in einem schwachen Moment, dass sie vor sehr vielen Jahren einmal längere Zeit mit ihm zusammen gewesen war. „Kannst du dir das vorstellen, mit diesem alten Zausel?“, fragte sie lachend. An der Art, wie sie lachte, erkannte ich jedoch sofort, dass sie immer noch sehr warmherzige Gefühle für ihre alte Liebe hegte. Und da er immer gut zu mir war, und mir oft das eine oder andere Geschenk mitbrachte, mochte ich ihn wie einen Großvater. Und so war es jedes Mal sehr schön und vertraut, wenn er mit einer Flasche Wein zum Abendessen erschien, das Großmutter dann immer sehr liebevoll zubereitet hatte. Ansonsten gab sie sich nicht so viel Mühe. Dann wurde geredet und gelacht. Ich wurde jedes Mal in die Unterhaltungen miteinbezogen und freute mich, so viel Aufmerksamkeit zu bekommen. Nach dem ausgedehnten Essen ging ich dann im Sommer noch zu den Tieren oder streunte ein wenig herum, bis es dunkel wurde. Im Winter ging ich in mein Zimmer und las in den Büchern, die mir Mr Fullerton häufig zum Geschenk machte. Später am Abend setzte meine Großmutter ihn dann in ihren Zweispänner, vor den sie Lissi spannte, die den Weg durch das Moor noch im Schlaf fand und Mr Fullerton sicher nach Hause brachte. Dort wurde sie gestriegelt und bekam ihren Hafer. Am Morgen kam sie dann auf demselben Weg allein wieder zurück. So musste sich niemand Sorgen machen, denn allein hätte Mr Fullerton den Weg durch das Moor niemals gefunden, und nachts schon gar nicht.

So war meine Großmutter immer sehr beschäftigt und ließ mir alle Freiheiten, die sich ein Kind nur wünschen kann.

Da ich schon ganz früh die Tücken des Moores kennengelernt hatte, und von ihr unterwiesen wurde, wie ich sie vermeiden und umgehen musste, konnte ich mich frei bewegen. Ich wusste, wo ich achtzugeben hatte und wo mir keinerlei Gefahr drohte. Moorlöcher musste ich konsequent umgehen, und sollte ich wider Erwarten doch einmal in eines geraten, wusste ich ganz genau, wie ich mich zu verhalten hatte.

Viele Menschen waren im Verlauf der Jahrhunderte schon im Moor umgekommen, weil sie nichts über die Gefahren gewusst hatten. Immer einmal wieder wurden aus einem der Moorlöcher mumifizierte Leichen angespült. Dann eilte meine Großmutter sofort herbei und kümmerte sich darum, dass sie weggeschafft wurden und ein anständiges Begräbnis erhielten. Und jedes Mal musste ich mir dann wieder einen Vortrag anhören, welche Gefahren dort lauerten.

„Aber Großmutter, das weiß ich doch alles“, sagte ich dann leicht genervt und verdrehte die Augen.

„Kind, besser einmal zu viel geredet als einmal zu wenig, und du kommst auch als Moorleiche daher. Das würde ich nicht überleben.“

Aber dann nahm sie mich in aller Regel in den Arm, drückte mich ganz fest und wandte sich wieder ihren Aufgaben zu.

Ich wunderte mich immer ein wenig, warum sie so großen Wert darauflegte, dass ich alle Gefahren des Moores sehr gut kannte. So viele waren es ja nicht. Aber über die wenigen musste man wirklich gut Bescheid wissen, sonst konnte es schnell lebensgefährlich werden. Und wenn man allein unterwegs war, dann hörte einen niemand, wenn man in ein Moorloch geraten war und langsam in die Tiefe gezogen wurde, ohne dass man sich retten konnte.

Heute verstehe ich meine Großmutter viel besser als damals. Als Kind macht man sich keine großen Gedanken und glaubt, dass einem nichts passieren kann und man einfach alles weiß. Die vielen Kinderleichen, die wir sahen, sprachen da eine andere Sprache.

Meine Großmutter hatte mir eingebläut, wenn ich im Moor unterwegs war, immer einen der Hunde mitzunehmen, die mit uns im Haus lebten. Notfalls konnte der zurücklaufen und Hilfe holen.

Sie und ich liebten Tiere über alles, und daher lebten bei uns alle möglichen von ihnen in schönster Eintracht zusammen. Bis auf einen grünen Papagei, der auf einer Stange im großen Raum des Hauses saß, den wir „das Behandlungszimmer“ nannten. Ein früherer Verehrer meiner Großmutter war ein Seemann gewesen und hatte ihn ihr aus den Tropen als Geschenk mitgebracht. Sie hatte ihn Abraxas getauft und niemand wusste, wie alt er war. Ermüdungserscheinungen zeigte er jedenfalls nicht. Am liebsten ärgerte er die Hunde und Katzen, indem er Laute imitierte, die sie erschreckten. Und sie fielen immer wieder darauf herein solange sie jung waren, bis sie kapierten, dass es Abraxas war, der sie foppte, und keine reale Gefahr. Abraxas war deshalb nicht sonderlich beliebt bei unseren tierischen Mitbewohnern. Deshalb musste er hoch oben auf seiner Stange sitzen. Aber da er von Natur aus faul war, hatte er gar kein Interesse daran, von seinem Platz herunterzukommen. Die vergeblichen Versuche meines Lieblingskaters Rollo, ihn von dort zu zerren und genüsslich zu verspeisen, quittierte er mit einem herablassenden Kreischen, bis Rollo unverrichteter Dinge abzog und eine Kaskade von wüsten Beschimpfungen hinter sich anhören musste. Aber Rollo gab nicht auf, wenn er auch bei Mäusen viel mehr Glück hatte.

So wuchs ich inmitten der Natur auf und war eigentlich immer im Freien, wenn es das Wetter erlaubte. Da es im Süden von Cornwall lange Zeit im Jahr erträglich warm war, gab es nur wenige Monate im Winter, in denen ich im Haus bleiben musste. Dann brannte ein heimeliges Feuer im Kamin, das Großmutter nie ausgehen ließ, und ich half ihr bei der Zubereitung ihrer Ingredienzien für Medizin, was oft sehr viel Zeit in Anspruch nahm, denn es waren viele Arbeitsschritte notwendig, bis sie sie anwenden konnte. Heute weiß ich, warum sie mir alles so genau zeigte und mich ausprobieren ließ. Sie wollte mir ihr Wissen weitergeben. Damals machte es einfach Spaß, auch weil ich mit ihr zusammenarbeiten konnte. Heute bin ich ihr sehr dankbar dafür, dass ich mit dem Wissen, das sie mir so sorgfältig vermittelt hatte, immer noch Menschen helfen kann.

