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Detective Betty Rhyzyk aus New York City hat es zum Dallas Police Department verschlagen, Abteilung Narcotics. Betty kommt aus einer polnischen Cop-Dynastie, ist lesbisch und auffällig rothaarig. Texas ist, wie sie bald merkt, nichts für schwache Nerven, denn hier kämpfen mexikanische Drogenkartelle und fundamentalreligiöse Sekten, durchgeknallte Stalker und Society-Ladys mit allen Mitteln um einen Platz an der Sonne.
Als gleich der erste Einsatz, bei der sie die Ermittlungen leitet, völlig außer Kontrolle gerät und der Drogenboss entkommen kann, ist Betty entschlossen, ihre Kollegen zu rächen und ihren Ruf wiederherzustellen. Aber kurz nach der schief gelaufenen Razzia liefert jemand ein Paket mit fiesem Inhalt bei Betty ab und hinterlässt eine rote Haarlocke auf ihrem Bett ‒ jemand, der zu einer kriminellen Organisation gehört, die noch viel furchterregender ist als das Kartell und die es anscheinend auf sie, die auffällig rothaarige Detective Betty Rhyzyk, abgesehen hat …
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Seitenzahl: 432
Kathleen Kent
Die Tote mit der roten Strähne
Thriller
Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea O’Brien
Herausgegeben von Thomas Wörtche
Suhrkamp
Cover
Titel
Inhalt
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Cover
Titel
Inhalt
Die Tote mit der roten Strähne
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Danksagung
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Für Jim
Eine geduldige Frau kann mit einer Laterne einen Ochsen braten.
Chinesisches Sprichwort
Ich sitze auf dem Hintern vor der Wohnung, den Kopf an den Türrahmen gelehnt, die Beine angezogen und die Waffe mit beiden Händen gegen mein Brustbein gedrückt, und erstelle einen geistigen Lageplan: drei Stockbetten, vier Leichen auf blutverschmierten Laken, vor dem ersten Bett mein Kollege, drei Kugeln in der Brust, und irgendwo dazwischen ein Irrer mit einem schreienden Säugling und einer Semiautomatik. Bei meinem letzten Versuch, durch die offene Tür hineinzuspähen, hat er auf mich geschossen. Die Kugel hat einen Krater in die gegenüberliegende Wand geschlagen. Beim nächsten Versuch, so hat er gedroht, würde er zuerst das Baby, dann sich selbst erschießen.
Ich bin seit fünf Monaten, einer Woche und neuneinhalb Stunden bei der Polizei.
Eigentlich waren wir nur wegen des schreienden Babys gekommen. Der Hausmeister eines dreistöckigen Mehrfamilienhauses an der Norman Avenue hatte den Notruf gewählt, weil im obersten Stock vier Schüsse gefallen seien. Ich und mein älterer und erfahrenerer Kollege Ted O’Hanlon waren nur ein paar Minuten weit entfernt. Im engen Treppenhaus standen bereits mehrere Nachbarn, überwiegend mollige Frauen mit kleinen Kindern, die eher neugierig als ängstlich zusahen. Nachdem Ted alle in ihre Wohnungen gescheucht hatte, wagten wir uns vorsichtig, die Hand an der Dienstwaffe, zum dritten Stock vor.
Schon auf dem Treppenabsatz hörten wir das Baby schreien. Gesund, kräftig und so aufgebracht. Garantiert von niemandem auf dem Arm gehalten. Der Hausmeister hatte uns wissen lassen, dass die Wohnung gegenüber leer stand, also würde uns kein Nachbar versehentlich ins Fadenkreuz stolpern.
Als wir uns der Wohnung näherten, sahen wir die angelehnte Tür. Ted und ich zogen die Waffen, er rief: »NYPD! Hallo? Alles klar dadrin?«
Ted trat vorsichtig einen Schritt vor und schob die Tür mit der linken Hand auf.
»Heiliger!«, sagte er.
Ich stand zwar hinter ihm, überragte ihn allerdings um einige Zentimeter – mit meinen eins achtzig war ich größer als die meisten Männer in meinem Kollegenkreis –, daher hatte ich einen freien Blick auf die Gemengelage. In dem blitzsauberen, fast sterilen Wohnbereich befanden sich an drei Wänden Stockbetten, darüber stand in orangefarbener Sprühfarbe der Schriftzug Himmelfahrt. Dasselbe Wort prangte auch in riesigen Buchstaben auf dem grau verfärbten Linoleumboden. Auf den Bettpfosten erkannte ich lauter Strichmännchen mit Flügeln, sie sahen aus wie mit Kinderhand gemalt. Aus dem Küchenfenster schien blassgelb die Sonne herein und tauchte die Szene in nebelhaftes, weiches Licht. Alles war still, nichts rührte sich – nur das Baby schrie.
Auf den ersten beiden Stockbetten lagen vier Personen, zwei junge Frauen und zwei junge Männer, alle trugen die gleichen blauen Trainingsanzüge, ihre Hände waren über der Brust gefaltet. Allen hatte man in den Kopf geschossen. Eine größere Person lag unter einer besudelten Decke auf der unteren Matratze des dritten Stockbetts. Neben dem überdimensionierten Körper lag ein Baby, rotgesichtig und heulend.
Mein Kollege gab mir zu verstehen, dass ich im Flur bleiben und von der Zentrale Verstärkung und Krankenwagen anfordern solle. Dann wandte sich Ted, ein Mann, der einst während eines Schneesturms im Januar in die eisigen Fluten des Newton Creek gesprungen war, um einen Hund vor dem Ertrinken zu retten, dem Baby zu.
