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Von frühester Kindheit an hatte Thomas Nawroth Berührung mit übersinnlichen Mächten. Seine Großmutter mütterlicherseits war eine Hellseherin und Hexe und weihte ihn bereits im Alter von fünf Jahren als ihren Nachfolger. Daraufhin begannen sich übernatürliche Kräfte ihn ihm zu manifestieren. Doch zugleich war er in seiner Jugend als langjähriger Messdiener in der katholischen Kirche verwurzelt. Er hörte mehrfach die Stimme von Jesus Christus (obwohl er ihn damals noch nicht immer erkannte) und er hatte Engelerscheinungen. Durch grausame und lang anhaltende Kindesmisshandlung in seiner eigenen Familie und viele menschliche Enttäuschungen in der Welt und in der Kirche verlor er schließlich seinen christlichen Glauben und wandte sich immer tiefer der keltisch-druidischen Religion zu. Dort lernte er auch seine Frau Tatjana kennen. Auf seiner Suche nach Erleuchtung (der sogenannten Queste) ließ er sich bis zum Erzdruiden ausbilden und nahm innerhalb seiner Organisation einen hohen Rang ein. Doch auch wenn er sich vom christlichen Glauben gelöst hatte, begegnete ihm Jesus Christus immer wieder auf übernatürliche Weise und ließ ihn spüren, dass er ihn auch als Druiden nicht verlassen hatte. Schließlich kamen er und seine Frau in Kontakt mit einer christlichen Gemeinschaft, wo sie zu ihrem Erstaunen trotz ihrer esoterischen Aufmachung mit offenen Armen empfangen wurden. Der Geist Gottes erreichte ihr Herz, und es begann ein vollkommen neues Leben für sie, voller Zeichen und Wunder. Heute genießen sie es, als Kinder Gottes immer mehr zu entdecken, wie tief die Liebe Gottes zu ihnen ist und welche Kreativität, welche Kraft und welchen Segen dies in ihnen freisetzt.
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Seitenzahl: 399
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Thomas Nawroth
Der Weg eines Erzdruiden
GloryWorld-Medien
1. Auflage 2021
© 2021 Thomas Nawroth
© 2021 GloryWorld-Medien, Xanten, Germany, www.gloryworld.de
Alle Rechte vorbehalten
Das Buch wurde im Rahmen des Programms NEUSTART KULTUR der Bundesregierung gefördert.
Lektorat: Klaudia WagnerSatz: Manfred MayerFotonachweis: Thomas NawrothUmschlaggestaltung: Jens Neuhaus, www.7dinge.de
ISBN (epub): 978-3-95578-498-0
ISBN (Druck): 978-3-95578-398-3
Prolog
Auf ein Wort – bevor du beginnst
1 Lichter und Irrlichter der Kindheit
2 Eine Jugend in zwei Welten
3 Zeit der Verhärtung
4 Aufbruch zu neuen Ufern
5 Reisen in die USA
6 Reifezeit
7 Reisen in eine andere Dimension
8 Reise durch die Seelenhölle
9 Geistliche Rückerstattung
10 Errettet statt erleuchtet
11 Wunder einer neuen Welt
12 Ein Neuanfang ist möglich
Über den Autor
Unsere Welt hat sich in den vergangenen Jahrhunderten massiv verändert. Von den alten Kulturen Europas scheint fast nichts erhalten. Doch ist das wirklich so?
Die riesigen Wälder des europäischen Kontinents, in denen einst – glaubt man den alten Überlieferungen – Elfen, Elben, Zwerge, Kobolde und andere Geistwesen in der Natur beheimatet waren, sind weitgehend verschwunden, und die Lebensumstände der Menschen haben sich im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte drastisch verändert. Was den meisten Leuten heute nicht bewusst ist: Die alte Welt ist in gewisser Weise immer noch da, und unsere moderne Zivilisation basiert sowohl wirtschaftlich als auch wissenschaftlich auf den Fundamenten vorangegangener Kulturen (z. B. den Griechen und Römern mit ihren Gelehrten).
Besonders interessant wird es, wenn es um die Religion geht. Stellt man in unserer Zeit den Menschen auf der Straße die Frage, welche Religion in Europa die meisten Anhänger aufweist, werden sie überwiegend darauf antworten, dass es das Christentum sei. Viele Menschen wird es daher überraschen, wenn ich behaupte, dass es das reine Christentum im Prinzip nirgendwo in der Welt gibt. Was wir aus heutiger Sicht in Europa als das Christentum bezeichnen, ist im Grunde eine Mischform aus Glaubensüberzeugungen, die sich sowohl aus christlichen Traditionen als auch aus individuellen, regionalen Überlieferungen und Riten der unterschiedlichen Völker Europas entwickelt hat.
So unglaublich es auch erscheinen mag, entspricht es doch der Wahrheit, dass die heidnischen Religionen in ganz Europa niemals verschwunden sind und tatsächlich auch heute noch weiter praktiziert werden. Ich möchte sogar behaupten, dass wir Europäer noch immer untergründig den alten Gottheiten dienen, auch wenn wir uns Christen nennen; ja, es ist sogar so, dass heidnische Anbetungen bis in unser hoch technisiertes Zeitalter hinein von den meisten christlichen Priestern jeglichen Standes praktiziert werden.
Die Prägungen durch heidnische Naturreligionen in all ihren Variationen wurden durch die ersten europäischen „Missionare“ niemals wirklich beseitigt. Im Gegenteil ging es vielen von ihnen hauptsächlich darum, den neuen Glauben so rasch wie möglich zu verbreiten. Dabei vertrauten sie weniger auf die Kraft ihrer Botschaft, als auf Arrangements mit den damaligen Priestern der „alten Welt“, um ihrem Ziel schnellstmöglich näherzukommen. Das war oft der Politik und den Gebietsansprüchen einzelner Fürsten geschuldet, und zumeist ging man dabei wider jegliche Menschlichkeit vor. Anstatt die friedliche Verkündigung des Evangeliums zu praktizieren, wurde die neue Religion den alten Völkern Europas durch Manipulation und sehr oft mit Gewalt aufgezwungen. Worum es damals wie heute vielen Verantwortlichen innerhalb der christlichen Kirchenführungen wirklich ging (auch in Verbindungen und Allianzen mit weltlichen Herrschern), war in erster Linie der Auf- und Ausbau des eigenen wirtschaftlich orientierten Machtbereichs. Dabei war jedes Mittel recht, auch in Form von Kompromissen mit den alten religiösen Strukturen und Anpassungen an die örtlichen Überlieferungen.
So blieben uns also die alten Geister aus grauer Vorzeit erhalten, und auch ich machte Bekanntschaft mit ihnen, enttäuscht von der Kraft- und Lieblosigkeit christlicher Kirchen und auf der Suche nach etwas, das mich wirklich sättigen und erfüllen würde. Dazu kam, dass meine Großmutter mütterlicherseits sehr gut mit dieser alten Geister-Welt vertraut war.
Ich war 28 Jahre in der esoterischen Szene unterwegs und hatte am Ende den Status eines Erzdruiden im keltischen Ritus. Meine Frau und ich standen kurz davor, eine Druidenschule zu gründen. So führten mich meine verschlungenen Wege durch die Urwälder alter und neuer Religionen, durch viel Nebel und Verwirrung bis hin zu meiner heutigen, doch um einiges klareren Sicht. Dies alles möchte ich in diesem Buch beschreiben.
