Der Waldvogel - Gudrun Leyendecker - E-Book

Der Waldvogel E-Book

Gudrun Leyendecker

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Beschreibung

Eine Serie von Verbrechen bereitet Kommissar Louis Becker schon seit einer ganzen Weile Kopfzerbrechen. Dunkle Spuren führen ins Unterholz des Waldes, in dem sich nicht nur die Füchse Gute Nacht sagen. Janina, die Tochter des Kommissars, und Dominik, der neugierige Journalist, sind eifrig bemüht, die Knoten des akuten Falles zu lösen, doch die Verwirrung vergrößert sich. Welche dunklen Geheimnisse verbirgt der flüsternde Wald?

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Gudrun Leyendecker ist seit 1995 Buchautorin. Sie wurde 1948 in Bonn geboren.

Siehe Wikipedia.

Sie veröffentlichte bisher circa 80 Bücher, unter anderem Sachbücher, Kriminalromane, Liebesromane, und Satire. Leyendecker schreibt auch als Ghostwriterin für namhafte Regisseure. Sie ist Mitglied in schriftstellerischen Verbänden und in einem italienischen Kulturverein. Erfahrungen für ihre Tätigkeit sammelte sie auch in ihrer Jahrzehntelangen Tätigkeit als Lebensberaterin.

Für Jürgen, der mich mit diesem Titel zu dem nachfolgenden Roman inspiriert hat.

Inhaltsangabe:

Eine Serie von Verbrechen bereitet Kommissar Louis Becker schon seit einer ganzen Weile Kopfzerbrechen.

Dunkle Spuren führen ins Unterholz des Waldes, in dem sich nicht nur die Füchse Gute-Nacht sagen.

Janina, die Tochter des Kommissars und Dominik, der neugierige Journalist, sind eifrig bemüht, die Knoten des akuten Falles zu lösen, doch die Verwirrung vergrößert sich.

Welche dunklen Geheimnisse verbirgt der flüsternde Wald?

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 1

Auf dem braunen, hölzernen Schreibtisch häufen sich die Stapel von Akten, Papiere liegen verstreut umher.

Der ältere Mann schiebt die Tasse beiseite. Seine Stimme klingt missmutig. „Der Kaffee ist kalt.“

„Ich mach schnell einen neuen“, bietet ihm der junge Kollege an. „Ist sofort fertig.“

„Nicht nötig. Ich habe meiner Tochter versprochen, heute früher nach Hause zu kommen. Sie will mir ihren neuen Freund vorstellen, und wir wollen ein bisschen grillen.“ Sein Gesicht entspannt sich.

„Janina hat wieder einen neuen Freund? Das hast du mir noch gar nicht erzählt. Hatte sie nicht gerade noch Liebeskummer, Louis?“

„Ist auch noch ganz frisch. Er ist Journalist, und ich hoffe, er hat sich nicht an sie herangemacht, um mehr über den Mordfall herauszufinden, als bereits allgemein bekannt ist. Wenn du mal eine Tochter hast, wirst du meine Sorgen verstehen, Hanno.“

„Das hat noch ein bisschen Zeit. Und außerdem, meine Generation sieht das ein bisschen lockerer. Vielleicht verbündest du dich mit dem jungen Mann. Manchmal entdecken diese Journalisten interessante Quellen. In unserem Fall könnte das nützlich sein.“

Louis verdreht die Augen. „Er hat wohl einen Kollegen, der ihm ständig die Schau stiehlt. In unserem Fall gibt es nur eines: Wir müssen noch einmal ganz von vorn anfangen, denn die Befragungen im Kommissariat haben uns nicht weitergebracht. Zu allem Übel hatte das Opfer keine Verwandte, aus dieser Quelle können wir keine Auskünfte schöpfen.“

Hanno lächelt geheimnisvoll. „Und ich weiß schon, was du vorhast, wir werden alle Verdächtigen in ihrer persönlichen Umgebung besuchen. Das hattest du doch vor, oder?“

„Ich wünschte, wir hätten einen Verdächtigen. Unsere Informationen stammen lediglich von den Personen, mit denen Natascha zuletzt Kontakt pflegte.“

Der junge Kommissar steckt sich ein Hustenbonbon in den Mund und lutscht es genüsslich. „Und von diesen Personen wirkte bisher einer so harmlos wie der andere.“

Sein älterer Kollege legt den Kugelschreiber weg. „Man sieht eben keinem hinter die Stirn, und hinter mancher Fassade können dich böse Überraschungen erwarten. Morgen suche ich zuerst die Vermieterin auf.“

„Sie wirkt auf mich sehr korrekt“, findet Hanno und kneift die Augen zusammen.

