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Patrick Rothfuss kehrt nach neun Jahren endlich in die Welt der Königsmörder-Chronik zurück Die atemberaubende und stark erweiterte Neufassung der bisher nur in einer Anthologie erschienenen Novelle »Der Blitzbaum«. Bast liebt Tauschgeschäfte. Gibst du mir, so geb ich dir — das ist ihm so vertraut wie das Ein- und Ausatmen; und ihm bei solchen Verhandlungen zuzusehen, ist, als würde man einem Künstler beim Malen zuschauen. Doch selbst einem Meister kann einmal der Pinsel verrutschen. Als Bast eine Gabe ohne Gegengabe annimmt, gerät seine ganze Welt aus den Fugen. Folgen Sie dem charmantesten Fae der Königsmörder-Chronik einen ganzen Tag lang, von der Morgendämmerung bis nach Mitternacht, während er Ränke schmiedet und umherschleicht, sich tänzelnd in Schwierigkeiten begibt — und sich mit geradezu unheimlicher Anmut wieder daraus befreit. Der Weg der Wünsche ist Basts Geschichte. Er wandelt darin auf den alten Wegen des Erschaffens und Zerstörens und folgt selbst dann noch seinem Herzen, wenn sein Verstand ihm etwas anderes rät. Denn was nützt alle Vorsicht, wenn sie ihn zwar vor den Gefahren, aber auch vor den Freuden des Lebens bewahrt?
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Seitenzahl: 211
Patrick Rothfuss
Der Weg der Wünsche
Aus dem Englischen von Jochen Schwarzer
Klett-Cotta
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Hobbit Presse
www.hobbitpresse.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»The Narrow Road Between Desires« im Verlag DAW, New York 2023
© 2023 by Patrick Rothfuss
Für die deutsche Ausgabe
© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Cover: Birgit Gitschier, Augsburg
unter Verwendung einer Illustration von © Melanie Korte
Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde
Illustrationen: © Nate Taylor
Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-608-98774-4
E-Book ISBN 978-3-608-12255-8
Vorbemerkung
Morgendämmerung
Morgen
Früher Vormittag
Später Vormittag
Mittagszeit
Nachmittag
Mondaufgang
Abend
Sonnenuntergang
Abenddämmerung
Nacht
Mitternacht
Nachwort des Verfassers
Erster Teil: Eine klumpige Brühe ohne Geschmack
Zweiter Teil: Was mir meine Kinder über Geschichten beigebracht haben
Dritter Teil: Ein offener Brief an meine Kinder
Für meine süßen Jungs: Oot und Cutie.
Meine Lieblingsgeschichten sind die, die wir einander erzählen. Ihr seid das Beste in meinem Leben. Ihr hättet einen perfekten Vater verdient, aber ich bin sehr froh, dass ihr stattdessen mich habt.
Pat
Du solltest dieses Buch vielleicht nicht kaufen.
Ich weiß, ein Schriftsteller sollte so etwas nicht sagen, aber ich bin lieber von vorneherein ehrlich zu dir.
Erstens solltest du, wenn du meine anderen Bücher noch nicht gelesen hast, nicht mit diesem beginnen.
Meine ersten beiden Bücher sind die Romane Der Name des Windes und Die Furcht des Weisen. Wenn du mal in meine Werke reinschnuppern möchtest, sind das die Bücher, zu denen du greifen solltest. Sie bilden die beste Einführung in meine Welt. Dieses Buch dreht sich um Bast, eine Figur aus jener Serie von Romanen. Und obwohl ich mir alle Mühe gegeben habe, hier eine in sich geschlossene Geschichte zu erzählen, wirst du, wenn du als erstes meiner Bücher dieses liest, viele Zusammenhänge wahrscheinlich nicht verstehen.
Zweitens solltest du – auch wenn du meine anderen Bücher bereits gelesen hast – wissen, dass diese Geschichte in einer frühen Fassung schon einmal an anderer Stelle erschienen ist. Das war vor langer, langer Zeit. Vor Covid. Als Twitter noch Spaß gemacht hat und die Welt noch grün und jung war. Mit anderen Worten: vor nicht ganz zehn Jahren.
