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Wie kaum ein anderes Buch feiert dieses Meisterwerk der literarischen Naturbeobachtung die unerschöpfliche Vitalität der Natur. In den 1960 er Jahren war der Wanderfalke im Aussterben begriffen. In diesem Wissen beobachtete Baker über viele Jahre diese faszinierenden Vögel. Mit naturwissenschaftlicher Genauigkeit beschreibt er in seinem als Tagebuch angelegten Bericht das Leben eines Wanderfalkenpaares in Ostengland. Tag für Tag folgt er den beiden, beschreibt die Gewohnheiten und Ängste der Raubvögel mit einer beispiellosen Mischung aus Poesie und Präzision – wie besessen davon, dem Geheimnis ihrer Anmut auf die Spur zu kommen. Dabei scheinen im Laufe der Beobachtung Mensch und Vogel zu verschmelzen. Baker wird nach und nach selbst zum falkengleichen Jäger, der die Zeichen in der Landschaft zu deuten weiß. Dieses erstmals 1967 veröffentlichte, in einer dichten, poetischen und zugleich lakonischen Sprache verfasste Buch besitzt die unvergleichliche existenzielle Wucht der Einsamkeit, aus der eine beglückende Beziehung zur Natur, einer Region, zu einem Raubvogel erwächst.
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Seitenzahl: 306
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J. A. BAKER
Mit einemVorwort vonRobert Macfarlane
Aus dem Englischen vonAndreas Jandl undFrank Sievers
NATURKUNDEN
NATURKUNDEN NO. 10
herausgegeben von Judith Schalansky
bei Matthes & Seitz Berlin
Vorwort
Anfänge
Wanderfalken
Leben und Jagen
Der Wanderfalke ist zweifelsohne ein Meisterwerk der nicht-fiktionalen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Als Elegie für einen Ort steht er neben Barry Lopez’ Arktischen Träumen (1986). In seiner Eigenart, die Melancholie und Schönheit aus der englischen Landschaft herauszuarbeiten, ist er vergleichbar mit W. G. Sebalds Die Ringe des Saturn (1995). Als Verschmelzung von Spirituellem und Elementarem kann man ihn mit Peter Matthiessens Auf der Spur des Schneeleoparden (1978) vergleichen. Und als Bericht über die Besessenheit eines Menschen von einem Tier ist er schlichtweg einzigartig. Ein Vorwort soll sein Buch natürlich in den höchsten Tönen loben, doch stelle ich hier keine pompösen Behauptungen auf. Mein Lobgesang trifft einfach zu.
Wenn man dem Buch so etwas Konventionelles wie eine Handlung zuschreiben möchte, dann lautete sie wie folgt: Zwei Wanderfalkenpaare kommen im Herbst zum Jagen in eine südenglische Küstengegend – ein abwechslungsreiches Gelände mit Marschen, Wäldern, Feldern, Flussniederungen, Watt, Flussmündung und Meer. Aus einem Grund, der nie ganz geklärt wird, ist der Erzähler von den Vögeln besessen. Von Oktober bis April ist er ihnen täglich auf der Spur und beobachtet sie beim Baden, Töten, Fressen und Schlafen. »Der Herbst eröffnet die Saison meiner Falkenjagd, der Frühling beendet sie, dazwischen funkelt der Winter wie der Bogen des Orion« (Autumn begins my season of hawk-hunting, spring ends it, and winter glitters between like the arch of Orion), so seine Worte. Das Buch berichtet von dieser Jagd in all ihren bewegten Wiederholungen.
Also die täglichen Aufzeichnungen eines Ornithologen, mögen Sie jetzt denken. Aber den Wanderfalken als eine wissenschaftliche Aufzeichnung zu charakterisieren, würde ihn ebenso auf ein Merkmal reduzieren, als nennte man Mrs. Dalloway einen Tagebucheintrag. Treffender ist es, den Text als ein langes, in einem dichten Stil verfasstes Prosagedicht anzusehen, so dicht, dass Grammatik und Syntax mitunter zerdrückt werden. Die Dramatik und Ortskunde würde ein minder begabter Autor auch auf tausend Seiten kaum unterbringen können. Dieses Buch trägt eine massiv verdichtete Energie in sich, wie Erdöl, Kohle oder ähnliche derartige Rohstoffe.
Über J.A. Baker selbst erfährt der Leser wenig. Alles, was im Wanderfalken geschieht, trägt sich innerhalb des Jagdgebiets der Wanderfalken zu. Die Handlung geht über diesen einen Landstrich nicht hinaus. Weshalb der Autor dem Falken folgt, wird nicht erläutert, es gibt keinen speziellen Auslöser. Auch ist kein Platz für einen anderen Menschen neben Baker selbst. Wir erfahren nichts darüber, wie er lebt, wenn er nicht beobachtet: Wir wissen nicht einmal, wo er schläft, nur wenig darüber, was er isst. All diese Informationen, das spüren wir, werden nicht zurückgehalten, um Interesse zu schüren, sondern weil sie unwichtig sind.
Unwichtig, da Der Wanderfalke nicht vom Beobachten eines Vogels erzählt, sontdern davon, wie man zum Vogel wird. Schon früh formuliert Baker sein Jagdmanifest:
Wohin er diesen Winter auch gehen mag, ich werde ihm folgen. Ich werde die Furcht und Freude seines Jagens teilen, und auch die Langeweile. Ich werde ihm folgen, bis meine bedrohliche Menschengestalt das wirbelnde Kaleidoskop, das die Sehgrube seiner glänzenden Augen füllt, nicht mehr in Angst verdunkeln lässt. Mein heidnischer Kopf soll im Winterlandboden versinken, auf dass er rein werde.
Hier, in diesen vier sonderbaren Sätzen, steckt der dramatische Kern des Buches. Baker hofft, durch rigorose, anhaltende und »reine« (purified) Konzentration auf den Wanderfalken seiner eigenen menschlichen Gestalt entfliehen und in die »glänzende« (brilliant) Wildheit des Vogels flüchten zu können.
