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Die 22 jährige Catherine Hessler wächst im victorianischen Zeitalter wohlbehütet bei ihrer Tante in Wiltshire auf. Sie ist besessen vom Schicksal ihrer Mutter, die kurz vor Catherines Geburt aus dem Schloss ihrer Vorfahren verschwand. Also reist sie incognito nach Cornwall auf das alte Schloss und tritt dort eine Anstellung als Gesellschafterin bei ihrer Grossmutter an. Dort trifft sie auf den sympathischen Tobias und den zurückhaltenden Anwalt ihrer Tante, Mr Burton. Bald muss sie erkennen, dass sie sich auf ein gefährliches Spiel eingelassen hat. Jemand im Schloss trachtet ihr nach dem Leben.
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Seitenzahl: 414
Kurzbeschreibung:
Die 22-jährige Catherine Hessler wächst im victorianischen Zeitalter wohlbehütet bei ihrer Tante in Wiltshire auf. Sie ist besessen vom Schicksal ihrer Mutter, die kurz vor Catherines Geburt aus dem Schloss ihrer Vorfahren verschwand. Also reist sie incognito nach Cornwall auf das alte Schloss und tritt dort eine Anstellung als Gesellschafterin bei ihrer Grossmutter an. Dort trifft sie auf den sympathischen Tobias und den zurückhaltenden Anwalt ihrer Tante, Mr Burton. Bald muss sie erkennen, dass sie sich auf ein gefährliches Spiel eingelassen hat. Jemand im Schloss trachtet ihr nach dem Leben.
Sylvia Weill
Gefahr auf Schloss Barras
Roman
Edel Elements
Edel Elements
Ein Verlag der Edel Germany GmbH
© 2019 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg
www.edel.com
Copyright © 2019 by Sylvia Weill
Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München
Lektorat: Tatjana Weichel
Korrektorat: Vera Baschlakow
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-96215-308-3
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Inhalt
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
Epilog
Grafschaft Wiltshire, Avebury, 1881
Lange hatte es gedauert, bis ich endlich all meinen Mut zusammengenommen hatte, um mich auf den langen Weg nach Cornwall zu machen.
Ein Zufall war mir zu Hilfe gekommen.
Auf Schloss Barras, der Heimat meiner Mutter und meiner Tante, wurde eine Gesellschafterin für die alte Gräfin gesucht. Tante Lilibeth erzählte es mir mit einem verschwörerischen Gesichtsausdruck. Ihre Verbindung zu Mrs Pengaster, der Köchin im Schloss, war nie abgebrochen, obwohl sie sich schon seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatten. Aber sie schrieben sich Briefe, und Tante Lilibeth bezeichnete sie immer als ihre wirkliche Mutter. Ein ums andere Mal beklagte sie sich, dass sie sie in ihrem Leben wohl nicht mehr wiedersehen würde. Aber so erfuhren wir doch immer, was im Schloss vor sich ging.
Tante Lilibeth und meine Mutter waren zusammen auf Schloss Barras aufgewachsen. Tante Lilibeth war die jüngere der beiden Schwestern, und meine Tante Sylvia war dann noch als Nachzüglerin geboren worden.
Es gab damals ein ehernes Hausgesetz, nach dem die Kinder nur in die Hocharistokratie einheiraten durften. Eine Ehe mit einem niedriger gestellten Partner führte automatisch zum Verlust aller Privilegien und Geldzuwendungen sowie der Vertreibung von Schloss Barras. Meine Großmutter, Lady Tesborough, hatte sich daran strikt gehalten und ihre Tochter Lilibeth nach Zahlung einer „Abfindung“ aus ihrem Leben gestrichen.
Denn Tante Lilibeth hatte das Sakrileg begangen, sich in einen Minenarbeiter zu verlieben, der in der Zinnmine, die in der Nähe des Schlosses lag, arbeitete. Sie ging mit ihm nach Avebury, und es wurde eine glückliche Ehe, auch wenn sie in bescheidenen Verhältnissen leben mussten. Die „Abfindung“ war bei Barings in London in einen Pensionsfond angelegt worden, darauf hatte mein Onkel bestanden, sodass meine Tante jeden Monat eine Zahlung daraus bekam, die ihr ein abgesichertes Leben ermöglichte.
Leider bekamen sie keine eigenen Kinder, und als mein Onkel bei einem Unfall an seiner neuen Arbeitsstelle in der Manufaktur starb, dachte meine Tante, sie würde es nicht überstehen. Aber die Zeit und die unverhoffte Überraschung, dass meine Mutter mich als Baby bei ihr ablieferte, um ein Leben ohne ihre Tochter zu führen, ließ sie ihren Kummer allmählich vergessen.
Davon erzählte mir meine Tante immer wieder. Auch über den Charakter meiner Großmutter, die Schloss Barras nach wie vor mit eiserner Hand regierte und deren Gesellschafterin ich nun werden sollte, ließ sie mich nicht im Unklaren.
Über das Schicksal meiner Mutter jedoch sagte sie mir nicht sehr viel. Sie behauptete immer, sie wüsste nicht mehr als das Wenige, was ich bereits wisse. Ob das stimmte oder nicht, weiß ich bis heute nicht.
Jedenfalls war das der Grund, warum in mir irgendwann der Gedanke aufkam, inkognito nach Schloss Barras zu reisen, um mehr über das Schicksal meiner Mutter und damit meiner Herkunft zu erfahren.
Tante Lilibeth war anfangs sehr skeptisch gewesen. „Du kennst den gefühllosen alten Drachen nicht. Von der erfährst du nichts. Garantiert sagt sie, dass sie außer Sylvia gar keine Kinder hat.“
Aber da ich über meine Vergangenheit unbedingt Bescheid wissen wollte, wurden meine Pläne immer konkreter. Ich wusste nur absolut nicht, wie ich es anstellen sollte. Schließlich konnte ich nicht einfach hinfahren und um eine Anstellung bitten, damit ich in Wahrheit dort herumschnüffeln konnte.
Tante Lilibeth war keine große Hilfe. Wahrscheinlich lebte dadurch ihre eigene Vergangenheit zu sehr auf und plagte ihr Gemüt. Aber als dann Mrs Pengaster schrieb, dass eine Gesellschafterin gesucht würde, verheimlichte sie es mir nicht. Sie hatte wohl endlich verstanden, dass ich ein Recht auf Klarheit über das Schicksal meiner Mutter hatte.
Und ich denke, sie wollte es auch selbst endlich erfahren, denn die beiden Schwestern hatten sich immer sehr gut verstanden.
Ich bewarb mich also auf die Stelle der Gesellschafterin und bekam prompt eine Einladung zu einem Kennenlerngespräch.
„Eigentlich bist du für so einen Posten noch viel zu jung, Cathy“, sinnierte meine Tante. „Aber andererseits kommst du so nach Barras. Ich kann es nicht glauben.“
„Ja, das wird ein Abenteuer.“
Aber ich hatte längst Angst vor meiner eigenen Courage bekommen. Was hatte ich mir dabei nur gedacht?
Ich war im letzten Dezember zweiundzwanzig Jahre alt geworden, war bei Tante Lilibeth behütet aufgewachsen und glaubte jetzt, ich müsse unbedingt auf den Spuren meiner Mutter wandeln. Das war sehr gewagt. Aber ich hatte es mir in den Kopf gesetzt, und meine Tante sagte schon immer: „Wenn das Kind sich was in den Kopf gesetzt hat, dann kann sie nichts und niemand von der Ausführung abhalten. Das hat sie von ihrer Mutter. Der Ärger, den das regelmäßig verursacht, ist ihr egal.“
Endlich kam dann das Schreiben von Schloss Barras, indem man mir mitteilte, wann ich dort zu erscheinen hatte, um mich in Augenschein nehmen zu können.