Und an solchen Tagen im Winter, wenn draußen der kalte Wind um das Haus heulte und alle Tiere schläfrig vor dem Kamin lagen, erzählte sie mir ein wenig von der alten Frau, von der sie all ihr Wissen vermittelt bekommen hatte.

„Schau dir nur deine Mutter an. Sie verachtete die Heilkunst. Nie wäre es ihr in den Sinn gekommen, mich zu beerben. Sie wollte schon als Kind nur weg von hier.“

Ein leicht melancholischer Zug legte sich auf das Gesicht meiner Großmutter, wie jedes Mal, wenn sie von ihrer Tochter, meiner Mutter, sprach. „Anna ist so anders als du oder ich es sind. Komisch, und doch sind wir eine Familie von starken Frauen. Meine Mutter war ganz genau wie Anna. Auch sie wollte nur ein gesittetes, bürgerliches Leben führen. Das habe ich nie verstanden.“ Sie schüttelte ihren Kopf mit dem weißhaarigen Dutt am Hinterkopf.

Wenn sie auf ihre Familie zu sprechen kam, was nicht oft passierte, musste ich still sein, sonst verärgerte ich sie.

Sie stricht sich mit einem Handrücken über die Stirn, arbeitete aber konzentriert weiter an der Salbe, die sie gerade anrührte. „Wie es Anna wohl in Amerika geht? Hoffentlich hat sie mit deinem Vater dort ihr Glück gefunden. Man hört ja so viel.“

Natürlich hätte ich auch gerne mehr über meine Eltern gewusst, aber wir hatten nur einmal kurz nach ihrer Ankunft in New York etwas von ihnen gehört. Natürlich hätte man weiter schreiben können, wenn die Post nach Amerika auch eine sehr unsichere Angelegenheit war, aber sie hatten uns keine Adresse nennen können.

„Na ja“, fuhr meine Großmutter fort, „Anna wäre niemals eine gute Heilerin geworden.“

Erst da schien sie mich überhaupt wieder wahrzunehmen, und ihre Gesichtszüge hellten sich auf. „Ganz im Gegensatz zu dir. Du wirst einmal noch besser sein als ich.“ Zärtlich streichelte sie mir übers Gesicht, und ich errötete.

Ich war jedoch der festen Überzeugung, dass ich niemals eine so gute Heilerin sein könnte wie meine Großmutter. Für mich war sie wie eine Hohepriesterin aus den alten Sagen von Avalon, der Insel, die im Laufe der Äonen immer mehr in die Geisterwelt abgeglitten war.

Das Einzige, was ich ein wenig vermisste, war der Kontakt zu anderen Kindern. Ich glaube, jedes Kind wünscht sich andere Kinder zum Spielen. Deshalb war ich jedes Mal froh, wenn eine Besucherin kam und ihr Kind mitbrachte, mit dem ich dann spielen konnte, solange sie bei meiner Großmutter weilte. Am meisten freute ich mich, wenn solche Behandlungen länger dauerten und ich ihm oder ihr alles zeigen konnte. Die meisten waren sehr erstaunt darüber, wie ich lebte, und berichteten mir dann von dem Leben, das sie in einer der Ortschaften führten. Das klang für mich dann immer wie ein Märchen. Ich war mir aber nicht sicher, ob ich tauschen wollte. Natürlich, wenn es ein Mädchen war und es mir von den schönen Kleidern erzählte, die es besaß, wurde ich ein wenig neidisch, aber um nichts in der Welt hätte ich tauschen wollen.

Meine Großmutter war zwar in meinen Augen schon sehr alt, obwohl sie gerade erst die Sechzig überschritten hatte, aber sie erfreute sich einer unverbrüchlichen robusten Gesundheit, wahrscheinlich, weil sie all ihre Kräuter und Elixiere auch selbst nahm, sobald sie irgendwas an sich bemerkte. Mir gab sie natürlich auch vorsichtig davon, und bisher hatte es immer geholfen. Allerdings war ich auch nicht sehr oft krank. Dafür sorgten die gesunde Umgebung und natürlich die Liebe, die mir meine Großmutter so uneigennützig schenkte. Dabei war sie aber durchaus streng in ihrer Erziehung. Aber sie erklärte mir jedes Mal genau, warum sie mir etwas verbot oder warum sie mich bestrafen musste. Meistens konnte ich das einsehen und nahm die Strafe klaglos auf mich. Wenn nicht, gab es heftige Diskussionen, aber letztlich musste ich doch machen, was meine Großmutter anordnete. Sie war eine sehr starke und konsequente Frau.

Einmal kam eine Frau mit ihrer Tochter zu uns, die ungefähr in meinem Alter war.

Von beiden Seiten war es Abneigung auf den ersten Blick.

Trotzdem war ich froh, wieder einmal Kontakt zu einem gleichaltrigen Kind zu haben. Also nahm ich das Mädchen sofort mit zu einer Führung durch das Haus, den Stall, die Backstube und natürlich die umliegende Natur. Ich erzählte ihm alles, was ich bei einer Führung immer erzählte. Es hörte bereitwillig zu, obwohl es ihm offenkundig nicht gefiel, was es zu sehen bekam. Ich hatte sogar den Eindruck, dass es sich ein wenig von unseren Lebensumständen abgestoßen fühlte. Aber das hielt mich nicht von meinem Vortrag ab.

Plötzlich fragte mich das Mädchen mit ernster Miene: „Bist du auch eine Hexe?“

Schockiert sah ich es an. „Eine Hexe?“

„Ja, so nennt man euch doch. Zumindest deine Großmutter.“

Ich schüttelte den Kopf. „Dafür bin ich doch noch viel zu klein.“

Verständnislos blickte mich das Mädchen an. „Kannst du denn schon ein paar Sachen hexen? Oh, bitte zeig mir etwas.“

Jetzt verstand ich es gar nicht mehr. Was sollte ich ihm denn zeigen? Ich war doch schon dabei, vor ihm meine ganze Welt auszubreiten.

Rollo war uns gefolgt und musterte das Mädchen misstrauisch. Daran konnte ich erkennen, dass er es ebenso wenig mochte wie ich.