Während die Jahreszeiten voranschreiten, intensiviert sich die Beziehung des Erzählers zum Vogel. Zunächst lernt er, die Falken auszumachen. Wanderfalken fliegen oft so schnell und in solcher Höhe, dass sie für das menschliche Auge vom Boden aus nicht zu sehen sind. Baker entdeckt aber, dass sich Wanderfalken lokalisieren lassen, weil sie andere Vögel in Unruhe versetzen, ähnlich wie sich die Position eines unsichtbaren Flugzeugs anhand seines Kondensstreifens bestimmen lässt. So schreibt er am 7. Oktober: »Wie flüchtige Flammen durchsengen die Falken den kalten Himmel und verschwinden spurlos im dunstigen Blau. Doch aus den unteren Luftschichten zieht eine Welle von Vögeln nach und schraubt sich durch eine weiße Spirale von Möwen in die Höhe.« (Evanescent as flame, peregrines sear across the cold sky and are gone, leaving no sign in the blue haze above. But in the lower air a wake of birds trails back, and rises upward through the white helix of the gulls.)
Indem er seine Verfolgungstaktik verbessert, kommt Baker immer näher an den Vogel heran. An einem Tag im November legt er seine Hand auf ein Stück Wiese, auf dem der Falke kurz zuvor gestanden hat, und verspürt »ein starkes Gefühl von Nähe, von Verbundenheit« (a strong feeling of proximity, identification). Im Dezember hat er sich bereits in eine Art wildes Tier verwandelt. Als er eines Nachmittags über ein Feld läuft, sieht er Federn im Wind treiben:
Eine tote Ringeltaube lag mit der Brust nach oben auf einem Ballen weicher, weißer Federn. Der Kopf war gefressen worden. […] Die Knochen waren noch dunkelrot, das Blut noch feucht.
Ich kauerte mich über das Tier wie ein es ummantelnder Falke. Meine Augen kreisten flink, spähten nach den Köpfen herannahender Menschen. Unbewusst imitierte ich die Bewegungen des Falken, wie in einem archaischen Ritual; der Jäger, der sich in seine Beute verwandelt. […] In diesen Tagen im Freien leben wir dasselbe rauschhafte, angsterfüllte Leben. Wir meiden die Menschen.
Die Personalpronomen erzählen die Geschichte – das ›ich‹ wird zum ›wir‹, der Mensch geht in den Falken über.
Warum sollte ein Mann zum Vogel werden wollen? Mit acht Jahren war Baker an rheumatischem Fieber erkrankt, von dem er ein lebenslanges Arthritisleiden davontrug. Sein Zustand verschlechterte sich, die Krankheit breitete sich aus, von den Knien zur Hüfte, dann zu den Händen. Codein linderte die Schmerzen, löschte sie aber nicht aus, und er bekam zeitweilig Goldinjektionen in die Gelenke, um das Fortschreiten der Krankheit zu verlangsamen. Als er den Wanderfalken schrieb, krampften und krümmten sich Bakers Hände zunehmend zusammen, so dass sie eher Krallen denn Fingern glichen. Mit dieser Enthüllung will ich mich nicht dem Wunsch des Buches nach Diskretion widersetzen, es ist ja stets zu spüren, dass der Erzähler an einer tiefen Wunde, ob seelisch oder körperlich, leidet, die seine Wahrnehmung mit »Trübnis« (dimness) und »Trostlosigkeit« (desolation) färbt, wie sie aber zugleich sein Bewusstsein für Schönheit schärft.
Bakers Krankheit erklärt auch bis zu einem gewissen Grad das zentrale Drama des »Jägers, der sich in seine Beute verwandelt« (the hunter becoming the thing he hunts). Denn wer sich mittels intensiver Fokussierung in ein anderes Wesen verwandelt, entkommt damit auf eine Art seinem eigenen Leiden. Es ist eine Selbstzerstörung, die zur Wiederauferstehung führt. Darin erinnert es an Keats’ berühmte Doktrin der »negativen Befähigung« (negative capability), jenes »poetischen« Vermögens, sich so umfassend in ein anderes Wesen zu entleeren, dass man nicht nur wie dieses Wesen denkt, sondern dazu wird. Keats’ Gedanken über dieses Thema wurden, wie der Zufall es will, von einem Vogel ausgelöst: »Oder wenn ein Sperling an mein Fenster kommt«, schreibt er im November 1817, »dann schlüpfe ich in seine Existenz und picke im Kies herum … // [so] dass ich in kurzer Zeit ausgelöscht bin.«1 Selbstauslöschung war auch Bakers Ziel.
Doch nicht nur Baker hat in Der Wanderfalke zu leiden. Die Falken selbst sind bedroht. Das Buch erschien erstmalig im Jahr 1967. Bereits 1962 hatte Rachel Carson in ihrem Werk Der stumme Frühling die Weltöffentlichkeit gewarnt, wie verheerend sich der Einsatz von Pestiziden auf die Vogelbestände auswirkte. Ein Jahr später veröffentlichte der britische Greifvogelspezialist Derek Ratcliffe einen aufsehenerregenden Artikel über die schrecklichen Folgen der Agrarchemie für die Population der Wanderfalken in Großbritannien2. 1939 gab es laut Ratcliffes Aufzeichnungen siebenhundert Wanderfalkenpaare in Großbritannien; eine Erhebung aus dem Jahr 1962 zeigte einen Rückgang der Bestände um 50 %, wobei nur achtundsechzig Paare erfolgreich Junge großzogen. Die Jahre, in denen Baker die Feldforschung für sein Buch unternahm, waren die Jahre, in denen den Wanderfalken in Großbritannien am meisten Schaden zugefügt wurde. Für Baker muss es so ausgehen haben, ja sogar allzu wahrscheinlich gewesen sein, dass die Wanderfalken aufgrund des, wie Baker es nennt, »heimtückischen Dreckpollens der Agrarchemie« (the filthy, insidious pollen of farm chemicals) aussterben würden. Gewiss hatte Baker Ratcliffes Artikel gelesen; auch hatte er den Rückgang der Wanderfalkenbestände bei seinen eigenen Beobachtungen bemerkt. »Nur wenige überwintern noch in England, und noch weniger nisten hier« (Few winter in England now, fewer nest here), beklagt er, »die alten Brutstätten verwaisen« (the ancient eyries are dying).
