Der Weg ins Feuer - Kathleen Kent - E-Book
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Der Weg ins Feuer E-Book

Kathleen Kent

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Beschreibung

Betty Rhyzyk, die rothaarige, knallharte Drogenfahnderin vom Dallas Police Department, erholt sich nur schwer von den Verwundungen an Seele und Körper, nachdem sie der abscheulichen Meth-Sekte von Evangeline Roy entkommen ist. Sie ist unruhig, schreckhaft und unleidlich, selbst gegenüber ihrer geliebten Frau Jackie. Ihr Frust wird sogar noch größer, als sie von ihrem Vorgesetzten zum Innendienst verdonnert wird. Denn das Dallas Police Department hat Probleme: Ein neuer Player eines mexikanischen Kartells ist aufgetaucht – El Cuchillo, »das Messer«, ein besonders brutaler Killer. Und zudem scheint ein Cop Selbstjustiz an kleineren Dealern zu verüben. Noch mehr belastet Betty aber, dass ihr Partner Seth im Verdacht steht, selbst Drogen zu nehmen und korrupt geworden zu sein. Und dann ist da noch Evangeline Roy, die zweifellos auf Rache aus ist. Betty wäre aber nicht Betty, wenn sie das daran hindern würde, alle Probleme auf einmal anzupacken – und sei’s außerhalb der Legalität.

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Cover for EPUB

Titel

Kathleen Kent

Der Weg ins Feuer

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea O’Brien

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel The Burn bei Mulholland Books, an imprint of Little, Brown and Company, a division of Hachette Book Group, Inc.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5296.

Deutsche Erstausgabe© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023© 2020 by Kathleen Kent

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagfoto: FinePic(R), München

eISBN 978-3-518-77436-6

www.suhrkamp.de

Der Weg ins Feuer

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Der Weg ins Feuer

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Danksagung

Informationen zum Buch

Der Weg ins Feuer

Für Alisa, Josh und Remi

Wo der Teufel nichts mehr ausrichtet, schickt er eine Frau.

Polnisches Sprichwort

1

Freitag, 21. Januar 1999 Alphabet City, Manhattan Kreuzung Avenue D und 3rd Street

Meine polnische Großmutter vertraute bis ans Ende ihrer Tage niemandem, der in der Dunkelheit lächelte oder sich im Winter weiß kleidete. Der Grund: Kostucha, der Sensenmann, erscheint den Todgeweihten mit einem breiten Grinsen und schneeweißer Robe.

Den Kollegen meines Bruders, dessen Name mir aus zahlreichen Tischgesprächen längst vertraut war, traf ich erst in jener Nacht zum ersten Mal persönlich. Mein Vater kannte Paul Krasnow natürlich, denn er war, genau wie mein Bruder, Detective beim vierundneunzigsten Revier in Brooklyn. Paul war zehn Jahre älter als mein Bruder Andrew, seit acht Jahren als Drogenfahnder im Einsatz, vier davon undercover, und stand, so hieß es, kurz vor der Beförderung zum Sergeant.

Krasnow konnte eine unschlagbare Erfolgsstatistik vorweisen: Allein um Weihnachten herum hatte er rund zwei Dutzend mittlere und große Crack-Dealer festgenommen, fast eine halbe Million Dollar beschlagnahmt und über zwanzig Vollautomatikwaffen aus dem Verkehr gezogen.

Widerwillig hatte ich mich bereiterklärt, meinen Bruder und seinen Kollegen nach Manhattan zu fahren, wo sie mit einem Informanten angeblich »noch was zu regeln« hatten. Laut Andrew wollte einer seiner Informanten in Alphabet City ihnen was zeigen. Als ich fragte, warum er nicht mit seinem eigenen Wagen oder Pauls brandneuem Cadillac fahren konnte, erklärte er mir mit schuldbewusstem Grinsen, sein Auto sei bei seiner Freundin, und sein Kollege habe Angst, sich mit der neuen Karosse Beulen zu holen.

»Na klasse«, hatte ich gesagt, »also darf ich meinen sauer verdienten Toyota opfern.«

Ich erinnerte Andrew daran, dass ich am folgenden Morgen eine wichtige Prüfung an der Polizeiakademie hatte und ihn und seinen Kollegen nicht bis spät in die Nacht herumkutschieren konnte. Wenn sie danach noch durch die Kneipen tingeln wollten, müssten sie das schon in Brooklyn machen.

»Betty, du bist der Mann von uns beiden, und eine Frau, wie ich sie nie verdienen werde. Aber, bitte, tu mir diesen einen Gefallen«, hatte Andrew gebettelt, in einem Ton, den er immer dann anschlug, wenn er mich weichkochen oder zu irgendwas überreden wollte. »Ich steck dir auch die Lösungen für die polizeiliche Ethikprüfung zu.«

Wir fuhren durch nasse, eisglatte Straßen zur Franklin Street, wo Krasnow schon vor seinem Apartmentblock auf uns wartete. Auf dem Brooklyn Queens Expressway und der Williamsburg Bridge ging es dann weiter nach Alphabet City. Obwohl ich vorsichtig fuhr, waren wir schon in einer Dreiviertelstunde in Manhattan.

Krasnow saß zwar hinten, doch das hielt ihn nicht davon ab, sich vorzubeugen, mir in den Nacken zu atmen und mich mit Fragen über meine Ausbildung an der Akademie zu löchern. War es schwierig, so als Frau unter lauter Männern? Wollte ich es zum Detective schaffen? Bei welcher Abteilung? Diese Fragen sollten offenbar echtes Interesse an meiner Karriere bei der Polizei suggerieren, aber ich vermutete, dass es ihm in Wahrheit darum ging, Informationen über mich herauszufinden, die er für seine Zwecke nutzen konnte.

Weil er keine der unter Polizisten so üblichen schmutzigen Witze von betrunkenen alten Damen oder Stripperinnen riss, ging ich davon aus, dass Andrew ihn vorgewarnt hatte. Aber jedes Mal, wenn sich unsere Blicke im Rückspiegel trafen, fiel mir auf, dass er mich trotz seines netten Geplauders ganz genau im Visier hatte.

Ich parkte an der Ecke Avenue D und 3rd Street, schräg gegenüber vom Haus des Informanten, ein fünfstöckiges, in die Jahre gekommenes Apartmentgebäude im Herzen der Loisaida – dem Teil der Lower East Side, der traditionell fest in hispanischer Hand lag. In den vergangenen zehn Jahren hatte sich die Gegend allerdings verändert, es herrschte zwar noch Kleinkriminalität, aber die Mieten waren gestiegen, die Läden exklusiver geworden. Obwohl die hispanische Bevölkerung zunehmend verdrängt wurde, gab es immer noch kleine Enklaven, wo die Leute in lauen Sommernächten auf den Stufen vor ihren Häusern saßen und aus weit aufgerissenen Fenstern der Duft von Kochbananen und Knoblauch wehte.

Paul und Andrew stiegen aus und versprachen mir, in zehn, maximal zwanzig Minuten zurück zu sein. Sie überquerten Avenue D, blieben aber vor dem Gebäude stehen und sprachen miteinander. Verdeckte Ermittler lernten, sich so zu unterhalten, dass man ihnen die Worte nicht von den Lippen ablesen konnte. Als ich meinen älteren Bruder beobachtete, musste ich lächeln. Er hatte die Arme verschränkt und tänzelte auf dem Gehsteig herum, um sich in der klirrenden Kälte warm zu halten. Sogar mit seinen einundzwanzig Jahren hatte sein Gesicht immer noch kindliche Züge. Ich war zwar vier Jahre jünger als er, aber größer und vor allem kantiger – in jeglicher Hinsicht. Dennoch war er mein Beschützer in allen Lebenslagen.

Seine Körpersprache verriet mir, dass er diese Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte.