„Ich halte sie nicht für verdächtig, nur weil sie sich zur Tatzeit in der Nähe des Opfers befunden hat. Welches Motiv sollte sie für die Tat haben? Mit der Miete konnte Frau Marek ihre Witwenrente aufbessern und Natascha konnte für sie eine interessante und vielseitig begabte Gesellschaft sein. Mit ihr war es bestimmt nie langweilig.“

Louis Becker kratzt sich am Kopf. „Und trotzdem! Jeder noch so kleine Hinweis kann für uns wichtig sein.“ Er sieht auf die Wanduhr. „Ich muss noch im Supermarkt vorbei, dort ist das Grillfleisch billiger. Man weiß ja nie, wie viel Hunger so ein junger Mann mitbringt.“

*

Die Morgensonne scheint durch das Küchenfenster des kleinen Einfamilienhauses. Käthe holt sich die exakt geschnittenen Papp-Vorlagen aus der Schublade und stellt den großen Wäschekorb auf den Hocker. Die kleinen Vorlagen sind für die Unterwäsche und die Küchentücher, die größeren für Handtücher und Pullover.

Stück für Stück streicht sie jedes Wäschestück glatt und faltet es auf die jeweils vorgegebene Größe. Doch so sehr sie sich auch bemüht, es gelingt ihr nicht immer gleichmäßig. Ihr strenger Blick lässt weder Falten noch Größenunterschiede gelten. Jede Unregelmäßigkeit lässt eine tiefe Furche auf ihrer Stirn entstehen, ungnädig betrachtet sie jedes Teil, das ihren Ansprüchen nicht genügt, reißt es auseinander und faltet es erneut. Es dauert eine ganze Weile, bis sie mit ihrer Arbeit zufrieden ist und die gefaltete Wäsche in einzelnen Stapeln ins Schlafzimmer trägt und in der großen Kommode verstaut.

Nachdem das letzte Wäschestück seinen Platz in einer großen Schublade gefunden hat, der Wäschekorb im Badezimmer an seinem angestammten Platz steht, atmet Käthe erleichtert auf. Sie hat ein Stück Ordnung in ihr Leben gebracht.

Befreit kehrt sie in die Küche zurück, holt sich ein Glas aus dem Schrank und hält es ins Licht. Ist es sauber genug? Immerhin hat es seit dem gestrigen Abend schon dort gestanden. In den vielen Stunden zersetzt sich so manches zu Staub, der überall feindlich herumwirbelt.

Käthe hält das Glas unter fließendes Wasser. Was mag wohl in dieser scheinbar klaren Flüssigkeit alles drin sein? Wo ist es überall her geflossen, welchen Schmutz hat es bereits wegwaschen müssen. Welche unappetitlichen Rohre hat es durchlaufen? Und was hat man bei der Trinkwasserzubereitung alles hineingetan? Chlor wahrscheinlich, und eine ganze Menge anderer Chemie.

Mit heißem Wasser spült sie das Gefäß gründlich ab, lässt es kurz abtropfen und trocknet es mit dem frischen Geschirrtuch. Jetzt schnell noch einmal etwas blank polieren! Aber Käthe hat immer noch keine Freude daran.

Missmutig schenkt sie sich das stille Wasser aus der PET-Flasche ein, trinkt einen Schluck und verzieht das Gesicht. Die Welt ist wirklich ein Jammertal, nichts ist perfekt, nein im Gegenteil, überall lauern Gefahren, Ärgernisse und Schmutz.

In diesem Augenblick ertönt der melodische Glockenton, der wie gewöhnlich einen Besuch ankündigt.

Beim Öffnen der Haustür erkennt sie Janina Becker, die Tochter des Kommissars, der sie erst kürzlich im Kommissariat befragt hat.