Herrisch deutete es mit seinem Zeigefinger auf meinen Kater. „Verwandele ihn in einen Frosch. Los, sofort.“

Jetzt regte sich Widerstand in mir. Ich wusste zwar nicht, was dieses Mädchen von mir wollte, aber ich merkte, dass es unlautere Absichten hatte und dass dahinter Bösartigkeit steckte. Meine Großmutter hatte mich immer wieder vor solchen Menschen gewarnt. „Leider kommen auch sie hierher, damit ich sie heile. Aber sie wollen ihre Gesundheit dafür einsetzen, anderen Menschen zu schaden. Tja, aber als weise Hexe bin ich verpflichtet, jedem zu helfen.“

Als sie mir das gesagt hatte, verstand ich es nicht wirklich. Wenn sie mich in diesem Zusammenhang aber immer wieder darauf hinwies, unbedingt meiner Intuition zu folgen, wenn ich mit Menschen in Kontakt käme, verstand ich das sehr wohl. Schon als kleines Kind konnte ich mühelos erkennen, ob ich einem guten, wohlwollenden Menschen gegenüberstand, oder ob es sich um einen bösen Menschen handelte.

Und dieses Mädchen war eindeutig böse. Das spürte ich ganz deutlich.

Also nahm ich den armen Rollo hoch auf meine Arme, streichelte ihn und ließ das Mädchen einfach hinter der Backstube stehen. Meinen armen Rollo in einen Frosch verwandeln, so ein Unsinn. Rollo war ein Kater und würde es immer bleiben.

Als ich zum Haus zurückkam, huschte die Mutter des Mädchens gerade völlig verstört aus der Tür und sah sich nach ihrer Tochter um. Ich konnte Tränen in ihren Augen sehen. Als sie ihre Tochter hinter der Backstube hervorkommen sah, winkte sie ihr, und beide waren ganz schnell auf dem einzigen Pfad verschwunden, der zurück in das Dorf führte.

Meine Großmutter kam gleich darauf auch heraus, und ich konnte sofort ihr ratloses Gesicht sehen. „Sie hat nicht mehr lange zu leben. Ich konnte ihr nicht helfen. Ein guter Mensch ist sie nicht.“

„Ihre Tochter auch nicht“, erwiderte ich, und meine Großmutter sah mich nur verstehend an. „Leider müssen wir auch diesen Menschen helfen. Auch wenn sie es sind, die uns dann ganz schnell Schwierigkeiten machen können.“

Ich sah sie mit großen Augen an. So etwas hatte sie noch nie zu mir gesagt. Wer sollte uns denn in Schwierigkeiten bringen wollen? Meine Großmutter versuchte doch zu helfen, wo sie nur konnte und wies nie jemanden ab.

„Weil ich ihr nicht helfen konnte und ganz ehrlich zu ihr war, hat sie gedroht, die Dorfbewohner gegen mich aufzuhetzen, denn ich würde Scharlatanerie betreiben.“

„Aber das stimmt doch gar nicht“, erwiderte ich entgeistert.

„Damit müssen wir wohl leben. Es ist unser Schicksal.“

„Gab es das denn schon einmal?“ Während ich ihr diese Frage stellte, war ich mir nicht sicher, ob ich die Antwort hören wollte.

Nachdenklich sah sie mich an. „Bisher habe ich dir davon nichts erzählt, aber ich denke, du bist inzwischen alt genug, um auch das zu erfahren. Es gehört zu unserem Leben hier leider dazu.“

Also setzten wir uns auf die Bank vor dem Haus, und meine Großmutter erzählte mir von einigen Vorkommnissen in der Vergangenheit, in denen sie als verkommene Hexe denunziert worden war und all ihre Kunst hatte aufbringen müssen, um aus diesen Geschichten wieder herauszukommen. Zum Glück hatte es immer wohlmeinende Menschen gegeben, die ihr zur Seite gestanden hatten.

„Einmal war es wirklich gefährlich“, erzählte sie mit einer Stimme, die tief in die Vergangenheit gerichtet war. „Ein Mann kam mit einer Krebsgeschwulst, und ich konnte nichts tun. Als er kurz darauf verstarb, gab seine Witwe mir die ganze Schuld an seinem Tod und hetzte fast alle Dorfbewohner gegen mich auf. Im Dorf hatten sie schon einen Scheiterhaufen errichtet, und nachts kamen sie mit Fackeln hierher, um mich zu holen. Wenn im letzten Moment nicht der Bürgermeister mit dem Arzt eingetroffen wäre, dann hättest du heute keine Großmutter mehr. Ich sehe die Szene noch genau vor mir. Sie hatten mich schon aus dem Haus gezerrt und geschlagen, als der Bürgermeister erschien und ihnen Einhalt gebot. Sie wollten aber nicht auf ihn hören und prügelten weiter auf mich ein. Nur mit Müh und Not konnte er sie zum Innehalten bewegen, sodass der Arzt ihnen ganz ruhig erklären konnte, dass diese Krebsgeschwulst immer zum Tod geführt hätte, egal, was ich getan oder nicht getan hätte. ‚Aber sie ist eine Hexe‘, schrie jemand. Da sah der Arzt diesen Mann nur mit einem ruhigen Blick an und sagte: ‚Auch eine Hexe hätte hier nichts mehr tun können.‘“

Mit offenem Mund hatte ich ihr zugehört. „Und dann?“

„Sind sie wieder abgezogen. Aber ich blieb die Hexe aus dem Moor, der nicht zu trauen war. Immer wenn irgendetwas geschah, hieß es gleich: ‚Das war die Hexe.‘ Aber vielleicht gehört das zu unserem Leben einfach dazu, und wir müssen lernen, damit umzugehen.“

Entsetzt sah ich sie an. Natürlich war mir die Ablehnung vieler Bewohner des Dorfes nicht entgangen, wenn wir selten einmal in das Dorf fuhren, um dort Kranke zu besuchen oder Einkäufe zu machen. Aber ich hatte es immer darauf zurückgeführt, dass wir eben anders waren als sie. Jetzt bekam diese Ablehnung eine andere Bedeutung.

„Aber wir haben doch gar keine Zauberkräfte.“

Meine Großmutter schüttelte den Kopf. „Nein, die haben wir nicht. Obwohl unsere Vorfahrinnen noch darüber verfügten. Aber dieses Wissen ist Gott sei Dank verloren gegangen. Sonst hätten sie uns längst gelyncht.“

Ich bettete meinen Kopf an ihre Schulter, und sie legte einen Arm um mich. Es machte mir Angst, dass die Menschen uns für etwas ablehnten, das wir gar nicht besaßen. Unsere Heilkunst jedoch wollten sie unbedingt haben. Die Erwachsenen schienen mir wirklich sehr seltsam und unverständlich zu sein. Ich war mir nicht sicher, ob ich jemals erwachsen werden wollte.

Die nächsten Tage verbrachte ich mit sehr düsteren Gedanken. Großmutter bemerkte es nicht, denn sie hatte viel zu tun. Immer wieder kamen Leute, die ihre Hilfe brauchten, und wenn sie gerade einmal allein war, bereitete sie ihre Arzneien zu.