Damals habe ich eine frühe Version dieser Geschichte unter dem Titel Der Blitzbaum in der Anthologie Der Bruder des Königs veröffentlicht (im englischen Original hieß sie Rogues). Da ich in meiner Nachbemerkung am Ende dieses Buchs etwas darüber erzähle, möchte ich an dieser Stelle nur sagen, dass die Version, die du hier in Händen hältst, eine vollkommen andere ist: Ich habe sie von Grund auf umgeschrieben und sie um über fünfzehntausend Wörter erweitert.
Wenn du Der Blitzbaum damals gelesen hast, kennst du diese Geschichte also in groben Zügen. Ich habe vieles daran geändert und vieles hinzugefügt, aber das Grundgerüst ist noch das Gleiche. Falls du also etwas vollkommen Neues suchst, wirst du hier nicht fündig werden.
Wenn du andererseits aber mehr über Bast erfahren möchtest, wird dir in diesem Buch viel geboten. Wenn du dich für die Tauschgeschäfte mit einem Fae interessierst und für die geheimen Wünsche, die man im Herzen tragen kann … Wenn du neugierig bist auf eine Magie, die in meinen anderen Büchern nur andeutungsweise vorkommt … Wenn du mehr darüber erfahren möchtest, was Bast in seiner freien Zeit in dem kleinen Ort Newarre so treibt …
Tja, dann ist dieses Buch vielleicht doch etwas für dich.
Kunstfertigkeit
Bast hatte es fast schon zur Hintertür des Wirtshauses zum WEGSTEIN hinausgeschafft.
Genau genommen befand er sich bereits draußen: Er hatte beide Füße über die Schwelle gesetzt und die Tür bis auf einen Spalt hinter sich geschlossen.
Dann aber hörte er die Stimme seines Herrn und erstarrte. Er wusste genau, dass er keinerlei Lärm gemacht hatte. Er war mit jedem Laut, den das Wirtshaus von sich geben konnte, aufs Innigste vertraut und hatte nicht nur die simplen Tricks angewandt, die ein Kind für clever halten würde: die Schuhe in die Hand nehmen, knarrende Türen vorsorglich offen lassen, möglichst über den Teppich gehen …
Nein, das beherrschte Bast viel besser. Er konnte Räume durchqueren, ohne die Luft darin nennenswert in Bewegung zu versetzen. Er wusste, welche Treppenstufen leise ächzten, wenn es in der Nacht zuvor geregnet hatte, welche Fenster sich leicht öffnen ließen und welche Fensterläden dem Wind ausgesetzt waren. Er wusste, wann der Umweg über den Dachfirst leiser war als der direkte Weg den oberen Flur entlang.
Manchen Leuten hätte das genügt. Bast aber fand derlei Gelingen – wenn er es überhaupt mal zur Kenntnis nahm – sterbensöde. Sollten sich andere doch mit bloßem Können zufriedengeben. Bast hingegen? Der war ein Künstler.
Und deshalb wusste er auch, dass echte Stille im Grunde etwas Widernatürliches war. Dem achtsamen Ohr klang sie wie ein Messer im Dunkeln.
Daher spielte Bast, wenn er durch das leere Wirtshaus schlich, auf den Dielen wie auf einem Instrument. Ein Ächzen, ein Innehalten, ein leises Knacken, ein Knarren. Laute, die ein schlaftrunkener Gast eventuell bemerkt hätte, die ein Bewohner aber nicht einmal wahrnahm – gingen sie doch auf in dem behaglichen Hintergrundgeräusch, mit dem sich das Holzgefüge des Hauses immerfort setzte. Es waren Laute, die sich ebenso leicht ignorieren ließen wie die Regungen eines geliebten Menschen, der neben einem schlief.
Bast wusste all das und richtete den Blick auf die Tür. Obwohl er ihre Messingangeln stets gut geölt hielt, verlagerte er nun seinen Griff und hob die Tür vorsichtshalber ein wenig an. Erst dann schloss er sie ganz langsam. Selbst ein Nachtfalter hätte mehr Lärm gemacht.