In weiten Teilen des Textes herrscht die Stimmung eines Requiems vor, einer leichten Traurigkeit angesichts dieser Zustände, vermischt mit dem Unglauben, dass es doch noch anders kommen könnte. In einigen Passagen steigert sich der elegische Ton zur Wut. Am 24. Dezember, einem Tag mit Minusgraden und wenig Licht, entdeckt Baker bei seinem Spaziergang auf einem Stoppelfeld einen halbtoten Reiher. Obwohl die Flügel am Boden festgefroren sind, unternimmt er schrecklich aussichtslose Fluchtversuche:
Als ich näherkam, sah ich, wie sein ganzer Körper sich zur Flucht aufbäumte. Aber er konnte nicht mehr fliegen. Ich gab ihm Frieden, und sah die verbleichende Sonne seiner Augen langsam in Wolken genesen. Kein Schmerz, kein Tod ist für ein wildes Tier so schlimm wie die Furcht vor dem Menschen. […] Eine vergiftete Krähe, die mit aufgerissenem gelbem Schnabel im Gras liegt und hellgelben Schaum spuckt, wird bei dem Versuch, sie zu fangen, sich wieder und wieder in die haltlose Luft raffen wollen. Ein Kaninchen, das von der Seuche schon aufgedunsen und angefault ist, […] wird die Erschütterung Ihrer Schritte hören und Sie mit vortretenden, blinden Augen anstarren.
Wir sind die Mörder. Wir stinken nach Tod. Wir tragen ihn in uns. Er haftet an uns wie Reif. Wir kriegen ihn nicht vom Leibe.
»Wir stinken nach Tod. Wir tragen ihn in uns.« (We stink of death. We carry it with us.) Bei diesen Worten verstehen wir, dass sie von einem Mann stammen, der seinen eigenen Tod schon vor Augen hat, und von einem Menschen, dem es vor der eigenen Spezies graut.
Warten auf Godot wurde als ein Theaterstück beschrieben, in dem nichts passiert, und das zwei Mal. Der Wanderfalke ist ein Buch, in dem sehr wenig passiert, und das Hunderte Male. Sonnenaufgang. Der Mann beobachtet, der Vogel jagt, der Vogel tötet, der Vogel frisst. Sonnenuntergang. Und so weiter und so fort, sieben Monate lang. Baker hat verstanden, dass er den Leser nur halten kann, wenn er die immer gleichen Abläufe in einer neuen Sprache beschreibt. Die Sprache, die er erfand, war ebenso instinktiv, unvermittelt und luftig wie der Vogel, dem er sie widmete, eine Sprache, die genau wie der Vogel trotz aller Wiederholung immer wieder überrascht.
Wieder und wieder erstaunt uns Baker mit seinen Sätzen. Da sind zum einen die Neologismen: Substantive werden plötzlich zu Verben, Verben wandeln sich in Adjektive. »Fünftausend Strandläufer regneten davon wie eine Schar Käfer aus goldbeglimmertem Chitin.« (Five thousand dunlin rained away inland, like a horde of beetles gleamed with golden chitin.) »Der Nordwind bebröselte weiß die gegitterten Hecken.« (The north wind brittled icily in the pleached lattice of the hedges.) »Vier Sumpfohreulen sachtelten aus dem Ginster.« (Four short-eared owls soothed out of the gorse) Dann gibt es die in der englischen Sprache sehr ungewöhnlichen Inversionen – »Wuchtig stob er ihnen davon, glitt majestätisch nach Süden und stieg am hellen Rand der schwarzen Wolke empor.« (Savagely he lashed himself free, and came superbly to the south, rising on the rim of the black cloud); »Sehr still die Mündung; dunstige Horizonte, die mit der Gischt verschmelzen« (Very still the estuary; misty skylines merged into white water) –, die wie Stöße aus dem Signalhorn wirken und den Szenen einen strahlenden Ritualismus verleihen. Nicht zuletzt die erstaunlichen Beschreibungen archetypischer Situationen, so feierlich und dynamisch wie imagistische Lyrik, etwa beim Verfolgen und »Niederstoßen« (stoop): diesem »herabsäbelnden Himmelssturz« (sabring fall from the sky), wenn der Wanderfalke aus einer Höhe von dreitausend Fuß auf seine Beute niederschießt und sie durch den Aufprall wie auch mit seinen schlitzenden Krallen tötet:
Eine Wanderfalkin, heraldisch schwarz vor weißem Himmelsschild, kreiste vom Meer heran. Sie wurde langsamer, segelte ziellos dahin, als wäre die Luft über dem Land zäh und schwer. Sie stürzte herab. Die Strände tosten und loderten von Salven weißer Flügel. Der Himmel riss auf, barst von wirbelnden Vögeln. Die Falkin bewegte sich auf und ab wie ein schwarzes Sichelmesser in weißem, splitterndem Holz.
In Bakers Händen verhalten sich Worte zueinander auf unvorhersehbare Weise, ebenso wie Formen und Räume. Als ein Wanderfalke durch »Wolken« (cumulus) von Tauben herabschoss, »fiel ein Tier zurück, wurde aufgeschlitzt, schaute verdutzt wie ein Mann, der vom Baum fällt. Der Boden rauschte heran und zerschmetterte es.« (one bird fell back, gashed dead, looking astonished, like a man falling out of a tree. The ground came up and crushed it) Es ist wohlbemerkt der Boden, der »heranrauscht« (comes up), um den Vogel zu zerschmettern, und nicht – wie zu erwarten wäre – der Vogel, der zerschmetternd auf ihn herunterfällt. In ähnlicher Weise beschreibt Baker, wie der Falke einem Strandläufer nachjagt: »Es schien, als fiele dieser langsam zum Falken zurück. Dann verschmolz er mit dessen dunkler Silhouette und tauchte nicht wieder auf.« (the dunlin seemed to come slowly back to the hawk. It passed into his dark outline, and did not re-appear) Man hätte vermutet, dass es sich genau andersherum verhält, dass der Greifvogel sich der Beute annähert. Aber hier fällt der Strandläufer »langsam zum Falken zurück« (comes slowly back to the hawk). Der Strandläufer stirbt in einer sonderbaren Bereitwilligkeit. Und wie ein Schlag überfällt uns die Erkenntnis, dass dieser Moment für das gesamte Buch steht: als eine weitere Form der Selbsttötung, ein weiteres langsames Einswerden mit dem Raubvogel.