In diesem Moment sah Paul Krasnow mir direkt in die Augen. Mit seinen hohen Wangenknochen und dem ziselierten Kinn wirkte er auf verstörende Weise attraktiv, wie er so dastand, in seiner mit Schnee bestäubten Schaffelljacke über der acid-washed Jeans. Edle Klamotten, die ich mir nie leisten könnte, selbst wenn ich das Trinkgeld von sechs Monaten Kellnern zusammenkratzen würde. Er verzog die Lippen zu einem Grinsen und bleckte die Zähne wie ein Raubtier. In dem Moment überkam mich ein Schutzinstinkt, und ich hätte Andrew am liebsten zurückgerufen, ihn angefleht, mit mir nach Brooklyn zu fahren und seinen Kollegen mit seinem Vorhaben allein zu lassen. Aber Krasnow hatte meinem Bruder bereits mit besitzergreifender Geste den Arm um die Schultern gelegt und ihn in Richtung Aufgang manövriert.

Sie klingelten und verschwanden kurz darauf ins Gebäude.

Ich drehte das Radio auf und zog das schwere Lehrbuch der Akademie aus der Tasche, schaltete meine Taschenlampe ein und las. Korruptionsprävention, Dienstvergehen, Strafermittlungs- und Disziplinarverfahren, Prozesse und Grundlagen des COMPSTAT-Systems …

Eine Weile beschäftigte ich mich konzentriert mit dem Thema Dienstaufsichtsbeschwerden. Sie drohten, wenn Einsätze nachweislich von Vorurteilen motiviert waren, Zeugen eingeschüchtert oder bedroht wurden oder Polizisten anderweitig ihre Befugnisse überschritten. Als ich das nächste Mal auf die Uhr sah, waren bereits zehn Minuten vergangen, doch mein Bruder und sein Kollege waren immer noch nicht zurück. Der Schneeregen gefror auf der Windschutzscheibe. Im Radio lief schon wieder »1999« von Prince, der Song hing mir schon zum Hals raus, also suchte ich einen anderen Sender, Britney Spears, »Baby One More Time« – besser.

My loneliness is killing me … sang ich lauthals mit, in Gedanken bei Carla, die mit mir auf der Akademie war. Die süße Carla mit ihrem Bitte-fick mich-Blick.

Langsam wurde es kalt im Wagen. Ich drehte die Heizung hoch und nahm das Gebäude gegenüber genauer in Augenschein. Im ersten Stock stand ein kleines Mädchen in einem hell erleuchteten Fenster, das sich wie ein goldenes Rechteck von der grauen, schmutzigen Fassade abhob. Die Kleine trug einen gelben Schlafanzug, ihre dunkelbraunen Haare ringelten sich in kleinen Löckchen um das runde, apfelbäckige Gesicht. Sie patschte mit beiden Händen sanft gegen die Scheibe, und ihr lachender Mund formte ein überraschtes O, als sie bemerkte, dass ihr Atem einen geisterhaften Schleier aufs Glas zauberte. Ich winkte ihr zu, war aber zu weit entfernt, außerdem war es dunkel im Wagen, sodass sie mich nicht sehen konnte.

Mittlerweile waren zwanzig Minuten vergangen. In meinem vierhundert Seiten dicken Wälzer stand nichts über die zermürbende Langeweile der Observation, das Los eines jeden Undercoveragenten.

Das kleine Mädchen im Fenster hatte mir den Rücken zugekehrt. Jetzt erkannte ich, dass sie vor einer Netzgardine stand. Dahinter bewegten sich Schattenfiguren, Erwachsene huschten im Apartment hin und her, mal schnell, mal langsamer, es sah aus, als würden sie tanzen. Dann wurde einer von ihnen offenbar heftig geschubst und stieß das Kind dabei gegen die Scheibe. Ich fuhr hoch, fürchtete, dass das Glas brechen, das Mädchen sich verletzen oder, noch schlimmer, hinausstürzen könnte.

Sekundenschnell waren alle Schatten hinter der Gardine aus meinem Sichtfeld verschwunden. Nur das Kind stand noch am Fenster, jetzt eng an den Rahmen gepresst. Die Kleine hatte den Blick auf das gerichtet, was in der Wohnung geschah, die Hände vor Schreck oder Überraschung auf den Mund gelegt. Es war ihre Körperhaltung, starr, wie vom Donner gerührt, die bei mir alle Alarmglocken schrillen ließ. Ich stellte das Radio leise, aber da waren nur die vom Schneematsch gedämpften, auf- und abschwellenden Verkehrsgeräusche. Mittlerweile war eine halbe Stunde vergangen. Ein finsterer Gedanke schlich sich in mein Hirn, pochte mir wie der Vorbote einer Migräne in den Schläfen: Andrew und Paul sind in diesem Apartment.

Wieder krachte jemand gegen das Fenster, diesmal mit dem Gesicht, der vor Schmerz oder Angst aufgerissene Mund eines Mannes war zu sehen. Die Kleine ging in Deckung, die Arme schützend über dem Kopf verschränkt.

Ich muss da rein!, dachte ich, aber meine Unsicherheit hielt mich zurück. Ich könnte einfach klingeln, um ins Gebäude zu kommen, und dann versuchen, die Apartmentnummer des Informanten zu raten, aber wenn ich mich einmischte, brachte ich damit womöglich meinen Bruder und seinen Kollegen in Gefahr. Mittlerweile fror ich nicht mehr, hier im Wagen wurde es langsam unerträglich heiß.

Auf dem Gehweg vor dem Haus herrschte plötzlich Bewegung: Andrew und Paul hasteten über die Straße auf meinen Wagen zu, mein Bruder hatte den Kopf so tief gebeugt, dass ich sein Gesicht nicht erkennen konnte. Pauls Miene war wie versteinert, völlig ausdruckslos. Als ich diesen toten Blick sah, ohne jegliche Gefühlsregung, riss ich die Tür auf und wollte sofort davonlaufen.

»Bleib im Wagen!«, befahl Paul mit barscher Stimme.

Diesmal rutschte Andrew auf die Rückbank, Krasnow hechtete auf den Beifahrersitz.

»Fahr los!«, rief er, den Blick starr nach vorn gerichtet.

Im Rückspiegel sah ich, dass mein Bruder komplett in sich zusammengesunken war und seine Hände anstierte.

Ich warf einen raschen Blick zum Apartmentfenster, aber das Kind war nicht mehr da.

»Was ist passiert?«, stieß ich hervor.

»Erzähl ich dir auf dem Weg«, sagte Paul knapp.

Als ich immer noch zögerte, funkelte er mich mit solcher Boshaftigkeit an, dass mir eines klar wurde: In dem Apartment war etwas Entsetzliches passiert. Und Paul Krasnow trug die Schuld daran.

»Was ist hier los?«, fragte ich, an Andrew gewandt.

»Fahr los!«, zischte Paul, sein Gesicht dicht vor meinem. »Du versaust uns gerade den Einsatz!«

Also legte ich den Gang ein, wendete und warf einen letzten Blick auf das Fenster, suchte nach dem Mädchen mit dem gelben Schlafanzug. Aber sie stand nicht mehr dort, stattdessen wehte jetzt die Gardine nach hinten, als würde sie von einem Vakuum eingesogen.

Wir standen an der Houston Street an einer roten Ampel, als die Explosion die Luft zerschnitt. Ich fuhr herum und sah hinter mir nichts als brennende Trümmer und eine riesige Staubwolke, Ziegel und Metallteile wirbelten darin herum.

Pauls Finger legten sich wie ein Stromkabel um mein Handgelenk.

»Fahr weiter«, sagte er. »Oder steig aus.«

Als wir in die Delaney Street einbogen, kreischten die ersten Sirenen. Hinter uns stieg eine schmuddelgraue Rauchwolke auf. Wir fuhren weiter Richtung Osten, über die Brücke nach Brooklyn. Erst kurz vor der Franklin Street ergriff Paul Krasnow wieder das Wort. Er klang sachlich wie bei einem Vortrag. Der Informant habe ihn, Andrew und zwei andere verdeckte Ermittler unter falschen Vorgaben in seine Wohnung gelockt. Dort habe er mehr Geld für seine Information gefordert. Nachdem die Polizisten nicht auf die Forderung eingegangen seien, habe der Informant ihnen gedroht, sie bei den Dealern auffliegen zu lassen. Einer der beiden Kollegen habe daraufhin seine Waffe gezogen und Paul und Andrew aufgefordert, die Wohnung zu verlassen, er und sein Kollege würden sich um den Informanten kümmern.

