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Die Universität von Imre ist weithin bekannt für ihre Gelehrsamkeit. Die besten Köpfe zieht sie an, die Rätsel der Wissenschaft, des Handwerks und der Alchemie zu entschlüsseln. Aber tief unter dem lebendigen Treiben in ihren Hallen erstreckt sich ein Netz verlassener Räume und alter Gänge. Im Herzen dieses höhlenartigen Labyrinths lebt das Mädchen Auri. Das »Unterding« ist ihr Zuhause. Die kalte, trügerische Rationalität der Menschen, die über ihr leben, hat sie hinter sich gelassen und sie dringt tief in das Geheimnis der Dinge ein. Eine Geschichte voll betörender Bilder und magischer Spuren, wie sie nur Patrick Rothfuss erzählen kann. »Die Musik der Stille« ist nicht der dritte Band der Königsmörder-Chronik, aber fügt der Welt der Königsmörder-Chronik eine ganz eigene, faszinierende Geschichte hinzu.
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Seitenzahl: 173
Patrick Rothfuss
Die Musik der Stille
Aus dem Englischen vonJochen Schwarzer
Mit Illustrationen vonMarc Simonetti
Klett-Cotta
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Hobbit Presse
www.hobbitpresse.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»The Slow Regard of Silent Things« im Verlag DAW, New York 2014
© 2014 by Patrick Rothfuss
Illustrationen: © Marc Simonetti/Bragelonne 2014
Für die deutsche Ausgabe
© 2015, 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: © Birgit Gitschier, Augsburg
Unter Verwendung einer Illustration von © Melanie Miklitza, Inkcraft
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Printausgabe: ISBN 978-3-608-96020-4
E-Book: ISBN 978-3-608-10772-2
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Vorbemerkung
Am tiefsten Grund der Dinge
Was ein Blick nach sich ziehen kann
Schön und kaputt
Ein ungewöhnlicher, angenehmer Ort
Leere
Bedrohliche Dunkelheit
Asche und Glut
Alle ihrem Wunsch gemäß
In Würde durchs Leben gehen
Das verborgene Herz der Dinge
Coda
Nachbemerkung
Für Vi, ohne die es diese Geschichte vielleicht nicht gäbe.
Und für Tunnel-Bob, ohne den es Auri nicht gäbe.
Du solltest dir dieses Buch vielleicht nicht kaufen.
Ich weiß, ein Schriftsteller sollte so etwas nicht sagen. Den Marketingleuten wird das gar nicht gefallen, und meine Lektorin bekommt wahrscheinlich einen Wutanfall. Ich aber bin lieber von vorneherein ehrlich zu dir.
Erstens solltest du, wenn du meine anderen Bücher noch nicht gelesen hast, nicht mit diesem hier beginnen.
Meine ersten beiden Bücher sind die Romane Der Name des Windes und Die Furcht des Weisen. Wenn du mal in meine Werke reinschnuppern magst, sind das die Bücher, zu denen du greifen solltest. Sie bilden die beste Einführung in meine Welt. Dieses Buch hier dreht sich um Auri, eine Figur aus jener Serie von Romanen. Wenn dir die Zusammenhänge aus den beiden anderen Büchern nicht klar sind, wirst du hier vieles wahrscheinlich nicht verstehen.
Zweitens möchte ich dich, auch wenn du meine anderen Bücher gelesen hast, fairerweise warnen, dass dies eine etwas seltsame Geschichte ist. Ich will nicht zu viel verraten und nur so viel sagen: Diese Geschichte ist… anders. Ihr fehlt vieles von dem, was man von einer guten Geschichte normalerweise erwartet. Und falls du nach einer Fortsetzung des Handlungsstrangs um Kvothe suchst, wirst du sie hier nicht finden.
Wenn du andererseits aber mehr über Auri erfahren möchtest, wird dir in dieser Geschichte viel geboten. Wenn du Worte, Geheimnisse, Rätsel liebst… Wenn du dich für das Unterding und für Alchemie interessierst… Wenn du mehr über die verborgenen Winkel meiner Welt wissen willst…
Tja, dann ist dieses Buch vielleicht doch etwas für dich.
Als Auri aufwachte, wusste sie, dass sie noch sieben Tage hatte.
Ja, sie war sich da ziemlich sicher. Am siebten Tag würde er sie besuchen kommen.