»Was sieht der Falke?«, fragte Anaximander von Milet im sechsten Jahrhundert vor Christus. Baker zufolge sieht ein Falke wie ein kubistischer Maler. Er nimmt Ebenen und Formen war, die in abstrakten Winkeln zueinander stehen. Er merkt sich keine Details, sondern Formen und deren Anordnung zueinander:
Der Wanderfalke lebt in einer zerfließenden Welt ohne Halt, einer Welt der Wellen und Wogen, aus versinkenden Flächen von Land und Wasser. […] Der Wanderfalke sieht und merkt sich Muster, von denen wir nicht einmal wissen, dass es sie gibt: die geordneten Karrees der Obstgärten und Wälder, die endlos verschiedenen Vierecke der Felder. Mithilfe einer langen Reihe solcher eingeprägter Symmetrien findet er sich über dem Land zurecht. […] Seine Augen sehen Landkarten in Schwarz-Weiß.
Eine der vielen Freuden, die wir beim Lesen des Wanderfalken haben, besteht darin, dass wir die Perspektive des Falken einnehmen können. Wir schauen von oben auf die Landschaft von Essex und sehen sie in bloßen Formen: Rebhühner stehen »in dunklen Zirkeln« (dark rings) auf den Feldern, Vögel sind in »funkelnden Wellungen« (shiny corrugations) verborgen, ein Obstgarten sinkt zu »dunkel dürren Linien und grünen Streifen« zusammen (into dark twiggy lines and green strips), der Horizont »befleckt sich mit fernen Städten« (stained with distant towns), eine Mündung »öffnet ihren silberblauen Trichtermund« (lifts up its blue and silver mouth). All dies hätten wir vom Boden aus nicht sehen können. Baker beschenkt uns mit der Perspektive, die die Griechen kataskopos nannten, den ›Kundschafterblick‹ – der in der Regel Göttern, Vögeln und Bergsteigern vorbehalten bleibt. Und wie wunderbar ungewohnt ist dieser Blick auf Essex – ein County, das sich nie mehr als 140 Meter über den Meeresspiegel erhebt, durch das man den Blick schweifen lässt, auf das man ihn aber selten herabsenkt.
Das Merkmal tiefer Fremdheit, mit dem Baker die Landschaft ausstattet, ist meiner Meinung nach die bemerkenswerteste Leistung des Wanderfalken. Jeder Schriftsteller, der sich der englischen Landschaft annimmt, steht vor dem Problem, nicht der erste zu sein. Jeder Morgen Land ist bereits beschrieben worden. Es mag so scheinen, dass nichts Originelles, nichts Originäres mehr darin zu finden wäre. Eine Aspikschicht aus Klischees klebt wabbelnd auf dem Land. Und doch wirkt Bakers intensiv bewirtschaftetes und dicht besiedeltes Essex fünfzig Meilen nordöstlich von London wie das geheimnisvollste, ursprünglichste, wildeste und abgelegenste Fleckchen Erde.
Um diese Wirkung zu erreichen, verwendet Baker unter anderem keine konkreten Ortsbezeichnungen. Stattdessen macht der Betrachter – wie Rilke es in seinen Sonetten an Orpheus den Dichtern empfiehlt – die Orte durch eigene Namensgebung lebendig. Er spricht vom »Süden«, »Norden«, »Osten« und »Westen«. Er bewohnt eine Landschaft, die sich am Grundlegensten ausrichtet. Wenn er sich darin orientiert, so ausschließlich anhand geografischer Formen und Merkmale: »landeinwärts« (inland), »die Böschung hinauf« (up the slope of the hill), »die Wälderlinie entlang« (along the line of the woods). Baker entvölkert seine Landschaft auch in mysteriöser Weise. Man sieht einen einzelnen Spaziergänger, Schiffe fahren zur See hinaus, ein roter Traktor durchkämmt ein Feld. Ansonsten herrscht eine unheimliche Leere. Das ist natürlich so, weil Baker die »Menschen« (humans) meidet, denen er sich nicht hinzurechnen möchte. Er gehört jetzt zur Wildnis, bleibt im Schutz von Hecken, von Bäumen, im Dunkel, so wie Jäger und Gejagte es tun müssen.
Alles, was im Wanderfalken vorhanden ist – die Landschaft, der Erzähler, die Vögel, die Sprache –, verhält sich auf unvorhersehbare Art und Weise. Im Vorüberfliegen wenden der Falke und der falkengleiche Blick des Erzählers alles in so seltsame wie schöne Überraschungen. Mit diesem Buch schwingt sich die Phantasie zu einem Flug auf, der nach der Lektüre noch Monate und Jahre andauert.
Robert Macfarlane, London 2014
1John Keats, Richtmaß des Schönen. Briefe. Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1982, Übersetzung: Christa Schuenke
2Ratcliffe, D. A., »The Status of the Peregrine in Great Britain«, in Bird Study 1963 (10), S. 50–90. Ratcliffes Artikel führte zur Regulierung des Einsatzes von DDT in der britischen Landwirtschaft und zu einer leichten Erholung der Wanderfalkenbestände. Bis 1979 waren zwei Drittel der Horste wieder besetzt. In Ländern ohne Pestizid-Regulierung kam es fast zur völligen Ausrottung: In Finnland sank die Population von 2.000 Paaren im Jahr 1950 auf nur noch 16 im Jahr 1975.