Ich konnte kaum noch richtig schlafen, so nervös machte mich die Vorstellung, an den Ort zu kommen, an dem meine Mutter aufgewachsen und von dem sie verstoßen worden war.
Wie würde meine Großmutter sein?
Was würde sie zu der jungen Gesellschafterin sagen, die völlig mittellos und ohne Anhang für ihren Lebensunterhalt selbst sorgen musste?
Diese Version hatten Tante Lilibeth und ich uns als offiziellen Grund für die Bewerbung ausgedacht. Und so ganz falsch war es nicht. Viel mehr blieb einem Mädchen in meiner Position nicht, wenn sie nicht ganz früh heiratete und dadurch versorgt war.
„Du hast nur diese zwei Möglichkeiten“, sinnierte Tante Lilibeth oft. „Entweder Gouvernante oder Gesellschafterin.“
Beides erschien uns unerquicklich, aber etwas anderes fiel uns nicht ein. Zwar hatten wir in Queen Victoria ein hehres Beispiel dafür, was aus einer Frau werden konnte, aber wir wussten ganz genau, dass sie in einer ganz anderen Liga spielte als alle Frauen in England. Und für eine Florence Nightingale fehlten mir die Kraft und das Durchsetzungsvermögen. Viel später sollte ich noch von Madame Blavatsky hören, der Gründerin der Theosophischen Gesellschaft in London. Sie bereiste ganz allein den Fernen Osten und eignete sich dort ein ungeheures Wissen an. Doch auch für ihren Weg fehlte mir jede Befähigung.
Ich sah mich ganz und gar nicht als Kämpferin. Von meiner Natur her war ich eher auf Harmonie bedacht und wollte mich im Hintergrund halten. Ich hasste es, im Mittelpunkt zu stehen. In den letzten Jahren musste ich wohl oder übel mit der Aufmerksamkeit der Jungen und Männer in unserem Ort fertig werden, die mich hingebungsvoll als Schönheit bezeichneten „mit einem so besonderen Aussehen“.
Ich fragte Tante Lilibeth immer, was sie damit meinten. Aber sie flüchtete sich regelmäßig in blumige Erklärungen über die Fantasien der Männer.
Gut, ich hatte dunkle Haare, und mein Teint war von einer eher olivfarbenen Tönung. Das hatte ich aber nie als etwas Besonderes angesehen. Nur meine fast schwarzen glänzenden Augen gaben mir selbst Rätsel auf, denn kein anderes Mädchen im Ort hatte solche Augen. Selbst Kerensa nicht, die Tochter des Reverends, die immer als Spanierin bezeichnet wurde, sehr zum Ärger ihres Vaters, der blond und grauäugig war.
Jedenfalls hatte ich das Gefühl, dass Tante Lilibeth auch deshalb im Grunde froh war, dass ich vielleicht nach Barras gehen würde. „Die Kerle schenken dir einfach zu viel Aufmerksamkeit, und ich kann dich doch nicht dauernd beschützen.“
Was sie damit meinte, war mir nicht ganz klar, aber ich machte mir auch keine weiteren Gedanken darüber. Bisher hatte mich noch keiner der Jungen aus unserem Ort interessiert und von den erwachsenen Männern schon gar keiner. Natürlich wurde mir das als Arroganz und Hochnäsigkeit ausgelegt. Aber das war mir egal. Ich wollte wissen, wo meine Wurzeln lagen. Das allein interessierte mich.
Meine beste Freundin Mary verstand zwar die Zusammenhänge nicht so ganz, sah aber ein, wie wichtig es für mich war, in Barras zu schnüffeln. Also hatte sie beschlossen, es als großes Abenteuer anzusehen, an dem sie eine unbeteiligte Zuschauerin war.
Selbstverständlich hatte ich sie zu absoluter Verschwiegenheit verdonnert, und wenn man aus Mary etwas herausbringen wollte, was sie nicht preiszugeben bereit war, biss man auf Granit. Da konnte man machen, was man wollte. Darauf konnte ich mich hundertprozentig verlassen, und nur deshalb hatte ich sie in meine Pläne eingeweiht. Sie würde bald den Sohn des Schmieds heiraten und hatte auch andere Sachen im Kopf, als die Gründe für meine Reise auszuposaunen.
Kerensa und ihrem Vater hatte ich nur die halbe Wahrheit gesagt, nämlich dass ich mich um die Stelle einer Gesellschafterin in Cornwall beworben hatte, da ich nun für meinen Unterhalt selbst sorgen musste.
Der Reverend ahnte vielleicht etwas, denn er war als Einziger in die Vergangenheit meiner Tante eingeweiht, sagte aber weiter nichts. Und auf seine Verschwiegenheit war sowieso Verlass.
So rückte also der Tag meiner Abreise immer näher, und sowohl Tante Lilibeth als auch ich wurden immer nervöser. Ich, weil ich noch nie aus meinem Heimatort rausgekommen war, und Tante Lilibeth, weil ich flügge wurde, und das ausgerechnet bei ihrer verhassten Mutter. Sie sah wohl schwarz für das ganze Unterfangen, wünschte mir aber alles Glück dieser Welt und verpflichtete mich dazu, ihr regelmäßig zu schreiben.
„Sonst werde ich Mrs Pengaster in Aufruhr versetzen“, drohte sie das eine ums andere Mal.
Ich lachte nur und versprach ihr, mich regelmäßig zu melden.
Am Tag meiner Abreise bestellte sie mir dann noch Grüße an einige Hausangestellte, die vielleicht noch dort arbeiten würden, nahm es dann aber gleich wieder zurück. „Ach nein, lass es bleiben. Es darf niemand wissen, wer du bist. Aber Mrs Pengaster hält dicht. Alle Briefe von mir hat sie immer gleich verbrannt, und sie spricht mit niemandem über mich. Tu zunächst so, als würdest du sie gar nicht kennen. Ach Gott, ach Gott. Ob das gut geht. Du kennst deine Großmutter nicht.“
Aber dann verabschiedeten wir uns endlich, und ich saß im Zug auf dem Weg nach Cornwall. Für mich war das alles ein einziges großes Abenteuer, das mich ängstigte. Natürlich war ich noch nie mit dem Zug gefahren und schon gar nicht auf so einer langen Reise.
Meine Tante und ich waren immer wieder die Reiseroute durchgegangen. Ich musste dreimal umsteigen. Davor hatte ich Angst, denn was wäre, wenn ich einen Anschlusszug verpassen würde?
Zu meinem ganz großen Glück kam ich gleich mit einer älteren Dame ins Gespräch, die auch auf dem Weg nach Cornwall war und nur wenige Haltestellen vor mir den Zug verlassen musste. Sie nahm mich gleich unter ihre Fittiche, wollte den Grund meiner Reise wissen und erkundigte sich nach allem Möglichen.
„Ach Kindchen, so ist die lange Reise doch viel angenehmer, als wenn man nur allein aus dem Fenster stieren muss. Ich kenn doch alles schon. Bin schon so oft diese Strecke gefahren. Ein paar Mal im Jahr besuche ich meinen Bruder. Der ist der einzige Verwandte, den ich noch habe. Und ich bin immer froh, wenn ich eine Reisebegleitung habe.“
Ich war so erleichtert darüber, dass ich ihr bereitwillig Auskunft gab. Aber natürlich bekam sie auch nur die offizielle Version zu hören: dass meine Eltern verstorben seien und ich jetzt alleinstünde. Sie war voller Mitgefühl und hätte mich wohl am liebsten noch heil und wohlbehalten auf Schloss Barras abgeliefert.