»Und die Explosion?«, fragte ich, das Steuer fest umklammert.

Paul sah mich mit seinem toten Blick an. »Ein tragischer Unfall.«

Ich hielt vor Krasnows Apartment und wartete darauf, dass mein Bruder diese Version bestätigen oder eine alternative Erklärung liefern würde. Als ich endlich den Mut aufbrachte, in den Rückspiegel zu schauen, saß Andrew immer noch so da wie vorher, in sich zusammengesunken, das Kinn im Mantelkragen vergraben. Er sagte kein Wort.

»Hör zu, der Typ hat in seiner Wohnung Drogen gekocht«, sagte Paul, die Hand schon am Türgriff. »Der hatte genug gefährliche Chemikalien in seiner Hütte, um die Chelsea Pier in die Luft zu jagen. Es war klar, dass die Bude irgendwann hochgehen würde.«

Doch schon bevor er den Satz zu Ende gebracht hatte, war mir klar, dass er die Story frei erfunden hatte, und zwar auf dem Weg zurück nach Brooklyn. Und jetzt tischte er sie uns beiden auf. Die offizielle Version.

Paul öffnete die Tür und stieg aus. »Ein Wort von dir über das, was heute Abend passiert ist, und wir sind erledigt. Das gilt auch für deinen Bruder. Verstanden?«

Er wartete, bis ich nickte, dann sagte er zu Andrew: »Alles klar?«

Als mein Bruder nicht reagierte, streckte Paul den Kopf zur Tür herein und fragte erneut: »Alles klar, Kollege?«

Andrew sah ihn an und nickte.

Während ich nach Greenpoint fuhr, kauerte Andrew immer noch auf der Rückbank, stumm, ein Bild des Elends. Ich parkte an der Straße vor meinem Elternhaus, wo wir beide noch immer wohnten, ließ den Motor laufen, aber die Heizung konnte nichts ausrichten gegen die Kälte. Ich hatte tausend Fragen. Wann waren die anderen Polizisten aufgetaucht? Stimmte Krasnows Geschichte? Ich war allerdings nicht sicher, ob ich die Antworten hören wollte, denn die Wahrheit über das, was mein Bruder getan hatte, war schwerer zu ertragen als die Unsicherheit.

Ich betrachtete meinen Bruder, den ich so gut kannte wie mich selbst, bemerkte seinen neuen Mantel, seine teure Armbanduhr, erinnerte mich an die edle Kette, die er seiner Freundin vor Kurzem geschenkt hatte, und da hatte ich auf einmal alle Antworten, die ich nicht wissen wollte.

»In der Wohnung war ein Kind«, flüsterte ich.

Es sah aus, als wollte Andrew vor mir fliehen. Er hechtete förmlich aus dem Wagen und stolperte die Stufen hinauf ins Haus. Ich blieb ihm auf den Fersen, alle Angst verflogen, von loderndem Zorn getrieben. Als ich ins Haus stürzte, sah ich meinen Bruder gerade noch nach oben verschwinden, so panisch, dass er zwei Stufen auf einmal nahm. Mein Vater stellte sich mir in den Weg, blockierte die Treppe wie ein Wachmann. Als hätte er schon den ganzen Abend auf uns gewartet.

»Lass ihn in Ruhe!«, blaffte er mich an, breitbeinig, die Augen blutunterlaufen. Er stank nach Whiskey.

Ich versuchte, mich an ihm vorbeizudrängen, aber er tänzelte geschickt vor mir her, ausgebuffter Straßenkämpfer, der er war, die Lippen missbilligend verzogen.

»Dir braucht hier niemand Rechenschaft ablegen«, schnaubte er mir seine saure Fahne ins Gesicht. »Du bist kein Cop. Noch nicht. Die schweren Fragen stellst du erst, wenn du dir deine Sporen verdient hast.«

Als er sicher war, dass ich Andrew nicht nach oben folgen würde, wankte er zurück zu seinem Sessel und stellte den Blick wieder scharf, um das Geschehen in der Glotze weiterzuverfolgen.

Er kippte den Whiskey in sich hinein, dann verbarg er das Gesicht wieder im Schatten. »Solange du die Nummer nicht durchgezogen hast, mit allem, was dazugehört«, nuschelte er, »hast du keine Ahnung, was es heißt, für seinen Kollegen einzustehen. Erst wenn – und das ist ein großes Wenn – du deine Marke bekommst, wirst du lernen, dass es ›keine blaue Linie‹ gibt, kein Schwarz oder Weiß. Sondern ein graues Band, ungefähr so groß wie Brooklyn, das uns von den Kriminellen trennt und dem Rest der ahnungslosen Zivilisten.«

Ich blieb bei ihm im dunklen Zimmer sitzen, um die Nachrichten zu verfolgen. Schon kamen die ersten Eilmeldungen über die Explosion in Alphabet City rein. Ein Großbrand, Alarmstufe 4, hatte einen gesamten Gebäudekomplex an der Avenue D zerstört und wäre auch auf andere Gebäude übergegangen, wenn das Haus nicht freistehend gewesen und die Dächer nicht so nass gewesen wären. Die meisten Wohnungen hatte man rechtzeitig evakuieren können, aber die Bewohner im ersten Stock waren in den Flammen umgekommen.

Am Morgen fand man die sterblichen Überreste von drei Erwachsenen und einem Kind, nur noch verbrannte Knochen. Nach der Explosion sei das Feuer ausgebrochen, das sich dank eines Brandbeschleunigers mit extremer Hitze sekundenschnell ausgebreitet und alles in seinem Weg vernichtet hatte. Die Wohnung gehörte aber nicht etwa einem armseligen Junkie, der angeblich als Informant für meinen Bruder tätig war, sondern einem Großdealer namens Raphael Trujillo-Sevilla. Am Nachmittag stand dann fest, dass es sich bei den anderen erwachsenen Opfern um zwei Polizisten handelte.

Nach dem Brand gab es eine offizielle Untersuchung. Die Gerüchteküche brodelte, man munkelte von Korruption, Polizisten, die sich von Dealern bestechen ließen, denjenigen, die nicht mitspielten, Beweise unterschoben und sogar Spitzel zum Abschuss freigaben, wenn die drohten, als Zeugen gegen sie aufzutreten, doch am Ende kam nichts dabei raus. Kein einziger Polizist wurde diszipliniert, auf den Straßen lief alles weiter wie bisher. Nur der damalige Staatsanwalt exponierte sich aus politischem Kalkül mit Forderungen nach weiteren Untersuchungen, woraufhin man seiner Karriere ein jähes Ende setzte, indem man mehrere pikante Fotos in einer bekannten Tageszeitung veröffentlichte, die ihn in eindeutigen Posen mit einer Prostituierten zeigten.

Selbstverständlich gab es Zeugen, die Aussagen über die Ereignisse jenes Abends machen konnten. Einer gab sogar zu Protokoll, vor dem Gebäude einen roten Toyota Corolla gesehen zu haben, der nur Minuten vor der Detonation weggefahren sei. Dasselbe Modell wie meiner. Aber diese Autos waren in Manhattan so zahlreich, dass die Aussage folgenlos blieb.

Eines Abends, es war bereits spät, tauchten zwei Polizisten vom NYPD bei uns auf, sie verschwanden rasch mit meinem Vater in sein Allerheiligstes – ein vollgequalmtes Hinterzimmer, das ich so gut wie nie richtig gesehen, geschweige denn betreten hatte. An jenem Abend änderte sich das. Nach einer Stunde rief mein Vater mich zu sich und schloss die Tür hinter uns. Auf seinem Schreibtisch stand eine teure Flasche Edelwhiskey, bereits halb leer. Einer der Männer, dessen Rangabzeichen ihn als Lieutenant auswiesen, grinste mich an – schmallippig, todernst –, bevor er mir versicherte, dass ich nichts zu befürchten hatte. Eine ohnmächtige Wut stieg in mir auf, so heftig, dass ich fürchtete, mir würde gleich der Kopf platzen. Wie gern hätte ich ihnen die Wahrheit entgegengeschleudert, doch stattdessen blieb sie mir wie ein bitterer Kloß im Halse stecken: Ich hatte den anonymen Brief an den Staatsanwalt geschickt, der Tipp mit dem roten Toyota stammte von mir.