In jenem Augenblick fiel mir wieder ein, dass der Hausmeister von vier Schüssen gesprochen hatte, nicht fünf. Gerade als ich Ted warnen wollte, sprang die Gestalt unter der Decke hervor und feuerte drei Schüsse auf Ted ab, die ihn voll in den Oberkörper trafen.
Instinktiv warf ich mich hin und kroch in den Flur zurück, wo ich zunächst außer Schussweite war. Angespannt wartete ich darauf, dass der Schütze mich verfolgen würde, doch stattdessen marschierte er wie aufgezogen im Zimmer auf und ab und redete sich in Rage, allerlei religiöses Wahngefasel, wie man es von Televangelisten kennt: »Bara una peresch peka, beresch ontaba una …«, dazwischen gab er ein tonloses, aufgeregtes Summen von sich.
Nach nur ein paar Monaten auf Streife, in denen ich Strafzettel verteilt und Kindern nachgestellt hatte, die vom Obststand Orangen stibitzt hatten, traf mich diese Situation völlig unvorbereitet. Verstärkung war zwar auf dem Weg, aber viel zu langsam.
Benny, denke ich jetzt. Was soll ich tun?
Mein Onkel, hochdekorierter Cop bei der Mordkommission und Vaterfigur, der so gut wie alles gesehen hat, was es auf Brooklyns Straßen zu sehen gab, hat meines Wissens nie von Sektenheinis geredet, die mit einer Semi und einem Baby bewaffnet waren.
Aber wie aus heiterem Himmel höre ich Bennys Stimme im Kopf: Betty, für die Irren hat ihr Wahnsinn Methode. Du musst ihnen dazwischenfunken. Das Muster durchbrechen.
Seine klugen Erkenntnisse, durch den Nebel der Angst in mein Bewusstsein gestiegen.
Der Typ hat einen Chorgesang angestimmt. »Bereit für die Himmelfahrt, bereit …« Seine Stimme steigert sich zur Hysterie. »Der Engel ist bereit für die Himmelfahrt …«
Ich lasse den Blick durchs Zimmer streifen, auf der Suche nach Hinweisen. Die Malereien, der Schriftzug Himmelfahrt an den Wänden, die Kleidung der Opfer. Sie tragen Trainingsanzüge, der Schütze ein Trikot der Mets.
»Scheiß auf die Yankees!«, brülle ich aus Leibeskräften.
Das Quietschen seiner Schritte am Boden verstummt.
»Genau!«, schreie ich. »Du hast mich gehört. Scheiß auf die Yankees!«
Ich spüre, dass er verstanden hat, trotz des schrillen Babygeschreis, und er will mehr wissen.
»Dieser Typ Clemens«, rufe ich. »Ist es nicht unglaublich, was der angestellt hat? Mit dem Schläger auf Mike loszugehen? Hast du das Spiel vor drei Monaten gesehen, als er Mike einfach eins übergebraten hat?«
Ich versetze jedes Wort mit so viel Empörung und Wut, wie ich aufbringen kann, und hoffe, dass Gott oder welche Macht auch immer über die Serie der Baseballspiele wacht, die gerade das ganze Land in Atem halten, dafür sorgt, dass meine Tiraden diesen Irren von seinem Tun abhalten. Polizeisirenen nähern sich der Norman Avenue. In ein paar Minuten sind die Kollegen hier. Ein paar Minuten zu spät.
»Das hätte er nicht tun dürfen«, sagt der Typ betrübt, wie jemand, der gerade sein Haustier verloren hat.
»Sag ich doch! Hey, hast du dir gestern das ganze Spiel angesehen?«
Es klingt, als würde er das Baby wiegen, er flüstert ihm sanft zu, um es zu beruhigen, als hätte er nicht Minuten zuvor gedroht, ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen. »Japp«, sagt er. »Die sollten was tun gegen diesen Typen Clemens.«
»Was hast du gesagt?«, brülle ich. »Ich kann dich nicht hören bei diesem Geschrei.«
Ich schiebe mich am Türrahmen hoch, atme tief ein und aus, um das Zittern wieder in den Griff zu bekommen. Die Sirenen sind lauter geworden, ich habe Angst, dass sie die bevorstehende Gewaltexplosion nur noch beschleunigen könnten.
»Die sollten was tun gegen Clemens! Er ist gefährlich!«, brüllt der Mann.
»Ein Schläger ist das!«, schreie ich zurück. Und leiser: »Blöd, dass die Mets das Spiel verloren haben. Die Mets sind solche Loser.«
»Was?«, ruft der Irre. »Was hast du gesagt?«
»Hey«, erwidere ich, die Wange fest an den Türrahmen gedrückt. »Ich würde echt gern mit dir über das Spiel quatschen, aber ehrlich? Ich kann kein Wort verstehen, solange das Baby schreit. Könntest du’s nicht einfach irgendwo hinlegen, nur kurz, damit wir uns unterhalten können?«
Der Typ hat wieder sein gefährliches Summen angestimmt, und es klingt, als wären unten an der Haustür die ersten Polizisten und Sanitäter eingetroffen.
»Komm schon«, bettele ich, »nur ein paar Minuten. Herrje, ich hab schon Kopfweh von dem ganzen Geschrei. Hast du schon mal einen von den Mets getroffen?«
Erst nach einer langen Pause kommt die Antwort. »Ich hab Piazza mal die Hand geschüttelt.«
»Echt jetzt?«, sage ich und schließe die Augen. »Du hast Mikes Hand berührt?«
Die Stimmen kommen näher. Meine Hände sind so schweißnass, ich habe Angst, dass mir gleich die Waffe wegrutscht.