Was auch immer du glaubst, ob du Christ bist oder ob du dich auf ganz anderen Pfaden der Erleuchtung befindest, vielleicht auch einfach noch auf der Suche nach Wahrheit, Leben, Heilung und Glück bist: Dir gilt meine Einladung, mich ein Stück auf dem Weg meines abenteuerlichen und außergewöhnlichen Lebens zu begleiten und es mit mir gemeinsam zu betrachten. Möge es unseren Horizont erweitern. Gott will, dass allen Menschen geholfen wird und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.1 Wer Augen hat zu sehen, der sehe. Wer Ohren hat zu hören, der höre. Wer Füße hat zu gehen, der gehe. Wer sucht, der wird finden. Und wer gibt, dem wird gegeben, ein volles, gerütteltes und gedrücktes Maß.2 So werden wir beide von diesem Vorhaben profitieren – du und ich. Denn Gott lässt sich nicht lumpen und wird sich offenbaren, wenn wir es uns wünschen.
Im Oktober 2021
Thomas Nawroth
1 Vgl. 1. Timotheus 2,4.
2 Vgl. Lukas 6,38.
Meine Biographie ist nicht einfach die eines „normalen“ Menschen. Meine auch nicht – wirst du mir vielleicht antworten; und es stimmt, jeder hat seine ganz persönliche und einzigartige Lebensgeschichte. Trotzdem mögen dir in diesem Buch Dinge begegnen, die dir sehr fremdartig und unwirklich vorkommen.
Du kennst sicher den Spruch „Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde als das, was wir sehen“. Ich habe dieses „Mehr“ erlebt, gesehen, gespürt und auf verschiedene Art und Weise wahrgenommen. Es war teilweise beängstigend, etwas unheimlich, rätselhaft, aber oft auch tröstend, friedenspendend oder erbauend. Immer aber hat es den Verstand gesprengt, denn was ich erlebte ist nicht mit der menschlichen Ratio zu erklären.
Es gibt etwas zwischen Himmel und Erde– es gibt also die Erde, den Himmel und etwasdazwischen. Wir könnten es z. B. als Dimensionen bezeichnen. Man könnte es auch Welten nennen: zum einen die für uns sichtbare Welt der Menschen, daneben eine unsichtbare Welt um uns herum, in der sich z. B. Engel und andere „Geistwesen“ bewegen, und dann noch eine Welt darüber, Gottes Welt. Manche nennen es die drei Himmel: Unsere Erde mit der schönen, blauen Atmosphäre, dem sichtbaren Himmel; der zweite Himmel als unsichtbarer „Raum“ um uns herum; und der dritte Himmel noch darüber, der Himmel Gottes.
Alle drei Dimensionen, Himmel, Welten oder „Räume“ sind „bewohnt“ und sogar miteinander verbunden. Sie haben Auswirkungen aufeinander. Es gibt Autoritäten, Herrschaften und Rangordnungen bzw. Unterordnung. Das alles ist ein Geheimnis, das uns aber immer mehr offenbart wird.
Nicht alle Ereignisse in meinem Leben, vor allem dann, wenn die anderen Welten in meine natürliche Umgebung hineinwirkten, kann ich bis ins Letzte verstehen oder erklären. Aber es gibt einen roten Faden, der wie eine Spur zu einem Ziel hinführt, zu dem ranghöchsten Wesen in diesen drei Dimensionen, zu dem Geist, der nur Liebe ist.
Auf welchen abenteuerlichen Wegen ich von Kindesbeinen an diesem roten Faden folgte, davon ist in dieser Geschichte die Rede. Diese Abenteuer waren über weite Strecken durchaus leidvoll, was bestimmt nicht für jeden Menschen repräsentativ ist. Aber der, der die Liebe ist, hat mich nie verlassen, immer „gezogen“ und mit mir das Ziel anvisiert. Alle Wege und Umwege mussten mir zum Besten dienen und mich tiefer in meine Berufung führen. So wünsche ich mir, dass meine Biographie für dich zur Initialzündung wird, durch die du den roten Faden in deiner eigenen Geschichte immer klarer erkennst, sodass du deinem eigenen „Abenteuer Leben“ folgen kannst.
Der Weg, zu dem du dich mit mir aufgemacht hast, führt zuerst durch meine Kindheit, denn bereits dort nahm alles seinen Anfang. Als ich im Jahr 1963 das Licht der Welt erblickte, war der 2. Weltkrieg erst achtzehn Jahre vorbei. Drei Jahre später kam meine Schwester zur Welt. Bereits zu dieser Zeit fühlte ich mich wie ein Fremder in dieser Familie, was noch dadurch verstärkt wurde, dass meine Schwester geliebt wurde, während ich offensichtlich für irgendetwas die „Schuld“ trug, was sich mir allerdings jahrelang nicht erschloss.
Als ich drei war, starb meine Urgroßmutter. Mit dem Tod konnte ich in diesem Alter noch nichts anfangen, sah nur die schwarze Kleidung und spürte die traurige Stimmung. Etwas abseits der Trauergesellschaft auf dem Friedhof in Recklinghausen-Süd verfolgte ich auf den Armen meines Vaters die Zeremonie; wir standen unter einem Baum, da es in Strömen regnete. Weder mir noch meinem Vater war klar, warum ich es tat, aber ich rief immerzu nach meiner Oma. Plötzlich näherte sich mir eine sehr alte Frau mit weißen Haaren, welche im Nacken zu einem Dutt zusammengefasst waren. Sie trug ein langes, schwarzes Kleid mit weißem Kragen, schwarze Strümpfe und Schnürschuhe. Direkt vor uns blieb sie stehen und strich mir lächelnd mit der Hand über die Wange. Dann löste sie sich plötzlich in Nichts auf. Erst jetzt verstummten meine Rufe, als hätte ich auf diese Frau gewartet.
Als wir uns einige Tage später Fotos in den Familienalben ansahen, deutete ich mit meinen kleinen Fingern auf meine Urgroßmutter und machte den Erwachsenen in meiner Kindersprache klar, dass ich diese Frau auf dem Friedhof gesehen hatte, dass sie zu mir gekommen war und mich gestreichelt hatte. Das Entsetzen in den mich umgebenden Gesichtern habe ich bis heute nicht vergessen.
Bereits zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich ab, dass ich in der Lage war, noch andere Dinge als die der sichtbaren Welt wahrzunehmen. Es ist anzunehmen, dass diese „Hellsichtigkeit“ auf den übernatürlichen Aktivitäten verschiedener meiner Vorfahren beruhte und ich auf diese Weise eine Art Vorherbestimmung durch die „geistliche Welt“ trug.
Was verstehe ich unter der „geistlichen Welt“? Oft hört man jemanden sagen: Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde als das, was wir sehen. Und das trifft die Sache schon recht gut. Wir gehören einerseits zu dieser sichtbaren und „materiellen“ Welt, nämlich alledem, was wir mit unseren körperlichen Sinnen wahrnehmen können. Darüber hinaus gibt es allerdings eine „unsichtbare Welt“ um uns herum.
Man kann das manchmal in Form von „Energien“ wahrnehmen. Wenn man zum Beispiel in einen Raum kommt, in dem gerade gestritten wurde, nimmt man wahr, dass „dicke Luft“ herrscht. Der Streit hängt noch in der Atmosphäre. So ähnlich befindet sich um uns herum etwas, das man als eine andere Dimension oder als „zweiten Himmel“ bezeichnen könnte (in Anlehnung an unseren blauen Himmel, unter dem wir in der sichtbaren Welt leben). In diesem zweiten Himmel bewegen sich geistliche, nicht materielle Wesenheiten, die wir auch oftmals wahrnehmen. Manchmal kommt dir irgendeine Gegend vielleicht dunkler vor, obwohl du dafür keinen sichtbaren Grund erkennen kannst. In einer anderen Region erscheint dir alles hell und leicht, und du fragst dich, woran das liegt. Um uns herum bewegen sich Wesenheiten mit ihren guten oder schlechten Abstrahlungen; ich nenne sie in diesem Buch Engel und Dämonen, Geister bzw. Geistwesen oder einfach Wesenheiten.