Für meine Frau
Im Osten meines Hauses liegt die Anhöhe langgestreckt auf dem Horizont wie der flache Rumpf eines Unterseeboots. Den östlichen Himmel darüber erhellen die Spiegelungen fernen Wassers, und man wähnt Segel dort draußen hinter dem Land. Auf den Hügeln drängen sich Bäume zu dunklen Waldhüten zusammen, doch wenn ich auf sie zugehe, fächern sie langsam auseinander, der Himmel senkt sich zwischen sie, und vereinzelt stehen Eichen und Ulmen, jede in ihrem eigenen weiten Revier aus Winterschatten. Die Stille, die Einsamkeit der Horizonte lockt mich zu ihnen, an ihnen vorbei, hinaus zu wieder anderen. Wie Schichten durchziehen sie die Erinnerung.
Vom Ort aus fließt der Fluss nach Nordosten, biegt um das Nordende der Anhöhe nach Osten und dreht dann nach Süden zur Mündung. Oben ist die Niederung eine flache, offene Ebene, weiter unten wird sie enger und steiler, nahe der Mündung ist sie dann wieder flach und offen. Die Ebene sieht ihrerseits aus wie eine Mündungslandschaft, mit zerstreuten Gehöften als Inseln. Der Fluss fließt langsam, mäandert; er ist zu schmal für das lange, breite Mündungsdelta, in das sich einst ein viel größerer Fluss ergoss, der fast alleinige Abfluss von ganz Mittelengland.
Detaillierte Landschaftsbeschreibungen sind mühsam. Oberflächlich betrachtet ähneln die einzelnen Teile Englands einander sehr. Die Unterschiede sind nur fein, von Heimatliebe gefärbt. Der Boden hier besteht aus Lehm: im Norden des Flusses Blocklehm, im Süden London-Lehm. Auf den Flussterrassen und den höheren Lagen der Anhöhe liegt Kies. Einst Wald, später Weiden, wird das Land heute vor allem zum Landbau genutzt. Die Wälder sind klein, mit wenigen großen Bäumen; zumeist Hochstämme von Eichen, aber auch Niederholz mit Hainbuche und Haselnuss. Viele Hecken sind gerodet worden. Was noch aufragt, ist Weißdorn, Schwarzdorn oder Ulme. Die Ulmen schießen im Lehm in die Höhe; ihre vielgestaltigen Formen konturieren den Winterhimmel. Silberweiden zeigen den Verlauf des Flusses, der Bach ist von Erlen gesäumt. Der Weißdorn wächst gut. Es ist ein Land von Ulme, Eiche und Dorn. Die Menschen, die hier im Lehm geboren wurden, sind grimmig und mürrisch, fangen nicht schnell Feuer, schwelen wie Erlenholz, sind wortkarg, schwer und ernst wie das Land selbst.
Wenn man alle Buchten und Inseln einrechnet, gibt es vierhundert Meilen Gezeitenküste; dieser Landstrich ist das County mit der längsten und zerklüftetsten Küste. Trotz seiner Nähe zum Wasser ist es auch das trockenste County, obwohl es am Rand hinunterbröckelt zu Marsch und Salzwiesen und Wattenmeer. Der trockene, sandige Schlick bei Ebbe sorgt für einen klaren Himmel; die Wolken spiegeln das Wasser und schicken sein Licht landeinwärts.
Die Höfe hier sind ordentlich und bemittelt, und doch liegt ein Anflug von Nachlässigkeit auf ihnen wie herumgeisterndes Gras. Irgendetwas scheint immer zu fehlen, immer fühlt man sich wie vergessen. Sonst gibt es hier nichts; keine Schlösser, keine alten Baudenkmäler, keine Hügel wie grüne Wolken. Es ist nur ein Stück gekrümmte Erde, hartes Winterfeld. Dämmrige, flache, trostlose Landschaften, die allen Kummer vernarben.
Ich habe mich immer danach gesehnt, Teil dieses Lebens, dieses Außen zu sein, dort draußen am Rande der Dinge zu stehen, den menschlichen Firnis mit Leere und Stille von mir abzuspülen, so wie der Fuchs sich in der kalten Weltlosigkeit des Wassers seines Geruchs entledigt, um als Unbekannter in die Stadt zurückzukehren. Das Wandern hat einen Glanz, der mit der Ankunft verblasst.
Erst spät lernte ich die Vögel lieben. Jahrelang habe ich sie nur als ein Huschen am Rande des Blickfelds wahrgenommen. Sie kennen Leid und Freude in einer Schlichtheit, die uns verwehrt ist. Ihr Leben wallt auf in einem Puls, den unsere Herzen niemals erreichen könnten. Sie rasen ins Vergessen. Sie sind alt, noch ehe wir erwachsen sind.
Der erste Vogel, den ich beobachtete, war die Nachtschwalbe, die in der Niederung nistete. Ihr Lied klingt, als würde Wein aus großer Höhe in ein dröhnend nachhallendes Fass geschüttet. Ein Klang, dessen Bouquet als wohlriechender Schwall in den ruhigen Himmel aufsteigt. Im blendenden Tageslicht mag er dünner und trockener erscheinen, doch die Dämmerung macht ihn samtweich und erlesen. Wenn Gesang einen Geruch hätte, röche dieser nach zerstoßenen Trauben und Mandeln und dunklem Holz. Der Klang sprudelt heraus, und nichts davon geht verloren. Der ganze Wald ist von ihm erfüllt. Dann endet er, plötzlich und unerwartet. Im Ohr aber klingt er noch lange als ein sich ausweitendes, verhallendes Echo nach, das sich durch die umliegenden Bäume schlängelt und schwindet. Freudig züngelt die Nachtschwalbe empor in die tiefe Stille zwischen den ersten Sternen und dem langen Abendrot. Leicht und geräuschlos gleitet und flattert, tanzt und hüpft sie dahin. Auf Bildern scheint sie froschhaft verzagt, verströmt eine Aura von Schwermut, als läge sie in Dämmer begraben, gespenstisch, verstörend. In Wirklichkeit sieht sie nie so aus. Durch das abnehmende Licht sieht man nur ihre Silhouette und ihren Flug, unfassbar leicht und fröhlich, grazil und behände wie eine echte Schwalbe.