»Okay«, sagt der Typ. Seine Stimme klingt flach, sämtlicher Enthusiasmus für Baseball ist verschwunden. »Ich lege das Baby ab. Sie ist müde. Ich muss erst dafür sorgen, dass sie schläft.«
Ich riskiere einen Blick ins Zimmer. Er beugt sich über das strampelnde Kind, das er auf den nackten Boden gelegt hat. Mit der Waffe zielt er auf das kleine Wesen.
»Und dann können wir uns über die Mets …«
Ich schieße sechsmal, eng verteilte Schüsse in den Körper. Er stürzt schwer gegen das Stockbett neben ihm, geht zu Boden und bleibt mit breit gespreizten Beinen sitzen. Nach ein paar Zuckungen sackt er vornüber zusammen.
Ich sinke ihm gegenüber zu Boden, meine Beine zu schwach, um mein Gewicht zu tragen, und sehe zu, wie sich das Mets-Trikot des Mannes vom Blut aus seiner Brust dunkel verfärbt. Ich habe Angst, Ted anzusehen, will nicht wissen, ob er noch atmet oder nicht. Nicht mal das schreiende Baby kann ich hochheben, denn meine Arme sind wie Gummi, ich würde das kleine Wesen fallen lassen.
Auf dem Flur drängen sich jetzt Polizisten mit gezogener Waffe, sie stürzen fluchend in die Wohnung, können das grausame Schauspiel nicht fassen, das sich ihnen dort bietet.
Ein junger Cop mit Akne am Hals murmelt: »Heilige Scheiße, Rhyzyk, was hast du angerichtet?«
Dann wuseln über mir die Sanitäter herum, sie heben mich hoch und tragen mich über den Flur. Ted legen sie auf eine Trage – wie durch ein Wunder ist er noch am Leben – und verfrachten ihn in den wartenden Krankenwagen. Jemand kümmert sich um das Baby, das glücklicherweise aufgehört hat zu schreien.
Ein ranghöherer Kollege befragt mich noch am Tatort, er tratscht meine Mets-Yankees-Geschichte brühwarm seinen Kollegen im Flur weiter. Die Cops auf der Straße wissen schon Bescheid, bevor sie mich aus dem Gebäude tragen.
Im zweiten Krankenwagen werde ich erneut von den Sanitätern untersucht. Ein Kreis von ungläubigen, neidischen Polizisten redet auf mich ein, sie haben die ganze Aufregung verpasst.
Die Sanis versichern mir, dass die Ärzte alles versuchen werden, um Teds Leben zu retten. Auf dem Weg zum Krankenhaus hat er das Bewusstsein wiedererlangt und nach seiner Frau gefragt, erzählen sie mir.
Sergeant Stanek macht seine Aufwartung und begutachtet mich auf so besorgte Weise, dass es mir peinlich ist.
»Soso«, sagt er mit erhobenem Zeigefinger. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass du den Namen der Yankees missbraucht hast. Dafür sollte ich dich suspendieren, ohne Gehalt.«
Er bietet an, mich in das Krankenhaus zu fahren, in dem Ted behandelt wird. Ich nehme dankbar an.
Jemand gibt mir ein Handy, und ich rufe meinen Onkel Benny auf der Arbeit an.
»Die arme Sau«, sagt er über den Schützen, nachdem ich ihm alles haarklein berichtet habe. »Ist in seinem eigenen Sumpf versackt.« Dann schweigt er und lauscht meinem Atem. »Geht’s wieder?«, fragt er schließlich.
»Ja«, versichere ich ihm, weiß aber nicht, ob das stimmt.
»Das ist das Problem mit Sekten«, sagt Benny. »Die Anhänger graben sich nicht nur ihre eigene Grube, sie legen sich auch rein, bedecken sich mit Erde und jammern dann rum, dass die Welt auf einmal so dunkel geworden ist.«
Im Büro versucht jemand, Bennys Aufmerksamkeit zu erhaschen.
»Ich muss Schluss machen«, sagt er. »Du brauchst eine gute Mahlzeit, ein heißes Bad und ein paar Jamesons, verstanden?«
Ich lächle. Er hat recht.
»Und jetzt sag mir die Wahrheit: Gibt es außer Brooklyn einen anderen Ort auf der Welt, an dem du lieber wärst?«
Ich verneine. Es gibt keinen Ort, an dem ich lieber wäre. »Vor allem jetzt, wo die Yankees auf dem Siegeszug sind«, sage ich. »Clemens ist vielleicht ein Schläger, aber er ist unser Schläger.«
Benny lacht. »Und Betty!«, sagt er, »du kannst mich jederzeit anrufen. Ich bin für dich da.«
Ich bin überzeugt, dass der Mexikaner an der Frühstückstheke mich mit seinen Bemerkungen über die Fuel City verarschen will. Ich erkläre ihm, dass ich erst vor achtundvierzig Stunden im Lone Star State angekommen sei, woraufhin er mir klarmacht, dass sich das echte Dallas weiter südlich befindet, la verdadera ciudad, das Dallas der Trucker, mexikanischen Arbeiter, Ex-Knackis und Cops, die dicht an dicht mit weißen privilegierten Gringas in teuren SUVs die Stadt bevölkern. Ich solle das Rathaus, die Kautionsagenten und die Highway-Baustellen hinter mir lassen und bis zum Riverfront Boulevard weiterfahren. In der Fuel City nämlich schlage das wahre Herz der Stadt.