Es gibt noch eine zweite unsichtbare Dimension, die sich „über“ diesem „Himmel der Geistwesen“ befindet und die Autorität darüber hat. Darüber will ich aber erst später eingehen.
Ich war gerade einmal Fünf, als ich an Appetitlosigkeit litt, einhergehend mit zunehmender Blässe, deren Ursache meinen Eltern völlig unerklärlich war. Ich verlor immer mehr an Gewicht, was wiederholt zu Schwindelanfällen und darüber hinaus zu einer bleiernen Müdigkeit führte. Jede Mahlzeit wurde zu einer Qual für mich.
Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie meine Mutter mir eines Tages ein Mittagessen vorsetzte, das ich aufgrund meines Krankheitsbildes nicht herunterbekam. Was dann geschah, prägte sich tief in meine Seele ein. Nachdem ich einige Löffel zu mir genommen hatte, begann mein Magen zu rebellieren. Ich erbrach die wenigen Bisse in meinen Teller. Meine Mutter gab mir einen harten Schlag auf den Hinterkopf: „Wenn du das jetzt nicht isst, dann wirst du das Gleiche heute Abend noch einmal vorgesetzt bekommen, ob du willst oder nicht!“ Da ich es natürlich nicht essen konnte, goss sie den Teller mit dem Erbrochenen zurück in den Topf und befahl mir, im Kinderzimmer zu verschwinden. Was blieb mir anderes übrig? Ich verspürte wahnsinnige Kopfschmerzen und eine anhaltende Übelkeit, bis in den Abend hinein.
Als mein Vater abends nachhause kam, wurde mir das wieder aufgewärmte Mittagessen mitsamt dem Erbrochenen erneut vorgesetzt. Durch die Wärme des unappetitlich wirkenden Breis, der da nun vor mir stand, und den säuerlichen Geruch, der mir in die Nase stieg, musste ich mich nach nur wenigen Sekunden erneut übergeben. Nun war es mein Vater, der mir einen gefühlt noch härteren Schlag auf den Hinterkopf verabreichte. Auch ihm fiel nichts anderes ein als: „Wenn du das jetzt nicht aufisst, wirst du hungrig zu Bett gehen. Es gibt nichts anderes als das hier!“
Wie um alles in der Welt sollte ich das hinunterwürgen? Es war einfach unmenschlich! Ich wurde tatsächlich ohne Essen ins Bett gesteckt. Zitternd und völlig aufgelöst verbrachte ich die Nacht.
Am nächsten Morgen setzte mir meine Mutter den inzwischen zweimal hervorgewürgten Brei erneut vor. Sie hatte ihn tatsächlich noch einmal aufgewärmt und wartete nur darauf, dass es mir wieder nicht gelingen würde, ihn hinunterzuschlucken. Dazu muss ich nichts mehr sagen und will die Leser auch nicht zu sehr mit dieser Geschichte strapazieren. Diesmal wurde ich so hart geschlagen, dass mein Kopf beinahe auf der Tischplatte aufschlug. Hasserfüllt schleuderte mir meine Mutter entgegen: „Ich werde dir das so lange vorsetzen, bis du es gegessen hast. Auch dann, wenn es schimmelig ist!“
Inzwischen waren über 24 Stunden vergangen, in denen ich nicht einen Bissen zu essen bekommen hatte. So unglaublich es auch sein mag, verspürte ich dennoch kein Hungergefühl. Meine Schwindelanfälle nahmen jedoch mit jeder Stunde zu. Aber das interessierte meine Mutter in keiner Weise.
Am nächsten Mittag spielte sich die gleiche Szene wieder ab und ich schleppte mich danach zurück ins Kinderzimmer. Nur wenig später stand meine Mutter vor mir und begann überaus hart auf mich einzuprügeln. Dabei schrie sie hasserfüllt: „Du Teufelsbrut! Du bist nur geboren worden, um mir das Leben zur Hölle zu machen!“Doch ich war es, der in diesem Moment die Hölle durchlebte.
Sie hörte erst mit der Prügelei auf, als ich mich zitternd und voller Panik unter dem Tisch verkroch. Schwer atmend verließ sie endlich den Raum und ließ mich bebend und weinend unter dem Tisch liegend zurück. Mein Gesicht war zugeschwollen, ich schmeckte Blut im Mund. Vorsichtig tastete ich mein Gesicht ab und spürte, dass meine Unterlippe tief eingerissen war.
Zitternd und stöhnend vor Schmerzen lag ich mehrere Stunden unter dem Tisch. Plötzlich öffnete sich die Tür und mein Vater sah ins Zimmer. Ich blickte ihn an und hoffte wenigstens von ihm auf Hilfe. Doch er schüttelte nur panisch und zugleich verständnislos seinen Kopf, schloss dann langsam und leise die Tür und ließ mich hilflos liegen. Ich spürte einen furchtbaren, stechenden Schmerz in meinem Inneren, geradeso, als würde mein Herz zerreißen. Die Tränen flossen mir über die geschwollenen, heiß geprügelten Wangen.
Einige Zeit später öffnete sich die Tür erneut und meine Mutter erschien im Zimmer. Sie befahl mir laut und herrisch, mich an den Tisch zu setzen. Mein Vater und meine Schwester saßen bereits dort. Meine Mutter war jedoch in der Küche verschwunden, um zum vierten Mal diesen Fraß zu holen. Durch das viermalige Aufwärmen war die Masse inzwischen derart reduziert, dass sie fast schwarz vor mir auf dem Teller lag. Und wieder stellte sich meine Mutter hinter mich, um mir bei Verweigerung einen Schlag verpassen zu können. Es war schließlich mein Vater, der mir den Teller wegnahm und nun endlich meiner Mutter etwas entgegensetzte: „Jetzt reicht es aber! Das kann doch kein Mensch mehr essen! Das kannst du nicht machen!“
Ich bekam nun das gleiche Essen wie der Rest der Familie. Doch weil ich seit über 36 Stunden nichts zu mir genommen hatte, bekam ich immer noch kaum etwas hinunter. Meine Eltern stritten sich wegen dieser Sache fürchterlich bis in den späten Abend hinein, und das ohne Rücksicht auf die Gegenwart von uns Kindern. Unglaublich, aber wahr, dass meine Mutter tatsächlich weiterhin der Meinung war, ich hätte mein Erbrochenes auf jeden Fall essen müssen.
Meine Mutter wurde ganz offensichtlich „von etwas geritten“, das sie in Jähzorn und Hass gebunden hielt und sie zu einer überaus unmenschlichen Handlungsweise gegenüber mir, ihrem erst fünfjährigen Kind, antrieb. Ihr Ausruf „Du Teufelsbrut, du bist nur dazu geboren, mir das Leben zur Hölle zu machen!“, deutet darauf hin, dass sie irgendeine eigene Schuld oder falsche Entscheidung auf mich projizierte. Es musste etwas in ihrer eigenen Vergangenheit gegeben haben, wodurch ihr Herz dermaßen verhärtet wurde, dass sie sich nur noch als Opfer ihrer eigenen Lebensumstände sehen konnte und sich ganz dem Zorn und Hass hingab, den sie dann auf mich entlud. Für irgendetwas gab sie mir die Schuld an diesen Umständen. Sehr viel später sollte ich es erfahren. Aber jetzt, als kleines Kind, das der Liebe und des Schutzes seiner Eltern bedurfte, verstand ich rein gar nichts und fand mich dem Schmerz vollkommen ausgeliefert, sowohl körperlich als auch seelisch und im Herzen. Leider war mein Vater ein schwacher Mensch und sah sich nicht oder nur wenig in der Lage, mich gegen die Boshaftigkeit meine Mutter schützen zu können. Zu Beginn versuchte er es noch, verfiel aber später zunehmend in Lethargie und nahm aus Selbstschutz Partei für meine Mutter.