So vergingen die Stunden auf das Angenehmste. Beide hatten wir ein Lunchpaket mit so vielen Köstlichkeiten dabei, dass wir nicht alles essen konnten. Also tauschten wir sie nach Herzenslust aus, um dann schläfrig in unseren Sitzen zurückzusinken.
So schön hätte ich mir eine lange Zugfahrt nicht vorgestellt. Vor allen Dingen, weil es die britische Eisenbahn noch nicht so lange gab. Man hörte oft, dass es zu ziemlichen Unannehmlichkeiten kommen konnte, sogar zu Unfällen.
Von meiner Reisebegleiterin verabschiedete ich mich dann mit großem Bedauern. In den wenigen Stunden, die ich sie jetzt kannte, war sie mir schon ans Herz gewachsen, und ich glaube, ihr ging es ebenso. Als der Zug wieder anfuhr, fühlte ich mich verloren.
Es war inzwischen Mittag.
Ich wusste weder, ob man mich abholen würde noch was mich überhaupt in dem Elternhaus meiner Mutter erwarten würde. Wenn es nach mir ginge, so wollte ich nur so lange bleiben, bis ich die Geschichte meiner Mutter und damit meiner Herkunft herausbekommen hätte. Aber eins hatte ich in meinem doch erst kurzen Leben schon gelernt. Es kam immer anders, als man es vorher erwartet hatte. An diesen Spruch meiner Tante Lilibeth dachte ich, und mir wurde immer banger ums Herz. Vielleicht war diese Idee doch nicht unbedingt die beste gewesen.
Aber nun gab es kein Zurück mehr, und ich wappnete mich für dieses erste große Abenteuer in meinem Leben.
Als ich endlich sehr müde und staubig aus dem Abteil stieg, war es schon später Nachmittag. Die Sonne würde bald untergehen. Ein wenig fröstelte es mich, denn hier wehte ein kühler Wind.
Also stellte ich meinen Koffer ab, zog mein Wollcape fester um meine Schultern und sah mich um. Ich war die einzige Reisende, die hier ausgestiegen war, und zunächst konnte ich niemanden erkennen, der auf mich wartete.
Der Zug fuhr langsam wieder an, und ich wurde von einer Dampfwolke aus dem Schornstein der Lokomotive eingehüllt. Als ich dann wieder klar sehen konnte und anfangen wollte, einen Plan zu machen, wie ich nach Barras kommen würde, schlurfte ein uralter Mann auf mich zu, der einen Zigarrenstumpen in seinem Mund stecken hatte.
Er blieb vor mir stehen, musterte mich aus überraschend jugendlichen Augen, kaute kurz auf seiner Zigarre, um mich dann nuschelnd zu fragen: „Sind Sie Miss Hessler?“
Ich erwiderte seinen Blick und nickte nur.
Also schnappte er sich meinen Koffer, drehte sich um und schlurfte in Richtung Bahnhofsvorplatz. Dort stand eine offene, altersschwache Kutsche mit einem noch altersschwächeren Gaul davor. Kurz überlegte ich, wer wohl älter war: der Mann oder der Gaul.
Er warf den Koffer in die Kutsche, wies mich mit einer Kopfbewegung an, diesem zu folgen und betrachtete gleich darauf seinen Kutschbock mit einem Blick, der verriet, dass er sich nicht sicher war, ob er dort wieder hinaufkommen würde. Aber er gab sich einen Ruck, warf mir einen finsteren Blick zu und kletterte überraschend behände nach oben. Der alte Gaul schnaubte widerwillig, so als hätte er keine Lust, seine Last zu ziehen. Aber nach ein paar undefinierbaren Lauten des Alten ging die Fahrt los.
Fast kam ich mir schon hochherrschaftlich vor, wie wir da so in ganz gemächlichem Tempo über das flache Land fuhren.
Das Meer konnte nicht weit weg sein, denn ich roch immer wieder die feuchte Luft und hörte die Gischt. Dazwischen kamen mir Gerüche nach Kräutern in die Nase. Trotz meiner Anspannung war ich über diese Sinneseindrücke sehr erstaunt. Das kannte ich so aus Wiltshire nicht. Da war alles doch ein wenig rauer.
Zu sehen gab es allerdings nicht sehr viel. Von den sanften Hügeln Cornwalls hatte ich ja von meiner Tante Lilibeth schon so viel gehört, und ich musste ihr wirklich zustimmen. Sie hatte mit ihren Schilderungen recht gehabt. Fast glaubte man, in südlichen Gefilden zu sein. Aber da ich doch immer nervöser wurde, je näher das Schloss kam, konnte ich die Reize der Landschaft nicht wirklich entspannt in mich aufnehmen.
Ein Gespräch mit dem Kutscher hätte mich sicherlich abgelenkt, und vielleicht hätte ich von ihm schon ein wenig über die Bewohner des Schlosses erfahren können, aber daran war nicht zu denken. Er saß auf seinem Kutschbock und bewegte sich nicht. Die Zügel hatte er beiseitegelegt. Der alte Gaul fand seinen Weg sicherlich seit Jahrzehnten von ganz allein. Ob der Mann wohl ein Schläfchen da oben machte?
Na, mir sollte es recht sein. Irgendwie war ich froh, noch ein Weilchen verschnaufen zu können, ehe ich die Gefilde meiner Familie betreten würde. Doch lange sollte mir dies nicht beschieden sein. Es wurde immer dämmriger, und ich bemerkte mit Schrecken, dass die Sonne langsam unterging. Ich war doch eben erst von zu Hause losgefahren, und jetzt war es schon wieder fast Abend. Wo war denn die Zeit geblieben?
Es heißt ja immer, dass nur für ältere Menschen die Zeit rasend schnell vergeht. Aber dies war der erste Tag in meinem Leben, an dem ich dieses Phänomen bei mir selbst feststellen musste. Sollte das ein Zeichen des Erwachsenwerdens sein? Bevor ich jedoch weiter darüber nachdenken konnte, passierte die Kutsche einen riesengroßen steinernen Torbogen, der in einer hohen Mauer eingelassen war. Wir fuhren jetzt eine Allee entlang, die direkt zum Schloss führen würde. Das wusste ich aus Tante Lilibeths Erzählungen.
Mein Magen verkrampfte sich.
Am liebsten hätte ich meinem Kutscher auf den Rücken geklopft und ihm befohlen, mich zurück zum Bahnhof zu fahren, ich hätte es mir anders überlegt. Aber dafür war es nun zu spät, denn in einiger Entfernung tauchte Schloss Barras in meinem Blickfeld auf.
Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber auf den ersten Blick wirkte es auf mich sehr furchterregend. Dazu trug natürlich das Dämmerlicht des beginnenden Abends bei. Wie aus einer anderen Welt schien dieses uralte riesige Gemäuer auf mich zuzukommen. Im abendlichen Dunst sah ich die vielen Erker und Türmchen, und in einigen wenigen Fenstern war bereits Licht zu sehen. Die riesigen Bäume, die überall standen, verstärkten noch mein Gefühl der Unwirklichkeit.
Ich konnte meinen Blick nicht von dem alten Gemäuer abwenden. Wie gebannt starrte ich darauf.
Hier war also meine Mutter geboren worden, und hier war sie aufgewachsen.
Leicht schauderte ich und zog mein Wollcape fester um mich, als könne es mich schützen vor diesem alten Schloss, in dem sich so viele Schicksale abgespielt haben mussten.
Wir bogen ganz gemächlich in einen Hof ein, und vor dem großen Eingangsportal hielt mein Fahrer an und rührte sich nicht. Jetzt war ich mir sicher, dass er fest schlief.
Also nahm ich meinen Koffer, stieg aus und sah mich erst einmal um.