Nach diesem Treffen sprach ich kein Wort mehr mit meinem Bruder und hielt mich die meiste Zeit von zu Hause fern. Unsere vereinzelten Begegnungen, wenn er stumm durch den Flur ging oder wir uns zwangsläufig in der Küche begegneten, verliefen flüchtig, und ich vermied peinlichst jeglichen Körperkontakt mit ihm.

Andrews Stimme hörte ich zum letzten Mal an dem Abend, als er vor meiner geschlossenen Tür stand.

»Betty«, hatte er damals gefleht und sanft an die Tür geklopft, »bitte …«

Ich stand nur auf, um den Schlüssel umzudrehen und die Musik lauter zu stellen.

Zwei Wochen nach der Explosion nahm sich mein Bruder das Leben. Seine Leiche, ohne Hemd, wurde Anfang Februar in New Jersey an einen desolaten Strand gespült. Sie wies keine Anzeichen äußerer Gewalt auf, die erklären könnten, wie ein kräftiger, offenbar gesunder junger Mann im Atlantik gelandet sein könnte. Bei der Autopsie stieß man dann auf den tödlichen Mix aus Barbituraten und Alkohol. Im rechtmedizinischen Bericht stand auch, dass er roten Haare und blaue Augen hatte. Genau wie ich.

Die schweren Fragen hatte ich ihm nie gestellt. Gar nichts hatte ich ihn gefragt. Aber in einem an mich adressierten Brief hatte Andrew mir alles über den Brand gestanden. Er und Paul Krasnow hatten Schutzgeld erpresst, von Trujillo-Sevilla. Irgendwann hatte der Dealer die Schnauze voll, wollte nicht mehr so viel zahlen und hatte gedroht, sie auffliegen zu lassen. Die beiden Undercoveragenten, die bei der Explosion ums Leben gekommen waren, gehörten auch zur Riege der Bestechlichen, aber sie hätten sich auch mit weniger zufriedengegeben. Ein Wort gab das andere, Waffen wurden gezogen, und am Ende erschoss Andrew einen seiner Kollegen. Paul erschoss daraufhin den zweiten Agenten und den Dealer. Der Rest war leicht gewesen: einfach beim Gasherd alle Knöpfe aufdrehen, eine Kerze anzünden, Chemikalien aus dem kleinen Hauslabor umschütten und schnell die Biege machen. Andrew hatte allerdings keine Ahnung, dass sich in der Wohnung ein Kind befunden hatte. Dieser Umstand hatte ihn schließlich gebrochen. Mit der Schuld konnte er nicht leben.

Ich hatte den Brief zerrissen und keiner Menschenseele je davon erzählt.

Ein Jahr darauf wurde Krasnow zum Sergeant befördert. Seine Hand musste ich schütteln, als ich auf der Bühne vor versammelter Akademie mein Abschlusszeugnis entgegennahm, mit seinem Händedruck besiegelte er meine Aufnahme in die Bruderschaft des Schweigens, mit selbstzufriedenem Raubtiergrinsen. Seit dem Tag, als ich den aktiven Dienst angetreten hatte, hatte ich Paul Krasnow nicht mehr aus den Augen gelassen, ich wusste über jedes Detail seiner Arbeit Bescheid, bis zu dem Moment, als ihm eine Kugel das Licht ausblies. Ein Schuss in den Hinterkopf, die Rache eines Kartellsoldaten. Oder vielleicht die eines Polizisten, der noch eine Rechnung mit ihm offen hatte.

Die Zeitungsseite mit Paul Krasnows Nachruf hatte ich angezündet, während mein Vater sie las, bei seinem üblichen Frühstück aus Bitterkeit und Jameson. Ich hatte mich einfach vorgebeugt und mein Feuerzeug ans Papier gehalten. Als die Seite in Flammen aufging, trafen sich unsere Blicke. In diesem Moment hat mein Vater verstanden, dass seine Tochter eine ehrliche Polizistin war.

2

Montag, 30. Dezember 2013 Dallas, Texas

Das hat mich meine Erfahrung mittlerweile gelehrt: Unbequeme Wahrheiten kann man nicht meiden. Es ist, als würde man sich mit einer dünnen Matratze auf einen Boden voller Steine legen. Egal, wie sehr man sich auch davor zu schützen versucht, es bleibt schmerzhaft. Am besten stellt man sich der Herausforderung und räumt den Weg frei.

Trotzdem liege ich lieber hier in einem heruntergekommenen Schuppen, das Gesicht auf einer harten Bank, und lasse mich von einem Mann mit einem Folterwerkzeug quälen – in diesem Fall eine Tattoomaschine.

In dieser unbequemen Position bekomme ich prompt einen Krampf in der rechten Wade, direkt oberhalb meiner zerrissenen und wieder zusammengeflickten Achillessehne. Die Gewebefetzen wurden mit medizinischen Fäden verbunden, die so stark sind, dass sie auch Hängebrücken halten könnten. Meine Wadenmuskeln zucken so bedrohlich, dass ich vorsichtig die Zehen hebe, um den nächsten Megakrampf abzuwehren.

Die Operation ist nun schon drei Monate her, danach folgten lange Wochen der Heilung und Reha. Drei Monate und ein paar Zerquetschte, seit man mir einen dünnen, mit Plastik ummantelten Stahlring durch einen Schnitt ins Fußgelenk und hinter besagte Sehne hindurchgefädelt hatte. An diesem Stahlring war eine Kette befestigt worden, an der ein großer Stein hing. In diesen Stein hatten meine Kidnapper das Wort DEMUT geritzt.

»Demut vor dem Herrn, Ehrfurcht vor seinem großen Plan. Demut ist der Schlüssel zur Erlösung«, hatte sie gesagt, Evangeline Roy, die Frau, die mich bis in meine Alpträume verfolgt.

Wenn ich die Augen schließe, höre ich sogar noch ihre Stimme, den Singsang ihres texanischen Akzents. Sie und ihre Söhne hatten mich während einer langen, gefährlichen Drogenermittlung brutal in ihre Gewalt gebracht und mich in ihrem kultähnlichen Meth-Tempel gefangen gehalten. Mehrere Menschen waren dabei gestorben, darunter auch ein Mitglied meines Teams, aber ich hatte überlebt, wenn auch nur um Haaresbreite. Diese Verletzung hatte allerdings nicht nur meine Achillessehne, sondern mit ihr etwas nicht weniger Essenzielles vernichtet: meine Fähigkeit zu joggen. Und im Joggen lag der Schlüssel zu meiner mentalen Gesundheit. Vor dieser Katastrophe hatte ich täglich meine Kilometer abgerissen, kein Fieber, Ziehen oder Brennen hatte mich davon abgehalten. Mit dem Lauftraining hielt ich meine zerstörerischen Kräfte unter Kontrolle, die bitterbösen Impulse, Gift und Galle zu speien, mit spitzer Zunge und bösem Blick jedes friedliche, ausgeglichene und geordnete Ereignis in meinem Leben zu sabotieren.

Das Beste in meinem Leben war meine Partnerin und große Liebe Jackie. Aber drei Monate Freistellung von meiner Arbeit beim Dallas Police Department, drei Monate, in denen ich ohne konstruktive Beschäftigung in unserem neuen Haus herumgehumpelt bin, zu aufgedreht, um nachts zu schlafen, zu erschöpft, um tagsüber irgendwas auf die Reihe zu kriegen, haben meine Beziehung zu Jackie fast zerstört. Meine Reizbarkeit, die explosive Frustration, die ich nur schlecht unter Kontrolle bekam, hatte sie trotz ihrer legendären Geduld in die Resignation getrieben.