Also erzählte ich Rollo meinen Kummer. Jemand anderen hatte ich ja nicht. Er hörte mir sehr verständnisvoll zu, stupste mich mit seinem Kopf aufmunternd an und schnurrte wie ein Weltmeister. „Ach, Rollo, du verstehst mich wirklich. Wenn ich dich nicht hätte.“ Und ich streichelte über sein weiches Fell, immer und immer wieder.

Ein Vorfall brachte mich dann wieder auf andere Gedanken.

Ich war mit einem der Hunde ins Moor gegangen, um nach trockenem Torf Ausschau zu halten, mit dem wir den Kamin heizten, wenn nicht genug Holz aufzutreiben war.

Da ich schon wusste, wo es bestimmt welches zu holen gab, ging ich zielstrebig los. Und wie jedes Mal umfing mich das Moor sofort mit seinem Zauber. Es war für mich so, als würde ich die sagenhafte Insel Avalon betreten, die ja schon halb in der Geisterwelt existierte und wo auch jeden Besucher sofort ein seltsames Gefühl überkam.

Die Ruhe im Moor war ein besonderes Merkmal. Nirgendwo habe ich jemals wieder eine solch angenehme Stille erlebt. Sogar die Tiere schienen mir im Moor verhaltener zu kommunizieren. Wobei es dort sehr viele verschiedene Tiere gab, denn hier waren sie vollständig vor den Menschen geschützt. Immer wieder blubberte ein Moorloch, viel mehr war eigentlich nicht zu hören.

Das Moor wurde Nebelmoor genannt, weil es dort sehr schnell passieren konnte, dass Nebelschwaden aus dem Nichts auftauchten, die einen dann blitzschnell umfingen, sodass man nichts mehr sehen konnte. Fast alle Unkundigen machten dann den Fehler und versuchten, panisch einen Weg aus dem Moor zu finden. Natürlich gerieten sie zwangsläufig in eines der vielen Moorlöcher, und bald mussten sie ihr Leben aushauchen. Niemand, der nicht genau wusste, was zu tun war, wurde in die Tiefe gezogen und zu einer weiteren Moorleiche.

Am schlimmsten war es, wenn unkundige Besucher in der beginnenden Dämmerung in den Nebel gerieten. Dann tauchten die Glühwürmchen auf und umtanzten sie. Viele hielten das für eine Gotteserscheinung, die ihnen den Weg aus dem Moor zeigen würde. Das jedoch war ein Trugschluss. Das Gegenteil war der Fall. Die Glühwürmchen geleiteten ihre Opfer geradewegs in ihr Verderben. Großmutter sagte immer, die Glühwürmchen seien die Geister der verstorbenen Moorleichen und wollten andere mit in den Tod ziehen. Dieser Gedanke verursachte mir Übelkeit, und ich ging niemals nach Einbruch der Dämmerung ins Moor. Großmutter hatte es mir strikt verboten. Selbst sie ging nur los, wenn es unbedingt sein musste und die Angelegenheit keinen Aufschub duldete. Das jedoch war nur äußerst selten einmal vorgekommen. Von den Glühwürmchen ließ sie sich ganz bestimmt nicht täuschen.

Für die Besucher meiner Großmutter gab es einen sicheren Weg, auf dem niemandem etwas geschehen konnte, selbst in der Dunkelheit nicht. Vorausgesetzt natürlich, man hielt sich strikt daran, nur auf dem Weg weiterzulaufen. Sobald man ihn verließ, lauerte der Tod. Das war im Dorf bekannt, und jeder fremde Besucher wurde ausdrücklich darauf hingewiesen. Soweit ich mich erinnern konnte, war auch noch niemand, der sich auf den Weg zu uns gemacht hatte, zu Schaden gekommen. Aber es gab eben immer wieder Dummköpfe, die meinten, es besser zu wissen und dass ihnen nichts geschehen konnte. Viele von ihnen mussten ihre Dummheit mit dem Leben bezahlen.

Unser Hund Balko, der mich begleitete, lief natürlich begeistert hierhin und dorthin, wobei er nicht auf mich achtete. Da er bereits als Welpe zu uns gekommen war, wusste auch er schlafwandlerisch, wie er sich im Moor zu verhalten hatte. Ich musste mir also keine Gedanken um ihn machen.

Als ich an der Stelle angekommen war, wo es viel getrockneten Torf gab, den man einfach nur stechen musste, sah ich mich um und überlegte schon, ob ich etwas in den großen Rucksack packen sollte, den ich immer dabeihatte. Vielleicht müssten Großmutter und ich dann heute nicht mehr zusammen hierherkommen.

Plötzlich hörte ich seltsame Laute von gar nicht weit weg. Zunächst gab ich nichts darauf, denn das war durchaus normal. Aber auch der Hund blieb stehen und spitzte seine Ohren. Also hatte ich es mir nicht eingebildet.

Ich schüttelte nur den Kopf und wollte schon das Torfstechmesser herausholen, als ich wieder dieses seltsame Wimmern hörte. Jetzt spannte ich mich an. Da war jemand in Lebensgefahr und stand schon an der Schwelle zum Tod.

Der Hund schoss los und war verschwunden. Wenig später hörte ich ihn laut kläffen, sodass ich den Weg zu ihm schnell finden konnte.

Entsetzt blieb ich neben dem Hund stehen. Vor uns tat sich eines der größeren Moorlöcher auf, und darin wurde ein Mann ganz langsam hineingezogen. Fast war er schon bis zu den Schultern darin versackt. Auf das Kläffen des Hundes hin hatte er seine Augen wohl noch einmal geöffnet, doch als ich erschien, waren sie schon wieder geschlossen, denn es war offenkundig, dass er sich mit seinem Tod abgefunden hatte.

Ich sah mich konzentriert um und entdeckte nicht weit weg einen trockenen Ast, der seinen Zweck erfüllen würde. Keinesfalls durfte ich dem Mann meinen Arm hinstrecken. Das wäre das Todesurteil für uns beide, denn weil er keinen festen Halt unter den Füßen hatte, würde er mich unweigerlich sofort mit in das Moorloch ziehen.

Schnell holte ich den Ast und hielt ihn dem Mann hin. Doch der reagierte nicht.

„Sir, greifen Sie nach dem Ast, schnell. Sonst ist es zu spät.“

Fast war er schon so tief gesunken, dass nur noch sein Kopf zu sehen war.

Plötzlich öffnete er die Augen, sah mich an und wurde schlagartig wieder lebendig. Wie er seine Arme doch wieder über das Moor bringen konnte, weiß ich heute nicht mehr. Aber in letzter Minute schaffte er es, nach dem Ast zu greifen.

Ich zog so fest ich konnte daran, schaffte es aber nicht, ihn herauszuziehen.