In der Dämmerung waren immer Sperber in meiner Nähe, wie etwas, das mir auf der Zunge lag, ohne dass ich darauf kam. Blind blitzten ihre schmalen Köpfe durch meinen Schlaf. Ich folgte ihnen viele Sommer lang, aber sie waren schwer zu finden und noch schwerer zu beobachten, da es so wenige und so scheue Tiere waren. Sie lebten ein flüchtiges Guerillaleben. An allen verwilderten, überwucherten Orten versinken nun die gebrechlichen Knochen von Generationen von Sperbern im tiefen Humus der Wälder. Sie waren eine vertriebene Rasse wunderschöner Barbaren, und als sie starben, gab es keinen Ersatz.
Ich habe der moschusartigen Überfülle der Sommerwälder den Rücken gekehrt, in der so viele Vögel den Tod finden. Der Herbst eröffnet die Saison meiner Falkenjagd, der Frühling beendet sie, dazwischen funkelt der Winter wie der Bogen des Orion.
Meinen ersten Wanderfalken sah ich an einem Dezembertag vor zehn Jahren, an der Mündung. Die Sonne rötelte durch den weißen Flussnebel, die Felder funkelten von Raureif, die Boote waren reifüberzogen; nur das leise plätschernde Wasser bewegte sich frei und glänzte. Ich ging den hohen Flussdeich entlang in Richtung Meer. Als die Sonne durch einen klaren Himmel in blendenden Dunst aufstieg, wurde das starre, knirschend weiße Gras feucht und schlaff. An schattigen Stellen blieb der Frost den ganzen Tag, die Sonne war warm, kein Wind wehte.
Ich blieb am Fuß des Deichs stehen und beobachtete die Alpenstrandläufer, die an der Flutlinie fraßen. Plötzlich flogen sie flussaufwärts, und Hunderte von Finken flatterten über mir mit dem panischen ›harr‹ ihres Flügelschlags davon. Allzu langsam dämmerte mir, dass gerade etwas geschah, das ich nicht verpassen durfte. Ich ging den Deich hinauf und sah, dass die verkümmerten Weißdornbüsche auf dem Deichhang landeinwärts voll mit Wacholderdrosseln waren. Ihre spitzen Schnäbel wiesen nach Nordosten, schimpften und klapperten beunruhigt. Ich folgte ihrem Blick und sah einen Falken, der auf mich zuflog. Er drehte nach rechts ab und verschwand im Binnenland. Er sah aus wie ein Turmfalke, nur größer und gelblich gefärbt, der Kopf kegelstumpfförmig, mit längeren Flügeln und mehr Energie und Beschwingtheit im Flug. Erst als er die Stare sah, die in den Stoppelfeldern fraßen, ging er in Gleitflug über, dann fegte er herab und wurde, da die Stare aufstoben, von ihnen verschluckt. Eine Minute später rauschte er direkt über mich hinweg und war in einem einzigen Atemzug im sonnenbeschienenen Dunst verschwunden. Er flog jetzt viel höher als zuvor, holte weit aus, warf sich voran, wobei seine scharfen, nach hinten abgewinkelten Flügel hin und her schnellten wie bei einer Schnepfe.
Das war mein erster Wanderfalke. Seitdem habe ich viele andere gesehen, doch keiner hat diesen bislang an Schnelligkeit und feurigem Temperament übertroffen. Zehn Jahre lang habe ich jeden meiner Winter auf der Suche nach diesem schwungvollen Strahlen verbracht, nach der plötzlichen Leidenschaft und Wucht, die der Wanderfalke vom Himmel herab verbreitet. Zehn Jahre lang habe ich Ausschau gehalten nach diesem wolkenbeißenden Anker in der Luft, dieser fliegenden Armbrust. Das nach Falken hungernde Auge ist unersättlich. Rauschhaft springt es sie an, so wie sich das Auge des Falken auf die appetitanregenden Silhouetten der Möwen und Tauben richtet und weitet.
Um von einem Wanderfalken erkannt und akzeptiert zu werden, muss man stets dieselbe Kleidung tragen, denselben Weg gehen, in seinen Bewegungen dieselbe Abfolge beibehalten. Wie alle Vögel fürchtet er das Unvorhersehbare. Am besten betritt und verlässt man jeden Tag zur selben Zeit dieselben Felder und beschwichtigt das Wilde im Falken mit Verhaltensritualen, die ebenso unveränderlich sind wie seine. Man verbirgt den Schimmer der Augen, verhüllt das weiße Zucken der Hände, bedeckt das nackte, glänzende Gesicht und wird still wie ein Baum. Ein Wanderfalke fürchtet nichts, das klar erkennbar und weit von ihm entfernt ist. Am besten, man nähert sich ihm über offenes Gelände in steter, immer gleicher Bewegung. Man lässt seine Silhouette wachsen, ohne die Konturen zu ändern. Ein Versteck nutzt man nur, wenn es perfekt ist. Man geht allein. Auffälliges Menschentun sollte man beschränken, die feindseligen Augen der Bauernhöfe meiden. Man muss lernen, zu fürchten. Gemeinsam etwas zu fürchten, ist das stärkste Band, das es gibt. Der Jäger muss das werden, was er jagt. Das, was ist, der gegenwärtige Moment, muss die bebende Stärke des in den Baum bohrenden Pfeils haben. Gestern ist matt und monochrom. Vor einer Woche noch waren wir nicht einmal geboren. Ausharren, aushalten, folgen, sehen.