Eine lange Zeit. Lange, wenn man wartete. Aber gar nicht so lange bei all dem, was noch zu tun war. Nicht, wenn sie gewissenhaft zu Werke ging. Nicht, wenn sie bereit sein wollte.
Als sie die Augen aufschlug, sah Auri den Hauch eines schummrigen Lichtscheins. Das war eine Seltenheit, denn sie befand sich in Mantel, ihrem allerprivatesten Ort. Dann war es also ein weißer Tag. Ein tiefer Tag. Ein Findetag. Sie lächelte, und Aufregung perlte in ihrer Brust.
Es war gerade hell genug, um die blasse Form ihres Arms zu erkennen, während ihre Finger die Tropfflasche auf ihrem Bettbord fanden. Sie schraubte sie auf und ließ mit der Pipette einen Tropfen in Foxens Schälchen fallen. Es dauerte einen Moment, und dann leuchtete er in einem matten Abenddämmerungsblau auf.
Vorsichtig schob Auri ihre Bettdecke beiseite, sodass sie den Fußboden nicht berührte. Sie schlüpfte aus dem Bett, der Steinboden warm unter ihren Füßen. Ihre Waschschüssel stand auf dem Tisch in der Nähe ihres Betts, und daneben lag ein Scheibchen ihrer allerliebsten Seife. Nichts von alledem hatte sich im Laufe der Nacht geändert. Das war gut.
Auri ließ mit der Pipette einen Tropfen direkt auf Foxen fallen. Sie zögerte und fügte lächelnd noch einen dritten Tropfen hinzu. Keine halben Sachen an einem Findetag. Dann hob sie ihre Bettdecke auf und faltete sie sorgsam zusammen, wobei sie sich ein Ende unters Kinn klemmte, damit die Decke nicht über den Fußboden strich.
Währenddessen wurde Foxens Licht immer heller: Erst ein winziges Flackern, ein Leuchtpünktchen, ein ferner Stern. Dann begann er zusehends zu irisieren, war nun glühwürmchenhell. Und seine Helligkeit wuchs noch weiter an, bis er vor Licht pulsierte. Schließlich ruhte er stolz in seinem Schälchen und sah aus wie ein blaugrünes, münzgroßes Kohlenglutstück.
Auri lächelte ihm zu, während er endgültig erwachte und ganz Mantel mit seinem reinsten, hellsten blauweißen Licht erfüllte.
Dann schaute sich Auri um. Sie sah ihr vollkommenes Bett. Genau die richtige Größe für sie. Sie sah ihren Stuhl. Ihre Zedernholzkiste. Ihren winzigen silbernen Becher.
Der Kamin war leer. Und auf dem Kaminsims ruhten: ihr gelbes Blatt, ihre steinerne Schatulle, ihr graues Vorratsglas mit duftendem getrocknetem Lavendel. Kein Ding war nicht es selbst. Nichts war nicht so, wie es sein sollte.
Drei Wege führten aus Mantel heraus. Es gab einen Korridor, einen Durchgang und eine Tür. Letztere war nichts für sie.
Auri nahm den Durchgang nach Port. Foxen ruhte immer noch in seinem Schälchen, weshalb sein Licht hier schwächer war, aber noch hell genug, um sehen zu können. In Port war in letzter Zeit nicht allzu viel geschehen, dennoch überprüfte Auri alles der Reihe nach. Im Weinregal ruhte ein halber, zerbrochener Porzellanteller, dünn wie ein Blütenblatt. Darunter lagen ein in Leder gebundener Oktavband, ein paar Korken und ein kleiner Bindfadenknäuel. Weiter seitlich wartete seine feine weiße Teetasse auf ihn – mit einer Geduld, um die Auri sie beneidete.
Auf dem Regal an der Wand lag ein Klacks gelbes Harz in einem Schälchen. Ein großer schwarzer Stein. Ein kleinerer grauer Stein. Ein glattes, flaches Stück Holz. Abseits stand ein kleines Fläschchen, dessen Verschlussbügel wie ein hungriger Vogel den Rachen aufsperrte.
Auf dem Tisch in der Mitte des Raums lagen eine Handvoll Ilexbeeren auf einem sauberen weißen Tuch. Auri betrachtete sie einen Moment lang und legte sie dann in das Bücherregal, eine hohe Warte, die ihnen eher entsprach. Sie schaute sich im Raum um und nickte. Alles in Ordnung.