Die alte Schindmähre vergewisserte sich, dass sie ihre Fracht losgeworden war und trottete dann langsam von dannen. Bestimmt freute sie sich auf ihren Hafer, den sie sich auch verdient hatte.
Ich straffte meine Schultern und ging auf das Tor zu. Inzwischen war es dunkel geworden.
Was, wenn man mich überhaupt nicht erwartete?
An der Tür betätigte ich einen wuchtigen Klingelzug. Erst einmal tat sich gar nichts, dann aber hörte ich von innen Schritte, und die Tür wurde geöffnet. Vor mir stand ein älterer Herr, den ich sofort, ohne dass er irgendeinen Ton hätte von sich geben müssen, als den Butler erkannte.
Sein Gesichtsausdruck, sein Habitus, wie er da stand und mich musterte, und natürlich seine Kleidung, das konnte einfach nur ein englischer Butler sein, wie es sie in allen Häusern des Hochadels gab. Nachdem er mich kurz von oben bis unten gemustert und wohl für akzeptabel befunden hatte, begrüßte er mich.
„Ah, Miss Hessler. Schön, dass Sie da sind. Mein Name ist Mister Haggety. Ich bin der Butler. Sie werden bereits erwartet.“
Also trat er beiseite, und ich durchschritt die Tür, hinein in ein neues Leben.
Grafschaft Cornwall, Schloss Barras, 1881
Als ich mich in der Halle umsah, während Mr Haggety umsichtig die Tür wieder schloss und verriegelte, war ich froh, dass Tante Lilibeth mir alles haarklein geschildert hatte. Sonst wäre ich überwältigt gewesen.
Das Gaslicht war schon entzündet worden, konnte aber die ganze Größe und Pracht der Halle nur notdürftig erhellen. Trotzdem fiel einem die große Freitreppe sofort ins Auge. An den Wänden hingen riesige Gobelins, die mir teilweise schon etwas verblichen vorkamen. Aber wie lange sie wohl hier schon hingen? Jahrhunderte?
„Bitte folgen Sie mir.“
Wir gingen zum hinteren Ende der Halle und erreichten eine Küche, deren Ausmaße meine Vorstellungskraft sprengte.
Voluminöse Kohleherde standen mitten im Raum und verbreiteten eine wohlige Wärme. Überall hingen oder standen Töpfe, Pfannen und all die Gegenstände, die man in einer Küche so brauchte. Und es roch sehr verführerisch nach Essen.
In dem Moment bemerkte ich erst, dass ich einen ganz schönen Hunger hatte.
Mr Haggety nahm mir meinen Koffer ab, stellte ihn in eine Ecke und führte mich zu einem großen Tisch, an dem schon mehrere Personen saßen. „Das ist Miss Hessler, die neue Gesellschafterin der Gräfin“, stellte er mich vor.
Bereitwillig rutschten sie zusammen, während sie mich interessiert musterten. Ich setzte mich und bekam sofort ein Glas Apfelmost vor mich hingestellt.
Alle sahen mich noch einen Moment an, dann wurde wie auf ein geheimes Zeichen hin die allgemeine Unterhaltung wieder aufgenommen. Ab jetzt gehörte ich dazu, und man musste sich keine großen Gedanken mehr um „die Neue“ machen.
Ich trank dankbar von dem köstlichen Most, und jemand stellte einen Teller voll Essen vor mich hin. Ich griff beherzt zu, denn die Reise hatte mich sehr hungrig gemacht. Der Imbiss im Zug war bereits viele Stunden her gewesen. Es schmeckte köstlich.
Mir gegenüber saß eine etwas ältere, ein wenig füllige Frau mit einem runden, offenen Gesicht. „Du bist also die Gesellschafterin, die sich heute vorstellen will. Mylady hat mir davon berichtet.“ Einen Moment lang sah sie mich abschätzig an, so als wolle sie ergründen, ob ich für diese Arbeit überhaupt geeignet sei.
Ich nickte und aß in aller Seelenruhe meine Pastete weiter. Was konnte mir denn nun noch geschehen? Selbst wenn die alte Gräfin mich nicht einstellen würde, so hätte ich wenigstens das Haus meiner Mutter einmal selbst gesehen und nicht nur immer in Tante Lilibeths Erzählungen.
„Ich bin Rose, so eine Art Hausdame hier. Nur keine Angst, ich beiße nicht und fühle mich auch nicht als was Besseres. Aber ich bin Mylady gegenüber verantwortlich.“
Ihre Herzlichkeit gefiel mir. „Ich heiße Catherine. Catherine Hessler. Und natürlich hoffe ich, die Stellung zu bekommen.“
Rose nickte nur mit einem sonderbaren Gesichtsausdruck.
„Wann kann ich sie denn sehen?“, wollte ich wissen.
Rose musste grinsen. „Oh, heute nicht mehr. Mylady pflegt früh zu Bett zu gehen. Morgen nach dem Frühstück wird sie Zeit haben. Du übernachtest natürlich hier.“
Erstaunt sah ich sie an. Damit hatte ich nicht gerechnet. Aber das sollte mir recht sein. Von der Reise war ich so müde, dass ich mir jetzt wirklich in dem kleinen Ort nicht auch noch ein Zimmer suchen wollte. Außerdem hätte das mein Reisegeld angegriffen.
Da fuhr mir plötzlich von der Seite ein Ellenbogen in die Rippen. Ein dralles Mädchen in meinem Alter grinste mich an und sagte schadenfroh: „Na, ob du das nicht noch bereuen wirst, wenn sie dich nimmt.“
Rose sah sie ermahnend an. „Daisy!“
Diese schürzte ihre Lippe, nicht im Mindesten eingeschüchtert. „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen.“ Damit biss sie herzhaft in einen Apfel, und als Rose wieder wegsah, streckte sie ihr die Zunge heraus und grinste mich verschwörerisch an. „Du bist in meiner Kammer untergebracht. Wenn du willst, können wir vorm Schlafen noch ein bisschen tratschen. Ach, es gibt nichts Schöneres, als sich vor einem guten Schlaf noch ein wenig das Maul zu zerreißen, findest du nicht auch?“ Wieder stieß sie mich übermütig mit dem Ellenbogen an.
Ich musste lachen über Daisys unbeschwerte Art und fühlte mich plötzlich nicht mehr so allein in diesem alten Gemäuer.
Als sie sich wieder ihren anderen Tischgenossen zuwandte, bemerkte ich, dass Mr Haggetys Blick nachdenklich auf mir ruhte. Er saß etwas abseits an der Stirnseite des Tisches.
Ich tat so, als würde ich es nicht bemerken, überlegte aber, wie alt er wohl sein konnte. Schwer zu schätzen, konstatierte ich. Am Ende war er älter, als er aussah. Hatte er meine Mutter und meine Tante noch gekannt? Das würde es mir natürlich schwer machen, hier mein Inkognito zu wahren.
Am Ende des köstlichen Mahls sah Rose mich an. „Bring deinen Teller zu Mrs Pengaster und geh dann mit Daisy auf euer Zimmer. Sie wird dir alles zeigen.“
Es war wie ein Nadelstich in mein Herz. Das hatte ich bei all den neuen Eindrücken ganz vergessen. Mrs Pengaster war die Einzige hier, die in meinen Plan eingeweiht war. Tante Lilibeth hatte mir eingebläut, mich ihr gegenüber in keinster Weise zu erkennen zu geben. Sie war für mich eine Fremde wie alle anderen Bewohner dieses Schlosses auch. Und Mrs Pengaster würde sich mir gegenüber auch so verhalten.
Also folgte ich den anderen in die Küche, um das Geschirr zu der Köchin zu bringen, die es dann abwaschen würde.