Nun stand Bast aufrecht da und grinste; sein Gesicht wirkte ebenso hübsch wie durchtrieben und wild. In diesem Moment sah er weniger wie ein erwachsener Mann und mehr wie ein ungezogener Junge aus, der die Mondscheibe vom Himmel gestohlen hat und sie nun verspeisen will, als wäre sie ein flacher fahlsilberner Kuchen. Sein Grinsen, scharf, weiß, gefährlich, hatte dabei selbst etwas von einer schmalen Mondsichel.
»Bast!«, tönte es wieder aus dem Wirtshaus, lauter diesmal. Es klang allerdings nicht ungehobelt, nein, sein Herr brüllte nicht wie ein Bauer, der seine Rinder ruft. Aber seine Stimme trug, wenn er wollte, weit wie ein Jagdhorn. Bast fühlte, wie sie an ihm zog, als hätte sich eine Hand um sein Herz gelegt.
Und so öffnete er mit einem Seufzer die Tür und ging mit forschen Schritten zurück ins Haus. Wenn er ging, sah es aus, als tanzte er. Bast war dunkel, groß und schön. Und selbst wenn er finster dreinschaute, war sein Gesicht immer noch hübscher als das anderer, wenn sie lächelten. »Ja, Reshi?«, rief er in munterem Ton.
Kurz darauf betrat der Gastwirt die Küche. Er trug eine saubere weiße Schürze und hatte rotes Haar. Aus seiner Miene sprach die behäbige Gelassenheit gelangweilter Gastwirte allüberall. Trotz der frühen Stunde sah er müde aus.
Er reichte Bast ein in Leder gebundenes Buch. »Das hättest du fast vergessen«, sagte er ohne Anflug von Sarkasmus.
Bast stellte eine überraschte Miene zur Schau. »Oh! Danke, Reshi!«
»Keine Ursache, Bast.« Der Mund des Wirts verzog sich zu einem Lächeln. »Und wenn du gehst: Könntest du bitte ein paar Eier mitbringen?«
Bast nickte und klemmte sich das Buch unter den Arm. »Sonst noch etwas?«, fragte er.
»Vielleicht auch ein paar Karotten? Ich denke, wir machen heute Abend Eintopf. Es ist Felling, also sollten wir uns auf allerhand Kundschaft einstellen.« Seine Mundwinkel hoben sich ein wenig, als er das sagte.
»Eier und Karotten«, wiederholte Bast pflichtbewusst.
Der Wirt wollte sich schon abwenden und hielt dann noch einmal inne. »Ach, übrigens: Der Sohn der Tilmans war gestern hier und hat dich gesucht.«
Bast neigte mit fragender Miene den Kopf zur Seite.
»Ich glaube, er ist Jessoms Sohn?«, fragte der Wirt und hielt eine Hand auf Brusthöhe. »Dunkles Haar? Sein Name war …« Er kramte sichtlich in seinem Gedächtnis.
»Rike.« Bast ließ den Namen fallen wie einen heißen Eisenklumpen und fuhr dann schnell fort, in der Hoffnung, dass sein Herr es nicht bemerkt hatte. »Tilmans sind die Holzfäller weiter südlich. Die haben keine Frauen oder Kinder. War es Rike Williams? Dunkle Augen. Schmuddelig?« Bast überlegte kurz, wie er den Jungen weiter beschreiben sollte. »Wirkte er nervös? So als wollte er zum Ausdruck bringen, dass er auf keinen Fall etwas klauen würde?«
Bei Letzterem hellte sich das Gesicht des Wirts auf, und er nickte. »Er hat gesagt, dass er dich sucht, aber eine Nachricht wollte er nicht hinterlassen …« Er hob eine Augenbraue und sah Bast vielsagend an.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, was er von mir will«, sagte Bast und wirkte dabei ganz aufrichtig. Und er war es auch. Bast wusste jedoch besser als jeder andere, was dieser Anschein wert war. Es war nicht alles Gold, was glänzte, und manchmal lohnte sich ein wenig Aufwand, um auch so zu wirken, wie man wirklich war.