Käthe zeigt ihr freundliches Gesicht. „Wie schön, dass du mich wieder einmal besuchst! Früher hast du mir immer die frischen Eier vom Hühnerhof deiner Tante mitgebracht.“

„Meine Tante lebt leider schon lange nicht mehr, und die Hühner sind auch schon tot. Kann ich einen Augenblick hereinkommen? Ich will dich nicht lange stören, nur ein paar Minuten?“

Aus den Augenwinkeln beobachtet die ältere Frau, wie Janina sorgfältig die Schuhsohlen auf der Matte abstreift. „Geh gleich durch auf die Terrasse! Die Sonne scheint heute so freundlich, da sitzen wir in der Natur am besten.“

Die junge Frau kennt sich aus, strebt durch den Flur und gelangt auf den besenrein gefegten Sitzplatz, der von gepflegtem Rasen umgeben ist.

„Ich bewundere immer wieder die Ordnung in deinem Garten“, lobt sie. „Man sieht wieder einmal, wie sehr du das alles liebst.“

Käthe hebt die Augenbrauen. „Was kann ich für dich tun?“

„Es geht um Natascha. Ich möchte gern mehr über sie erfahren. Kannst du mir etwas erzählen?“

„Ich habe deinem Vater doch schon alles gesagt, was ich weiß. Mehr kann ich auch nicht sagen.“ Ihre Augen verengen sich.

„Ja, ich weiß. Mein Vater darf mir gar nichts darüber sagen. Aber es bedrückt mich schon. Schließlich war die Tote eine junge Frau in meinem Alter, und an dem kleinen Weiher im Wald, an dem man sie fand, bin ich oft, um mir ein paar Wildblumen zu pflücken. Du erinnerst dich bestimmt daran, dass ich mich früher schon viel mit Blumen beschäftigt habe.“

„Einer deiner Trockenblumensträuße hat sehr lange gehalten“, erinnert sich Käthe. „Bis kurz vor dem Tod meines Mannes. Aber du müsstest keine Angst im Wald haben, wenn sich dein Vater um den Vogelmann kümmern würde.“

Janina reißt die Augen auf. „Den Vogelmann? Meinst du den Waldvogel, diesen Einsiedler, der dort einmal in einer kleinen Hütte gehaust haben soll? Ich dachte, der wäre nach Kanada ausgewandert.“

„Ein Förster will ihn wieder hier im Wald gesehen haben, und das ist gar nicht so lange her.“

Janina betrachtet einen Schmetterling, der über dem kurz gemähten Rasen tanzt. „Ich dachte, man darf gar nicht so einfach im Wald wohnen.“

„Das ist in diesem Fall etwas komplizierter“, weiß Käthe. „Irgendeinem Urgroßvater von ihm gehörte ein Stück Land dort, auch mit etwas Wald, und sein Großvater hat es irgendwie durchgesetzt, dass er darauf eine Hütte bauen darf. Genau weiß ich auch nicht, wie das alles abgelaufen ist. Jedenfalls hat es der Vogelmann oder auch Waldvogel, wie du ihn nennst, geerbt und auch ziemlich lange dort gewohnt.“

„Und warum sollte er etwas mit Nataschas Tod zu tun haben?“

„Das liegt doch auf der Hand. Ein Mann allein im Wald, der den Umgang mit Menschen meidet, das ist ein Außenseiter, der auf eine Begegnung mit einer jungen Frau sicher ziemlich intensiv reagiert. Wer weiß, was da vorausgegangen ist.“

„Du denkst daran, dass sie vielleicht in dem Teich gebadet oder ihn auf andere Weise ungewollt provoziert hat?“

Käthe nickt eifrig. „Sie war sehr hübsch und attraktiv. Vergiss nicht, dass sie vielseitig begabt war. Neben ihrem Teilzeit-Job als Sekretärin gab sie Englischunterricht und hat als Modell gejobbt. Und sie war ganz gewiss kein Kind von Traurigkeit.“

Janina verzieht zweifelnd das Gesicht. „Ich weiß nicht recht. So ein Mann, der immer im Wald wohnt, der will doch nichts von Menschen. Warum sollte er sich plötzlich für eine Frau interessieren?“

„Die Instinkte, Kindchen! Die darfst du nicht unterschätzen. Instinkte beherrschen uns mehr als wir glauben.“