Also stand ich vorsichtig auf, immer darauf bedacht, dass er den Ast nicht losließ, und stemmte mich mit meinem ganzen Körpergewicht nach hinten.

Ich war panisch, dass meine Kräfte nicht ausreichen würden, denn es handelte sich um einen erwachsenen Mann, und ich war noch ein Kind.

Balko hatte die Dramatik der Situation schnell erfasst und bellte lauthals. Wenn jemand in der Nähe sein sollte, müsste er uns hören und zu Hilfe eilen.

Wie ich es letztlich geschafft habe, den Mann an den Rand des Moorlochs zu ziehen, ist mir bis heute ein Rätsel. Vielleicht hat mir eine der Feen, die sich im Moor aufhalten, mit ihrer Zauberkraft geholfen. Vielleicht war es aber auch eine der Priesterinnen von Avalon, die in der Nähe war und mir mit ihrer Magie die Kräfte verlieh, die ich brauchte, um ihn an den Rand zu ziehen. Von dort aus konnte er sich aus eigener Kraft aus dem Moorloch hinausziehen. Neben mir fiel er völlig entkräftet ins Gras und wurde ohnmächtig.

Eine ganze Weile lag ich neben ihm und konnte mich selbst kaum rühren, da diese Rettungsaktion meine ganze Kraft erfordert hatte.

Balko war zunächst vorsichtig nähergekommen, beschnupperte den Mann vorsichtig und leckte ihm dann ein wenig das Gesicht.

Als ich nach einiger Zeit wieder zu mir gekommen war, überlegte ich, was ich tun sollte. Ich konnte ihn nicht einfach hier liegen lassen. Vielleicht hatte er ja innere Verletzungen, die ich so nicht erkennen konnte. Am Ende schwebte er in Lebensgefahr. Also blieb mir nichts anderes übrig, als mich zurück auf den Weg zu meiner Großmutter zu machen. Sie würde wissen, was zu tun war.

Völlig aufgelöst platzte ich ins Haus. „Großmutter, ich habe einen Mann aus einem Moorloch gezogen, er liegt ohnmächtig davor. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Vielleicht stirbt er. Wir müssen zu ihm.“

Ungläubig sah sie mich an. „Du hast was?“

„Schnell. Komm. Er wäre fast versunken. Mit einem langen Ast konnte ich ihn an den Rand ziehen, so wie du es mir immer wieder gesagt hast. Oh Gott, wenn er jetzt stirbt, dann ist es meine Schuld.“

Schon als ich das hervorstieß, packte meine Großmutter ihr kleines Bündel, in dem sie immer alles Wichtige für einen Notfall bei sich trug. Ich rannte voran, Balko noch vor mir, und Großmutter versuchte mitzuhalten.

Als wir bei dem Mann ankamen, lag er immer noch bewegungslos da. Balko umrundete ihn nervös und leckte ihm wieder über sein Gesicht. Großmutter begann, ihn zu untersuchen. „Hm, er scheint nicht verletzt zu sein. Vielleicht ist es der Schock.“

Also packte sie einen Riechstift aus und hielt ihn unter seine Nase. Der aromatische Geruch nach Kampfer tat augenblicklich seine Wirkung. Der Mann öffnete seine Augen und sah meine Großmutter überrascht an. „Bin ich jetzt tot? Bist du eine Hexe aus der Hölle?“

Sie lachte laut auf. „Noch nicht, mein Junge. Aber wer weiß, wo ich noch ende.“

Plötzlich sah er mich an, und ein überraschter Ausdruck huschte über seine entkräfteten Züge.

„Das ist meine Enkelin. Sie hat dich gerettet“, erklärte meine Großmutter.

Da lächelte er mich an, und sein Blick war so voller Wärme, dass in mir etwas vor sich ging das ich noch nie empfunden hatte. Ich verstand es nicht und war verwirrt.

„Kannst du aufstehen, Junge?“, fragte meine Großmutter.

Vorsichtig versuchte er aufzustehen, fiel aber kraftlos wieder zurück. „Es geht nicht. Lass mich einfach hier liegen.“

Da wurde meine Großmutter energisch. „Von wegen. Du bist jung, und in ein paar Minuten wirst du laufen können wie ein junger Gott.“

Sie kramte ein kleines Fläschchen mit einer Tinktur hervor und träufelte ihm ein paar Tropfen auf seine Zunge. Es war ein Stärkungsmittel, das sie mir auch schon gegeben hatte.

Erwartungsvoll beobachteten wir beide den jungen Mann. Und in diesem Moment registrierte ich, wie gut er aussah. Sehr befremdet bemerkte ich das. Sonst war mir doch das Aussehen eines Mannes immer egal gewesen, wenn er mich gut behandelte und freundlich zu Großmutter war. Welche Gefühle löste dieser junge Mann in mir aus, die ich bisher in meinem Leben noch nie verspürt hatte? Aber ich hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Offensichtlich tat das Mittel seine Wirkung, und er ging ganz langsam in die Hocke und richtete sich schwankend auf. Wir taten es ihm gleich.

„Sehr gut machst du das. Jetzt müssen wir es nur noch schaffen, dass du eine kurze Wegstrecke laufen kannst. Da wirst du dich dann ausruhen und erholen.“

Er nickte nur, und Großmutter nahm ihr Bündel.

Für Balko schien es sich um einen Heidenspaß zu handeln, denn er sprang aufgeregt um uns herum und bellte.

Großmutter stützte den jungen Mann auf den ersten Metern, aber dann konnte er allein laufen. Er ging sehr langsam und schwankte wie ein Blatt im Wind, aber wir kamen voran. Natürlich mussten wir immer wieder Pausen einlegen, aber schließlich erreichten wir das Haus.

Da meine Großmutter immer sehr praktisch war, gab sie mir gleich den Auftrag, genügend heißes Wasser zuzubereiten, sodass sie den Patienten waschen konnte, das Moor klebte ja an seinem ganzen Körper. Auch trug sie mir auf, Kleidung für ihn aufzutreiben. Zum Glück hatte sie stets für solche Fälle vorgesorgt. Wenn im Dorf jemand gestorben war, kaufte sie der Witwe oder den Hinterbliebenen oft das eine oder andere Kleidungsstück ab, um es in ihrer Truhe zu verwahren, denn es kam immer einmal vor, dass jemand beherbergt werden musste, der im Moor in Gefahr geraten war. Das also sollte kein Problem sein.

Sie holte die alte Zinnwanne hervor, in der wir einmal in der Woche badeten.

Der junge Mann beäugte das misstrauisch, war aber zu geschwächt, um protestieren zu können. Erst als das Wasser gerichtet war, in das meine Großmutter noch einige Kräuter gegeben hatte, nach denen jetzt das ganze Haus roch, wurde er wieder lebendiger und sträubte sich. Aber meine Großmutter gab ihm gar keine Chance.