Ich hatte sie mir so nicht vorgestellt. Komisch, jeder denkt wohl, dass eine Köchin wohlbeleibt und gemütlich ist, weil ihr das eigene Essen schmeckt.
Aber nicht so Mrs Pengaster. Sie war relativ klein, dünn und feinnervig. Ihr Haar hatte sie zu einem gewagten Dutt auf dem Kopf aufgetürmt, der jeden Moment zu kippen drohte, und ihre Bewegungen waren fahrig.
Das Interessanteste an ihr waren jedoch ihre Augen. Es waren die jugendlichen, blitzgescheiten Augen eines Menschen, der alles in seiner Umgebung mitbekommt und dem nichts entgeht.
Ich gab ihr meinen Teller, den sie hektisch ergriff. Dabei blickte sie mich nervös von unten an, ich war bestimmt einen ganzen Kopf größer als sie, verharrte einen Moment lang mit ihrem Blick in meinen Augen, um dann zum nächsten zu schauen.
Verstört ging ich zu Daisy, die schon auf mich wartete und wieder an einem Apfel knabberte. Sie musste wohl bemerkt haben, dass mich Mrs Pengaster verunsichert hatte. Grinsend sagte sie: „Ach, lass dich von der alten Pengaster nicht verunsichern. Die hat das Herz am rechten Fleck. Ist halt sehr nervös. Aber kochen kann sie, oder?“
Erleichtert musste ich jetzt auch lachen. „Oh ja. Das kann man aber wirklich behaupten.“
Sie nickte nur. „Na, dann komm mal mit in unsere Luxusunterkunft.“
Mit einem enervierend wiegenden Schritt setzte sie sich in Bewegung.
Ich grinste vor mich hin, wie ich da mit meinem Koffer hinter ihr herlief, denn es war so offenkundig, was Daisy im Kopf hatte, dass ich meine Reisekasse darauf verwettet hätte. Garantiert würde ich an diesem Abend noch einiges über die jungen Männer hier im Schloss zu hören bekommen.
Daisy schlief in einem kleinen Zimmer im Dienstbotentrakt. Wie jede dieser Unterkünfte war es schmucklos und nur notdürftig eingerichtet. Schließlich sollten die Bediensteten sich nicht wohlfühlen, sondern arbeiten, und da sie sowieso nur zum Schlafen in ihre Räume kamen, wurden keine Ausgaben für einen behaglichen Raum ausgegeben.
So standen hier zwei Holztruhen für die Kleidung, ein kleiner Tisch mit einem Stuhl und natürlich die beiden Betten. Darauf lag jedoch eine wohlig warm aussehende Daunendecke.
Daisy ließ sich auf ihr Bett fallen und grinste mich an. „Na, Gnädigste, zufrieden mit dem Schlafgemach?“
Ich setzte mich auf das andere Bett und lächelte. „Aber ja. Ich kenne das doch. Glaubst du, ich komme aus einem Schloss? Dann müsste ich nicht hier arbeiten.“
„War doch nur ein Spaß“, grinste sie. „Woher kommst du denn?“
„Aus Wiltshire. Avebury.“
Sie nickte bedächtig und betrachtete ihre Fingernägel an der rechten Hand. „Ah, die Steinkreise.“
„Du kennst sie?“, fragte ich erstaunt.
„Ich habe mal einen Onkel da oben besucht. Ist aber schon lange her. Der ist mit uns durch die Steinkreise gelaufen. Hab ich nie vergessen.“
Ich konnte sie nur staunend angucken. Ich war so oft durch die uralten Steinkreise gelaufen und hatte mir ausgemalt, dass ich als Erwachsene Archäologin werden würde, um dann ihr Geheimnis zu lüften. Denn bis heute weiß niemand, wer sie erbaut hat, wie sie erbaut wurden und welchem Zweck sie dienten.
„Morgen geht’s also zur Gnädigsten, was?“, holte mich Daisy aus meinen Erinnerungen.
Ich nickte nur.
Eine Weile lang sagte sie nichts, sodass ich sie überrascht ansah, als sie sprach. „Wird nicht einfach werden.“
„Aber du kommst doch auch mit ihr aus.“
Bedächtig wiegte sie mit ihrem Kopf. „Na ja, ich bin in der Küche, habe mit Mylady eigentlich nur selten mal was zu tun. Und runterkommen tut sie nicht. Mrs Pengaster geht immer zu ihr, um die Menüs zu besprechen.“
„Und wie ist sie so?“
„Och Gott. Wie ist sie?“ Sie wiegte wieder mit ihrem Kopf und warf mir einen prüfenden Blick zu, um abzuschätzen, wie weit sie gehen konnte. Schließlich könnte ich ein eingeschleuster Spion ihrer Herrin sein. Na, so ganz falsch war diese Überlegung nun wirklich nicht, schmunzelte ich innerlich.
Daisy war wohl zu dem Urteil gekommen, dass sie mir erst einmal vertrauen konnte, und ihre Klatschsucht hatte dazu wohl ein Übriges getan. „Na ja“, hob sie bedächtig an, „einfach ist sie nicht.“
„Wie meinst du das?“, wollte ich sofort wissen, innerlich alarmiert. Denn schließlich handelte es sich um meine Großmutter.
„Sie ist sehr streng. Leisten darfst du dir bei ihr gar nix. Die feuert dich sofort.“
„Behandelt sie euch denn schlecht?“
Wieder suchte sie nach Worten. Sie war wohl immer noch ein wenig vorsichtig. „Nicht unbedingt. Jeder respektiert sie. Aber sie ist halt eiskalt. Als die arme Betsy letztes Jahr ein Kind von einem der Stallburschen bekam und Mylady das mitbekommen hat, hat sie sie sofort vor die Tür gesetzt. Ratzfatz.“ Um es zu bekräftigen, flog ihr rechter Arm zur Seite. „Und bei den Männern ist sie noch strenger. Die dürfen sich überhaupt nix erlauben. Neulich ist einer der Pächter aufmüpfig geworden, weil er die Pacht nicht bezahlen konnte. Die Gnädigste hat es sich nur angehört, sich ihr Lorgnon ins Auge gesetzt, ihn eine Weile kalt gemustert und ihn dann mitsamt seiner Familie rausgeworfen.“ Bedächtig nickte sie mit dem Kopf. Wie gerne sie diese Geschichten preisgab, war nicht zu übersehen. „Die hocken nun beim Bauern Litford und müssen auf den Feldern schuften. Und schieben einen Hass auf Mylady. Mein lieber Schwan.“
„Oh je, oh je. Na, da blüht mir was“, murmelte ich kleinlaut.
„Ach was. Wenn die merkt, dass jemand ein bisschen Grips im Kopf hat, wird sie gleich weicher. Die will immer über so gelehrtes Zeugs reden. Weiß der Kuckuck, woher sie das hat.“
Davon hatte mir Tante Lilibeth gar nichts erzählt. Aber sie sprach von ihrer Mutter sowieso nicht viel und wenn, dann nicht sonderlich nett.
Wie ich Daisy zuhörte, kamen mir doch Bedenken, ob es richtig war, was ich tat. Aber nun war ich hier und musste die Suppe auslöffeln, die ich mir selbst eingebrockt hatte. „Waren denn schon viele Gesellschafterinnen da?“
Daisy lachte auf. „Da kannst du aber einen drauf lassen.“ Sie schlug sich mit gespieltem Entsetzen die Hand vor den Mund. „Oh, entschuldige. So was sagt man da oben ja nicht.“
Natürlich war es ihr in keinster Weise wirklich peinlich, und dafür mochte ich sie gleich noch mehr. Sie hatte das Herz am richtigen Fleck. Zu solchen Menschen habe ich mich immer schon hingezogen gefühlt.