„Sicherlich wird mein Vater den Mörder finden“, hofft die junge Frau. „Und was weißt du sonst noch über Natascha?“

„Sie hat ihre Miete pünktlich bezahlt, aber ihr Leben spielte sich nicht hier in meinem Haus ab. Sie schlief in ihrem Zimmer, grüßte mich höflich, wenn wir uns begegnet sind, und das war alles. Ich weiß nicht einmal, wie es in ihrem Zimmer aussieht, denn das ist noch versiegelt.“

Janina seufzt. „Du weißt also gar nichts?! Wirklich nichts?“

„Nein, dein Vater war auch schon enttäuscht. Er meinte, eine Vermieterin müsse doch da den Durchblick haben. Aber ich bin eben nicht neugierig. Schließlich lag das Zimmerchen auch im Untergeschoss und hatte einen eigenen Eingang. Da sind wir uns höchstens mal am Briefkasten begegnet. Ich bin die Letzte, die euch weiterhelfen kann.“

„Dann will ich dich auch nicht weiter stören“, entscheidet die junge Frau und sieht Käthe enttäuscht an. „Ich muss mein Glück woanders versuchen. Ja, und die Sache mit dem Waldvogel, die werde ich natürlich an meinen Vater weitergeben.

*

Doria öffnet ihrem Mann die Tür. „Warum kommst du schon wieder so spät? Ich habe mit dem Essen schon die ganze Zeit auf dich gewartet. Kannst du nicht einmal pünktlich nach Hause kommen?“

„Der Kommissar wollte mich noch einmal sprechen. Eigentlich wollte er uns hier zuhause besuchen, aber das wollte ich dir ersparen, und so habe ich mich mit ihm in einem Café getroffen.“

„Warum musstest du dir auch bei so einer jungen Frau Englisch-Nachhilfe holen?! Die Suppe hast du dir selbst eingebrockt. Und nun haben wir die Scherereien. Ich hatte noch nie Kontakt mit der Polizei, und jetzt werden wir ständig belästigt.“

Er hängt den Mantel an den Haken und geht ins Badezimmer, um sich die Hände zu waschen.

Eilig folgt sie ihm. „Natürlich hättest du auch eine Sprachenschule besuchen können, wenn deine Firma einen zusätzlichen Business-Kurs von dir verlangt. Die hätten sich auch darum kümmern müssen. Aber du musst dich ja gleich an so ein junges Ding wenden, das den zwielichtigen Ruf eines Modells genießt.“

Wütend sieht er sie an und dreht den Wasserhahn weit auf. „Du mit deiner schrecklichen Eifersucht! Natascha sprach perfekt Englisch, weil sie mehrere Jahre in England gelebt hat. Sie hat den Unterricht im Büro ihrer Firma abgehalten, nicht zu Hause in ihrem Privatzimmer. Und sie hatte nicht das geringste Interesse an mir.“ Eifrig reibt er die Hände, immer wieder.

„Ja, möglicherweise nicht sie an dir, aber ganz sicher du an ihr. Ich kenne mich da aus, du bist genau in dem Alter, in dem sich die Männer zur Selbstbestätigung junge Frauen suchen. Außerdem kannst du mich nicht für dumm verkaufen, den Unterricht habt ihr dort gemacht, ja, aber nach Büroschluss. Vermutlich war da niemand mehr im Gebäude.“

Er trocknet sich die Hände ab. „Der Hausmeister war da. Du kannst ihn ja fragen.“

„Den habt ihr wahrscheinlich bestochen, mit ein paar Zigaretten oder einer Flasche Schnaps. Vermutlich hat sie dich abgewiesen, und das konntest du nicht ertragen. Möglicherweise wollte sie auch darüber etwas ausplaudern. Warum sonst ist Kommissar Becker so hinter dir her?!“

„Der Kommissar befragt mich, weil er etwas über sie wissen will. Aber ich kann gar nichts über sie sagen, wir haben uns ganz intensiv um das Business-Englisch gekümmert. Abgesehen davon war ich zur Tatzeit zwar im Wald wie sonst auch oft, und gar nicht weit von dem Teich entfernt. Aber ich brauche nun mal ab und zu das Angeln als Ausgleich zu meiner stressigen Bürotätigkeit.“