„Willst du vielleicht so weiter durchs Leben ziehen?“ Sie deutete auf seinen Leib, an dem das Moor schon begonnen hatte zu trocknen. „Also hab dich nicht so und zieh dich aus. Du bist nicht der erste junge Mann, den ich zu sehen bekomme, wie Gott ihn erschaffen hat.“

Er regte sich nicht und sah zu mir herüber. Großmutter folgte seinem Blick. Ein verstehendes Lächeln flog über ihr Gesicht, und sie musste grinsen. „Ach so. Emma, geh in den Garten und warte, bis ich dich rufe. Nimm Balko mit.“

Widerwillig gehorchte ich. Warum nur hätte ich bei dieser Prozedur gerne zugesehen? Sie hatte sogar ihre wertvolle Rosenblütenseife hervorgeholt, in deren Genuss selbst ich nur selten kam. Meistens musste es Kernseife sein.

Als ich Balko zu verstehen gab, dass es in den Garten ging, schoss er hinaus, weil es für ihn nichts Schöneres gab, als draußen herumzutollen.

Während ich in der Sonne saß, versuchte ich, darüber nachzudenken, was dieser Junge in mir ausgelöst hatte, aber ich kam auf keine Antwort. Natürlich wusste ich, was zwischen Mann und Frau vor sich ging, da musste mir niemand etwas erzählen, schließlich war es bei den Tieren nicht anders und das bekam ich bald jeden Tag mit. Aber hatte es damit zu tun, oder ging es hier um Dinge, die ich einfach nicht kannte und nicht verstand?

Zu gerne hätte ich ihn in der alten Zinnwanne nackt gesehen. Es war mir unbegreiflich, da es mich nie interessiert hatte, wie ein Mann nackt aussah. Aber jetzt packte es mich mit unwiderstehlicher Gewalt, und ich schlich mich zu dem Fenster, das zu dem Raum gehörte, in dem meine Großmutter ihrem Werk nachging.

Ganz vorsichtig lugte ich hinein und konnte erst nichts erkennen, wahrscheinlich weil ich zu aufgeregt war. Ich wusste genau, wenn meine Großmutter mich dabei erwischen würde, käme eine drakonische Strafe auf mich zu. Sie predigte mir immer absolute Ehrlichkeit, und die hatte mit heimlichem Beobachten nichts zu tun.

Beim zweiten Blick konnte ich mehr erkennen. Der junge Mann saß etwas vornüber gebeugt in der Wanne und schien leise zu protestieren, was meine Großmutter aber gar nicht zur Kenntnis nahm. Etwas, das mich nicht verwunderte.

Sie trug die Schürze, die sie auch anzog, wenn sie mich in die Wanne bugsierte, und bearbeitete den armen Jungen mit einem Waschhandschuh und Bergen von Seifenschaum. Sein dunkles Haar war inzwischen nass und klebte ihm am Kopf und am Gesicht. Großmutter hatte sich wohl zuallererst darüber hergemacht.

Gerade konnte ich sehen, dass sie ihm den Waschhandschuh gab und mit ihrem Kopf auf seinen Unterleib deutete. Wieder kam ein schwacher Protest, der meine Großmutter dazu veranlasste, ihm den Handschuh mit einer herrischen Geste vor die Nase zu halten. Resigniert begann er selbst damit, den Rest der Säuberung zu übernehmen.

Ich starrte auf diese Szene und merkte gar nicht richtig, dass Balko mir um die Füße sprang, weil er spielen wollte.

Mit offenem Mund starrte ich auf den Körper des jungen Mannes und dachte nur immer wieder, wie schön er war. Ich muss wohl vergessen haben zu atmen, denn als ich gezwungenermaßen tief Luft holte, kam ich ein wenig in die Wirklichkeit zurück. Balko saß vor mir und sah mich mit einem Blick an, als wäre ich soeben dem Wahnsinn verfallen.

Und gerade als ich mich schon abwenden wollte, bedeutete meine Großmutter dem jungen Mann, aus der Wanne zu steigen.

Er sah sie nur verwundert durch seine festklebenden nassen Haarsträhnen an, denn sie machte keine Anstalten, den Raum zu verlassen. Also stieg er langsam aus der Wanne hoch, hielt sich aber sofort beide Hände vor seinen Schritt.

Er hatte breite Schultern, muskulöse Arme und schmale Hüften. In diesem Moment sah er so verletzlich aus, dass ich in einem seltsamen Geistesblitz wusste, diesen Moment in meinem ganzen Leben niemals wieder zu vergessen.

Da reichte meine Großmutter ihm ein großes Handtuch. Dankbar nahm er es entgegen und bedeckte seine Blöße damit.

Schlagartig verflog der Zauber. Balko stupste mich ungeduldig am Bein und leckte mir immer wieder über die Handfläche. Jetzt erst realisierte ich seine Gegenwart und war froh, mich ablenken zu können. Also nahm ich den Stock, den er schon vor sich liegen hatte, und warf ihn so weit ich konnte über die Wiese.

Begeistert kläffend rannte er ihm hinterher und brachte ihn mir ungeduldig zurück. Dieses Spiel würde jetzt noch eine Weile dauern. Und wehe mir, wenn ich es zu früh abbrach. Dann wurde mein kleiner Balko sehr übellaunig und strafte mich mit abgrundtiefer Verachtung.

Wenig später rief mich Großmutter zu sich. „Er ist jetzt gewaschen und sieht wieder wie ein Mensch aus. Bring ihn in den Raum über dem Schuppen. Dort kann er sich erst einmal ausschlafen. Richte alles her. Er soll dir dabei helfen.“

Gleich darauf betrat der junge Mann den Raum. Er trug Sachen aus dem Fundus von Großmutter, die ihm sogar ganz gut standen.

Und wieder konnte ich ihn nur anstarren. Die schwarzen Haare waren inzwischen fast trocken und legten sich in Locken um sein schönes Gesicht.

Meine Großmutter sah meinen Blick, schaute zu ihm hinüber und wieder zu mir. Dann schüttelte sie den Kopf und gab mir zu verstehen, dass ich ihren Anweisungen Folge leisten solle.

Willig folgte er mir, und so gingen wir hinüber zu dem alten Schuppen. Ich war schon eine Ewigkeit nicht mehr in dem Raum darüber gewesen. Dementsprechend vorsichtig stieg ich die Treppe hinauf, immer in der Erwartung, dass ich mit dem morschen Holz einbrechen würde. Aber wir kamen heil hinauf, und ich sah mich ratlos in dem Raum um. Es stand eine Menge Zeug darin herum, in Jahrzehnten hier abgestellt. Aber aus unerfindlichen Gründen befand sich hier auch ein abgenutztes Bettgestell mit einer uralten Matratze aus Stroh. „Hier kannst du erst einmal schlafen.“

Er ging zu dem Bett und setzte sich darauf. Dann sah er mich an. Seine Augen waren braun. „Danke“, flüsterte er.