Der Wirt nickte, gab noch einen nichtssagenden Laut von sich und ging in den Schankraum zurück. Falls er noch etwas sagte, bekam Bast es nicht mehr mit, denn er lief bereits leichtfüßig durch das taufeuchte Gras und das bezaubernde blaugraue Licht der Morgendämmerung.
Embril
Als Bast eintraf, lugte die Sonne schon über die Bäume und färbte die wenigen zarten Wolken hellrosa und violett.
Zwei Kinder warteten bereits auf der Lichtung. Sie hielten sich respektvoll von der Hügelkuppe fern und spielten auf dem großen Graustein, der halb umgestürzt am Fuß des Hügels lag. Sie kletterten an einer Seite hinauf und sprangen lachend ins hohe Gras hinab.
Da Bast wusste, dass sie ihn beobachteten, ließ er sich beim Ersteigen des kleinen Hügels Zeit. Auf dessen Kuppe stand der Baum, den die Kinder den »Blitzbaum« nannten – von dem allerdings nur noch ein massiver, astloser Stamm übrig war. Ursprünglich musste der Baum einmal sehr groß gewesen sein, denn selbst dieser zerschmetterte Rest war noch so hoch, dass Bast kaum bis ans obere Ende reichen konnte.
Die Rinde war längst abgefallen, und die Sonne hatte das kahle Holz im Laufe der Jahre ausgebleicht. Nur ganz oben am Stamm war es auch nach all der Zeit noch tiefschwarz und schartig. Von der höchsten Stelle des Stammrests hinab hatte der Blitz ein wildes, dunkles, sich gabelndes Abbild seiner selbst in das knochenfahle Holz gebrannt, als wollte er sein Werk signieren.
Bast legte die Fingerspitzen der linken Hand an den glatten Stamm und schritt langsam um den Baum herum. Er ging gegen den Uhrzeigersinn, gegen den Lauf der Welt. Den Weg des Zerstörens. Dreimal.
Dann wechselte er die Hand und schritt in entgegengesetzter Richtung um den Baum herum, folgte also dem Lauf der Sonne. Drei langsame Kreise im Uhrzeigersinn. Der Weg des Erschaffens. So ging er, während die Kinder ihm zuschauten, hin und her, als wäre der Baum eine Spule, deren Garn er auf- und abwickelte.
Schließlich setzte sich Bast und lehnte sich mit dem Rücken an den Baum. Er legte das Buch auf einem nahen Stein ab, und die aufgehende Sonne tauchte die geprägte Goldschrift des Titels in ihr rotes Licht: Celum Tinture. Dann zerstreute er sich damit, Steinchen in den Bach zu werfen, der dem Graustein gegenüber die Hügelflanke durchschnitt.
Es dauerte eine Minute, dann kam ein pausbäckiges blondes Mädchen den Hügel heraufgestapft. Sie hieß Brann und war die jüngste Tochter des Bäckers. Sie roch nach Schweiß und Brot und … noch etwas anderem. Etwas, das nicht hierhergehörte.
Die langsame Annäherung des Mädchens hatte etwas von einem Ritual. Sie erstieg den kleinen Hügel und blieb kurz stehen. In diesem Moment waren nur noch die anderen Kinder zu hören, die sich unten auf der Lichtung wieder ihrem Spiel widmeten.
Schließlich wandte Bast den Kopf und musterte das Mädchen. Sie war höchstens neun Jahre alt und ein wenig besser gekleidet und wohlgenährter als die meisten anderen Kinder des Dorfes. Sie hielt ein weißes Tuch in der Hand.
Dann trat das Mädchen ängstlich schluckend einen Schritt vor. »Ich brauche eine Lüge«, sagte sie.