„Du und Stress?“ Ihre Stimme überschlägt sich, klingt schrill. „Was soll ich denn da sagen?! Im Büro hast du doch deine Ruhe.“

Rolf seufzt. „Das wäre schön. Ich bin in einem Alter, in dem man sich bemühen muss, immer und überall mithalten zu können. Weißt du nicht, wie vielen jüngeren Kollegen von mir schon gekündigt wurde. Ich sitze stets auf einem Pulverfass.“

„Du musst dich eben bemühen, in der heutigen Zeit muss sich jeder anstrengen. Ich hatte heute auch jede Menge Ärger mit der Frau Schreiber von nebenan. Aber die hat ja auch ein Mann, der ihr den Rücken stärkt. Und nächste Woche fliegen sie nach Florida und besuchen ihre Tochter. Drei Wochen bleiben sie dort und genießen die Sonne. Von deinem mickrigen Gehalt können wir uns so etwas nicht leisten.“

Er folgt ihr in Ess-Ecke. „Wir haben auch keine Tochter in Florida. Und da möchte ich auch gar nicht hin.“

„Ja, du! Es geht immer nur alles um dich. Du willst da nicht hin. Aber wohin ich möchte, das interessiert dich nicht. Stattdessen schlagen wir uns jetzt hier mit einem Kommissar herum, der uns ständig auf den Wecker geht und uns daran hindert, pünktlich zu Abend zu essen.“

„Ich habe sowieso keinen Appetit mehr“, sagt er tiefatmend.

„Wenn es dich so sehr aufregt, scheinst du eine ganze Menge damit zu tun zu haben. Hattet ihr ein Verhältnis, du und Natascha? Hast du sie aus dem Weg geräumt?“

Wütend dreht er sich um. „Wenn du mich für einen Ehebrecher oder Mörder hältst, kannst du allein essen. Ich gehe jetzt zum Angeln.“

„Ja, ja, den Täter zieht es immer wieder zum Tatort zurück. Wer soll es denn sonst gewesen sein? Du hattest doch so oft den engen Kontakt mit ihr.“

Das wütende Funkeln in seinen Augen verstärkt sich. „Sie hatte mit vielen Menschen Kontakt. Sie war eine lebenslustige und kontaktfreudige Person.“

„Na siehst du! Endlich ist es heraus! Du hast sie bewundert, wahrscheinlich angehimmelt. Wer soll es denn sonst noch gewesen sein außer dir?“

„Wahrscheinlich der Waldvogel. Sicher mag er es nicht, wenn jemand in sein Revier eindringt.“

„Der Waldvogel? Seit wann ist er denn wieder hier. Er war doch irgendwo in Amerika.“

„Ich habe den Förster neulich beim Angeln getroffen, der hat ihn gesehen.“

„Das hast du dir ja fein ausgedacht. Aber um Ausreden und Ausflüchte warst du ja noch nie verlegen. Der Waldvogel ist doch kein Verbrecher.“

„Was macht ein Mann allein im Wald? Letztes Jahr wurde in den Gärten der Häuser ganz viel gestohlen, ein Fahrrad entwendet, Mülltonnen und ein Auto in Brand gesetzt. Die eine oder andere Spur führte in das Dickicht des Waldes.“

Sie zieht sich ihre Jacke an. „Ich besuche jetzt meine Freundin, die Rita. Und vielleicht bleibe ich auch dort über Nacht. Du weißt ja, wo hier alles ist.“

Wortlos nimmt er seine Jacke und das Angelzeug und verlässt eilig die Wohnung.

*

Der große, muskulöse Mann stapelt einen Naturstein auf den anderen. Durch die hohen, schlanken Bäume blinzelt die Sonne und wirft Lichtflecken auf sein gebräuntes Gesicht.

Ein Käfer hastet über das Moos, bleibt stehen, wartet, ändert seine Laufrichtung und eilt weiter.

Einen Augenblick später springt ein Eichhörnchen den Baumstamm hoch und beäugt das zweibeinige Wesen, das sich schwitzend bemüht, Teile der Erde zu bewegen.