Es ist erst elf Uhr, als ich zu meinem Wagen zurücklaufe, aber die Hitze hockt jetzt schon auf meinem Kopf wie ein fettes, mit Spiegelschuppen bedecktes Monster, das mir mit feuchtheißer Zunge in die Ohren und den Nacken hinunterfährt. Während ich in meiner Hosentasche nach dem Autoschlüssel krame, frage ich mich, wie ich auf die glorreiche Idee gekommen bin, mir einen kochend heißen Kaffee im Becher mitzunehmen.
Auf der Fahrt über die Mautstraße Richtung Stemmons Freeway muss ich an vergangene Sommertage mit meiner Familie an der Küste von New Jersey denken, Bradley Beach oder Ocean Grove, wo das Wasser einen fast in Schockstarre versetzte, wenn es uns eiskalt gegen die sonnenverbrannte Haut klatschte und meinen Bruder und mich vor lauter Verzückung zum Kreischen brachte. Stundenlang schwammen wir im Ozean, getragen vom trüben Wasser, unser wirres rotes Haar wallte um uns herum wie rostfarbener Seetang im Wogen und Schwellen des Meeres. Mittags verdrückten wir die von unserer Mutter geschmierten Sandwiches – Strandpicknicks waren die einzigen Mittagsmahlzeiten, die nicht aus fünf Dollar und einem Begleitzettel bestanden –, dann ging es ratzfatz zurück in die Wellen, bis meine Mutter rief, dass wir uns den Tod holen würden, wenn wir nicht bald rauskämen.
Jackie und ich haben erst gestern unser neues Domizil bezogen, ein Zweizimmerapartment im Erdgeschoss mit einem überdachten Zugang, der an beiden Enden mit einem abschließbaren Tor gesichert ist. Am Nachmittag bewegte sich das Thermostat auf die fünfundvierzig Grad Celsius zu, und einer unserer Umzugshelfer, ein Feuerwehrmann außer Dienst, der es gewohnt war, bei ganz anderen Temperaturen im Kevlar-Schutzanzug zu arbeiten, war direkt vor unserer Haustür zusammengebrochen. Gegen vier Uhr morgens gab unsere Klimaanlage den Geist auf, den Rest der Nacht schmorten Jackie und ich im eigenen Saft, trotz der Ventilatoren, die wir zu beiden Seiten des Bettes aufgestellt hatten.
Der Hausverwalter – aus New Orleans zugezogen – behauptete, Texas sei der einzige Ort im gesamten Universum, Louisiana eingeschlossen, wo die Temperaturen nach Sonnenuntergang ansteigen.
»Speichert die Hitze wie eine riesige Herdplatte«, hatte der Mann uns erklärt.
Jackie, stets im Friede-Freude-Eierkuchenmodus, hatte die passende Antwort parat. »Besser als Schnee schaufeln.«
Der Blick des Hausverwalters wanderte von ihr zu mir. Er lächelte wissend. »Die ist nicht dumm«, sagte er zu mir, bevor er sich lachend davonmachte.
Auf dem Weg zur Fuel City habe ich die gläsernen, glitzernden Wolkenkratzer von Downtown im Blick, die Sonne überragt so eben das höchste Gebäude. Am Turmkorb des Reunion Tower, ein riesiges Ohrenstäbchen auf Steroiden, explodieren ihre Strahlen wie eine Supernova. Instinktiv verlangsame ich am Dealey Plaza das Tempo und frage mich, wie es wohl sein muss, hier aufzuwachsen, wo jeder Besucher beim Anblick des ehemaligen Texas School Book Depository dieselbe Frage stellt: »Wie lebt es sich denn so in der Stadt, die JFK auf dem Gewissen hat?«
Immer wieder kreisen meine Gedanken um Benny, einst unverwüstlich und kompetent, der seine letzten Tage in einem Hospiz verbringt. Benny ist der Mann, für den das Wort »bullig« erfunden wurde. Der jüngste Bruder meines Vaters, ein Cop, der sein Leben lang im neunundvierzigsten Revier gearbeitet und sich dabei nicht mal einen Fingernagel eingerissen hat, ist vom Lungenkrebs gezeichnet. Der letzte Überlebende meiner engeren Familie.
Eigentlich hatte ich ihn schon längst besuchen wollen, bevor das letzte Stadium seiner Krankheit ihm das Bewusstsein trübte, aber der Umzug aus Brooklyn – der Verkauf des alten Hauses in Greenpoint, der ganze Papierkram, den ich vor Antritt meines neuen Jobs bei der Dallas Police beackern musste – hatte sich länger hingezogen als geplant, und als ich endlich im Krankenhaus in Florida aufschlug, hatte Benny bereits den Faden verloren und war in den Medikamentennebel abgetaucht.
Als ich sein Zimmer betrat, schlief er. Jemand hatte ihn bis zum Kinn in eine dünne Decke gewickelt, auf seinem Gesicht glänzte der Morphiumschweiß. Ein Arm lag auf der Decke, in seinem Zugang für die Infusion, in eine hervorstehende Ader in seiner Hand gelegt, hatte sich das Blut zurückgestaut. Der Beutel über ihm war leer. Bevor ich nach dem Pflegepersonal klingelte, strich ich ihm sanft über die Fingerknöchel. Er bewegte sich langsam und schlug die Augen auf.