Hinter mir tritt jemand ungeduldig von einem Bein aufs andere. Ich drehe den Kopf. Über mir steht ein Typ mit freiem Oberkörper, sein kahlrasierter Kopf glänzt im Neonlicht, ein großer, mit Schlangen umgebener Totenkopf ziert seine hervortretenden, jetzt nervös zuckenden Brustmuskeln. Man sagte mir, er sei ein Meister seines Faches.

»Ich hab nicht den ganzen Tag«, sagt er und packt mein Fußgelenk.

»Verstehe. Nur noch eine Minute, okay? Bitte.«

Ich bin so ein Jammerlappen.

Du hast dir diese Suppe selbst eingebrockt, denke ich.

Das Schlimmste am Ende meiner Läuferinnenkarriere ist, dass ich jetzt keinen Kontakt mehr zu Onkel Benny herstellen kann – der Bruder meines Vaters, der ebenfalls Cop in Brooklyn war, aber von allen respektiert wurde. Seine Stimme ist verstummt, und mit ihr die vielen Ratschläge, Warnungen, Tadel, die mir beim Laufen in den Kopf kamen. Auf langen Strecken habe ich ihn gehört, als würde er neben mir laufen, mir ins Ohr schnaufen. Dass er seit Jahren tot ist, tut nichts zur Sache, für mich wartet mein Onkel irgendwo da draußen darauf, wieder mit mir zu sprechen, wenn ich ihm nur eine Möglichkeit dazu eröffnen, den richtigen Kanal in meinem Verstand finden würde.

Betty, würde er mir vermutlich in diesem Moment sagen, hör auf, dich wie ein Arschloch zu benehmen. Du zerstörst das Beste in deinem Leben. Du vertreibst Jackie, und wenn sie weg ist, versinkst du in deinem eigenen Sumpf …

»Hey!«, ruft der Typ.

»Okay«, stoße ich hervor. »Ich bin so weit, du Bastard. An die Arbeit.«

Ein metallisches Sirren erklingt. Mit dem eingeschalteten Tattooinstrument bewaffnet setzt sich der Typ auf einen Hocker neben mich und beginnt den langen, zähen Prozess, mir den von ihm auf Papier vorgezeichneten Entwurf auf die rechte Wade zu tätowieren, direkt über dem verletzten Fußgelenk. Der Meister, der unter dem Namen Tiny firmiert, wurde mir von meinem Lieblingskollegen Seth empfohlen, der schwor, Tiny sei ein echter Künstler, der Beste in ganz Texas.

Ich umklammere meine Sankt-Michaels-Medaille, die an einer Kette von meinem Hals hängt. Das Original, ein Geschenk von meiner Mutter, ist verschwunden. Sie hatte den alten, bereits verbeulten Talisman aus Polen mitgebracht und ihn mir in dritter Generation vermacht. Evangeline hatte mir dieses Erbstück abgenommen, als ich bewusstlos war, und ich hatte keine Hoffnung, es je zurückzubekommen.

Jackie, stets fürsorglich, hatte die fehlende Medaille durch eine neue ersetzt. Sie war schön, wie moderne Repliken es oft an sich haben – glänzend, mit scharfen Kanten, ein bisschen zu perfekt –, doch ich trug sie jeden Tag, auch wenn ich den Verlust der alten Medaille betrauerte.

Das Tattoo an meiner Wade nimmt langsam Form an: Der Erzengel Michael, Schutzheiliger der Polizisten, hat das Schwert erhoben, um den Drachen zu töten, der sich unter seinem Fuß – nur mit Sandale bekleidet – windet. Das Tattoo wird groß sein: In your face, baby.

Aber die Schmerzen sind vom anderen Stern, die stechende, hämmernde Nadel reizt die noch wunde, überempfindliche Haut rund um die Narbe, die am Ende den Körper des Schlangenteufels bilden wird. Die Prozedur wird sich noch Stunden hinziehen. Entgegen Tinys Empfehlung lasse ich mir das Tattoo in einer Sitzung stechen. Er hatte mich gewarnt, dass ein Bauchschuss vermutlich angenehmer wäre als die Prozedur länger als eine halbe Stunde zu ertragen. Tiny ist schon ein paarmal angeschossen worden, also weiß er, wovon er spricht.

Aber die Schmerzen sind ja gerade der Sinn der Übung, auf diese Weise büße ich dafür, dass ich mich wie ein Arschloch benommen habe. Dafür, dass ich Menschen, die ich liebe, undiplomatisch, ungeduldig und fies behandle. Dafür, dass ich Geheimnisse habe.

Das hier ist die Strafe dafür, dass ich bin, wie ich bin.

Als ich zusammenzucke, fragt Tiny: »Solln wir aufhören?«

»Fick dich!«, sage ich. »Weitermachen.«

»Braves Mädchen. Wenn wir hier fertig sind, brauchst du keine Waffe mehr. Roll einfach dein Hosenbein hoch und erschreck sie zu Tode.«

3

Neujahr, 2014 Continental Avenue Bridge, Dallas

An Neujahr liege ich schon vor Morgengrauen wach. Jackie schläft noch, die Decke über den Kopf gezogen. Ich gleite aus dem Bett, ziehe mich an und schleiche mich aus dem Haus. Seit ein paar Tagen nieselt es, und nachts liegen die Temperaturen um den Gefrierpunkt, was nicht nur die Straßen unberechenbar macht, sondern auch die Fahrer, die solche Wetterverhältnisse in Dallas nicht gewohnt sind.

Ich fahre am Zentrum vorbei zum Trinity Grove, ein ehemaliges Industriegebiet, in dem seit Kurzem eine Reihe neuer Restaurants und Mikrobrauereien eröffnet haben. Den Wagen stelle ich auf einem leeren Parkplatz an der steilen Uferböschung des Trinity River ab. Die lange Fußgängerbrücke über den Fluss ist ein beliebtes Ziel, hier beginne ich meine Laufrunde. Oder versuche es zumindest.

Ich lege los, versuche, die Brücke unelegant, aber schnell von West nach Ost zu überqueren. Dabei stoße ich kleine Atemwolken in die kalte Luft. Mir ist natürlich klar, dass zu schnelles Anlaufen keine gute Idee ist, und die Strafe folgt auf dem Fuß: Auf halbem Weg durchfährt mich der vertraute, schmerzhafte Krampf, meine rechte Wade macht dicht und ich knicke weg. Keine Menschenseele ist an diesem frühen Neujahrsmorgen unterwegs, niemand kann mir helfen, mich höflich fragen, ob ich einen Gehstock, Rollstuhl oder gleich eine Trage brauche, keine anderen Jogger rufen mir zu: »Nicht aufgeben! Weiter so!« Aber das ist gut so, denn ich habe keinen Bock auf diese ausgelutschten Parolen, die mich aufmuntern sollen, in mir aber stets den Wunsch auslösen, dem jeweiligen guten Samariter eins aufs Maul zu hauen oder ihm die umweltfreundliche Wasserflasche aus der Hand zu treten und in den Fluss zu befördern.

Frohes neues Scheißjahr! Rutsch mir den Buckel runter.

Ich schaffe es schließlich doch noch ohne weitere Vorfälle ans andere Ufer. Aber auf dem Rückweg geht es wieder los. Muskelkrampf. Ich bleibe stehen, beuge mich übers Geländer und betrachte das aufgewühlte Wasser unter mir. Ein paar Enten treiben in der Mitte herum, am Ufer haben sich Plastiktütenfetzen in Ästen verfangen, sie flattern wie zerrissene Flaggen im Wind. Aber da liegt etwas Größeres, Festes auf der Böschung, direkt über dem Wasserpegel. Es ist ein Mann, er liegt mit dem Gesicht im Schlamm, der Oberkörper ist nackt, blass und bewegt sich nicht.

Ich sehe mich um, aber immer noch ist es menschenleer. Mehr humpelnd als gehend taste ich mich zum westlichen Ende der Brücke vor, gehe vorsichtig die Stufen bis zum Fluss hinunter. Der Mann liegt nur einen Steinwurf weit vom nächsten Stützpfeiler entfernt.