Bast nickte mit ungerührter Miene. »Und was für eine?«
Brann öffnete zaghaft die Hand, und dabei kam auf dem weißen Tuch ein roter Fleck zum Vorschein. Das Tuch, das sich nun als behelfsmäßiger Verband herausstellte, haftete auch ein wenig an der Hand. Bast nickte, und ihm wurde klar, was er da zuvor gerochen hatte.
»Ich hab mit den Messern meiner Mama gespielt«, sagte Brann verlegen.
Bast streckte eine Hand aus, und das Mädchen kam ein paar Schritte näher. Bast löste mit seinen langen Fingern das Tuch und untersuchte die Schnittwunde. Sie verlief in Daumennähe über den Handteller und war nicht allzu tief. »Tut es sehr weh?«
»Nicht so weh wie die Tracht Prügel, die ich kriege, wenn sie rausfindet, dass ich mit ihren Messern gespielt habe«, murmelte Brann.
Bast sah sie an. »Hast du das Messer sauber gemacht und zurückgelegt?«
Brann nickte.
Bast tippte sich nachdenklich an die Lippen. »Du dachtest, du hättest eine große schwarze Ratte gesehen. Die hat dir Angst eingejagt. Darum hast du ein Messer nach ihr geworfen, und dabei hast du dich geschnitten. Gestern hat dir eins der anderen Kinder eine Geschichte erzählt, in der es darum ging, dass Ratten den Soldaten, während sie schlafen, die Ohren und Zehen abknabbern. Davon hast du Albträume bekommen.«
Brann schauderte. »Und wer hat mir diese Geschichte erzählt?«
Bast tat die Frage mit einem Achselzucken ab. »Such dir jemanden aus, den du nicht magst.«
Das Mädchen grinste boshaft.
Nun begann Bast, die einzelnen Punkte an den Fingern abzuzählen. »Schmier ein wenig frisches Blut an das Messer, bevor du es wirfst.« Er zeigte auf das Tuch, das sich das Mädchen um die Hand gewickelt hatte. »Das musst du loswerden. Das Blut darauf ist schon trocken und offensichtlich nicht frisch. »Kannst du ordentlich weinen?«
Das schien das Mädchen ein wenig in Verlegenheit zu versetzen, und sie schüttelte den Kopf.
»Streu dir etwas Salz in die Augen«, sagte Bast ganz sachlich. »Und vielleicht auch ein wenig Pfeffer in die Nase. Sieh zu, dass du ganz verrotzt und verheult bist, bevor du zu deinen Eltern rennst. Und dann …«, sagte er und hob mahnend den Zeigefinger, »solltest du möglichst nicht weinen. Nicht mal schniefen oder blinzeln. Wenn sie dich nach deiner Hand fragen, sagst du deiner Mama, dass es dir leidtut, falls du ihr Messer kaputt gemacht hast.«
Brann hörte zu und nickte, erst langsam, dann schneller. Schließlich lächelte sie. »Das ist gut.« Sie schaute sich nervös um. »Was bin ich dir schuldig?«
»Kennst du irgendwelche Geheimnisse?«, fragte Bast.
Die Bäckerstochter dachte kurz nach. »Die Witwe Creel hat was mit dem Mann der Müllerin …?«, versuchte sie es.
Bast winkte energisch ab, als wollte er eine Fliege verscheuchen. »Schon seit Jahren. Das ist kein Geheimnis«, sagte er abweisend. »Das weiß jeder, sogar seine Frau.« Er rieb sich die Nase. »Was hast du denn in deinen Taschen?«
Das Mädchen kramte darin herum und zeigte es dann mit ihrer unversehrten Hand vor: ein Knäuel Schnur, zwei Eisen-Scherflein, ein flacher grüner Stein, ein blauer Knopf und ein Vogelschädel.
Bast nahm die Schnur und hob mit spitzen Fingern den grünen Stein unter den anderen Dingen hervor, wobei er sehr darauf achtete, die Scherflein nicht zu berühren. Der Stein war unregelmäßig geformt und mit dem Gesicht einer schlafenden Frau verziert. »Ist das etwa ein Embril?«, fragte er mit erstauntem Blick.