Je mehr Zeit verging, umso befremdlicher wurde mir die Welt, in der ich leben musste. Immer stärker wurde mir der Hass meiner Mutter bewusst, den sie an mir ausließ. Zudem wurde mein Gesundheitszustand von Tag zu Tag schlimmer, sodass meiner Mutter nichts anderes übrigblieb, als mit mir zu unserem Hausarzt zu gehen. Der Arzt war entsetzt, als er mich erblickte. Es dauerte nicht lange und er bat mich, mit seiner Sprechstundenhilfe in den benachbarten Raum zu gehen. Dennoch konnte ich mit anhören, wie er meine Mutter im wahrsten Sinne des Wortes zusammenbrüllte und sie mit der Frage konfrontierte, ob ihr denn nicht aufgefallen sei, dass ich völlig unterernährt sei.
Der Grund für meine Appetitlosigkeit war Anämie, auch Blutarmut genannt. Das hätte meiner Mutter, so der Hausarzt, doch auffallen müssen. Auf dem Rückweg herrschte vonseiten meiner Mutter mir gegenüber vorwurfsvolles Schweigen.
Tagein, tagaus erntete ich von ihr nichts anderes als Beschimpfungen, Vorwürfe und sehr harte und absolut brutale Schläge. Sie gab für die Nichterfüllung all ihrer Träume mir, als Kind, die Schuld und sah in mir nur ein Teufelswesen. Ich weiß nicht, wie oft ich mir habe anhören müssen, dass es für sie besser gewesen wäre, wenn ich erst gar nicht geboren worden wäre. Jedes Wort des Hasses war für mich wie ein Stich in die Seele, wodurch meine Traurigkeit immer mehr zunahm. Dadurch machten sich auch immer neue Krankheiten an mir bemerkbar.
Als mein Vater eines Abends von der Arbeit nach Hause kam, hörte ich ihn zu meiner Mutter sagen, dass mein Kopf eine immer schiefere Haltung annähme. Er wies daraufhin meine Mutter an, den Hausarzt erneut zu konsultieren. Dieser stellte fest, dass meine rechte Halssehne verkürzt war. Es handele sich hierbei um einen Geburtsfehler, der operativ behoben werden müsse. Kurz darauf begab sich meine Mutter mit mir in ein Krankenhaus, in dem die rechte Sehne unter Narkose gestreckt wurde. Da die Operation ambulant durchgeführt wurde, konnte ich noch am gleichen Tag nach Hause entlassen werden. Der Taxifahrer half meiner Mutter, mich in mein Kinderzimmer zu bringen, wo mich meine Mutter letztendlich ins Bett brachte.
Stunden waren vergangen, als ich zum ersten Mal erwachte. Noch immer verspürte ich die Nebenwirkungen der Narkose. Ein Durstgefühl breitete sich in mir aus, und ich rief nach meiner Mutter. Als ich meinen Hals zu ertasten versuchte, bemerkte ich, dass man mir einen großen und schweren Gipsverband umgelegt hatte, der meinen Kopf so gut wie möglich in der neuen Haltung fixieren sollte.
Kurze Zeit später erschien meine Mutter mit einem Glas Wasser an meinem Bett und erwartete, dass ich mich eigenständig aufsetzte. Das gelang mir jedoch aufgrund der unsäglichen Schmerzen nicht. Auch war ich noch immer sehr geschwächt. Darüber hinaus wirkte die massige Gipsmanschette wie ein bleiernes Gewicht, das mich immer wieder ins Bett zurückdrückte. Es gelang mir einfach nicht, mich alleine aufzurichten. Hilfesuchend sah ich meine Mutter an. Doch sie wirkte vollkommen versteinert und abgrundtief verbittert. Nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen meinte sie nur kaltherzig: „Nun, wenn du dich nicht selbst im Bett aufsetzen kannst, bekommst du auch nichts zu trinken und zu essen!“ Mit dem Glas Wasser in der Hand verließ sie das Kinderzimmer. Ich lag in meinem Bett und hatte schrecklichen Durst und Hunger. Irgendwann schwanden mir die Sinne und ich fiel in einen tiefen Schlaf.
Es war das Läuten der Türglocke, das mich erneut aus dem Schlaf riss. Mein Vater war um 17 Uhr von seiner Arbeit nach Hause gekehrt. Als er ins Kinderzimmer trat, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen, bat ich ihn um einen Schluck Wasser und etwas zu essen. Es war wiederum mein Vater, der mir schließlich zu Hilfe kam. Obwohl das Trinken nach einer Narkose äußerst wichtig ist, hatte meine Mutter es mir über mehrere Stunden hinweg verweigert und mir auch nichts zu essen gebracht. Ich hatte so starken Durst, dass mein Vater mir ein weiteres großes Glas Wasser bringen musste. Endlich, nach über acht Stunden des unsäglichen Wartens auf einen Schluck Wasser und ein wenig Nahrung, konnte ich mich wieder zurücklegen und weiterschlafen.
Auch am nächsten Tag bekam ich nichts zu trinken und zu essen und musste den ganzen Tag ohne einen Schluck Wasser und ohne Nahrung im Bett zubringen, denn ich konnte mich immer noch nicht alleine aufrichten. Was blieb mir anderes übrig, als zu schlafen? Solange ich schlief, bemerkte ich den Schmerz nicht und fühlte keinen Durst und Hunger. Ich musste erneut warten, bis mein Vater von der Arbeit nach Hause kam und mir nach über neun Stunden, endlich etwas zu trinken und zu essen gab.
Leider war eine weitere Operation notwendig, nach der sich meine Mutter seltsamerweise kurze Zeit anders verhielt und mir beim Essen und Trinken half. Allerdings war das nicht von Dauer und sie verfiel bald wieder in ihr altes Muster von abgrundtiefem Hass und Jähzorn.
Als ich später zum Einschulungstest musste, wurde es für meine Mutter peinlich. Zwar staunte der verantwortliche Schularzt nicht schlecht, dass ich in der Lage war, komplizierte Wörter zu verstehen und manche Rechenaufgaben gut lösen zu können. Dennoch wurde ich für ein weiteres Jahr vom Unterricht zurückgestellt, da mein Gesundheitszustand als mehr als bedenklich beurteilt wurde. Nach Meinung des Arztes sei ich körperlich nicht in der Lage, den Anforderungen des Schulalltags standzuhalten. Ich blickte meiner Mutter ins Gesicht. Sie verstand nur allzu gut, was mein Blick bedeutete und wirkte mehr als verlegen. Trotzdem änderte sich nichts.
Alle diese Geschichten aus meiner Kindheit zeigen, wie sehr ich mich nach Liebe, Annahme, Geborgenheit und Fürsorge sehnte, was für jedes Kind selbstverständlich ist. Die Kapitel über Hunger, Lebensarmut und Durst stehen sinnbildlich auch dafür, wie sich meine Seele entwickelte und wodurch ich ein so stark Suchender wurde. So mag jede Leserin und jeder Leser eine eigene Geschichte haben, die zu Lebensdurst und Lebenshunger führte, und jede bzw. jeder hat versucht, dies auf die eigene Weise zu stillen. Für uns alle bleibt die Frage, worin und wodurch man wirklich lebenssatt werden kann.