Die steile Böschung ist uneben und schlammig, und schon bald fliege ich hin, rutsche auf dem Allerwertesten weiter bis ans Wasser, werfe mich in letzte Sekunde auf die Seite und lande fast auf der Leiche. Mein Kopf liegt nur ein paar Millimeter von dem Toten entfernt, ich sehe sein Profil, ein Auge starr, die Iris noch immer strahlend blau, noch nicht trüb wie bei Leuten, die schon länger verstorben sind. Er ist jung, sicher noch nicht mal zwanzig. Seine Arme liegen unnatürlich verrenkt neben seinem Körper. Ich kann keine unmittelbaren Anzeichen von Gewalteinwirkung erkennen, nur zahlreiche alte Einstichwunden. Er trägt Jeans, die Unterschenkel liegen unter Wasser.

Ich bleibe eine Weile neben ihm liegen, mein dampfender Atem streicht über sein Gesicht, und auf einmal erfasst mich ein Gruseln, die Furcht, der Junge könnte plötzlich aufwachen. Doch er bleibt natürlich starr liegen, und nach einer Weile bin ich einfach nur noch traurig. Er ist noch so jung, und sein nackter Oberkörper lässt ihn verletzlich wirken, sogar im Tod. Ich stoße mich vom Boden ab und kämpfe mich auf allen Vieren zurück auf den Uferweg. Nachdem ich mir den eisigen Schlamm abgewischt habe, krame ich das Handy aus der Jackentasche und wähle den Notruf.

Eine Erinnerung steigt in mir auf, es schmerzt, als würde ich mit abgenagten Fingernägeln auf Beton kratzen. Mein Bruder, am Strand im Winter, seine Haut bleich bis auf ein paar marmorierte Stellen, vom eisigen Atlantikwasser blau verfärbt.

Als ich den ersten Streifenwagen sehe, reiße ich mich zusammen. Ich warte auf die Sanitäter und den einsamen Detective, der unrasiert und fern der Heimat am Einsatzort aufschlägt, sichtlich genervt, weil er am Neujahrstag hier antreten muss. Er fröstelt in seiner dicken Jacke, auch seinem dunklen Gesicht ist die Kälte anzusehen.

Wir begrüßen einander. Und als ich immer noch rumstehe, weil ich auf die Einsatzkräfte warte, fragt er: »Kennen Sie das Opfer?«

»Nein.« Er betrachtet den halbnackten toten Jungen, seinen Arm. »Er hat Einstichstellen auf beiden Seiten«, erkläre ich.

»Irgendwo gibt es eine Mutter, einen Vater«, sagt der Mann überraschend emotional. »Sie sind bei der Drogenfahndung, nicht?« Als ich nicke, fährt er fort: »Dachte ich mir doch, den Namen habe ich schon mal gehört.«

Er zieht sich die Jacke fester um den Körper und wendet sich von der Leiche ab. »Ich beneide Sie nicht um Ihren Job«, sagt er, bevor er sich in sein warmes Auto zurückzieht. Es ist das erste Mal, dass ein Mordermittler – dessen Aufgabe darin besteht, Leichen zu Fällen zu machen – so was wie Mitgefühl für meinen Job zeigt.

Die Sanitäter geben mir eine Decke und heißen Kaffee aus der Thermoskanne, damit ich beim Warten nicht erfriere.

Eine Stunde später ist auch der Kriminaltechniker von der Rechtsmedizin eingetroffen, er macht hastig ein paar Fotos vom Toten am Fundort. Als seine Leute die Leiche auf den Rücken drehen, entdecken sie die Einstichstellen an beiden Armen. Wie er heißt, lässt sich nicht feststellen, er hat keinen Ausweis in der Tasche, trägt keinen Schmuck, keine sichtbaren Tätowierungen, nichts, woraus man seinen Namen oder Wohnort ableiten könnte.

»Sieht nach Überdosis aus. Die Kälte hat die Sache dann beschleunigt«, sagt der Mann von der Rechtsmedizin.

Sie packen den Toten in einen Leichensack, hieven ihn in den Transporter, und alle fahren davon.

Auch ich gehe zu meinem Wagen zurück, bleibe aber noch eine ganze Weile sitzen und starre durch die Windschutzscheibe auf den Fluss, das Steuer umklammert. Es nieselt wieder, ein starker Wind bläst den Regen jetzt seitwärts, die grauen Wolken ballen sich und wogen wie die Wellen des Ozeans, und ich denke wieder an meinen Bruder, den man erfroren an einem menschenleeren Strand gefunden hat.

Irgendwann ziehe ich eine Münze aus der Jackentasche, einen alten Dime, den ich seit meiner Rettung aus den Fängen der Familie Roy immer bei mir trage. Jemand hatte ihn in der Kammer verloren, in der sie mich gefangen hielten. Im Fieberwahn meines von Drogen verwirrten Verstands hatte ich geträumt, dass ich damit meinen Onkel Benny – oder seinen Geist oder was auch immer jetzt im Jenseits umgeht – aus einer altmodischen Telefonzelle in Brooklyn angerufen hatte. Und es war seine Geisterstimme, die mir am Hörer verklickerte, was ich mit dem Dime anstellen sollte, um meinen Peinigern zu entkommen.

In Wahrheit gibt es bei uns keine funktionierenden Telefonzellen mehr, aber der Dime ist meine einzige Verbindung zu Benny, zu allem, was er für mich bedeutete, zu seiner Stimme. Ich lege mir die Münze an die Lippen und meine, ihren salzigen Metallgeruch wahrzunehmen. Vielleicht ist es auch nur der Geruch des Meeres, wenn die Wellen über deinem Kopf zusammenschlagen.

4

6. Januar 2014 Dallas Police Department, North Central Division

Ich betrachte mich lange im Kosmetikspiegel der Sonnenblende meines Wagens. Dunkle Ringe unter den Augen, die Haare kurz, wie abgehackt, es ist nur ein paar Monate her, seit Evangeline sie mir mit der Schere abgeschnitten hat, als Strafe für meine mangelnde Kooperation. Ich bin nicht eitel, aber meine rote Mähne war mein ganzer Stolz – »hurenrot«, wie meine Mutter es immer genannt hatte – das Vermächtnis meiner polnischen Großmütter. Wer braucht da noch eine Kriegsflagge? Jackie beruhigte mich immer wieder, sie würden wieder nachwachsen, und das ist ja auch schon passiert, aber gefühlt geht es bei der Gletscherbildung schneller voran. Die Frau im Spiegel ist ausgemergelt und hohlwangig wie jemand, den man gerade noch rechtzeitig aus der Wildnis gerettet hat. Obwohl ich mich nie schminke, hatte ich mir heute Morgen mit einer Art vorauseilendem Ungehorsam Jackies Kosmetiktäschchen geschnappt und die Augen mit schwarzem Kajal umrundet. Natürlich habe ich das nicht getan, um mich hübscher zu machen, sondern als Warnsignal an alle, die mir auf den Sack gehen wollen.

Mit meiner schwarzen Lederjacke und Jeans ist der Look perfekt. Ich sehe aus wie ein Goth.

Der Motor läuft noch, aus dem CD-Spieler dröhnt »Brother« von The Organ, eines der Stücke von dem Mixtape, das Jackie mir eigens zusammengestellt hat

Here we go, they’re back again. Look alive, warn your friend …

Ich strecke die Hand aus, um den Motor abzustellen, aber wenn ich das tue, muss ich aussteigen, über den Parkplatz humpeln und das Gebäude betreten, um meinem ersten Arbeitsbriefing seit dem 23. September 2013 beizuwohnen, der Tag, als ich mit meinem Teamkollegen Detective Bob Hoskins nach Uncertain, Texas, gefahren war. Nur einer von uns war lebend zurückgekehrt.