Er lächelte. »Betty!«
Ich beugte mich über ihn und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Benny. Wie geht es dir?«
»Na, das siehst du selbst.« Sein Atem rasselte und er verzog das Gesicht.
Ich griff nach der Klingel. »Hast du Schmerzen?«
Er hielt mich zurück. »Ist noch erträglich. Rede mit mir. Wenn die mir was verpassen, weiß ich nicht mehr, wer du bist.«
Er begann zu zittern. Ich fand eine zweite Decke und wickelte ihn darin ein wie ein Kind. Dann zog ich einen Stuhl ans Bett und nahm seine Hand.
»Hast du den Papierkram erledigt?«, fragte er.
Ich nickte. »Ja. Morgen geht’s auf nach Dallas.«
Benny grinste. »Kaufst du dir ein Pferd?«
Das brachte mich zum Lachen. »Das einzige Pferd, das ich zu reiten gedenke, ist das Ding vor Neergaard’s, für das man Geld einwerfen muss.«
»Läufst du noch?«
»Jeden Tag. Gestern waren es elf Kilometer, heute Morgen zehn.«
Benny starrte mich lange an. »Siehst gut aus, Betty. Bist erwachsen geworden mit deinen langen Beinen und wilden roten Locken. Aber erwarte nicht, dass die Dinge in Texas anders laufen. Dort wird dir dieselbe Scheiße am Schuh kleben, in die du in der Franklin Street oder sonst wo trittst.«
»Ich weiß, Ben.«
»Und lass dich nicht von den Rüpeln unterkriegen.«
Für meinen Onkel war jeder Polizist außerhalb von New York oder New Jersey ein Rüpel. Aber ich machte mir wegen der Cops in Texas keine Sorgen. Will heißen: Ich wusste ganz genau, dass sie mir ans Bein pinkeln würden. Meine größten Widersacher stammten allerdings aus meiner eigenen Familie, fast alle Cops und damit Beinpinkelmeister.
Ich nickte kurz. »Klar.«
»Okay«, sagte er und nickte ebenfalls. Die Predigt war beendet. »Wie geht es Jackie?«
Die Frage entlockte mir ein dankbares Lächeln. Er war der Einzige in meiner Familie, der ihren Namen aussprach. »Gut. Wir haben eine Wohnung gefunden.« Ich schnitt eine Grimasse. »Aber sie ist schon dabei, nach Häusern zu suchen.«
Er hob den Zeigefinger. »Merk dir meine Worte: Als Nächstes will sie Rotzgören.« Sein Blick wanderte zu meiner Sankt-Michael-Medaille. »Es würde deine Mutter sehr freuen, dass du sie umhast. Du bist die dritte Frau in der Familie Rhyzyk, die diese Medaille trägt.«
Ich verzog das Gesicht. »Ja, aber wahrscheinlich die Erste, die Kampfstiefel anhat.«
»Sag das nicht. Im Zweiten Weltkrieg haben sich die Deutschen an der Ostfront sogar mit Zyanidkapseln gegen den Zorn der polnischen Widerstandskämpferinnen gewappnet. Du stammst aus einer langen Linie von kobiety.«
Mit schmerzverzerrtem Gesicht schlug er sich auf die Brust und hechelte, als würde er sich ein Rennen mit dem Teufel liefern.
»Herrje«, keuchte er. Nach einer Weile ging sein Atem wieder langsamer, und er drehte den Kopf zu mir. »Sieh mir in die Augen und sag mir, dass du glücklich bist.«
»Ich bin glücklich, Benny.«
»Gut. Das ist gut. Du weißt, dass dein Vater einmal ein großartiger Polizist war …«
Ich nickte zustimmend, aber er hob den Zeigefinger.
»Deswegen war er auch so ein alter Grottenolm. Nein, hör zu. Er war mein Bruder, und ich habe ihn geliebt wie niemanden sonst. Aber ein paar Gefühle haben ihm gefehlt, die ihn zu einem besseren Vater gemacht hätten. Dass sein Beruf für ihn das Wichtigste im Leben war, hat dazu beigetragen. Du hast die Möglichkeit, es besser zu machen. Eine Balance zu finden.«
Seine Hand fiel aufs Bett. »Balance finden, hör mir mal zu. Ich klinge wie ein durchgeknallter Esoteriker.«
Ich legte ihm die Hand an die Wange. »Du bist durchgeknallt, Ben. ›Im eigenen Sumpf versackt‹, hast du immer zu mir gesagt.«
Er umschloss meine Finger. Seine Augen waren fiebrig, glänzend wie Scherben in einer verzerrten, schmerzerfüllten Maske, aber er lächelte. Bald kam die Schwester und gab ihm Schmerzmittel, danach schlief er ein. Ich saß die ganze Nacht bei ihm.
Zwischen narkotischem Dämmern und Wachen ließen wir einige seiner bemerkenswerteren Fälle Revue passieren, einige davon hatte er gelöst (der nackte Tote, der wie ein Clown geschminkt war), einige waren noch immer offen (ein Toter, den man in Einzelteile zerlegt und zwischen Greenpoint, Williamsburg, Park Slope und Bed-Stuy verteilt hatte).
Wir ließen vertraute Anekdoten von anderen Cops und Cop-Familien wiederaufleben, spannen unser Polizistengarn, das vermutlich niemand außer uns hören würde, es sei denn, ich beschloss, es einem Fremden zu erzählen, der nicht zur Familie gehörte. Denn von meiner Familie war niemand mehr übrig, es gab nur noch Jackie. Mutter, Vater, Bruder, alle tot.