„Die Letzte war länger da, weiß der Himmel, warum. Vielleicht, weil die sich nicht alles von ihr gefallen lassen hat. Die hat es ihr ab und zu ganz schön zurückgegeben. Junge, Junge. Wenn wir gelauscht haben, die Hetty und ich, wollten wir es nicht glauben. Uns hätte sie für solche Frechheiten geteert und gefedert. Aber die beiden Nebelkrähen haben gestritten wie die Kesselflicker und sich dann wieder vertragen.“
Das Bild von meiner Großmutter verrutschte in meinem Kopf immer mehr.
„Was glaubst du, wie lange wir das in der Küche hin und her besprochen haben. Keiner hat es kapiert, selbst Haggety nicht. Nur die alte Pengaster hat immer gesagt, nu, so is sie eben.“ Sie äffte Mrs Pengasters abgehackte Sprechweise nach, sodass ich laut lachen musste. „Mit der alten Bauers ist sie sogar verreist. Wirklich komische Geschichte. Na ja, die hatte halt was auf dem Kasten. War mal mit einem Doktor verheiratet oder so.“ Und damit verlor Daisy wohl die Lust an diesem Thema. Schläfrig begann sie, sich auszuziehen, und ich tat es ihr nach.
„Wen gibt es denn sonst noch da oben?“ Ich wies mit meinem Kopf in die entsprechende Richtung.
„Puh“, gab Daisy von sich. „Alle nicht einfach. Halten uns auf Trab.“ Plötzlich grinste sie zweideutig. „Nur der junge Lord nicht. Also, er ist noch kein Lord, weil er den Titel erst noch erbt, aber der ist ein Goldstück.“
Dabei bekamen ihre Augen einen seltsamen Glanz und mir wurde klar, dass wir uns jetzt wohl Daisys Lieblingsthema näherten. „Der wohnt aber nicht hier. Der kommt immer von drüben. Ist der Sohn von irgendeinem weitläufigen Verwandten von Mylady. Und weil keine Nachkommen da sind, erbt halt er mal den Titel und alles hier, damit er die Linie fortsetzt.“
Um sie bei Laune zu halten, fragte ich: „Sieht er gut aus?“
Langsam und verträumt setzte sie sich wieder auf ihr Bett. „Gut? Das ist der schönste Mann, der weit und breit rumläuft. Jede Frau ist hin, wenn sie den sieht.“ Sie warf mir einen abschätzenden Blick zu. „Na ja, bei dir weiß ich nicht. Kenn dich noch gar nicht. Aber der gefällt dir bestimmt auch. Bei dem kriegt sogar die alte Pengaster noch Gefühle.“ Diese Vorstellung löste in Daisy einen Lachanfall aus, in den ich einstimmte.
Bis wir die Kerze an diesem Abend löschten, erzählte Daisy von „dem jungen Lord“, in den sie unsterblich verliebt war. Alles hatte sie schon versucht, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen, aber nichts hatte bisher gefruchtet. Das frustrierte sie sehr, denn bei all den anderen Männern brauchte sie sich angeblich nicht so anzustrengen. „Na ja. Unsereins muss nehmen, was da kommt. Aber ich tät ihn nicht von der Bettkante stupsen.“ Das murmelte sie, nachdem sie die Kerze ausgepustet und mir eine gute Nacht gewünscht hatte. Kurz darauf war sie auch schon eingeschlafen und fing zu schnarchen an.
Zunächst befürchtete ich, dass ich bei diesem Höllenlärm wohl nicht würde schlafen können, aber die lange Zugfahrt und das gute Essen hatten mich so müde gemacht, dass mir bald die Augen zufielen und ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf sank.
Geweckt wurde ich von dem ohrenbetäubenden Gegacker eines Hahns, der wohl genau unter unserem Fenster meinte, alle aus den Federn schmeißen zu müssen.
„Verdammtes Mistvieh“, hörte ich eine verschlafene Daisy fluchen. „Jeden Morgen dasselbe Theater.“
„Na, da habt ihr euch ein schönes Exemplar von einem Hahn angelacht.“
„Ein Hahn?“, lachte Daisy belustigt. „Das ist Clodagh. Die ist ein Mädchen, meint aber, sie wäre der Platzhirsch. Weiß der Himmel, wo sie gelernt hat, wie ein Hahn zu schreien. Nimm dich bloß vor diesem Mistvieh in Acht. Wen sie nicht leiden kann, der hat nix zu lachen.“
Da musste ich doch mal einen Blick aus dem Fenster riskieren. „Aber die ist ja weiß.“
Daisy lachte. „Ja, unsere Clodagh ist was Besonderes. Mr Haggety meint, die wär wohl ein Albino als Henne. Äh, als ... Keine Ahnung.“
Verständnislos schloss ich das Fenster wieder. Ich hatte jetzt andere Dinge zu tun, als mir weiter Gedanken über Clodagh zu machen.
Mrs Pengaster hatte für alle ein köstliches Frühstück bereitet, aber ich war nicht hungrig und konnte daher kaum etwas essen. Das bevorstehende Gespräch mit meiner Großmutter nahm mir jeden Appetit.
Rose klopfte mir liebevoll auf die Schulter. „Die wird dich schon nicht auffressen. Kopf hoch. Wär schön, wenn du bei uns bleiben könntest.“
Noch ehe ich nicken konnte, erschien Mr Haggety in der Küche und bedeutete mir unmissverständlich, dass ich ihm zu folgen habe. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich strich über mein Kleid und hoffte, dass ich keinen Tee darauf gekleckert hatte. Als ich an ihr vorbeiging, warf mir Mrs Pengaster einen Blick zu, der meinen für kurze Zeit festhielt. Ich sah, dass sie alles wusste und alles verstand. Das beruhigte mich komischerweise.
Mr Haggety führte mich in die Halle und dann die große Treppe hinauf. Dort bog er in die Galerie ein. Hier warfen mir all meine Vorfahren hochnäsige, gelangweilte, arrogante oder spitzbübische Blicke zu. Sollte ich bleiben, würde ich mich mit der Vorgeschichte der Familie beschäftigen. Das nahm ich mir fest vor.
Wir bogen dann in einen Gang ein, der den gesamten Flügel von Barras schnurgerade durchzog. Endlich blieb er an einer Tür stehen und bedeutete mir, dass ich warten solle. Er selbst huschte in den Raum, und ich konnte hören, wie er mich ankündigte.
„Miss Hessler, Mylady. Soll ich sie hineinführen?“
Die andere Stimme konnte ich nicht hören.
Aber Mr Haggety kam gleich wieder heraus, hielt mir die Tür auf und bedeutete mir einzutreten. Irgendwie spürte ich in meinem Innersten, dass sich von nun an mein Leben verändern würde.
Ich hob den Kopf, drückte die Brust raus und ging durch die Tür, um mich meiner Großmutter zu stellen, die nicht wusste, wer ich war.
Mr Haggety hatte mich in eine große Bibliothek geführt. Überall standen Bücher in hohen Regalen, die bis zur Decke reichten. Dazwischen ließen hohe gotische Fenster nicht genug Licht hinein, sodass der riesige Raum düster wirkte.
In einem großen Kamin knackte ein munteres Feuer, vor diesem Kamin standen sich zwei große Ohrensessel gegenüber. Dazwischen befand sich ein Teetisch, auf dem zwei Tassen und eine Kanne Tee auf einem Stövchen angerichtet waren.
Die Gestalt in dem einen Ohrensessel konnte ich zunächst nicht richtig erkennen. Sie saß zurückgelehnt und blieb so im Schatten.