„Wofür?“

„Du hast mir das Leben gerettet. Das werde ich dir nie vergessen.“

Sofort schoss mir Röte ins Gesicht, und verlegen senkte ich den Blick. „Das war doch selbstverständlich. Außerdem solltest du dich bei Balko bedanken.“

„Wer ist das denn?“

„Na, mein Hund. Er war es, der mich zu dir geführt hat.“

Nachdenklich sah er mich an. „Er ist ein Engel.“

Da musste ich lachen. „Na ja, wenn er will, schon. Aber er kann auch anders.“

Er stimmte in mein Lachen ein, ließ sich auf das Bett fallen und verschränkte seine Arme hinter dem Kopf.

Wieder konnte ich ihn nur anstarren, was mir unangenehm war, aber irgendwie war ich in seiner Gegenwart nicht Herrin meiner Sinne.

Um mich abzulenken, fragte ich ihn: „Wie heißt du?“

Wieder traf mich dieser Blick aus den braunen Augen. „John.“

Verstehend nickte ich und wiederholte seinen Namen.

„Und wie heißt du?“

Verlegen wandte ich mich ab. „Emma.“

Wieder lachte er. „Meine Lebensretterin Emma. Das klingt doch gut.“

Um ihn nicht weiter anstarren zu müssen, überlegte ich, was ich noch besorgen musste. Decken und eine Waschschüssel. Ich würde ihm die Sachen später in die Hand drücken, damit er sie selbst mit heraufnehmen konnte.

„Du bist ein hübsches Mädchen“, kam es da von ihm.

Wieder wurde ich rot bis unter die Haarspitzen. „So etwas darfst du nicht zu mir sagen. Das würde Großmutter erzürnen.“

Wieder lachte er unbeschwert. „Warum denn? Es ist doch nur die Wahrheit.“

Ich drehte mich von ihm weg und betastete verlegen irgendwelche Gegenstände, die dort herumstanden. „Weil ich noch zu jung bin.“

Darauf sagte er eine Weile nichts. „Wie alt bist du denn?“, fragte er schließlich.

„Nächsten Monat werde ich siebzehn.“

Er nickte nur und stand wieder auf.

Damit war die Magie dieses Augenblicks verflogen. Wir gingen wieder hinunter zu Großmutter.

Sie hatte in der Zwischenzeit ein einfaches Abendessen zubereitet und deckte gerade den Tisch vor dem Haus, denn es war noch eine laue Sommernacht.

Wie immer schmeckte es sehr gut und John stürzte sich auf das Essen. Meine Großmutter schien damit gerechnet zu haben, denn es war diesmal viel mehr, was sie auftischte, als sonst für uns beide.

Johns Tischmanieren waren nicht unbedingt die allerfeinsten. Ich merkte genau, dass meine Großmutter das missbilligte, aber für heute darüber hinwegsah. Da sie größten Wert auf gutes Benehmen legte, hatte sie mir eingeschärft, mit Messer und Gabel richtig zu essen. Vor allen Dingen aufrecht sitzend zu essen.

John schaufelte seine Mahlzeit mit einem Löffel in sich hinein und beugte sich dabei tief über seinen Teller.

Ich musste mir dabei ein Grinsen verkneifen, denn jeden anderen hätte Großmutter sofort rüde zurechtgewiesen. Da sie es nicht tat, merkte ich, dass sie Pläne mit John hatte.

Als sich der Tag langsam dem Ende zuneigte und wir alle drei träge auf unseren Stühlen saßen, holte meine Großmutter etwas von ihrem selbst gemachten Holunderwein und goss jedem ein Glas ein. „Zur Feier des Tages.“

Ich staunte nicht schlecht. Ihren Holunderwein gab es nur zu ganz besonderen Anlässen, denn er schmeckte wirklich ausgezeichnet.

Andächtig nippte ich daran und bemerkte gleichzeitig, wie John sein Glas in einem Zug herunterkippte, als wäre es billiger Schnaps.

An der Art, wie meine Großmutter ihr Glas auf den Tisch zurückstellte, bemerkte ich, wie sie auch diese Geste missbilligte. Ich musste mir erneut ein Grinsen verkneifen, denn ich wusste, dass auf John noch ein gehöriges Maß an Erziehung zukommen würde. Ob ihm das wohl gefallen würde?

Nach einem Augenblick des Schweigens, als die Sonne langsam hinter den Bäumen unterging, fragte meine Großmutter: „Nun, John, was hat dich denn in das Moor verschlagen? Kommst du aus der Gegend hier?“

Im selben Moment versteifte sich John, und seine Miene wurde mürrisch.

Natürlich bemerkte meine Großmutter das, hatte vielleicht sogar damit gerechnet.

„Na, du musst es uns nicht gleich sagen. Vielleicht brauchst du noch Zeit.“

Damit goss sie jedem noch ein Schlückchen Holunderwein ein. Wollte sie damit am Ende seine Zunge etwas lockern?

Schweigend hingen wir unseren Gedanken nach, als die ersten Glühwürmchen auftauchten.

Da kam es plötzlich stockend von John: „Ich komme aus Dartmoor.“

Meine Großmutter nickte nur. „Ich dachte es mir.“

Ungläubig sah John sie an. Hatte er am Ende vermutet, er müsse uns sofort verlassen, wenn er das sagte? Da kannte er meine Großmutter aber schlecht. Schon öfter hatte sie entlaufenen Sträflingen Unterschlupf geboten. Wenn auch nie für lange.

Dartmoor war das berüchtigtste Gefängnis in ganz England und lag auf der anderen Seite des Moores in der an Cornwall angrenzenden Grafschaft Devon. Obwohl es offenbar noch mitten im Moor lag, schafften es doch immer wieder Häftlinge zu fliehen. Und nur der Himmel weiß, wie der eine oder andere dann bei uns auftauchte.

Damit wusste ich auch, welche Pläne Großmutter mit ihm hatte. Sie war eine sehr praktisch veranlagte Frau.

Irgendwie fühlte ich bei dieser Erkenntnis ein seliges Gefühl in meiner Brust, denn John würde eine Weile bei uns bleiben, wenn er ihr Angebot annahm. Warum nur machte mich dieser Gedanke so glücklich?

Und tatsächlich kam es so.