Nach einigen Stunden ist unter den Händen des einsam arbeitenden Menschen eine Mauer entstanden, die er zufrieden betrachtet. Er gönnt sich eine Mahlzeit aus verschiedenen Beeren, schwingt sich auf einen herabhängenden Ast und erklimmt die Baumkrone.

Bald darauf breitet sich eine leblose Stille aus, nicht einmal der Wind wagt es, die Blätter flüstern zu lassen.

*

„Was hast du herausbekommen?“ erkundigt sich Dominik bei seiner Freundin nach einer kurzen Umarmung.

Janina verzieht das Gesicht. „Es ist wie verhext, entweder wissen die nichts oder sie wollen nichts sagen. Papa schweigt wie ein Grab.“

„Hört sich passend an. Aber was weiß die Marek? Natascha hat eine ganze Weile bei ihr gewohnt. Da muss sie doch einiges mitbekommen haben.“

„Käthe behauptet, ihre Mieterin nur ab und zu am Briefkasten getroffen zu haben. Ich kann es mir nicht vorstellen. Früher, als ihr Mann noch lebte, war sie sehr geschwätzig und hat jedem von ihm erzählt, ob er es wissen wollte oder nicht.“

„Was war denn mit ihm? Hatte er eine Krankheit? Alkoholiker?“

„Nein, er war ein Sammler.“

„Briefmarken? Münzen? Orden und Abzeichen?“

„Nein. Alten Müll.“

„Also, Schrauben und Nägel oder Radkappen, wie man sie schon einmal auf der Straße findet?“

„Wenn es nur das gewesen wäre! Er kannte jeden Sperrmülltermin im ganzen Städtchen, und dann hat er alles angeschleppt, was nicht auf dem Weg zusammenfiel.“

„Auweia! Hatten die so viel Platz in ihrem Häuschen?“

„Nein, gar nicht. Das Haus sah am Ende aus wie ein riesiger Müllcontainer, und irgendwie waren auch ein paar Mäuse mit eingezogen, die es dort sehr gemütlich fanden.“

„Und was hat Käthe dazu gesagt?“

„Sie hat sich in ein winziges Zimmerchen zurückgezogen und versucht, dort zu überleben.“

„Was ist daraus geworden?“

„Eines Tages ist er krank geworden. Käthe meinte, er habe sich irgendetwas aus dem Müll eingefangen. Aber ich glaube, er hatte eine Einstellung, die ihm nicht erlaubte, lebensfähig zu sein. Am Ende war es eine Lungenentzündung, an der er starb.“

„Und dann hat sie das Haus entrümpelt?“

„Dafür hat sie eine Firma engagiert, denn das hätte sie niemals allein geschafft. Danach hat sie den Kammerjäger gerufen und das Haus von oben bis unten desinfiziert.“

„Dann war es ja wahnsinnig mutig von ihr, dass sie wieder jemanden in ihr Haus gelassen hat. War Natascha denn ordentlich?“

„Angeblich weiß Käthe das nicht. Im Augenblick ist das Zimmer noch versiegelt.“

Dominik überlegt. „Wenn ihr Natascha Mäuse ins Haus gebracht hat, könnte Käthe ein Mordmotiv haben. Vermutlich leidet sie noch an einem Mülltrauma.“

Janinas Augen werden rund. „Zur Tatzeit hielt sie sie in der Nähe des Tatorts auf. Aber ich werde zunächst einmal mit Jeremy Kontakt aufnehmen.“

„Wer ist Jeremy?“

„Nataschas Kollege. Er war in sie verliebt, aber sie nicht in ihn. Trotzdem hat er ihr immer wieder Geschenke gemacht, die sie schließlich auch annahm, um ihn nicht zu kränken. Und in diesen Jeremy war Tanja verliebt, eine junge Frau aus der Cafeteria der Firma.“

Dominik stöhnt. „Was für ein Durcheinander! Kann nicht endlich jemand ein Mittel erfinden, dass die Hormone ein bisschen vernünftig steuert? Wieso verlieben sich so viele Menschen in die falsche Person?“

Sie schmunzelt. „Da lasse ich dir völlig freie Hand. Jedenfalls haben wir hier gleich zwei Verdächtige auf einmal: Jeremy konnte bei Natascha nicht landen und Tanja platzte vermutlich vor Eifersucht, wenn sie an die fehlgeleiteten Geschenke dachte.“

„Die Motive erscheinen mir recht schwach“, findet er.