Zurück in Mantel, wusch sich Auri das Gesicht, die Hände und die Füße. Sie zog ihr Nachthemd aus, legte es zusammen und verstaute es in ihrer Zedernholzkiste. Sie streckte sich frohgemut, reckte die Arme empor und stellte sich auf die Zehenspitzen.
Dann schlüpfte sie in ihr Lieblingskleid, das Kleid, das er ihr geschenkt hatte. Es fühlte sich wunderbar an auf der Haut. Ihr Name loderte wie ein Feuer in ihr. Das würde heute ein geschäftiger Tag werden.
Auri nahm Foxen aus seinem Schälchen und trug ihn in der hohlen Hand. Sie ging durch Port hindurch und schlüpfte dann durch eine schartige Lücke in der Mauer. Die Lücke war nicht allzu breit, doch Auri war so schmal, dass sie nur ein wenig die Schultern drehen musste, um hindurchzukommen, ohne die zerbrochenen Steine zu berühren.
Van war ein großer Raum mit geraden, weißen Wänden aus gefügten Steinen. Bis auf ihren Standspiegel war es dort so leer, dass es hallte. Heute aber gab es dort noch etwas, einen zarten Hauch Sonnenschein. Er schlich sich oben durch einen gewölbten Durchgang herein, der voller Schutt lag: zerborstene Balken und Bohlen, herabgestürzte Steinbrocken. Und oben drüber eine Spur Licht.
Auri stellte sich vor den Spiegel und nahm die Bürste zur Hand, die an seinem hölzernen Rahmen hing. Sie bürstete sich das Schlafgewirr aus den Haaren, bis ihr das Haar wie eine Wolke um den Kopf schwebte.
Dann schloss sie die Hand um Foxen, und ohne sein blaugrünes Licht wurde es im Raum stockdunkel. Ihre Pupillen dehnten sich, und sie sah nur noch den sanften, schwachen, warmen Lichtschein, der sich über den Schutthaufen hinter ihr hereinschlich. Blassgoldenes Licht fing sich in ihrem blassgoldenen Haar. Auri lächelte ihrem Spiegelbild zu. Sie sah aus wie die Sonne.
Dann gab ihre Hand Foxen wieder frei, und Auri hüpfte geschwind hinüber in das ausgedehnte Labyrinth von Rubrik. Sie musste nicht mal eine Minute suchen, dann hatte sie ein Kupferrohr mit der richtigen Dämmung gefunden. Aber es kam ja darauf an, genau die richtige Stelle zu finden, nicht wahr? Sie folgte dem Rohr fast eine halbe Meile weit durch die runden Tunnel aus rotem Ziegelstein, immer darauf bedacht, dass es ihr im Gewirr der zahllosen anderen Rohre nicht entwischte.
Dann, ohne jede Vorwarnung, machte das Rohr einen Knick, verschwand in der gekrümmten Wand und ließ sie im Stich. Unverschämtes Ding. Es gab natürlich noch die vielen anderen Rohre, doch die dünnen Zinnrohre besaßen keinerlei Dämmung, die eiskalten aus brüniertem Stahl waren viel zu neu, und die Eisenrohre waren zwar derart dienstbeflissen, dass es schon fast peinlich war, doch ihre Dämmung bestand ganz aus Baumwolle, und das warf so große Schwierigkeiten auf, dass Auri sich an diesem Tag nicht damit befassen mochte.
Daher folgte sie stattdessen einem dicken, vor sich hin trödelnden Keramikrohr. Es grub sich schließlich tief in den Boden, doch wo es sich bog, hing die Dämmung aus Leinen zerfetzt wie das Hemd eines Straßenkinds herab. Auri lächelte und wickelte den Stoffstreifen vorsichtig ab, sehr darauf bedacht, ihn nicht abzureißen.
Schließlich löste er sich. Ein perfektes Ding. Ein zarter Streifen aus ergrauendem Leinen, so lang wie Auris Arm. Er war zwar müde, aber doch auch willig, und als Auri ihn zusammengefaltet hatte, machte sie kehrt und rannte wie verrückt durch das hallende Umbrel und dann tief hinab in die Zwölf.
Die Zwölf war einer der seltenen Änderorte im Unterding. Sie war klug genug, sich selbst zu kennen, mutig genug, sie selbst zu sein, und wild genug, sich zu ändern, sich dabei aber irgendwie auch treu zu bleiben. Sie war in dieser Hinsicht fast einzigartig, und obwohl es dort nicht immer sicher oder angenehm war, konnte Auri nicht anders, als die Zwölf sehr zu mögen.