Die Jagd nach dem Falken schärft den Blick. Das Land, das hinter dem Vogel vorbeifliegt, strömt einem in stechenden Farben sich fächernd aus dem Auge. Der schräge Blick nach oben schlägt durch die Schlacke der Oberflächen wie die angeschrägte Axt ins Herz des Baums. Ein lebhafter Ortssinn erwächst wie ein zusätzliches Körperglied. Jede Himmelsrichtung bekommt Farbe und Bedeutung. Der Süden ist hell und versperrt, milchig und dumpf; der Westen verdichtet die Erde in Bäume, zieht sie zusammen, die große Rinderhälfte Englands, die himmlische Keule; der Norden ist offen, kahl, der Weg ins Nichts; der Osten beschleunigt himmelauf, ist lockendes Licht, ein plötzliches, brausendes Meer. Die Zeit wird mit der Blutuhr gemessen. Ist man in Bewegung, nahe beim Falken, hinter ihm her, dann rast der Puls, die Zeit läuft schneller; steht man still und wartet, beruhigt sich der Puls, und langsam ist die Zeit. Wenn man dem Falken nachstellt, bekommt man immer ein beklemmendes Zeitgefühl, die Zeit zieht sich zusammen wie eine sich spannende Uhrfeder. Die Bewegung der Sonne, die ständige Veränderung des Lichts, der zunehmende Hunger und das unerträgliche Metronom des eigenen Herzschlags sind einem zuwider. Sagt man »zehn Uhr« oder »drei Uhr«, so ist das nicht die graue, verschrumpelte Zeit der Städte, sondern die Erinnerung an ein bestimmtes Aufblühen oder Abfallen des Lichts, das zu dieser Zeit, an diesem Ort und an diesem Tag einzigartig war, und diese Erinnerung bleibt für den Jäger so lebendig wie gleißendes Magnesium. Sobald der Falkenjäger die Türschwelle überschreitet, weiß er, wie der Wind weht, fühlt er das Gewicht der Luft. Tief in seinem Innern scheint er den Tagesablauf des Falken zu sehen, der auf den Glanz ihrer ersten Begegnung zuwächst. Zeit und Wetter halten Falken und Beobachter zwischen ihren Wendestangen. Hat der Jäger den Falken aufgespürt, kann er versöhnlich zurückblicken auf all die Unbill und Mühsal des Suchens und Wartens, die alledem vorausging. Alles ist wie neu, als hätten die zerfallenen Säulen einer Tempelruine plötzlich ihre alte Pracht wiedererlangt.
Ich will auch verdeutlichen, wie blutig das Töten vonstatten geht. Allzu oft wurde von Falkenschützern darüber hinweggegangen. Der fleischessende Mensch ist in keiner Weise besser. Es fällt uns so leicht, Totes zu mögen. Das Wort ›Raubtier‹ ist ausgeleiert vor missbräuchlicher Verwendung. Alle Vögel fressen irgendwann in ihrem Leben lebendiges Fleisch. Man denke an die kaltäugige Drossel, diesen drollig hüpfenden Fleischfresser aus dem Vorgarten, der Würmer aufspießt und Schnecken totschlägt. Wir sollten über ihrem Gesang nicht in Sentimentalität versinken und darüber das Töten vergessen, das ihn erst ermöglicht.
Ich habe in meinem Winter-Tagebuch versucht, eine Einheit zu wahren und den Vogel, den Beobachter und den Ort, der beide verbindet, zusammen zu sehen. Alles, was ich beschreibe, habe ich mit eigenen Augen gesehen, wobei ich nicht glaube, dass eine aufrichtige Beschreibung des Gesehenen genügt. Die Gefühle und das Verhalten des Beobachters sind ebenfalls Tatsachen, die wahrheitsgemäß aufgezeichnet werden müssen.
Zehn Jahre lang bin ich dem Wanderfalken gefolgt. Ich war von ihm besessen. Er war mein Gral. Jetzt ist er fort. Die lange Jagd ist zu Ende. Es kommen nur noch wenige Wanderfalken hierher, bald werden es noch weniger sein, vielleicht werden sie nicht überleben. Viele sterben auf dem Rücken liegend, krallen in ihren letzten Zuckungen wie irre in den Himmel, verdorrt und innerlich verbrannt durch den heimtückischen Dreckpollen der Agrarchemie. Ich habe versucht, ehe es zu spät ist, die außergewöhnliche Schönheit dieses Vogels einzufangen und die Wunder der Landschaft festzuhalten, in der er lebte, eines Landes, das in meinen Augen ebenso reich und prächtig ist wie Afrika. Eine vergehende Welt, wie Mars, die noch leicht glimmt.
Am schwierigsten ist es, das zu sehen, was tatsächlich da ist. In Büchern über Vögel sieht man vielerlei Abbildungen von Wanderfalken, begleitet von Texten gespickt mit Informationen. Groß und mittig steht er im blendenden Weiß der Seite und starrt zum Betrachter, kühn, statuenhaft, in bunten Farben. Aber sobald man das Buch zugeklappt hat, verschwindet er vor dem geistigen Auge. Im Vergleich zur unbewegten Nahaufnahme wirkt die Wirklichkeit glanzlos und enttäuschend. Der lebendige Vogel wird niemals so groß und strahlend aussehen. Er wird tief in der Landschaft versunken sein und noch weiter zurückweichen, immer tiefer in sie hinein, bis man ihn fast verliert. Vor der betörenden Lebendigkeit des echten Vogels sind Bilder wie Wachsfiguren. Wanderfalkenweibchen sind zwischen dreiundvierzig und einundfünfzig Zentimeter lang; das entspricht etwa der Unterarmlänge eines Mannes, vom Ellbogen bis zu den Fingerspitzen. Die Männchen, auch Terzel genannt, sind sieben bis zehn Zentimeter kürzer und messen zwischen sechsunddreißig und einundvierzig Zentimeter. Auch im Körpergewicht unterscheiden sich die Geschlechter: Falkinnen wiegen zwischen 790 und 1.130 Gramm, Terzel zwischen 560 und 790 Gramm. Alles am Wanderfalken ist von Tier zu Tier verschieden: Farbe, Größe, Gewicht, Persönlichkeit, Bewegungsmuster: alles.