„Emotionen spielen da immer eine große Rolle, und oft kann man den Täter im nächsten Umkreis suchen.“ „Da ist mein Kollege Benno aber ganz anderer Meinung. Er hält den Waldvogel für den Täter und will sogar in den nächsten Tagen nach ihm suchen.“

Janina kraust die Stirn. „Was habt ihr nur alle immer mit diesem Waldmenschen?!

Er steht doch in gar keiner Beziehung zu dem Opfer.“

„Weißt du das? Vielleicht hat er sie schon oft an diesem einsamen Teich beobachtet.“

„Und welches Motiv dichtest du ihm an?“

„Er hatte einfach Lust auf sie.“

„Muss er, weil er im Wald lebt, ein schlimmeres Verhalten als ein Tier an den Tag legen?“

„Er lebt mit den Tieren. Vermutlich fühlt er sich mit ihnen mehr verbunden als mit den Menschen.“

„Weißt du denn etwas über ihn? Wie war seine Kindheit? Wie waren seine Eltern?“

„Bis jetzt habe ich noch nichts darüber erfahren, aber ich werde es, das verspreche ich dir.“

*

Der große Mann lässt sich langsam vom Baum herab und beginnt, einige Teile der zerfallenen Holzhütte wieder instand zu setzen.

Während die Abendsonne müde durch die Lücken der Baumstämme blinkt, fügt er, Stück für Stück, die fehlenden Holzlatten ein, bis ihm die einbrechende Dunkelheit die Sicht nimmt.

Ohne Hast setzt er sich einen Rucksack auf und wandert damit zu der nahegelegenen Quelle, die neben einem Felsblock entspringt und ihr klares Wasser reichlich verschenkt.

Zuerst benetzt er sein Gesicht, danach trinkt er genüsslich mit bedächtigen Pausen, und zuletzt füllt er sich einige Gefäße, die im Rucksack mit gähnender Leere darauf zu warten scheinen.

Im Dämmerlicht vermeidet der Mann den Weg durch das Unterholz, stattdessen lenkt er seinen Schritt über den bemoosten Teil des Waldbodens, bis er am Teich ankommt, an dem er einige Minuten verharrt.

Ein paar hundert Meter weiter versteckt er sich hinter einer mächtigen Eiche und beobachtet den Mann, der im heraufsteigenden Mondlicht am kleinen Waldsee sitzt und angelt.

Hier gibt es keine Aale, überlegt der einsame Wanderer, aber die großen Brassen, die äußerst nachtaktiv sind und häufig auch in Baggerseen gefunden werden.

Der Angler hat für seinen Fang einige Lockstoffe vorbereitet. Der Mann in seinem Versteck schleicht sich näher und erkennt Kartoffeln, die üblichen Maisketten und einen Behälter mit Tauwürmern. Aber es fehlen ihm die Tentakel der Calamaris, die für manche nachtaktive Fische ein unverzichtbarer Leckerbissen sind.

„Petri Heil!“ flüstert der große Mann kaum hörbar und zieht sich zurück.

Kapitel 2

Hanno schiebt Kommissar Becker einen Becher mit heißem, duftendem Kaffee zu. „Und wie war er? Dein Schwiegersohn in spe? Hat er deine strenge Prüfung bestanden?“

„Er ist ganz nett und hat natürlich mein Grillfleisch gelobt. Zimperlich war er auch nicht, sondern hat ordentlich zugelangt, mit einem Appetit, der zu seinem jungen Alter passt. Trotzdem hat es mich etwas misstrauisch gemacht, dass die beiden angeblich Verliebten vor meinen Augen nicht viel herumturtelten. Stattdessen hat Dominik ganz offen versucht, mich auszufragen.“

Der junge Kollege grinst. „Er saß an der Quelle. Hast du ihn nicht auch ein bisschen ausgequetscht?“

„Naja, versucht habe ich es schon ein bisschen, aber der Junge ist clever.“

„Und damit hast du ihn abgenickt, oder?“

„Janina macht doch, was sie will. Und sie muss es auch, jeder muss seine Fehler selbst machen. Was hast du über diesen Waldmenschen herausbekommen? Gibt es wirklich Hinweise, dass er sich momentan hier aufhält?“