Vor meinem geistigen Auge blitzt etwas Rotes auf, Blut von einem zertrümmerten Schädel, und ich zwinge mich, an etwas anderes zu denken. Ich schließe die Augen und atme tief ein und aus, konzentriere mich auf den Geruch des nagelneuen Wagens. Auf Jackies Drängen hin hatte ich meinen treuen alten Viertürer gegen ein neueres Sport-Coupé eingetauscht. Vermutlich erhoffte sie sich, dass der eigenbaute Turbo auch meine neuerdings sehr träge Libido auf Hochtouren bringen würde. Tja. Dumm gelaufen.

Die Band singt etwas darüber, dass es nie vollständige Sicherheit geben kann, für niemanden, mögen die Mauern, die wir um uns herum errichten, auch noch so hoch und dick sein.

Wie recht sie doch haben. Mich verfolgen immer noch dieselben alten Alpträume, trotz neuem Haus, neuem Auto, neuem Tattoo.

Ich hatte Jackie im Vorfeld gewarnt, aber als ich ihr das Ergebnis präsentierte – der Erzengel Michael im Großformat auf meiner Wade, glänzend, das Schwert gezückt –, war sie trotzdem sprachlos. Das Tattoo sah aus wie das Wandbild in einem mexikanischen Schrein. Ein paar Tage lang hatte Jackie darauf bestanden, mir die Wunde vor dem Zubettgehen einzucremen, mit sanften Fingern und verbissener Miene.

Noch ein letzter Blick in den Spiegel, ich blecke die Zähne wie ein Wolf. Reiß dich zusammen, Betty. Besser wird’s erstmal nicht.

Als ich die Sonnenblende hochklappe, entdecke ich meinen Lieblingskollegen Seth, er steht mit verschränkten Armen vor meinem Wagen, den Kopf schiefgelegt, die Stirn besorgt gerunzelt. Er fragt sich vermutlich, wen ich da gerade angeknurrt habe.

Im grellen Tageslicht sieht er magerer aus, als ich ihn in Erinnerung hatte, und abgespannt, mit Dreitagebart am Kinn. Monatelang habe ich ihn nur nach Feierabend getroffen, wenn er sich mal nicht als Undercover-Agent in engen Gassen und Bierhallen herumdrückte, Dealer verhaftete oder in den Stadtvierteln Geschäfte einfädelte, in die sich kein Weißer trauen würde. Es sei denn, er braucht Drogen.

Trotz Seths ungepflegtem Äußeren ist er immer noch attraktiv, auf eine maskuline Art, mit athletischem Körper und skandinavischen Gesichtszügen, ein XXL-Frauenmagnet, und sein Undercoverlook verleiht ihm, dem höflichen Typen von nebenan, die unwiderstehliche Aura des Bad Boy. Auf den ersten Blick käme niemand auf die Idee, dass er nur einen Monat vor meiner Verletzung durch einen Bauchschuss außer Gefecht gesetzt worden war und seinen Dienst ebenfalls vorübergehend quittieren musste. Er war zwar schneller wieder im Einsatz als ich, aber ich freue mich trotzdem, dass er hier als Ein-Mann-Begrüßungskomitee vor mir steht. Bei seinem Anblick merke ich erst, wie sehr ich ihn vermisst habe. Grinsend krümmt er den ausgestreckten Finger, und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glatt glauben, dass mein starker Kollege mit seinem blonden Bedhead, der wie Platin in der Sonne glänzt, bei mir erotische Gefühle auslöst.

Seth tritt ans Fenster, ich lasse es herunterfahren.

»Was für eine Nummer ziehst du da ab, Riz?«, fragt er. Nur Seth darf mich mit diesem Spitznamen ansprechen. »Wartest du auf eine gravierte Einladung?«

»Kurze Bestandsaufnahme«, sage ich und stelle endlich den Motor ab. Plötzlich ist es sehr still.

Ich steige aus und schließe Seth in die Arme. Fühlt sich gut an.

»Verdammte Scheiße, Riz, hast du Gewichte gestemmt? Dein Bizeps ist ja dicker als meiner.«

»Ja, musste ja irgendwie für das hier kompensieren«, sage ich mit Blick auf mein verletztes Bein.

Ich verbringe täglich Stunden im Kraftraum: Klimmzüge, Liegestütze, Beintraining, Spinning. Nur kein Laufen. Walking auf dem Band geht, für kurze Zeit, mit viel Schweiß und Fluchen – gerade genug für die dienstliche Fitnessprüfung –, aber Verbrecher jage ich so nicht, es sei denn sie sind Ü80.

»Okay, zeig her«, sagt Seth.

»Was?«

»Jackie hat mir erzählt, dein neuestes Tattoo stellt die Sixtinische Kapelle in den Schatten.«

Gehorsam drehe ich mich um und kremple mein Hosenbein hoch, um ihm den Erzengel Michael auf meiner Wade zu präsentieren.

»Heilige Scheiße!«, ruft Seth. »Ich weiß nicht, ob ich niederknien oder weglaufen soll.«

»Tja, für die Special Effects kannst du dich bei Meister Tiny bedanken.«

Er grinst. »Und? Bereit für den ersten Arbeitstag?« Gott, der Mann freut sich wie ein Schnitzel, dass ich wieder an seiner Seite bin. Wie ein kleiner Junge, der seinen besten Freund vermisst hat.

»Klaro«, sage ich und folge ihm ins Gebäude, obwohl es mir schwerfällt, mit seinem Tempo mitzuhalten. Bloß nicht humpeln!

Ich gehe mit Seth über die vertrauten Flure zum Konferenzzimmer, grüße hier und da Kollegen, die mir zulächeln oder »Willkommen zurück« sagen, nur um hinter meinem Rücken darüber zu tuscheln, wie mitgenommen ich noch immer aussehe.

Aber sie haben die Geschichte gehört, sie wissen, wie ich meinen Kidnappern entkommen bin, dass ich einem Widersacher mit einer Glasscherbe die Halsschlagader aufgeschlitzt und den anderen praktisch ausgeweidet habe – mit einem Bajonett aus dem Bürgerkrieg.

Ein Frischling starrt mich unverhohlen an, mein struppiges rotes Haar, meine Größe und das morbide Outfit stellen alle Regeln der Dienstordnung infrage, die er bisher gelernt hat.

»Beetlejuice!«, rufe ich ihm zu, und er zuckt zusammen.

Ein halbes Dutzend Cops lachen darüber, ich mache ein Siegeszeichen, bevor ich mich unter dem Türrahmen hindurchducke und das Konferenzzimmer betrete, wo sich die Drogenfahnder der North Central Division versammelt haben.

Die ersten Kollegen, die ich sehe, weil sie schon an der Tür auf mich warten, sind Kevin Ryan und Tom Craddock. Nur drei sind noch übrig von meinem ursprünglichen Team: Seth, Ryan, Craddock. Bob Hoskins ist tot. Mein alter Sergeant Verne Taylor ist drei Tage nach meinem Verschwinden einem Herzinfarkt erlegen.

Ryan schüttelt mir die Hand, sein scheues Grinsen ist wärmer als das kalte Neonlicht an diesem grauen Morgen. Er hat sich verändert, wirkt irgendwie älter. Jetzt sieht er nicht mehr wie achtzehn aus, eher wie zwanzig, obwohl er in Wahrheit schon sechsundzwanzig ist. Er war als verdeckter Ermittler für mich an einer Highschool im Einsatz, wo er einen Heroindealer auffliegen lassen sollte, der Drogen an Minderjährige verkaufte. Ich hatte gehört, dass er kurz vor Weihnachten geheiratet und eine Woche später ein Mitglied seiner Familie verloren hatte.

»Gratuliere zur Hochzeit«, sage ich. »Und mein Beileid wegen deines Schwagers.«

Ryan blinzelt ein paarmal, den Blick abgewandt, und nickt. »Willkommen zurück«, stößt er hervor, bevor Craddock ihn zur Seite schiebt, mir unsanft auf den Rücken schlägt und schließlich freundschaftlich die Schultern drückt wie ein Trainer, der einen zögerlichen Spieler ermutigt, wieder aufs Feld zu laufen.

»Gut siehst du aus, Betty«, sagt er.