Brann zuckte die Achseln. »Sieht für mich wie ein Teil von einem Telgim-Set aus. Das nimmt man zum Wahrsagen.«
Bast hielt den Stein ins Licht. »Wo hast du den her?«
»Von Rike, wir haben getauscht«, sagte Brann. »Er meinte, es wäre ein Ordal, aber …«
Basts Augen verengten sich, als der Name des Jungen fiel, und sein Mund verzog sich zu einem Strich.
Da bemerkte Brann ihren Fehler und verstummte. Ihr Blick huschte ängstlich hin und her. »Äh …« Sie fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. »Du hast mich gefragt …«
Mit säuerlicher Miene sah Bast auf den Stein hinab, als hätte der mit einem Mal angefangen zu stinken. Kurz spielte er mit dem Gedanken, ihn aus reiner Bosheit in den Bach zu werfen.
Dann überlegte er es sich jedoch anders und schnippte ihn stattdessen wie eine Münze empor. Er fing ihn wieder auf, und als er die Hand öffnete, lag die andere Seite des Steins oben. Die Frau hatte die Augen geöffnet und lächelte.
Bast rieb den Stein nachdenklich zwischen den Fingern. »Dann also den hier. Und jeden Tag ein süßes Brötchen, eine ganze Spanne lang.«
»Den Emerel – oder was es auch ist«, sagte Brann, »und die Schnur, die du genommen hast, und ich bringe dir heute noch ein Brötchen, und zwar ein ofenwarmes.« Brann blickte entschlossen, hob aber zum Ende des Satzes hin doch ein wenig die Stimme an.
»Zwei Brötchen«, konterte Bast. »Aber nur welche mit Ahornsirup – nicht mit Melasse.«
Nach kurzem Zögern nickte das Mädchen. »Und was ist, wenn ich trotzdem eine Tracht Prügel bekomme?«, fragte sie.
»Das ist deine Angelegenheit«, sagte Bast mit einem Achselzucken. »Du wolltest eine Lüge. Ich habe dir eine gute Lüge geliefert. Wenn du willst, dass ich dir persönlich aus der Patsche helfe, wäre das ein ganz anderes Geschäft.«
Die Bäckerstochter sah ein wenig enttäuscht drein, machte dann aber kehrt und ging den Hügel hinab.
Als Nächster kam einer der Alard-Jungs den Hügel herauf. Es gab unzählige von ihnen, die aus mehreren Familien stammten, die sich beständig neu miteinander verquickten. Sie sahen sich alle so ähnlich, dass Bast sie kaum auseinanderhalten konnte.
Der hier schaute so wütend, wie nur zehnjährige Jungen es können. Er trug zerlumpte, selbstgenähte Sachen, hatte eine aufgeplatzte Lippe und eine Blutkruste um ein Nasenloch herum. »Ich hab meinen Bruder hinter der alten Mühle erwischt, wie er Grett geknutscht hat!«, sagte der Junge, als er oben angelangt war, ohne Basts Frage abzuwarten. »Und dabei wusste er genau, dass ich Grett mochte!«
Bast breitete mit einem hilflosen Achselzucken die Hände.
»Rache!«, spie der Junge.
»Rache vor allen anderen?«, fragte Bast. »Oder heimliche Rache?«
Der Junge legte sich kurz die Zungenspitze an die aufgeplatzte Lippe. »Heimliche«, sagte er leise.
Diese Geste half Bast auf die Sprünge: Der Junge hieß Kale. Er hatte einmal bei einem Tauschgeschäft versucht, Bast zwei Frösche anzudrehen für »einen Fluch, der jemanden für immer und ewig furzen lässt«. Die Verhandlungen waren zusehends hitzig verlaufen und letztlich gescheitert. Der Junge besaß ungefähr die Intelligenz einer mittelgroßen Schale Hafergrütze, doch Bast kam nicht umhin, ihn auf widerwillige Weise zu bewundern.
»Und wie groß soll die Rache sein?«, fragte Bast.