Ausgewachsene Exemplare sind auf der Oberseite blau, blauschwarz oder grau, auf der Unterseite weißlich mit kreuzweisen grauen Bändern. In ihrem ersten Lebensjahr, und oftmals bis weit ins zweite Lebensjahr hinein, sind die Jungtiere auf der Oberseite braun und auf der Unterseite braungelb – mit senkrechten braunen Streifen. Ihre Brauntönung reicht von Fuchsrot bis Tintenfischschwarz, das Braungelb von Hellcremefarben bis Blassgelb. Die Jungen schlüpfen zwischen April und Juni. Ihre ersten Federn mausern sie frühestens im darauffolgenden März; viele beginnen erst damit, wenn sie schon über ein Jahr alt sind. Manche behalten ihr braunes Federkleid auch noch den ganzen zweiten Winter über, zeigen allerdings ab Januar die ersten Erwachsenenfedern. Die Mauser kann insgesamt bis zu sechs Monate dauern. Durch Wärme wird sie beschleunigt, durch Kälte verlangsamt. Wanderfalken brüten erst mit zwei Jahren, wobei mitunter bereits einjährige Tiere einen Horst suchen und ein Revier verteidigen.
Der Wanderfalke fängt und tötet andere Vögel im Flug. Sein Körper ist stromlinienförmig. Der abgerundete Kopf und die breite Brust verjüngen sich fließend in den schmalen, keilförmigen Schwanz. Die Flügel sind lang und zugespitzt; die langen, schlanken Handschwingen sorgen für Geschwindigkeit, die langen, breiten Unterarmschwingen für die nötige Kraft zum Anheben und Tragen schwerer Beute. Mit dem gekrümmten Schnabel kann er Fleisch von den Knochen rupfen. Am Oberschnabel hat er einen Zahn, der in eine entsprechende Kerbe im Unterschnabel greift. Mit diesem Zahn kann der Wanderfalke durch Drücken und Drehen dem Beutevogel das Genick brechen. Seine Beine sind dick und muskulös, die Zehen lang und kräftig. Auf der Unterseite der Zehen hat er höckrige Polster, dank derer sich die Beute besser greifen lässt. Von seinen vier Zehen ist der todbringende Hinterzeh der längste und kommt auch nur zum Einsatz, um Beute bewusstlos zu schlagen. Die riesigen Brustmuskeln verleihen ihm Kraft und Ausdauer im Flug. Die dunklen Federn um die Augen absorbieren Licht und dämpfen deren Glanz. Das kontrastierende Gesichtsmuster aus Braun und Weiß soll möglicherweise Beutevögel aufscheuchen, damit sie jählings auffliegen. Zudem bietet es den großen, spiegelnden Augen eine gewisse Tarnung.
Die Geschwindigkeit seines Flügelschlags wurde mit 4,4 Schlägen pro Sekunde gemessen. Hier einige Zahlen zum Vergleich: Dohle: 4,3, Krähe: 4,2, Kiebitz: 4,8, Taube: 5,2. Im gleichmäßig flatternden Flug gleicht der Wanderfalke am ehesten einer Taube, aber seine Flügel sind länger und flexibler und ziehen höher über den Rücken. Ein typischer Flug wurde beschrieben als eine Abfolge schneller Flügelschläge, gefolgt von regelmäßigen, langen Gleitphasen mit ausgestreckten Schwingen. In Wirklichkeit gleitet der Wanderfalke nur sehr unregelmäßig, und mindestens die Hälfte der Flüge, die ich gesehen habe, wurde gar nicht oder nur sehr selten von Gleitphasen unterbrochen. Wenn der Falke nicht jagt, wirkt er im Flug manchmal langsam dahinwogend, ist aber immer schneller, als man vermutet. Ich habe seinen Flug auf dreißig bis vierzig Meilen pro Stunde bemessen, langsamer ist er fast nie. Auf der Jagd im Horizontalflug erreichte er Geschwindigkeiten zwischen fünfzig und sechzig Meilen pro Stunde, und das über Entfernungen von einer Meile oder mehr; Geschwindigkeiten über sechzig Meilen pro Stunde erreichte er immer nur für kurze Zeit. Die Geschwindigkeit im Sturzflug liegt zweifellos weit über einhundert Meilen pro Stunde, aber es ist unmöglich, genaue Angaben zu machen. Die Erregung, die einen überfällt, wenn man den Wanderfalken im Sturzflug sieht, lässt sich nicht in Statistiken ausdrücken.
Die Wanderfalken erreichen die Ostküste zwischen Mitte August und November, wobei die meisten gegen Ende September und in der ersten Oktoberhälfte hier ankommen. Sie können in allen Wetterlagen vom Meer heranziehen, meistens jedoch sind es klare, sonnige Tage, wenn ein frischer Nordwest weht. Zugvögel bleiben vielleicht zwei, drei Wochen an einem Ort, ehe sie weiter nach Süden ziehen. Im Zeitraum von Ende Februar bis Mai kehren diese dann zurück. Die Wintergäste fliegen meist Ende März oder Anfang April wieder von hier fort. Die jungen Wanderfalkinnen sind im Herbst die ersten, die ankommen, gefolgt von den jungen Terzeln und dann einigen wenigen ausgewachsenen Tieren. Die meisten erwachsenen Wanderfalken fliegen nicht so weit nach Süden, sondern bleiben in der Nähe ihrer Brutreviere. Diese Reihenfolge, die an der gesamten europäischen Küstenlinie, vom Nordkap bis zur Bretagne, bei der Falkenwanderung vorherrscht, ähnelt dem Vogelzug, der an der Ostküste Nordamerikas beobachtet wurde. Mit einigen beringten Tieren ließ sich nachweisen, dass die wiederkehrenden Immigranten an der englischen Ostküste aus Skandinavien kommen. Hingegen wurden keine Wanderfalken mit britischen Ringen in Südostengland gesichtet. Die Jungtiere, die in der Flussniederung und entlang der Mündungen überwinterten, waren allgemein gesprochen allesamt blasser als die Jungtiere aus britischen Nestern; sie wiesen ein markantes Muster aus hellen, rötlich-braunen Flügeldecken und Armdecken auf, von denen sich die schwarzen Handdecken deutlich absetzten, ähnlich wie bei einem Turmfalken.