Ein letztes Versprechen musste ich ihm geben: Irgendwo im wilden Texas das echte Dallas zu suchen. Dort, wo die Geschichte des Landes spürbar sei, wo es sich an den Erfolgen labt und in seinen Niederlagen suhlt, solle ich mich dem Monster stellen. Die Mittelfinger in die Luft recken und den Schicksalsgöttern des Westens mitteilen, dass die polnische Kavallerie gelandet sei.
Als ich ihn in den frühen Morgenstunden verließ, war er in einen unruhigen Schlaf gefallen. Das ist nun zwei Tage her.
Auf dem Riverfront Boulevard sehe ich zwei große, weiße zylindrische Tanks, auf denen in roten und blauen Buchstaben FUEL CITY WASH steht. Der Parkplatz ist bereits voll, daher fahre ich herum und quetsche mich schließlich neben die lebensgroße Bronzestatue eines Büffels, die im Schatten eines verrosteten Bohrturms kauert. Davor steht ein Münztelefon. Das erste, das ich seit meiner Abreise aus New York zu Gesicht bekommen habe.
Hinter dem Büffel erhebt sich die Skyline von Dallas wie eine ausgeschnittene Berglandschaft, und ich erkenne gerade so das rote Pegasus-Symbol, das alte Logo von Mobil Oil, das wie eine winzige Fata Morgana über einem Büroturm flirrt.
Der Taco-Stand ist ein großer Supermarkt mit Küche, es gibt mehrere Verkaufsfenster, an denen sich lange Schlangen gebildet haben, aber mich zieht es in den abgelegeneren Teil des Parkplatzes, wo hinter einem Metallzaun ein halbes Dutzend Longhornrinder grasen. Dort befindet sich auch eine mit bunten Luftballons und Wasserbällen bemalte Betonmauer, darunter steht eine kühne Behauptung: »Wo Träume wahr werden.«
Neben der Weide ist die Waschanlage, sie brummt wie ein nordkoreanischer Atomreaktor, auch hier stehen Autos und Lastwagen Schlange und warten auf eine Schnellwäsche mit Felgenpolitur. Die meisten SUVs in dieser Schlange sind weiß, die Pick-ups rot. Die Frauen und Männer, die die Fahrzeuge schrubben, sind durchweg POC.
Ich lehne mich an den Metallzaun und betrachte das Rindvieh, das mir am nächsten steht, bewundere die Muskeln in seinem Nacken, die es ihm ermöglichen, das Haupt mitsamt den schweren Hörnern zu heben.
Meine Gedanken driften zu Jackie, die in unserer neuen Wohnung Umzugskartons auspackt. Ich habe ihr heute Morgen gesagt, dass ich etwas für Onkel Benny erledigen müsse. Die Schwester im Hospiz hatte mich angerufen, um mir zu sagen, dass er in der Nacht gestorben sei, friedlich im narkotischen Schlaf ins Jenseits hinübergedämmert. Dennoch hatte ich wütende, schuldbewusste Tränen vergossen, weil er allein gegangen war, ohne Familie, nach so viel Leid. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, erstaunt es mich immer noch, dass er es länger als achtundvierzig Stunden ausgehalten hat.
Ich starre die riesige, rot-weiß gesprenkelte Kreatur an. Eigentlich hatte ich erwartet, dass ich Spott für diese Tiere empfinden würde, doch stattdessen regt sich so etwas wie Ehrfurcht in mir, der Bulle wirkt würdevoll in seiner stillen Kontemplation – das Chaos vor der Waschanlage, die Touristen auf Fotosafari, die lärmenden Kinder an den Picknicktischen, all das geht ihm am Ochsenschwanz vorbei. Seine feuchten Augen sind auf mich gerichtet, die Haut über den Knochen zuckt, sie sind lang wie Stoßzähne. Er hat alle überdauert, die hier ein und aus gegangen sind, der Schwung seiner Hörner wirkt wie ein herablassendes Abwinken, was kümmert ihn der Taco-Stand, der Bohrturm, die Minivans mit den feisten Glotzern und magersüchtigen Posern. Sogar der lebensgroße Bronzebüffel ist ihm schnuppe.
»Du majestätischer alter Bastard«, sage ich.
Dann drehe ich mich um und recke mit einer solidarischen Geste beide Mittelfinger in die Luft.
»Die polnische Kavallerie ist gelandet«, flüstere ich.
Dann zücke ich mein Handy und schicke eine letzte Nachricht an Bennys alte Nummer: Botschaft übermittelt. Ich werde dich immer lieben. Betty.
Das Setup ist perfekt. Alles im grünen Bereich – bis auf die Frau, die uns soeben in die Überwachungszone gelaufen kommt, eine besorgte Bürgerin mit mehr Zeit als Verstand. So eine, die in voller Kriegsbemalung und mit Diamantenarmband behängt ihren Hund Gassi führt. Mutter Teresa mit zu viel Kohle. Eine Frau, die sich vermutlich über den Obdachlosen auf der Straße beugen würde, um seinen Hund zu füttern.
Mutter Teresa mit ihrem Schnauzer bemerkt weder den weißen Transporter mit Handwerkerlogo, in dem mein Kollege Seth und ich die Überwachung koordinieren, noch den rostroten Transporter auf der gegenüberliegenden Straßenseite, in dem drei Undercover-Agenten auf ihren Einsatz warten. Unser Zielobjekt: ein McMansion wie alle anderen Pseudo-Tudorvillen dieses Viertels im Norden von Dallas, in Reih und Glied aus dem Boden gestampft, davor ein schmales, mit dürrebeständigen Geranien bepflanztes Beet. In jedem einzelnen steckt ein Fähnchen mit der Aufschrift: »Vote Republican!« Wer braucht da noch einen Pitbull?