Es gab natürlich auch Lichtblicke in meiner Kindheit. So hatten wir im Gegensatz zu allen anderen Familien in unserer Wohnsiedlung bereits im Jahre 1969 einen Schwarz-Weiß-Fernseher. Mein Vater arbeitete als Mess- und Regeltechniker und kannte Max Grundig persönlich. Von ihm hatte er diesen Fernseher geschenkt bekommen. Zusammen mit meinen Eltern sah ich nun jeden Abend die Nachrichten und andere Sendungen an. Plötzlich wurde davon berichtet, dass Menschen zum ersten Mal mit einer Rakete zum Mond fliegen sollten. Ich war begeistert von dieser Nachricht und bat meine Eltern darum, dieses Ereignis mit ansehen zu dürfen. Sie erlaubten es, wenn auch widerwillig, da ich ihnen so sehr in den Ohren lag. So kam es, dass ich mitten in der Nacht geweckt wurde und zusammen mit meinen Eltern am 16. Juli des Jahres 1969 den Start der Saturn-V-Rakete miterleben konnte. Nur wenige Tage später, am 21. Juli um 3 Uhr 56 durfte ich dann erneut aufstehen, um den ersten Menschen auf dem Mond umhergehen zu sehen.
Bereits zu diesem Zeitpunkt, mit gerade einmal sechs Jahren, war mir schon bewusst, dass sich die Welt um mich herum vollkommen verändern würde. Ich hatte besonders an diesen beiden Tagen, als ich die Bilder der ersten Mondlandung miterleben konnte, das Empfinden, als wäre ich in die falsche Welt hinein geboren worden. Gehörte ich überhaupt auf diesen Planeten? Zu dieser Familie schien ich auf jeden Fall nicht zu gehören! Ich zog mich innerlich immer mehr zurück. Bloß nicht auffallen, war die Devise, nach der ich zu (über)leben versuchte.
Ein wirklicher Lichtblick jedes Jahres war der Sommer, denn dann machten sich meine Eltern mit uns Kindern auf den Weg in den Urlaub nach Oberfranken zur Familie meiner Mutter. Für mich war es die Zeit, in der ich der Enge und Tristesse des damaligen Ruhrgebiets wenigstens für ein paar Wochen entfliehen konnte. Ich freute mich auf das Wiedersehen mit all meinen Verwandten, da sie vollkommen anders mit mir umgingen, als meine eigenen Eltern das taten.
Auch 1969 machten sich meine Eltern zusammen mit meiner dreijährigen Schwester und mir auf die Reise zu dem kleinen Marktflecken Küps. Das heutige Autobahnnetz existierte damals noch nicht, weswegen wir acht Stunden unterwegs waren. Trotz der langen Fahrt fühlte ich mich wie im Paradies. Ein Grund dafür war, dass meine Mutter sich während dieser wenigen Wochen des Jahres völlig anders verhielt. Sie wirkte freundlicher, gelöster und weniger gereizt als sonst.
Jedes Mal, wenn wir bei meiner Patentante in Küps ankamen, bei der wir in den Ferien wohnten, tauchte ich in eine absolut andere Welt ein. Für die kommenden drei Wochen konnte ich mich frei bewegen und fühlte mich von Menschen umsorgt, die mich wirklich liebten. Darüber hinaus war ich von einer Landschaft umgeben, wie sie schöner nicht sein konnte. Ich blühte während dieser kurzen Zeit richtig auf. Die Geräusche der Natur und die Stille an den Abenden waren ein wirklicher Genuss für mich. Was für eine Wohltat, nicht die schrillende Straßenbahn hören zu müssen! In dieser Welt war ich umgeben von Wäldern, zuhause dagegen von eng aneinander gebauten, hohen Häusern. Während ich den Rest des Jahres dem unerträglichen Gestank des Verkehrsstroms ausgesetzt war, befand ich mich hier inmitten von riesigen Kornfeldern und ausgedehnten Wiesenlandschaften mit Tausenden von bunten Blumen.
An einem dieser wunderschönen Tage war unsere ganze Familie in der Wohnküche meiner Patentante versammelt. Plötzlich kniete sich meine Großmutter nieder und bat mich, zu ihr zu kommen. Als ich vor ihr stand, legte sie mir ihre rechte Hand auf den Kopf, die linke Hand hatte sie auf den Fußboden gestützt. Ich war völlig verwirrt und wusste nicht, wie mir geschah. Plötzlich begann sie in einer mir unbekannten Sprache etwas vor sich hinzumurmeln, das ich nicht verstehen konnte. Nach ungefähr fünfzehn Minuten war der Spuk schließlich vorbei.
Als sich meine Großmutter wieder erhoben hatte, drehte ich mich um und sah die ganze Familie hinter mir stehen (Patentante, Großvater, Vater und meine Schwester auf dem Arm meiner Mutter). Ich wusste nicht, was da soeben vor sich gegangen war, doch intuitiv verstand ich, dass es etwas Außergewöhnliches gewesen sein musste. Meine Patentante gab schließlich die Antwort auf meine ungestellte Frage:
„Weißt du, was du da gerade erhalten hast? Es ist die Hexenweihe. Das ist etwas ganz Besonderes. Das bekommt nicht jeder. Du wirst merken, dass du schon bald viele Dinge wissen, sehen und hören wirst, die anderen Menschen verborgen bleiben. Du hast ein ganz besonderes Geschenk von deiner Großmutter erhalten!“
Ich stand noch immer wie versteinert da und konnte mit den Worten meiner Patentante gar nichts anfangen. Mein Blick fiel in diesem Moment auf das Gesicht meiner Mutter, in dem sich maßlose Enttäuschung spiegelte, als sie sagte: „Warum hat er das bekommen, warum nicht ich?“ Dann wendete sie sich vollkommen frustriert ab.
Bereits drei Tage später nahm ich intensiv wahr, dass sich in meinem Inneren etwas drastisch zu verändern schien. Mit jedem neuen Tag spürte ich es nun mehr, sodass es mir schon unheimlich wurde. Bald konnte ich mich den Personen um mich herum kaum noch mitteilen.
Meine Großmutter, die selbst als „Hexe“ geweiht war, übersprang bei der Weitergabe ihrer übernatürlichen Fähigkeiten eine Generation und übertrug sie auf mich. Möglicherweise hatte sie aus dem unsichtbaren Geistraum dazu Anweisung erhalten oder die „Berufung“ auf mir „gesehen“. Schließlich hatte sie miterlebt, dass mir als Dreijährigem meine Urgroßmutter nach ihrem Tod begegnet war. Vielleicht hielt sie aber auch meine auf sich selbst bezogene Mutter nicht für würdig, die Weihe zu empfangen.
Es war das letzte Mal, dass ich meine Großmutter physisch sah. Sie starb ein Jahr später. Vielleicht auch, weil sie das geahnt hatte, hielt sie den Zeitpunkt für gekommen, ihre Weihe weiterzugeben, um sie zu bewahren.
Hexen, Druiden, Schamanen und andere Menschen, die sich der Geistwelt bewusst sind, „bewegen“ sich im Geist in diesem unsichtbaren Raum um uns herum. Sie haben eine Fähigkeit und üben sich darin, die Geistwesen dieser anderen Welt wahrzunehmen und ihnen zu begegnen. Sie empfangen „Informationen“ aus diesem Bereich und bekommen häufig auch Handlungsanweisungen. Es ist ihnen bis zu einem gewissen Grad möglich, aus dieser unsichtbaren Dimension heraus zu handeln. Allerdings ist das noch nicht „das Ende der Fahnenstange“. Es gibt eine Autoritätsebene über dieser Geistwelt. Wenn man diese kennt, muss man nichts anderes mehr fürchten. Doch davon später.