Großmutter bot John an, für eine Zeit bei uns bleiben zu können, wenn er handwerkliche Tätigkeiten übernehmen und alles andere erledigen würde, was in den Händen eines Mannes besser aufgehoben war als in unseren. Dafür würde er Kost, Kleidung und Logis erhalten. Natürlich würden sowohl sie als auch ich niemandem etwas von seiner Gegenwart bei uns sagen. Damit wäre er erst einmal in Sicherheit.

John nahm dieses Angebot natürlich freudig an, und schon bald trug ihm Großmutter die Reparaturen und Ausbesserungen auf, die schon lange liegen geblieben waren und von denen es viele in unserem windschiefen Haus und auf dem ganzen Hof gab.

Er war dankbar für den Unterschlupf und machte sich freudig ans Werk.

Wenn ich ihm nicht sowieso helfen musste, beobachtete ich ihn, wann immer es mir möglich war. Ich konnte einfach nicht genug bekommen von seinen raubtierhaften Bewegungen und von der Art, wie er sich immer wieder die Locken aus der Stirn strich. Was ging da nur mit mir vor? All das war so neu für mich, und niemand hatte mich darauf vorbereitet. Wir waren immer ein reiner Frauenhaushalt, von den Besuchen Mr Fullertons und des Pfarrers einmal abgesehen, und das waren beides alte Männer. Manchmal sah ich Großmutters nachdenklichen Blick, wenn sie mich dabei überrascht hatte, wie ich John anstarrte. Er schien es gar nicht zu bemerken, weil er so in seine Arbeit vertieft war.

Was in ihrem Kopf vor sich ging, weiß ich nicht, sie sagte einfach nichts.

Abends, wenn ich in meinem Bett lag, schossen mir die Bilder des Tages durch den Kopf, und alle hatten mit John zu tun. Oft geriet ich dabei ins Schwitzen, führte das aber auf die warmen Sommernächte zurück. In meinen Träumen ging es dann weiter, in denen immer wieder John auftauchte. Das verwirrte mich zutiefst, und ich war öfter kurz davor, Großmutter um Rat zu fragen, doch ich ließ es dann aus einer Scheu heraus bleiben, die ich nicht verstand. Bisher hatte ich mit Großmutter immer über alles geredet, und fast jedes Mal hatte sie mir helfen können. Aber dies war etwas anderes.

An einem heißen Tag schickte uns Großmutter zur Weide am Waldrand, die hinter dem Haus lag. Wir sollten die Zäune ausbessern. Unsere Kühe waren wie so oft davongelaufen, und das hatte Ärger mit den Nachbarn gegeben.

Also packten John und ich alles, was wir brauchten, in unsere Rucksäcke und zogen los. Inzwischen waren wir fast schon so etwas wie ein eingespieltes Team.

Als er jedoch wenig später, weil es so heiß war, sein Hemd auszog, war ich von dem Anblick seines muskulösen Oberkörpers wiederum so irritiert, dass ich immer wieder Sachen fallen ließ oder seine Anweisungen gar nicht hörte, weil ich damit beschäftigt war, meine stürmischen Gefühle zu unterdrücken. Trotzdem konnte ich es nicht verhindern, ihn immer wieder anzustarren, was ihn nur verwunderte.

„Träumst du, oder was ist los?“

„Ach, äh, nichts. Ich weiß auch nicht. Ist wohl wegen der Hitze.“

Er nickte nur. Die Antwort war schon richtig gewesen, nur war die Hitze, wegen der ich so verwirrt und unkonzentriert war, nicht die Sonne, die erbarmungslos brannte, sondern die Hitze in mir, für die ich keinerlei Erklärung hatte.

Trotzdem klappte es mit unserer Zusammenarbeit dann doch noch gut. Es war ein außergewöhnlich heißer Tag, wie es ihn in unserer Grafschaft nur selten gab. Immer wieder musste ich mir den Schweiß von der Stirn wischen. John hatte es da besser. Mit freiem Oberkörper zu arbeiten war sicherlich viel angenehmer. Warum durften das eigentlich wir Mädchen nicht? Ich hatte Großmutter einmal danach gefragt, und sie sah mich sehr erstaunt an. „Weil es sich nicht gehört, deshalb.“

Darauf hatte ich ihr nicht geantwortet, denn wenn sie einen ganz bestimmten Unterton in einem Satz, den sie sagte, hatte, war man besser still, sonst konnte es unangenehm werden. Ich weiß noch, dass ich nachts darüber nachdachte. Was ich verstand, war, dass eine Frau mit Busen sich in der Öffentlichkeit nicht nackt zeigen durfte. Das war klar. In unserer prüden Gesellschaft wäre das sofort ein Skandal gewesen. Aber Kinder ließ man doch an einem heißen Sommertag auch nackt herumlaufen. Und war ich denn nicht noch ein Kind? Mein Busen war nur im Ansatz zu erkennen. Ich würde fast so herumlaufen wie John. Und doch durfte das offenbar nicht sein. Waren denn Mädchen am Ende weniger wert als Jungen? Darüber musste ich mit Großmutter sprechen. Denn gerade sie ließ sich von keinem Mann etwas sagen und wehrte sich erbittert gegen Übergriffe aus dem Dorf, wenn wieder einmal ein Ortsbewohner meinte, er müsste der Hexe eine Lektion erteilen.

„Wovon träumst du denn schon wieder?“, brachte mich Johns Stimme in die Gegenwart zurück. Er hielt mir seine Hand fordernd entgegen, und ich wusste gar nicht, was er von mir wollte. Erst im nächsten Moment drückte ich ihm den Holzpflock in die Hand, den ich die ganze Zeit schon festhielt, um ihn weiterzureichen.

John ergriff ihn und lachte. „Wo hast du nur deinen Kopf?“

Am liebsten hätte ich gerufen: „Na, bei dir, wo denn sonst!“

So arbeiteten wir noch eine Weile weiter. Ab und zu kamen Kühe neugierig auf uns zu, aber als sie sahen, dass wir beschäftigt waren und es nichts zu holen gab, trollten sie sich wieder.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als ich Hunger bekam. Es musste schon später Mittag sein.

„Lass uns eine Pause machen. Hast du nicht auch langsam Hunger?“

Erstaunt sah mich John an. „Ja, du hast recht. Ich habe es gar nicht bemerkt. Und was für einen Hunger ich habe.“ Dabei lachte er sein unwiderstehliches Lachen, das mich innerlich erzittern ließ.

Also suchten wir uns einen Baum, der ausreichend Schatten spenden würde, und John trug den Korb mit Essen dorthin. Großmutter hatte ihn mit Liebe gepackt, und ich wusste, dass er einige Leckereien enthielt. Mit der Zeit hatte sie herausbekommen, was John gerne mochte, und meine Vorlieben kannte sie ohnehin