Heute war die hohe, gewölbte Kaverne genau so, wie sie erwartet hatte: hell und belebt. Sonnenschein drang von oben durch die Entwässerunsgitter herein und fiel in die tiefe, enge Schlucht des Änderorts. Das Licht schien zwischen Rohren, Balken und den kräftigen, geraden Linien eines uralten hölzernen Stegs hindurch. Die fernen Straßengeräusche wehten herab auf den tief darunter liegenden Grund der Dinge.
Auri hörte Hufgetrappel auf Kopfsteinpflaster, das nach knackenden Fingerknöcheln klang. Sie hörte das ferne Scheppern eines vorüberfahrenden Wagens und dumpfes Stimmengewirr. Aus all dem stach das wütende Schreien eines Säuglings hervor, der offenkundig dringend an die Brust genommen werden wollte.
Am Grund der Gelben Zwölf erstreckte sich ein langes, tiefes Becken, die Wasserfläche glatt wie Glas. Der von oben hereinfallende Sonnenschein war so hell, dass Auri bis zum zweiten Rohrstrang unter der Oberfläche sehen konnte.
Sie hatte hier schon Stroh bereitgelegt, und drei Flaschen warteten auf einem Steinsims an einer Wand. Doch als Auri zu ihnen hinübersah, runzelte sie die Stirn. Dort standen eine grüne, eine braune und eine klare Flasche. Eine hatte einen breiten Bügelverschluss, eine einen grauen Schraubverschluss und die dritte einen faustgroßen Korken oben drauf. Sie waren alle unterschiedlich geformt und unterschiedlich groß, doch keine von ihnen hatte das passende Format.
Auri warf aufgebracht die Hände empor.
Also lief sie noch einmal zurück nach Mantel, und ihre nackten Füße patschten über den Steinboden. Dort beäugte sie das graue Vorratsglas mit dem Lavendel drin. Sie nahm es in die Hand, betrachtete es von allen Seiten, stellte es dann an seinen angestammten Platz zurück und lief wieder hinaus.
Sie eilte durch Port, nahm diesmal nicht die Lücke in der Mauer, sondern den schrägen Durchgang. Sie zwängte sich durch Weiden hinauf, und Foxen warf wilde Schatten an die Wände. Ihr Haar flatterte beim Laufen wie ein Banner hinter ihr her.
Sie nahm die Wendeltreppe durchs Dunkelhaus, ringsherum und hinab, ringsherum und hinab. Und als sie schließlich fließendes Wasser und das Klirren von Glas hörte, wusste sie, dass sie die Schwelle nach Klimpern überschritten hatte. Bald spiegelte sich Foxens Licht auf den Wasserstrudeln des schwarzen Beckens, das das untere Ende der Wendeltreppe verschluckte.
Dort standen zwei Flaschen in einer kleinen Nische. Eine war blau und schlank. Die andere war grün und bauchig. Auri neigte den Kopf, machte ein Auge zu, langte hinüber und berührte die grüne Flasche mit zwei Fingern. Dann lächelte sie, griff sich die Flasche und rannte die Treppe wieder hinauf.
Auf dem Rückweg lief sie zur Abwechslung durch Hopse. Geschmeidig wie eine Tänzerin sprang sie über den ersten tiefen Querriss im Boden hinweg. Über den zweiten hüpfte sie leichthin wie ein Vogel. Den dritten übersprang sie so ungestüm wie ein hübsches Mädchen, das wie die Sonne aussieht.
Außer Atem kam sie in die Gelbe Zwölf zurück. Während sie Luft schnappte, verstaute sie Foxen in der grünen Flasche, polsterte ihn sorgfältig mit Stroh ab und drückte dann den mit einer Gummidichtung versehenen Bügelverschluss fest oben drauf. Lächelnd hielt sie sich die Flasche vors Gesicht, küsste sie und stellte sie dann vorsichtig an den Rand des Beckens.
Auri zog ihr Lieblingskleid aus und hängte es über ein blankes Messingrohr. Sie schauderte ein wenig, es fühlte sich an, als schwömmen nervöse Fische in ihrem Bauch. Dann stand sie hüllenlos da und ergriff mit beiden Händen ihr schwebendes Haar. Sie strich es nach hinten und band es mit dem alten grauen Leinenstreifen. Als sie fertig war, hatte sie einen langen Pferdeschwanz, der ihr bis ins Kreuz hing.