Ich ging ein paar Schritte auf sie zu und blieb dann stehen, denn ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Mr Haggety hatte sich entfernt, und die alte Lady sagte nichts.
Als meine Augen sich an das düstere Licht gewöhnt hatten, bemerkte ich, dass sie im rechten Auge ein Lorgnon trug, das an einer langen, schwarzen Kette befestigt war, die ihr bis in den Schoss fiel.
Sie schien mich dadurch zu mustern. Mir wurde immer unbehaglicher zumute. So hatte ich mir meine Großmutter nun auch nicht vorgestellt. Sie wirkte wie die Direktorin eines Mädchenpensionates, die die neue Schülerin begutachtete, und ließ sich viel Zeit dabei.
Ich wippte vor Nervosität von einem Fuß auf den anderen.
Schließlich begrüßte sie mich mit einer herrischen und überraschend jugendlichen Stimme. „Miss Hessler?“
„Ja, Mylady. Guten Tag, Mylady.“
Sie betrachtete mich weiterhin und wies mir dann mit einer knappen Geste den Platz ihr gegenüber an. Zögernd nahm ich Platz.
Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie mich ohne viele Worte so einschüchtern würde, obwohl mir Tante Lilibeth darüber immer wieder berichtet hatte.
„Tee?“
Ich nickte nur, wollte nicht gleich ablehnend wirken, denn eigentlich hatte ich in der Küche schon genug Tee getrunken.
„Dann gießen Sie uns bitte ein.“ Sie beobachtete mich, und mir war klar, dass dies der erste Test war. Aber der machte mir keine Angst.
Ich goss uns Tee in die bereitstehenden Tassen, fragte sie, ob sie Milch und Zucker wünsche, was sie mit einer knappen Geste verneinte, nahm ihre Tasse und reichte sie ihr. Dabei konnte ich sie ein wenig besser betrachten.
Sie trug ein dunkelgraues Kostüm mit einem langen Rock. Ihr kräftiges weißes Haar trug sie in einem Knoten im Nacken. Ihr Gesicht war glatt, obwohl es das Gesicht einer alten Frau war, und die Augen waren dunkel und groß. Ihre Blicke jedoch waren nicht wohlwollend.
Nach einem etwas zu langen Zögern nahm sie die Tasse entgegen. Der Test war wohl bestanden. „Warum wollen Sie als Gesellschafterin arbeiten, Miss Hessler?“
„Meine Eltern haben mir nichts hinterlassen, und ich muss für meinen Lebensunterhalt selbst sorgen“, antwortete ich wahrheitsgemäß. So hatten Tante Lilibeth und ich es besprochen.
„Haben Sie Referenzen?“, fragte sie mich dann.
„Nein, Mylady, es wäre meine erste Anstellung.“
Auch das war mit Tante Lilibeth besprochen. „Sei immer ehrlich zu ihr. Die kriegt es doch raus, wenn du sie anlügst, und dann gnade dir Gott.“
„Wissen Sie, was auf Sie zukäme, sollte ich mich für Sie entscheiden?“, ging die Befragung weiter.
„Selbstverständlich, Mylady.“
Unbewegt musterte sie mich durch ihr Lorgnon.
Wollte sie mehr von mir hören?
Zögernd sprach ich nach einem Moment des Schweigens weiter. „Ich werde zur Verfügung stehen, werde die Korrespondenz erledigen, werde vorlesen, den Tee servieren, mich um die Blumen kümmern und Mylady in allen Belangen unterstützen.“
Ein angedeutetes Nicken schien ihre Zufriedenheit auszudrücken. „Planen Sie Herrenbesuche in meinem Haus?“
Gespielt irritiert sah ich sie an. Tante Lilibeth hatte mich auf diese Frage vorbereitet.
„Mylady?“
Das Lorgnon fiel ihr aus dem Auge, und sie setzte es sich in aller Ruhe wieder ein. „Was Sie an Ihrem freien Tag machen, geht mich nichts an. Aber ich werde in meinem Haus keinerlei Herrenbesuche dulden, die nicht Familienangehörige sind. Ist das klar?“ Auf einem Kasernenhof wurden die neuen Rekruten vermutlich auch nicht viel anders auf ihre Pflichten aufmerksam gemacht.
„Ich hatte es nicht vor, Mylady“, antwortete ich demütig. Innerlich musste ich ein wenig grinsen, denn die Sittenstrenge ihrer Mutter war für Tante Lilibeth immer ein rotes Tuch gewesen. Darüber war es ja auch zu dem Zerwürfnis der beiden gekommen.
Im Kamin fiel krachend ein glühendes Holzscheit in die restliche Glut. Ein wenig schreckte ich zusammen, denn es war der einzige Laut, der hier zu hören war.
Meine Großmutter beobachtete mich immer noch, so als wäre sie sich nicht sicher, was sie von mir zu halten habe. „Sie sind bemerkenswert hübsch für ein Mädchen in Ihrem Alter. Ich brauche aber jemanden für länger. Planen Sie den Ehestand für die nächste Zeit?“
Auch darauf war ich vorbereitet. „Nein, Mylady, ganz und gar nicht. Sonst wäre ich nicht hier.“
Nach einer weiteren Weile, in der sie nichts sagte und mich nur abschätzig betrachtete, stellte sie ihre Tasse ab, und ich wusste, dass die Inquisition nun vorüber – und der Generalfeldmarschall zu einem Urteil gekommen war.
Komischerweise war ich nun ganz ruhig. Ob das doch an der Blutsverwandtschaft lag? Es war mir jetzt gleich, ob ich die Stellung bekam oder nicht. Ich hatte sie kennengelernt, und das allein zählte jetzt. Die Geschichte meiner Mutter war natürlich noch wichtig, aber die Dominanz meiner Großmutter faszinierte mich.
„Halten Sie sich bitte in der Küche zur Verfügung und schicken Sie mir Mr Haggety.“
Ich nickte nur stumm und ging zur Tür. Dabei war ich mir sicher, dass sie mir die ganze Zeit über nachsah und ihren Entschluss, wie immer der auch ausgefallen sein mochte, noch einmal überdachte.
Draußen hatte ich erst einmal Schwierigkeiten, mich zu orientieren. Ich war noch so gefangen von dieser Begegnung, dass ich zuerst nicht wusste, wie ich zurückkam. Aber ich hatte mir auf dem Weg her das eine oder andere in dem langen Gang eingeprägt, und als ich ein ganzes Stück weiter eine Ritterrüstung entdeckte, wusste ich, dass ich dort entlang gehen musste. Jeder Besucher würde sich hier ganz schnell verlaufen.
Als ich schon fast die breite Treppe erreicht hatte, kam mir aus der Galerie eine ältere Frau entgegen. Ich war sogleich fasziniert von ihrem schönen Altersgesicht.
Es gibt ganz wenige Menschen, ob nun Männer oder Frauen, die mit zunehmendem Alter eine Schönheit entwickeln, die sie als junger Mensch nicht besessen haben. Und ich war mir ganz sicher, dass diese Frau zu jener Art Mensch gehörte. Dabei war es gar nicht so sehr ihre Schönheit, die mich für sie einnahm. Sie hatte etwas in ihrer Erscheinung, das eine abgeklärte Lebensfreude ausstrahlte, eine Leichtigkeit, die das Dasein so hinnahm, wie es eben kam, und sich nicht mit negativen oder belastenden Gedanken aufhielt. Mit ihrer dezenten, aber ungeheuer geschmackvollen Aufmachung verriet sie die leichte Hand, mit der sie stilsicher genau das für sie Passende fand. Ich war ihr sofort verfallen.