Zuhause vergingen mehrere Tage, bis ich mich wieder an das triste Leben in unserer Stadt Herne mit ihren vielen Fabriken, Zechen und schäbigen, völlig verdreckten Hinterhöfen gewöhnt hatte. Was mein Leben besonders erschwerte, war auch der ewige Streit meiner Mutter mit ihrer Schwiegermutter. (Meine Großeltern väterlicherseits lebten eine Etage höher im selben Reihenhaus.) Es gab keinen Tag, an dem sie sich nicht lauthals stritten, was den Hass meiner Mutter immer mehr schürte. Am Ende eines jeglichen Streits, ließ sie ihre Wut und Frustration und auch ihren Egoismus grenzenlos an mir aus. Schon der kleinste „Fehler“ meinerseits war Anlass für sie, ihn mir mit unbarmherzigen, absolut brutalen Schlägen „auszutreiben“.
In einer Novembernacht des Jahres 1969 bemerkte ich mit einem Mal eine „Präsenz“ neben meinem Bett. Ich öffnete meine Augen und sah in das Gesicht meiner Großmutter mütterlicherseits, die doch Hunderte von Kilometern entfernt in der Wohnung meiner Patentante in Oberfranken wohnte und von der ich erst vor ein paar Monaten die Hexenweihe erhalten hatte. Wie konnte das sein, dass sie plötzlich hier neben meinem Bett stand? Mit ihrer Hand streichelte sie mir über die Wange. Obwohl es stockdunkel im Zimmer war, konnte ich ihr Gesicht sehen, das von einem weißen Kopftuch mit großen schwarzen Punkten umrahmt war. Ich erkannte auch ihr dunkelblaues Kleid mit den kleinen, weißen Punkten. Plötzlich verschwand ihr Gesicht wieder in der Dunkelheit des Zimmers. Sofort spürte ich, wie sich in meinem Kopf immer intensiver ein Gedanke manifestierte: Meine Großmutter lag im Sterben und hatte sich von mir verabschiedet.
Wie von der Tarantel gestochen fuhr ich aus meinem Kinderbett auf, öffnete die schwere Holztür des Zimmers und lief in das benachbarte Wohnzimmer, in dem meine Eltern noch saßen.
Es muss für meine Mutter ein Schock gewesen sein, als ich ihr aufgeregt zu verstehen gab, dass Oma gerade gestorben war. Ich hatte es kaum ausgesprochen, als sie auch schon wütend vom Sofa aufsprang, um mir einen schmerzhaften Schlag aufs Hinterteil zu verpassen. Dabei schrie sie: „Ich glaube du spinnst wohl! Mach, dass du ins Bett kommst! So etwas will ich nie mehr von dir hören!“ Weinend rannte ich zurück ins Bett, wo ich nach einigen Minuten wieder einschlief.
Plötzlich wurde ich durch das Schrillen des Telefons geweckt. Ich wusste sofort, dass es meine Patentante sein musste. Nur wenige Sekunden später begann meine Mutter fürchterlich zu weinen. Mein Vater begab sich kurz darauf zu seinen Eltern, ein Stockwerk höher. Noch immer im Bett liegend, hörte ich mit an, wie ein lauter Streit zwischen meinem Vater und seiner Mutter ausbrach, in den sich dann auch noch meine Mutter einmischte. Die Keiferei im Treppenhaus wurde so laut, dass ich mir die Decke über den Kopf zog.
Dann flog plötzlich die Kinderzimmertür auf. Offensichtlich hatten meine Eltern die Großeltern gebeten, meine Schwester und mich bei ihnen lassen zu dürfen, um nach Oberfranken fahren zu können, doch diese hatten abgelehnt, mich zu betreuen. Meine kleine Schwester durfte jedoch bei ihnen bleiben. Also mussten meine Eltern mich wohl oder übel mitnehmen. Unwirsch befahl meine Mutter mir, mich anzuziehen.
Nur eine Stunde später saß ich mit meinen Eltern zusammen in unserem VW-Käfer und fuhr mit ihnen durch die eisige Winternacht. Aufgrund der widrigen Verhältnisse dauerte die Fahrt viele Stunden. Es begann schon hell zu werden, als wir die Wohnung meiner Patentante in Küps erreichten. Als sie uns die Tür öffnete, konnte ich in ihr verweintes Gesicht blicken.
Nur wenige Augenblicke später saßen wir mit meinem Großvater und meiner Patentante am Tisch der einfachen Wohnküche. Auf einmal erzählte meine Patentante, dass meine Großmutter, bevor sie gestorben war, immer wieder meinen Namen gerufen habe. Als meine Mutter sie daraufhin fragte, wann das gewesen sei, war die Antwort: Zwischen 22 und 23 Uhr des Vortages. Als ich nun erzählte, dass ich die Oma in der letzten Nacht neben meinem Bett habe stehen sehen, versetzte dies meinen Eltern einen derartigen Schock, dass ihre Gesichter sekundenlang erstarrten. Und auch ich war von diesem Ereignis mehr als verwirrt.
Im unsichtbaren Geistraum ist es möglich, entgegen den natürlichen Gesetzen von Raum und Zeit an einem anderen Ort „zu erscheinen“. Es gibt Verbindungen, die nicht an die Materie gebunden sind (so wie man manchmal erlebt, dass man in Gedanken mit jemandem verbunden ist und er ruft kurz darauf an). Auf diese Weise kann auch ein „Bild“ oder die „Projektion“ einer Person „erscheinen“, die mir in meinem Fall sogar über die Wange streicheln konnte, sodass ich es körperlich wahrnahm. Dadurch, dass ich die Hexenweihe empfangen hatte, konnte meine Großmutter auf diese Weise mit mir in Kontakt treten. Ihr Körper lag im Fränkischen auf ihrem Bett. Aber ihr Geist war zu mir „gewandert“, um sich von mir zu verabschieden, mir möglicherweise auch einen letzten „Segen“ zu hinterlassen, da ich ihr geistliches Erbe antreten sollte.
Im darauffolgenden Sommer wurde ich dann endlich in der katholischen Grundschule eingeschult. Dadurch konnte ich zumindest für ein paar Stunden dem Einflussbereich meiner streitenden Familie entfliehen, vor allem dem Jähzorn meiner hasserfüllten Mutter. Obwohl ich weiterhin körperlich nicht besonders leistungsfähig war, absolvierte ich alle vier Grundschuljahre mit relativ guten Noten. Als es jedoch darum ging, welche weiterführende Schule ich besuchen sollte, wurde einfach eine Entscheidung für mich gefällt, ohne mich einzubeziehen. Ich hatte keine Chance, als Kind darauf Einfluss zu nehmen. Bis heute habe ich noch die Worte meiner damaligen Grundschullehrerin in den Ohren, als diese mir vor der versammelten Klasse mitteilte:
„Nun ja Thomas, ich persönlich würde dich sehr gerne zum Gymnasium schicken. Aber deine Eltern haben entschieden, dass du erst einmal die Hauptschule besuchen sollst, aufgrund deiner körperlichen Schwäche. Deine Eltern sind der Meinung, du seist den Anforderungen körperlich nicht gewachsen. Ich bin da anderer Meinung. Aber ich habe die Entscheidung deiner Eltern leider zu akzeptieren!“
Ich saß nur da und wusste nicht, wie mir geschah. Was blieb mir jedoch anderes übrig, als es hinzunehmen? Der Graben zwischen meinen Eltern und mir zeichnete sich immer deutlicher ab.