Die Arme um den Oberkörper gelegt, trat Auri mit zwei kleinen Schritten an den Rand des Beckens. Sie tauchte einen Zeh ins Wasser, dann den ganzen Fuß. Das Gefühl, kühl und köstlich wie Pfefferminze, entlockte ihr ein Lächeln. Dann senkte sie sich herab, und nun baumelten beide Beine im Wasser. Auri balancierte einen Moment lang, hielt ihren nackten Leib mit beiden Händen aufrecht und weg von der kalten Steinkante des Beckenrands.
Aber es ließ sich ja nicht vermeiden. Also verzog Auri das Gesicht und ließ sich vollständig hinab. Die kalte Steinkante hatte so gar nichts mehr von Pfefferminze an sich. Sie war ein einziger stumpfer Biss in ihren zarten nackten Allerwertesten.
Dann drehte sie sich um und begann sich ins Wasser zu senken. Sie machte das langsam und tastete mit den Zehen, bis sie den kleinen Steinvorsprung fand. Daran hielt sie sich mit den Zehen fest und hing nun bis zu den Oberschenkeln im Wasser. Dann atmete sie ein paarmal tief ein, kniff die Augen zu und bleckte die Zähne, ehe sie mit den Zehen losließ und ihren Unterleib ins Wasser tauchte. Sie quiekste ein wenig, und von der Kälte bekam sie am ganzen Körper eine Gänsehaut.
Als das Schlimmste vorbei war, schloss sie die Augen und tauchte auch kurz mit dem Kopf unter. Keuchend und blinzelnd rieb sie sich das Wasser aus den Augen. Nun schauderte sie am ganzen Leib, während sie mit einem Arm ihre Brüste bedeckte. Als es vorüber war, hatte sich ihre Grimasse in ein Lächeln verwandelt.
Ohne ihre Haarwolke kam sich Auri ganz klein vor. Es war nicht die Kleinheit, die sie tagtäglich anstrebte. Nicht die Kleinheit eines Baums inmitten von Bäumen. Oder eines schattigen Untergrunds. Und auch nicht nur körperlich klein. Ihr war klar, dass an ihr nicht viel dran war. Wenn sie mal daran dachte, etwas genauer in ihren Spiegel zu sehen, war das Mädchen, das sie darin erblickte, klein wie ein bettelndes Straßenkind. Das Mädchen, das sie sah, war spindeldürr. Hatte hohe, zarte Wangenknochen. Und ihre Schlüsselbeine spannten die Haut.
Nun, mit dem nach hinten gebundenen und auch noch nassen Haar, kam sie sich… noch kleiner vor. Niedergedrückt. Nichtig. Schwach. Ohne den vollkommenen Leinenstreifen wäre es absolut unangenehm gewesen. Ohne ihn wäre sie sich nicht nur wie ein abgebrannter Docht vorgekommen, sondern ganz und gar grottig. Es war es doch wert, die Dinge so zu tun, wie es sich gehörte.
Schließlich verebbte auch das letzte leichte Bibbern. Die Fische in ihrem Bauch schwammen zwar immer noch hektisch im Kreis, sie aber lächelte entschlossen. Das goldene Tageslicht von oben fiel speergerade ins Becken.
Auri holte einmal tief Luft, stieß sie wieder aus und bewegte die Zehen. Sie atmete noch einmal tief ein und langsamer wieder aus.
Dann ein drittes Atemholen. Auri ergriff mit einer Hand Foxens Flasche am Hals, ließ mit der anderen die Steinkante los und tauchte unter.
Das Licht schien genau im richtigen Winkel, und Auri sah den ersten Rohrstrang klar und deutlich vor sich. Flink wie eine Elritze wendete sie und glitt geschmeidig hindurch, ohne sich davon berühren zu lassen.
Darunter befand sich der zweite Strang. Sie stieß sich mit dem Fuß an einem alten Eisenrohr ab, um tiefer hinabzutauchen, zog sich dann mit der freien Hand an einem Absperrhahn weiter und glitt durch die Lücke zwischen zwei handgelenkdicken Kupferrohren.
Das Speerlicht verblasste, als sie tiefer kam, und ihr blieb nur Foxens blaugrüner Schein. Sein Licht war hier aber gedämpft, denn es drang durch Stroh und Wasser und das dicke grüne Glas. Auri bildete mit den Lippen ein O und stieß zweimal kurz Luftblasen aus. Der Druck nahm zu, je tiefer sie kam, und ringsum ragten vage Schemen aus der Dunkelheit hervor. Ein alter Steg, eine Felsplatte, ein uralter, mit Algen bedeckter Holzbalken.