»Beschissen, wolltest du wohl sagen.« Ich zeige auf seinen beachtlichen Bauch. »Aber schön zu sehen, dass du in der Zwischenzeit viel für deine Gesundheit getan hast, Tom. Hast du heute Morgen die kolaches angekarrt?«

»Aber klar doch! Hast du gedacht, ich hätte die Rückkehr der Polnischen Prinzessin vergessen?«, sagt er laut. Und leiser: »Ich habe die mit Frischkäse genommen, die du so gern magst, aber, ich, ähm …«, er schüttelt theatralisch den Kopf, »… hab sie leider alle aufgegessen.«

Dann stößt er sein seltsames Stakkatolachen aus, und ich lache mit. Craddock und Ryan sind damals einer Blutspur gefolgt, die ich wegen meines verletzten Beins hinterlassen hatte, und waren auf diese Weise auf mein Versteck gestoßen, in das ich mich geflüchtet hatte, nachdem ich meinen Kidnappern entkommen war. Dank seines Jagdinstinkts hatte Craddock die Spur entdeckt, aber am Ende hatte Ryan mir das Leben gerettet, indem er Tommy Roy erschoss, bevor dieser mich abstechen konnte.

Eine tiefe Bassstimme ertönt von ganz vorn. »Können wir anfangen?«

Wir setzen uns, ich nehme den Stuhl neben Seth in Beschlag und starre mit verschränkten Armen nach vorn zu Marshall Maclin, dem Nachfolger von Verne Taylor.

»Guten Morgen, Detective Rhyzyk«, sagt er. »Schön, dass Sie wieder bei uns sind.«

Sein Blick und der spöttische Unterton suggerieren allerdings das Gegenteil.

»Schön, wieder hier zu sein«, erwidere ich und schenke ihm ein verkniffenes Lächeln.

Maclin war aus dem Morddezernat gewechselt, um hier die Leitung zu übernehmen. Und angesichts der Ereignisse der vergangenen Monate – die Jagd auf mexikanische Koksdealer und einheimische Methproduzenten, die in Texas eine Spur von verstümmelten Leichen hinterlassen hatten – war der Sprung von Mord zur Drogenkriminalität gar nicht mehr so groß.

Sowohl Taylor als auch Maclin waren gute, erfahrene Polizisten. Aber Verne war ein gemütlicher, angenehm kompetenter Sergeant gewesen, dessen Tür stets allen offen gestanden hatte, während Maclin, vom Ehrgeiz getrieben, die Schuhe stets auf Hochglanz poliert, diensteifrig und scharfkantig war. Ob er auch die nötigen Führungsqualitäten hatte, würde sich zeigen.

Vernes brennender Zorn auf die Kartelle und ihre Dealer hatten ihn bei seiner Mission befeuert, die Straßen der Stadt zu säubern. Er nahm die Nachwirkungen des Drogenkriegs persönlich. Das hatte ihn vermutlich am Ende das Leben gekostet. Maclins Ansatz ist rein taktischer Natur. Die Dealer sind nicht mal Menschen, sondern Figuren auf einem Schachbrett, die es zu schlagen gilt. Das kommt davon, wenn man zu lange bei der Mordkommission war.

Maclin zeigt jetzt auf die auf dem Whiteboard hinter ihm aufgelisteten Punkte. »Letzten September hat die mexikanische Polizei Alberto Carrillo Fuentes festgenommen. Seitdem sind hunderte Köpfe gerollt.«

Fuentes war der Anführer des Nuevo-Juarez-Kartells, ein ernstzunehmender Konkurrent des größeren Sinaloa-Kartells. Ich senke den Kopf und lächle traurig. Bob Hoskins hat mich gern mit Fuentes’ Spitznamen aufgezogen, der lautet nämlich Betty La Fea: Hässliche Betty.

»Finden Sie es witzig, wenn jemand geköpft wird, Detective?«, fragt Maclin spitz.

Seth atmet tief ein. Er weiß Bescheid – und ich bin sicher, dass auch Maclin das tut. Ich hatte eine ziemlich unangenehme Begegnung mit dem abgeschlagenen Kopf von Tomás »El Gitano« Ruiz, der zu Fuentes’ treuesten Soldaten gehörte.

Auf dem Whiteboard hinter Maclin prangt eine Statistik in Rot, die Kosten des mittlerweile schon sechs Jahre andauernde Drogenkriegs: 60000 Tote, 26000 Vermisste, 6700 Waffenhändler, die mexikanische Kriminelle an der Grenze mit Schusswaffen versorgen, 70% der Waffen, die von mexikanischen Verbrechern bei Straftaten benutzt werden, stammen aus den USA, 90% des in den USA verkauften Kokains wird über Mexiko transportiert, 19 bis 29 Milliarden Dollar Gewinn für die Kartelle, die Straßen der mexikanischen Grenzstädte voller Leichen und Leichenteile.

»Ob ich es witzig finde, wenn jemand geköpft wird?«, wiederhole ich Maclins Frage. »Nein, es sei denn, es steckt eine süße Überraschung drin.«

Ein paar Kollegen kichern böse, und Craddock, der hinter mir sitzt, verpasst mir einen anerkennenden kleinen Tritt.

Jetzt lächelt Maclin mich verkniffen an. Er nimmt einen Papierstapel vom Tisch und gibt ihn weiter an den Polizisten neben ihm, damit der die Kopien austeilt.

»Die Zahlen vom vergangenen Jahr. Das meiste wussten wir bereits oder haben es geahnt. Die gute Nachricht zuerst: Es ist weniger Kokain im Umlauf, aber nur geringfügig. Die schlechte Nachricht: Es kommt mehr Heroin aus Mexiko ins Land. Viel mehr. Und zum ersten Mal sehen wir Labels auf den Ballons und Tütchen mit Black Tar und Powdered Brown: Sie nennen es Mud, Dog Food, Ace of Diamonds und Hearts. Sie verticken es an Straßenecken, wie sie es früher mit Crack gemacht haben. Dieser Stoff hat’s in sich …«

»… und er ist billig«, fügt Seth hinzu. Die anderen murmeln zustimmend.

»Wir haben viel mehr Überdosen, und das nicht nur bei den Hardcore-Usern«, sagt Maclin, »sondern auch bei Jugendlichen an der Highschool.«

Er knöpft sich die Anzugjacke auf und setzt sich auf die Tischkante.

»Wie die meisten von Ihnen bereits wissen, ist Meth unser zweitschlimmstes Problem, das nur noch von Marihuana übertroffen wird. Liquid P2P Meth aus Mexiko ist stärker und macht schneller süchtig als alles, was aus einheimischen Shake-und-Bake-Labors kommt.«

Hinten meldet sich ein Latino-Cop namens Ortega. »Dabei heißt es immer, Mexikaner wären faul.«

Mehr Gelächter, bis Maclin aufsteht und auf Ortega zeigt. »Sie haben völlig recht, Ortega – wir wissen genau, dass das nicht stimmt. Mexikaner sind sehr fleißig. Deshalb übertrage ich Ihnen die Leitung der Operation Buy and Bust für Nord-Dallas. Ihr Team geht auf die Straße, findet die Dealer und nimmt sie hoch, sobald sie ihnen was verkaufen. Vom Chef kam eine klare Ansage: Wir müssen unsere Kinder vor Black Tar Heroin schützen!«

»Besonders die, die auf der Privatschule sind«, murmelt Seth.

»Sie können sich Ihr Team zusammenstellen, vier Leute aus diesem Raum«, sagt Maclin zu Ortega. »Wir koordinieren das mit der DEA und unserer Grenzpolizei, damit wir rauskriegen, wer die Player sind und wann sie kommen. Weitere Information in meinem Büro, elf Uhr.«

Ortega nickt mit Leichenbittermiene, sein Kollege klatscht ihn unterm Tisch ab.

Maclin wendet sich wieder Seth zu. »Detective Dutton, Sie übernehmen Buy and Bust für Dallas Central. Sie haben bereits einschlägige Erfahrung und Ihre Informanten vor Ort. Craddock und Ryan, Sie sind im Team.«