Bereits in den ersten Tagen wurde mir klar, dass die Hauptschule nicht die richtige Bildungsstätte für mich war. Es mochte wohl wahr sein, dass ich körperlich nicht der Stärkste war, aber vom Intellekt her fühlte ich mich ständig unterfordert. Das fiel auch meiner neuen Klassenlehrerin auf. Oft saß ich teilnahmslos im Unterricht, schaute aus dem Fenster und hing meinen Träumen nach. Aber jedes Mal, wenn meine Klassenlehrerin mir eine Frage stellte, wusste ich sofort die richtige Antwort darauf. Ich hatte eine gewaltige Langeweile, was ein schlechter Nährboden für meine persönliche Weiterentwicklung war.
Langeweile führt in Versuchung, das Leben etwas spannender zu gestalten. Also stellte ich manchen Unfug an, was meiner Klassenlehrerin natürlich nicht gefallen konnte. Das hatte Konsequenzen, besonders, wenn ich wieder einmal mit einer negativen Mitteilung meiner Lehrerin nach Hause kam. Regelmäßig bekam ich sehr harte, überaus brutale Prügel von meiner Mutter, sodass mein ganzer Körper von grünen und blauen Blutergüssen übersät war. Doch damit nicht genug.
Wieder einmal hatte ich einen Hefteintrag mitgebracht, den meine Eltern unterschreiben mussten. Als ich ihn meiner Mutter unter großer Angst vorlegte, begann sie voller Hass brutal auf mich einzuprügeln, ohne Rücksicht, wohin sie dabei traf. Wie eine Furie schlug sie auf mich ein, während ich versuchte, in den Flur zu flüchten. Dort landete ich mit dem Rücken zur Wand und plötzlich spürte ich, wie sich ihre Hand fest um meinen Hals krallte, sodass ich fast keine Luft mehr bekam. Mit der linken Hand an meinem Hals presste sie mich hart an die Wand, während sie mit der Rechten äußerst brutal auf mich einschlug. Ich schrie vor Schmerz und Angst. Das Blut lief mir in Strömen aus der Nase. Meine Unterlippe riss. Ich lag schon am Boden, aber die Schläge hörten nicht auf. Fußtritte kamen dazu. Ein stechender Schmerz am linken Rippenbogen beförderte mich schließlich in die Gnade der Bewusstlosigkeit. Vor meinen Augen war es mit einem Mal schwarz geworden. Ich sah und spürte nichts mehr.
Ich weiß nicht, wie lange ich besinnungslos und stark blutend im Flur gelegen hatte, als ich wieder zu mir kam. Völlig benommen schleppte ich mich schließlich auf allen Vieren kriechend ins Kinderzimmer zurück und verkroch mich zitternd und voller Panik unter dem Schreibtisch, wo ich mehrere Stunden einfach nur dalag. Mein Gesicht brannte wie Feuer. Das Atmen fiel mir schwer und ich spürte dabei immer wieder diesen stechenden Schmerz; ich betastete meinen linken Rippenbogen und fühlte, dass ein Teil von ihm regelrecht abgebrochenwar. Außerdem pochte mein Kopf dumpf.
Kriechend schleppte ich mich schließlich ins Bad und zog mich am Waschbecken zitternd auf die Beine. Als ich in den Spiegel schaute, sah ich mein stark geschwollenes Gesicht. Beide Wangen waren blutunterlaufen, meine Unterlippe stark angeschwollen und – wie auch meine Nasenlöcher – vom geronnenen Blut dick verkrustet. Mein ganzer Körper schmerzte erbärmlich und ebenso jeder Atemzug, den ich machte. Ich hörte meine Mutter in der Küche herumhantieren, als wäre nichts gewesen. Langsam öffnete ich den Wasserhahn und trank ein wenig, so gut es eben ging.
Als ich meinen brennenden Durst etwas gelöscht hatte, ließ ich mich wieder auf die Knie sinken und kroch zurück ins Kinderzimmer. Dort zog ich mich auf den Stuhl am Schreibtisch. Die unsäglichen Schmerzen im Kopf und am linken Rippenbogen machten es mir fast unmöglich, mich auf meine Hausaufgaben zu konzentrieren. Doch schaffte ich es irgendwie, sie mehr schlecht als recht zu erledigen.
Als ob dieses unsägliche Martyrium nicht schon genug gewesen wäre, kam auf einmal meine neunjährige Schwester ins Zimmer. Sie grinste mich boshaft an, und ihre Worte brannten in meiner Seele: „Siehst du, meine Eltern haben mich eben lieber als dich. Es wäre wirklich besser, wenn du gar nicht hier wärst. Dann hätte ich alles für mich allein. Wenn ich meine Mama nicht von dir weggezogen hätte, wärst du nun endlich tot. Eigentlich wäre es besser für mich, wenn ich sie nicht von dir weggezogen hätte!“
Mit einem hämischen Lachen verließ sie danach das Kinderzimmer; und ich saß nur da und konnte nicht glauben, was ich gerade erlebt hatte.
An diesem Tag verlor meine „Mutter“ auch noch den letzten Rest meines Vertrauens. Für mich war sie nun nichts anderes mehr als eine fremde Person. Es verfestigte sich der Gedanke in mir, dass ich dieser Familie nur „zugeteilt“ worden war, jedoch in Wahrheit niemals dazugehört hatte. Ich fühlte mich absolut einsam.
Der Jähzorn, die Raserei und die Kraft der Schläge, mit denen meine „Mutter“ mir während meiner Kindheit zusetzte und mich dabei fast umbrachte, sind kaum noch menschlich-seelisch zu erklären. Ich denke, dass sie aufgrund ihrer starken Eigensucht (und wahrscheinlich auch wegen Vorbelastungen aus der Geistwelt) den negativen Mächten Tor und Tür geöffnet hatte. Haben sie erst einmal den Fuß in der Tür, nimmt ihr Einfluss immer mehr zu, bis sie schließlich den ganzen Menschen beherrschen und damit ein fortwährender Teufelskreis beginnt.
Das Aufstehen am nächsten Tag fiel mir sehr schwer. An jedem neuen Tag wuchs meine Angst. Doch ich musste einfach zusehen, wie ich am besten überleben konnte.
In der Schule dauerte es nicht lange, bis ich von der Klassenlehrerin in einen Nebenraum gebeten wurde. Neben meiner Lehrerin saß dort ein Herr im weißen Kittel – der Schularzt. Er bat mich plötzlich, mich doch einmal bis auf meine Unterhose auszuziehen. Meine Klassenlehrerin holte entsetzt Luft: „Du meine Güte, Thomas. Was ist dir denn passiert? Ist bei dir zu Hause wirklich alles in Ordnung?“
Wie gelähmt stand ich nur da und musste tatsächlich mit den Tränen kämpfen. Plötzlich begann ich mich sogar für meine Eltern zu schämen. Stockend und undeutlich antwortete ich: „Ich bin gestern die Treppe runtergefallen!“
Natürlich war das eine Lüge. Aber was sollte ich denn in dieser Situation antworten? Es war die pure Angst, die mich davon abhielt, meiner Lehrerin und dem Schularzt die Wahrheit zu sagen, denn was würde mich dann zuhause erwarten? Dazu kam, dass ich mir auf einmal persönlich die Schuld dafür gab, dass meine Mutter mich so behandelte, und ich glaubte nun, dass ich wohl weniger Wert sei als alle Menschen um mich herum. Denn wenn ich den gleichen Wert hätte, dann würden sie mich doch besser behandeln, oder? Es wurde für mich zu einer selbst definierten Logik, dass ich weniger Wert sein musste als die anderen. Der Gedanke verfestigte sich in mir, dass ich ein ungeliebtes Kind Gottes war, und meine Seele zerbrach.