Ihre ausgestreckten Finger fanden den Grund schneller als ihre Augen, und Auri strich mit der Hand über den glatten Steinboden, den sie nur undeutlich sah. Hin und her. Hin und her. Schnell, aber auch vorsichtig. Manchmal lagen hier scharfkantige Dinge.
Dann schlossen sich ihre Finger um etwas Langes, Glattes. Ein Stock? Sie klemmte es sich unter den Arm und ließ sich wieder aufwärts treiben, hin zu dem fernen Licht. Ihre freie Hand fand vertraute Rohre, zog sie voran und lenkte sie durch das Labyrinth nur halb gesehener Umrisse. Die Lunge begann ihr ein wenig wehzutun, und sie stieß im Aufsteigen einen Strom von Luftblasen aus.
Sie tauchte in der Nähe des Beckenrands wieder auf, und in dem goldenen Lichtschein sah sie, was sie gefunden hatte: einen sauberen weißen Knochen. Er war lang, aber kein Oberschenkel-, sondern ein Oberarmknochen. Sie fuhr mit den Fingern daran entlang und spürte eine winzige Naht, die ringförmig um den Knochen herum verlief. Er musste an dieser Stelle vor langer Zeit gebrochen und wieder zusammengewachsen sein. Er war erfüllt von schönen Schatten.
Lächelnd legte Auri den Knochen beiseite. Dann atmete sie dreimal langsam tief ein, packte Foxen und tauchte wieder hinab.
Diesmal klemmte sie sich beim zweiten Strang den Fuß zwischen zwei Rohren ein. So ein Pech. Sie machte ein böses Gesicht und zog und schaffte es schnell, sich zu befreien. Sie blies ihre halbe Lungenfüllung aus und strampelte und sank wie ein Stein in den schwarzen Schlund hinab.
Trotz des vermasselten Starts war es diesmal ein leichter Fang. Bevor sie auch nur den Boden berührten, entdeckten ihre Finger ein Gewirr von irgendwas. Sie hatte keine Ahnung, was es war. Irgendetwas aus Metall, etwas Glitschiges und etwas Hartes, miteinander verquickt. Sie presste es sich an die Brust und machte sich wieder an den Aufstieg.
Diesen Fund konnte sie sich nicht unter den Arm stecken, denn sie fürchtete, dann etwas davon zu verlieren. Daher klemmte sich Auri Foxens Flasche in die Armbeuge und zog sich mit der linken Hand voran. Es fühlte sich gut an, sie wahrte leichter die Balance und schaffte es an die Oberfläche, ohne auch nur den Rest ihrer Luftblasen ausstoßen zu müssen.
Dann breitete sie das Gewirr am Beckenrand aus: ein alter Gürtel mit einer Silberschnalle, die kohlrabenschwarz angelaufen war. Ein belaubter Zweig mit einer konsternierten Schnecke darauf. Zu guter Letzt, an einem modernden Bindfaden hängend, der mit dem Zweig verheddert war: ein schlanker Schlüssel, so lang wie ihr Zeigefinger.
Auri gab der Schnecke einen Kuss, entschuldigte sich bei ihr und legte den Zweig zurück ins Wasser, wo er hingehörte. Das Leder des Gürtels hatte sich verzogen, doch sie musste nur ganz leicht daran ziehen, dann löste sich die Schnalle. Beide waren sie so besser dran.
Sich an der Steinkante des Beckens festhaltend, bibberte Auri nun in kurzen Schüben. Das Schlottern lief ihr über die Schultern und die Brust. Ihre Lippen waren nicht mehr rosig, sondern blassrosa, stellenweise leicht bläulich.
Sie nahm Foxens Flasche zur Hand und prüfte, ob sie fest verschlossen war. Dann blickte sie ins Wasser hinab, und die Fische in ihrem Bauch stoben aufgeregt umher. Aller guten Dinge waren drei.
Auri holte tief Luft und tauchte erneut hinab. Ihr Körper bewegte sich geschmeidig, und ihre rechte Hand fand all die freundlich gesinnten Griffe. Hinab in die Finsternis. Die Felsplatte. Der Balken. Dann nichts mehr – nur Foxens schwaches Licht, das ihre ausgestreckte Hand fahl blaugrün färbte. So musste die Hand einer Nixe aussehen.