Unser Fünferteam liegt seit Wochen vor dem Haus auf der Lauer, hunderte Stunden haben wir bereits absolviert, über eine FBI-Spezialeinheit eine Erlaubnis zum Abhören erwirkt. Bei unzähligen Kollegen stehen wir tief in der Schuld, weil wir ihnen eine Menge Insider-Informationen abgeluchst haben. Und diese Tussi dackelt jetzt allen Ernstes direkt auf den in der Auffahrt des Hauses geparkten Mercedes zu und quatscht auf jemanden oder irgendwas im Wagen ein.
Hoskins’ Stimme kommt aus dem Funkgerät. »Was zum Teufel …«
Draußen brodelt die Hitze. In Brooklyn wäre es jetzt wunderbar mild, die Sonne gerade warm genug, um einem sanft die Haut zu streicheln. Um die Mittagszeit knallt es hier dermaßen runter, dass meine blasse, sommersprossige Haut verbrennt wie Butter in einer Fritteuse. Auf den Gehwegen ist es menschenleer, nur die Frau umkreist den Wagen und hält sich immer wieder die Hände vor die Augen, um im grellen Licht ins Innere zu spähen.
Eines der hinteren Seitenfenster ist einen Spaltbreit geöffnet, dort erscheint jetzt eine hektisch zuckende, fellumwachsene Schnauze. Sie gehört zu einem Schoßhund, vielleicht ein Pudel, der wie angestochen hechelt und die Frau dazu bringt, immer wieder nervös zum Haus zu blicken. Sie tätschelt ihn und hält ihm ihre Wasserflasche hin, der Hund steckt die Zunge hinein. Dann schraubt sie die Flasche wieder zu und geht ein paar unsichere Schritte auf den Eingang zu.
Hoskins meldet sich erneut. »Detective?« Aus dem rostroten Transporter hat er einen freien Blick aufs Haus, aber jeder, der ins Innere des Fahrzeugs blicken will, sieht nichts als getönte, verspiegelte Scheiben.
»Warte noch kurz«, sage ich und werfe einen Blick auf Seth, der den Kopf schüttelt.
Der Besitzer des Mercedes – ein älterer Typ namens William Bender, der aussieht wie der Filialleiter eines Supermarkts – ist gerade erst nach Hause gekommen. Er wartet auf den größten Kokaindealer im nördlichen Texas, ein gewisser Tomás »El Gitano« Ruiz. Ruiz hat sich schon in der Grundschule als Kleindealer verdingt, damals hat er das Zeug aus dem Schulranzen auf den Straßen von Juárez vertickt, jetzt hinterlässt er in derselben Stadt geköpfte Leichen von armen Teufeln, die es gewagt haben, nicht für ihn als Kuriere zu arbeiten, oder eine Bedrohung für seine Absatzwege darstellten.
Das Haus ist vom Keller bis zum Dach verwanzt, aber wir haben lange gewartet, bis wir endlich die Namen aller Beteiligten, die Daten und den Übergabeort für die nächste Drogenladung auf Band hatten. Das war zwar für mexikanische Kartellverhältnisse kein Riesending, aber für North Dallas immerhin stattlich, eine beeindruckende Menge Koks mit einem Verkaufswert von über zwei Millionen Dollar. Bender war auf dem aufsteigenden Ast. Statt Meth an Kunden in Trailerparks und windschiefen Seeuferhütten zu verkaufen, hatte er jetzt ein besseres Produkt im Angebot, und zwar für solventere Zielgruppen im Großraum Dallas.
Die Frau beschließt, doch nicht an die Tür zu klopfen, und macht sich vom Acker.
Hoskins meldet sich wieder. »Ähm, Detective?«
Gleich kommt’s. Entweder kassiere ich einen Spruch oder er reißt einen Flachwitz.
»Ja, Hoskins?«
»Bist du jetzt enttäuscht, weil du die Frau nicht abtasten durftest?«
Ich höre Ryan und Craddock im Hintergrund lachen.
»Am Boden zerstört. Und jetzt halt die Klappe und tu wenigstens so, als würdest du arbeiten.«
Hoskins, ein klapperdünner Halbidiot mit Abschluss von der Baumschule, findet an allem einen sexuellen Aspekt und reißt gern typisch hirnschlichte Polizistenkalauer. Bei mir überspannt er den Bogen besonders gern.
Seth, seit einem Jahr der Kollege an meiner Seite, weiß, dass er in meiner Gegenwart besser nicht über Hoskins’ Schenkelklopfer lacht. »Er hat nicht vergessen, dass du hier die Ansagen machst, oder?«
»Wieso glaubst du, dass er mir so auf den Sack geht?«, frage ich.
Hoskins ist ein permanent Zukurzgekommener, der seinen Status als Cop dazu missbraucht, um langjährige persönliche Rechnungen zu begleichen. Sein Lieblingsspruch, den er ständig zum Besten gibt, lautet: »Vertraue keinem Mann, der niemals wütend wird, und keiner Frau, die nicht auf Rache sinnt.« Onkel Benny hätte mir geraten, keinem Mann zu trauen, der gegen alles und jeden Missgunst empfindet. Hoskins, der erheblich länger im Dienst ist als ich, hatte sich natürlich als rechtmäßiger Einsatzleiter gesehen.