Der Junge grübelte einen Moment lang und hielt dann die Hände etwa einen halben Meter auseinander. »So groß.«
»Hm«, machte Bast. »Und auf einer Skala von Maus bis Stier?«
Der Junge rieb sich kurz die Nase. »Ungefähr so wie eine Katze«, sagte er. »Oder vielleicht eher wie ein Hund. Aber nicht wie die Hunde vom verrückten Martin. So wie die Hunde von den Bentons.«
Bast legte für einen Moment nachdenklich den Kopf in den Nacken. »Also gut«, sagte er. »Pinkle in seine Schuhe.«
Der Junge blickte skeptisch. »Das klingt aber nicht nach Rache groß wie ein Hund.«
Bast machte mit der Hand, in der er den grünen Stein hielt, eine beschwichtigende Geste. »Du pinkelst in einen Becher, und den versteckst du. Lass ihn ein oder zwei Tage lang stehen. Und eines Abends, wenn er seine Schuhe vor dem Kamin abgestellt hat, gießt du die Pisse hinein. Aber mach keine Pfütze, gieß nur so viel hinein, dass sie ein wenig feucht werden. Bis zum nächsten Morgen sind sie dann wieder trocken und werden wahrscheinlich nicht mal stinken …«
»Und was soll das?«, platzte Kale heraus und riss empört die Hände hoch. »Das ist ja nicht mal Rache groß wie ein Floh!«
Bast fuhr ungerührt fort, als hätte der Junge nichts gesagt. »Das machst du an drei Abenden hintereinander. Lass dich nicht dabei erwischen. Und übertreib es nicht. Mach die Schuhe immer nur so feucht, dass sie bis zum Morgen wieder trocken sind.«
Kale war drauf und dran, ihn erneut zu unterbrechen, doch Bast hielt ihn mit erhobener Hand zurück. »Jedes Mal wenn er dann anschließend in seinen Schuhen schwitzt, wird er ein wenig nach Pisse stinken.« Bast beobachtete Kales Gesicht, während er fortfuhr. »Er tritt in eine Pfütze? Er stinkt ein wenig nach Pisse. Seine Füße werden vom Morgentau feucht? Er stinkt ein wenig nach Pisse.«
»Nur ein wenig?«, fragte Kale verblüfft.
Bast seufzte theatralisch. »Dadurch wird er es anfangs überhaupt nicht bemerken, und wenn doch, wird er nicht verstehen, woher es kommt. Und weil es nur ein wenig stinkt, wird er sich daran gewöhnen.«
Der Junge schaute nachdenklich.
»Und du weißt ja: Abgestandene Pisse stinkt im Laufe der Zeit immer schlimmer. Er selbst wird sich daran gewöhnen, aber andere Leute nicht.« Nun grinste Bast den Jungen an. »Und ich denke mal, Grett wird einen Jungen, der sich ständig einpinkelt, schon bald nicht mehr küssen mögen.«
Auf dem Gesicht des Jungen machte sich Bewunderung breit, als ginge darauf die Sonne auf. »Das ist echt das Fieseste, was ich je gehört habe«, sagte er.
Bast versuchte, sich bescheiden zu geben, scheiterte aber. »Hast du auch etwas für mich?«
»Ich habe einen wilden Bienenstock entdeckt«, sagte der Junge.