Ich weiß noch heute, wie traurig mich der Schularzt mit einem Mal ansah und verständnislos den Kopf schüttelte über das, was er gerade zu Gesicht bekam. Meine Lehrerin sagte: „Thomas, wenn du uns nicht die Wahrheit sagst, dann können wir dir nicht helfen!“
Ich war hin- und hergerissen, wusste nicht, was ich tun sollte. Natürlich wollte ich, dass sich die Situation für mich änderte. Doch sobald ich die Wahrheit sagen würde, käme es zuhause noch schlimmer für mich. Ich fürchtete mich nicht nur, ich hatte wirklich panische Todesangst!
Der Schularzt unterbrach das bedrückte Schweigen: „Ich weiß, was hier geschehen ist. Es ist völlig normal, dass der Junge so reagiert. Ein ernstes Gespräch mit seinen Eltern ist unausweichlich und dringend notwendig!“
Nun würde es also doch geschehen. Doch ich konnte es als das Kind, das ich war, nicht mehr abwenden. Dass ich meine Lehrerin und den Schularzt anflehte, auf das Gespräch mit meinen Eltern zu verzichten, war für sie nur die Bestätigung dafür, dass etwas unternommen werden musste. Noch während ich mich wieder ankleidete, beriet sich meine Klassenlehrerin mit dem Schularzt, wie im Einzelnen nun vorzugehen sei. Von den Hausaufgaben wurde ich an diesem Tag befreit.
Als ich mich auf den Weg nach Hause begab, schwirrten mir die Gedanken durch den Kopf. Ich wusste schon jetzt, wie meine Mutter auf dieses Gespräch reagieren würde. Mit der gutgemeinten Absicht, mich in Zukunft vor weiteren körperlichen und seelischen Misshandlungen schützen zu wollen, brachten meine Lehrerin und der Schularzt mich erneut in größte Lebensgefahr.
Zuhause traute ich mich kaum, mich mit meiner Mutter allein in einem Zimmer aufzuhalten. Jeder Tag, den ich zuhause zubringen musste, war für mich ein wahrer Überlebenskampf. Zu dieser Zeit waren die Bücher meine besten Freunde. Ich begann in (m)eine eigene Welt abzutauchen. Besonders jene Bücher, welche die naturwissenschaftlichen Bereiche der Archäologie, Anthropologie, Paläontologie und Astronomie behandelten, waren für mich Tore, durch die ich in eine Welt eintauchen konnte, die sich weit entfernt von der befand, in der ich – warum auch immer – weiterleben musste. Mehrere Wochen bevor mir meine Mutter in ihrem Jähzorn den linken Rippenbogen gebrochen hatte, hatte ich mit dem Lesen dieser Bücher begonnen. Diese neue Welt war für mich zu einem Rückzugsort geworden, durch den ich die Realität um mich herum vergessen konnte, aber darüber hinaus auch das Interesse am Spielen mit anderen Kindern verlor.
Doch heute war alles anders. Zu erschreckend war das Erlebnis mit dem Schularzt und der Lehrerin gewesen. Ich konnte mich einfach nicht konzentrieren. Wie ein verängstigter Vogel saß ich an meinem Schreibtisch. Meine Panik steigerte sich noch, als plötzlich das Telefon klingelte und meine Mutter offensichtlich mit der Lehrerin sprach. Anschließend erschien sie sofort im Kinderzimmer und fragte in ihrer gewohnt schroffen Art: „Was ist heute los gewesen, dass dein Vater und ich heute Abend zur Schule kommen sollen?“
Aus reiner Überlebensstrategie log ich: „Tut mir leid. Ich weiß nicht, was meine Klassenlehrerin will. Sie war mit mir heute ganz zufrieden. Ich habe wirklich nichts falsch gemacht!“
Selbstverständlich glaubte meine Mutter mir nicht und drohte mir an, mich wieder grün und blau zu schlagen, sollte ich gelogen haben.
Eine Stunde nach dem Abendessen, bei dem ich nichts herunterbekam vor Schmerzen und Angst, verließen meine Eltern die Wohnung, um sich auf den Weg zum Gespräch mit meiner Lehrerin zu begeben. Ich weiß nicht, wie lange ich im Bett lag, bis ich endlich eingeschlafen war.
Doch plötzlich schlug die Kinderzimmertür mit lautem Getöse auf. Meine Mutter riss mich aus dem Bett und zerrte mich in den Flur. Dort begann sie, wie erwartet, auf brutalste Art und Weise mit ihren Händen und Fäusten auf mich einzuprügeln und presste durch die gefletschten Zähne: „Ich warne dich! Wenn du irgendjemandemdort draußen sagst, wie wir hier mit dir umgehen, bringe ich dich um! Ich erschlage dich! Hast du das verstanden? Ich bringe dich um! Das verspreche ich dir!“
Immer und immer wieder trafen mich ihre harten Schläge, und erneut spürte ich, wie mir das warme Blut aus der Nase über die Lippen herunterlief und am Kinn entlang auf den Boden tropfte. Mit einem Mal erblickte ich meinen Vater, der gar nicht weit von meiner Mutter entfernt stand. Immer wieder blickte ich ihn hilfesuchend an, bis er plötzlich aus seiner Starre erwachte und meine Mutter von mir trennte. Diese Gelegenheit nahm ich wahr und flüchtete voller Panik ins Kinderzimmer zurück, um mich stöhnend und schluchzend in meinem Bett zu verkriechen.
Die Decke über den Kopf gezogen und am ganzen Leib zitternd, hörte ich, wie sich meine Eltern im benachbarten Wohnzimmer miteinander stritten. Mein Vater traute sich endlich, nach so langer Zeit, zu sagen, dass sie so nicht weiter mit mir umgehen könne. Lauthals gab er ihr zu verstehen, dass sie sich zusammenreißen müsse.
Viel später erfuhr ich, dass meine Eltern, besonders meine Mutter, ganz knapp einer Anzeige wegen Kindesmisshandlung entgangen waren. Was das für sie bedeutete, schien ihr jedoch in diesem Moment (noch) nicht bewusst geworden zu sein. Das zeigte sich bereits am nächsten Morgen.
Wie gewohnt, öffnete meine Mutter die Kinderzimmertür, um sowohl meine Schwester als auch mich zu wecken, damit wir uns für die Schule fertig machten. Als ihr Blick jedoch auf mich und mein Blut verschmiertes Kopfkissen fiel, ging es von vorne los. Erneut riss sie mich aus dem Bett, um mich wiederum hart durchzuprügeln, bis mir das Blut aus der Nase nur so herausspritzte. Kochend vor Hass und Wut schrie sie: „Sieh dir mal die Schweinerei an, die du gemacht hast! Du machst mir nur Arbeit! Die ganze Bettwäsche kann ich nun wegen dir waschen, du Teufelsbrut. Du bist ein Schwein! Mehr nicht!“
Als sie von mir abließ, hörte ich das Weinen meiner Schwester, die alles hatte mit ansehen müssen. Ich hingegen war in diesem Moment so geschwächt, dass ich wie ein nasser Sack zu Boden sank und nichts mehr sah und hörte.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich im Bett, das frisch bezogen war. Wie lange ich zusammengeschlagen auf dem Boden gelegen hatte, kann ich nicht mehr sagen. Eines ist jedoch sicher. An diesem Tag war ich nicht in der Schule gewesen.