Natürlich wusste ich, wer sie war. Tante Lilibeth hatte mir ihre Schwester Sylvia, Lady Mulford, genauestens beschrieben. Auch ihre Schattenseiten, die früher wohl darin bestanden, dass sie das Leben manchmal ein wenig zu leicht nahm und dadurch den Menschen eine Anteilnahme vorspiegelte, die sie gar nicht empfand. Aber das spielte in diesem Moment des Kennenlernens keine Rolle. Man musste sie einfach sofort bewundern.
Freundlich sah sie mich aus ihren schönen Augen an. „Oh, Kindchen. Sind Sie auf dem Weg in die Küche?“ Dabei fasste sie an ihre lange Perlenkette, die ihren Typ perfekt unterstrich, und spielte leicht damit, so als sei sie in Gedanken.
„Ja, Mylady.“
„Dann bitten Sie Rose doch, umgehend zu mir zu kommen.“
„Natürlich, Mylady.“
Sie warf mir ein flüchtiges Lächeln zu und verschwand in einem der Gänge, hinterließ einen ganz dezenten Duft nach Maiglöckchen.
Ich blieb an der Balustrade stehen und hielt mich daran fest.
Das war auf einen Schlag ein bisschen viel für mich. Erst meine absolut imposante Großmutter, die mich mit ihrer Dominanz fast erschlagen hatte, und dann gleich hintendrein die jüngere Schwester meiner Mutter, meine Tante Sylvia. Auch die war in natura viel beeindruckender als aus den Schilderungen von Tante Lilibeth.
Langsam ging ich hinunter in die Küche.
Plötzlich war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich wirklich hierbleiben wollte. Irgendwie hatte ich kein so gutes Gefühl mehr, als ich durch die düstere Halle mit den riesigen Gobelins ging, auf denen Schlachten geschlagen wurden, die vor so langer Zeit stattgefunden hatten, dass sich niemand mehr daran erinnerte.
Als ich unten ankam, waren alle schon schwer damit beschäftigt, den Lunch zuzubereiten. Mrs Pengaster warf mir nur einen ihrer seltsam verstehenden Blicke zu, und ich befürchtete, dass ihr Dutt im nächsten Moment herunterkippen würde.
Bevor ich den Tisch erreichte, konnte ich noch hören, wie sich Rose und Daisy leise unterhielten. Sie saßen mit dem Rücken zu mir, und es ging ziemlich laut in der Küche zu, so sahen sie mich nicht herankommen.
„Glaubst du, sie wird sie nehmen?“
„Keine Ahnung. Aber irgendwas stimmt mit der nicht, ich kann es riechen.“
„Was denn?“
„Weiß nicht. Irgendwie ist die nicht wie eine Gesellschafterin.“
„Hoffentlich verschwindet die nicht auch wie die alte Bauers. Ich würde es nicht überstehen.“
Das war mir genug. Ich machte mich bemerkbar, und die beiden schreckten hoch.
„Äh, Mylady will Mr Haggety sofort sehen“, schnaufte ich und tat ein wenig kurzatmig.
Rose stand gleich mit einem schuldbewussten Gesicht auf. „Der ist im Garten. Ich geh gleich zu ihm.“
„Danke. Ich soll hier warten“, antwortete ich, worauf die beiden sich sehr erstaunt ansahen. Dann verschwand Rose.
Ich setzte mich zu Daisy, die kein schlechtes Gewissen zu haben schien, weil sie gerade über mich gesprochen hatte. Gelangweilt trank sie ihren Tee. „Na, wie war es in der Höhle des Löwen?“
„Och, interessant. Jetzt verstehe ich dich besser.“
Sie grinste mich wissend an.
„Junges Fräulein“, krähte es da von hinten. „Du bist hier nicht zum Faulenzen eingestellt. Beweg deinen Hintern und hilf mir bei der Pastete, aber ein bisschen dalli, wenn ich bitten darf.“
Mrs Pengaster!
Daisy verdrehte genervt die Augen und erhob sich provozierend langsam von der Bank. „Ich komm ja schon.“
So saß ich einen Moment allein an dem Tisch. Am anderen Ende saß der alte Kutscher, der mich vom Bahnhof abgeholt hatte und hielt ein Nickerchen. Leise schnarchte er vor sich hin.
Da kam Rose zurück und gab mir zu verstehen, dass sie ihren Auftrag ausgeführt hatte. Erst da fiel mir ein, dass ich auch für sie noch einen Auftrag hatte.
„Ach, Rose. Ich traf Lady Mulford. Sie bat mich, dich sofort zu ihr zu schicken.“
Rose sah mich nur überrascht an.
Natürlich hatte ich im selben Moment meinen Fauxpas bemerkt. Ich hätte mir auf die Zunge beißen können. Aber nun war es raus. Als ganz neue Besucherin auf dem Schloss konnte ich natürlich nicht den Namen von meiner Tante wissen. Rose hatte das sofort bemerkt. Aber sie nickte nur und verschwand dann.
Fieberhaft überlegte ich, was ich anführen konnte, sollte sie mich danach fragen. Ich beschloss vorzugeben, dass der alte Kutscher sie auf der Herfahrt erwähnt haben würde. Dabei traten mir leichte Schweißtropfen auf die Stirn.
Worauf hatte ich mich hier nur eingelassen!
Wenn ich zur Seite schaute, konnte ich immer wieder Mrs Pengaster beobachten, wie sie mir Blicke zuwarf. Wollte sie mir etwas sagen? War es wichtig für mich, dass ich es möglichst bald erfuhr? Aber Tante Lilibeth hatte mir doch eingeschärft, sie nicht anzusprechen.
Das Unterfangen stellte sich als immer schwieriger heraus. Und dabei hatte es noch nicht einmal richtig begonnen. Na ja, bald würde ich vielleicht wieder in der Kutsche sitzen und zur Bahnstation zurückgefahren werden, vielleicht sogar mit einer eindeutigen Absage von Mylady. Und wenn nicht, musste ich eben bei Tante Lilibeth auf eine Antwort warten. Vielleicht wollte ja sogar ich dann nicht mehr hier arbeiten, sollte sie wider Erwarten positiv ausfallen.
In Gedanken spielte ich die Rückfahrt schon durch. Tante Lilibeth hatte mir das Geld für das Billett in den Saum meines Kleides genäht. Bevor ich meine Sachen hier wieder packte, würde ich den Saum nur leicht auftrennen und das Geld in meinen Beutel stecken müssen. Der alte Kutscher würde mich schon nicht überfallen, grinste ich vor mich hin, während ich Tee trank.
Ich streckte mich ein wenig und malte mir schon aus, dass ich wiederum eine nette Reisebekanntschaft machen würde, mit der die Zeit wie im Fluge vergehen würde, genau wie es auf der Herfahrt der Fall gewesen war.
Ich weiß nicht, wie lange ich an dem Tisch saß mit all den Geräuschen und Gerüchen um mich herum, die eine solch große Küche mit sich bringt, als Mr Haggety lautlos auf mich zukam und mich mit seiner unbeteiligten Miene musterte, als verstünde er die Welt nicht mehr.
„Mylady wünscht Sie noch einmal zu sehen, Miss.“
„Selbstverständlich.“
Damit erhob ich mich und folgte ihm erneut. Jetzt kannte ich den Weg schon und fand ihn gar nicht mehr so weit weg von der Küche.
Was sie mir wohl zu sagen hatte? Bestimmt würde sie mir mit ihrer kalten Stimme kurz und knapp mitteilen, dass sie keine Verwendung für mich hätte, dass ich noch den Lunch in der Küche mit den Dienstboten einnehmen könne und dann aus Barras entlassen sei mit den besten Wünschen für meine Zukunft.
Ich würde damit leben können.