»Das ist doch schon mal ein Anfang«, sagte Bast. »Und wo?«
»Hinter dem Hof der Orissons und am Kleinbach vorbei.« Der Junge hockte sich hin und zeichnete mit ein paar schnellen Strichen eine erstaunlich deutliche Wegskizze in den Boden. »Siehst du?«
Bast nickte. »Sonst noch etwas?«
»Na ja …« Der Junge hob den Blick und schaute seitwärts. »Ich weiß, wo der verrückte Martin seine Brennerei hat.«
Bast hob die Augenbrauen. »Tatsächlich?«
Der Junge trat einen Schritt beiseite, hockte sich wieder hin und erweiterte die Wegskizze. »Du musst den Bach an diesem Abschnitt zweimal überqueren«, sagte er. »Dann musst du um diesen großen Felsen herumgehen, denn wie es aussieht, kann man da nicht raufklettern. Aber es gibt einen kleinen Pfad, den man auf den ersten Blick nicht sieht.« Er zeichnete noch eine Linie in den Boden und sah dann mit zusammengekniffenen Augen zu Bast hinauf. »Sind wir damit quitt?«
Bast prägte sich die Wegskizze ein und verwischte sie anschließend mit der Hand. »Ja, wir sind quitt.«
»Ich soll dir auch noch was ausrichten«, sagte der Junge, erhob sich und klopfte sich die Knie ab. »Rike will dich sehen.«
Basts Mund verzog sich wieder zu einem blutleeren Strich. »Rike kennt die Regeln«, sagte Bast in grimmigem Ton, und allein schon den Namen auszusprechen, schien sich für ihn anzufühlen, als steckte ihm eine Fischgräte in der Kehle fest. »Sag ihm: nein.«
»Ich hab ihm schon gesagt, dass du nicht willst«, sagte Kale mit einem übertriebenen Achselzucken. »Aber dann sage ich es ihm eben noch mal, wenn ich ihn sehe …«
~
Etwas später klemmte sich Bast das Celum Tinture unter den Arm und brach zu einem ausgedehnten Spaziergang auf. Er entdeckte wilde Himbeeren und naschte sie frisch vom Strauch. Dann schwang er sich über einen Zaun, um aus dem Brunnen der Ostlars zu trinken und ihren Hund zu streicheln. Er fand einen interessanten Stock und stocherte damit in der Gegend herum – bis er damit ein Hornissennest herunterstieß, das doch nicht so verlassen war, wie er gedacht hatte. Auf seiner wilden Flucht verlor er den Stock, rutschte auf einem Hang voller Geröll aus und riss sich dabei am Knie die Hose auf.
Schließlich kletterte Bast auf einen Felsen, auf dem sich eine uralte, weitverzweigte Stechpalme in den Himmel reckte. Er verstaute das in Leder gebundene Buch sorgsam in einer Astgabel und griff vorsichtig in eine runde Vertiefung in dem Baumstamm. Kurz darauf zog er ein kleines dunkles Bündel daraus hervor, das in seine Handfläche passte.
Als er das Bündel auseinanderfaltete, entpuppte es sich als Beutel aus weichem, dunklem Leder. Bast löste die Kordel und ließ den glatten grünen Embril in den Beutel gleiten. Ein gedämpftes Klack war zu hören wie von Murmeln, die aneinanderprallen.
Er wollte den Beutel schon zurücklegen, entschied sich dann aber anders und ließ sich im Schneidersitz vor dem Baum nieder. Indem er Laub und Zweige beiseiteschob, räumte er ein Stück Erdboden frei. Er fuhr mit einer Hand in den Beutel und rührte langsam darin herum – wobei die darin enthaltenen Holz-, Stein- und Metalldinge ein sonderbares, vielgestaltiges Geräusch von sich gaben.
Bast schloss die Augen, hielt den Atem an, zog etwas aus dem Beutel hervor und warf es in die Luft.
Er öffnete die Augen wieder und sah vier Embrils zu Boden fallen. Drei von ihnen bildeten dort ein ungefähres Dreieck: ein Stück helles Horn, in das eine Mondsichel geschnitzt war, ein Tonscheibchen mit einer stilisierten Welle darauf und ein Stück einer Kachel, das mit einem tanzenden Flötenspieler bemalt war. Außerhalb des Dreiecks lag etwas, das wie eine halbe Eisenmünze aussah, aber keine war.
Bast sah mit leicht gerunzelter Stirn auf all das hinab. Dann schloss er die Augen wieder, hielt den Atem an, zog noch etwas aus dem Beutel und warf es in die Luft. Dieser Embril landete zwischen denen aus Horn und Ton: ein flaches weißes Holzstück, in das eine Spindel geschnitzt war, und zwar so, dass die Holzmaserung an der entsprechenden Stelle wie aufgewickelter Faden wirkte.