„Der Förster hat ihn tatsächlich mehrere Male flüchtig gesehen. Aber immer, wenn er ihn ansprechen wollte, verschwand er plötzlich im Nichts.“

„Förster Hollerbusch ist dafür bekannt, dass er gerne etwas über den Durst trinkt“, bemerkt Louis. „Wir müssen der Sache selbst nachgehen.“

„Auf jeden Fall müssen wir in mehrfacher Hinsicht vorsichtig sein. Das Grundstück im Wald ist tatsächlich rechtmäßig erworben, und im Mittelalter soll dort auch einmal die Sommerresidenz einer nahegelegenen Burg gestanden haben, die den Ahnen des Waldvogels gehört hat.

Wenn wir also unbefugt das Grundstück betreten, machen wir uns strafbar und Gefahr ist momentan nicht in Verzug.“

„Dann müssen wir ihn hervorlocken. Ein Verhör ist notwendig, schließlich haben auch bei all den anderen Verbrechen, den Diebstählen, die Spuren dorthin ins Unterholz geführt.“

„Ich habe mich auch schon einmal mit Kanada in Verbindung gesetzt, alles, was ich bisher herausfinden konnte, ist, dass er dort nicht auffällig geworden ist. Aber das hat natürlich nichts zu sagen. Kanada ist groß, und die Wälder sind weit. Möglicherweise findet man dort erst nach Jahren, wie er dort sein Unwesen getrieben hat.“

„Wir werden ihm schon auf den Zahn fühlen, und da wird er als Naturbursche sicher noch alle seine Beißerchen zusammen haben.“

„Jetzt lässt du deinen Kaffee schon wieder kalt werden“, schimpft Hanno. „Was hast du eigentlich bei Frau Marek erreicht? Konnte sie dir mehr über ihre Mieterin berichten?“

Becker rührt geräuschvoll mit dem Löffel in der Kaffeetasse herum. „Entweder war sie wirklich nicht da, oder sie hat mir nicht aufmachen wollen, was meine Meinung über sie nicht verbessert. Ich halte sie zwar nicht für die Täterin, aber ich habe andererseits auch noch nicht genügend Beweise für ihre Unschuld gesammelt.“

Hanno grinst. „Ich weiß, das Ausschlussverfahren. Meiner Meinung nach kannst du diesen Karsten ausschließen. Er hat doch nur ehrgeizige Projekte im Kopf, das Drehbuch, seinen Film und das große Geld, das er damit verdienen will. Mit einer so unbedeutenden Person wie Natascha hat er bestimmt nichts am Hut. Sonst hätte er sie als Hauptdarstellerin und nicht als einfache Komparsin vorgemerkt.“

Louis kritzelt mit dem Kugelschreiber kleine Männchen auf ein Stück Papier. „Ich werde ihn gleich aufsuchen, habe einen Termin mit ihm. Meiner Meinung nach muss man schon ein bisschen größenwahnsinnig sein, wenn man sich auf moderne Weise an Shakespeares Sommernachtstraum heranwagt.“

„Es glaube, wer beim Film ist, muss ein bisschen größenwahnsinnig sein. Aber er ist weder ein Frauentyp noch ein Frauenheld, das konnte mir seine Hausdame glaubhaft versichern. Obskure Bars sind auch nicht sein Fall, er reitet, spielt Polo und Golf, da hat er sich schon einer gewissen Elite angeschlossen.“

„Das nehme ich zur Kenntnis, trotzdem möchte ich meinen Eindruck von ihm vertiefen. Wen nimmst du dir jetzt vor?“

„Ich versuche heute mein Glück bei der Marek. Irgendwann muss sie ja einmal zuhause sein.“

Louis hebt den Daumen. „Dann viel Erfolg!“

*

Tanja reicht Jeremy den Suppenteller. „Ich habe für dich extra ein großes Schnitzel aufgehoben. Magst du nicht doch etwas mehr als diese dünne Suppe? Du kannst doch schließlich jetzt nicht verhungern, nur weil Natascha nicht mehr lebt.“

Sein Blick ist düster. „Ich habe keinen Hunger. Gib das Schnitzel, wem du willst!“