»Ich muss zugeben«, sagt Seth, »den Anblick von Hoskins’ Visage, als der Sergeant dir die Leitung übertragen hat, werde ich so schnell nicht vergessen.« Er grinst, kratzt sich über die Bartstoppeln und streckt die Beine aus.
Seth Dutton, gebräunt und durchtrainiert, ist nahezu absurd gutaussehend, sein Gesicht eine Mischung aus Skandinavien und Mittlerer Westen. Mit seinen knapp eins achtzig ist er fast so groß wie ich. Meine Kollegen witzeln gern darüber, dass ich die einzige Frau in Texas sein muss, die bei Seths Anblick keine Schnappatmung bekommt.
Er knüpft an unsere vorige Unterhaltung an, die sich irgendwo am Goldenen Dreieck texanischen Männer entlangbewegte: Sport, Frauen und Kirche – wobei man Letzteres nicht mit Religion verwechseln darf. In Dallas darüber zu sprechen, in welche Kirche man geht, ist ungefähr so, als wenn man jemandem in New Jersey sagt, in welchem Stadtviertel man wohnt.
»Sind in deiner Familie alle Yankees-Fans, Riz?«, fragt er.
Ich schneide eine Grimasse. »Warum meint ihr Heten eigentlich immer, dass ich mich für Sport interessiere?« Seth ist der Einzige, der mich Riz nennen darf, eine Kurzform meines für die meisten Texaner unaussprechlichen Nachnamens, Rhyzyk. Das darf er aber nur, weil er mir schon diverse Male den Arsch gerettet hat – und eine neun Millimeter SIG Sauer trägt.
Als er betreten die Achseln zuckt, habe ich Erbarmen. »Mets«, sage ich.
»Welcher New Yorker, der was auf sich hält, steht bitte auf die Mets?«
»Tja, was soll ich darauf antworten? Und meine Familie kommt nicht aus New York, sondern aus Brooklyn.« Ich rutsche auf meinem Sitz herum und schiebe meine lange Mähne beiseite, die sich irgendwie von selbst zu bewegen scheint – und die meine Mutter einst scherzhaft als »hurenrot« bezeichnet hat –, um mir den Nacken zu massieren. Schon zigmal habe ich beschlossen, sie abzuschneiden, weil sie bei meiner Arbeit ein Risiko darstellt. Aber dank meiner Eitelkeit lasse ich sie dann doch weiterwachsen. Vielleicht ist das so eine Art Kriegsflagge, die polnische Amazone mit ihrem roten Helm, die Boudicca des Ostens. Ich fasse meine Haare im Nacken und zwirble sie mit einem Gummi auf dem Kopf zusammen.
Ich denke zurück an den Hund im Mercedes. Es ist ziemlich grausam, einen Hund bei dieser Hitze im Auto zu lassen, aber sein Herrchen, dessen Kokain mit großer Wahrscheinlichkeit an der Highschool der Nachbarschaft verkauft wird, ist auch sicher kein engagierter Tierschützer.
»Wenn du’s genau wissen willst«, sage ich, »ich bin Yankees-Fan. Das war die beste Methode, meinen alten Herrn so richtig zu provozieren. Er ist schon tot, aber als er noch lebte, war er eigentlich immer für die Dodgers, bis sie ihm einmal zu oft das Herz gebrochen haben. Danach war er eingeschworener Mets-Fan.«
»Treue Seele«, sagt Seth.
»Sturer Bock«, sage ich.
»Ja, das kann ich nachvollziehen. Als Cowboys-Fan muss man einen langen Atem haben. Auf dem Papier sind sie das talentierteste Team. Aber Jerry Jones ist ein Kontrollfreak. Und wenn’s eng wird, kann Romo nicht gewinnen. Er ist ein besserer Spieler als Manning, aber auf Manning ist Verlass, wenn’s brenzlig wird. Jedes Mal …«
Ich richte mich auf. Die Frau mit dem Hund hat offenbar ihre Meinung geändert, denn sie erscheint wieder auf der Bildfläche und marschiert jetzt direkt auf die Veranda zu. Noch bevor Hoskins Kontakt aufnehmen kann, klopft sie bereits an die Tür.
»Bleib, wo du bist«, weise ich Hoskins über Funk an.
Bender öffnet die Tür, es gibt einen Wortwechsel, dann knallt er sie wieder zu. Die Frau zückt ihr Handy und wählt.
»Warte«, sage ich erneut.
Wie gebannt beobachten wir, wie sie auf dem Rasen steht, die Hände in die Hüfte gestemmt, und innerhalb von vier Minuten fährt ein Streifenwagen vor.
»Will die mich verarschen?«, sage ich zu Seth.
Der Polizist, im frisch gestärkten schwarzen Hemd und passender Hose, eine Ray-Ban auf der Nase, steigt aus. Die Frau kommt ihm schon entgegen, sie zeigt auf den Mercedes, dann aufs Haus. An seiner Körperhaltung, den über der Brust verschränkten Armen und dem hängenden Kopf erkenne ich, dass der arme Teufel keine Lust hat, sich hier einzumischen.
»Soll ich die zuständige Dienststelle informieren, damit die den Kerl zurückpfeifen?«, fragt Seth.
Ich schüttle den Kopf. Die Vorortbullen einzuweihen hieße, ihnen zu erklären, dass wir vor ihrer Tür eine Mordsaktion durchführen und demnächst ein ziemlich fetter Drogendeal ablaufen wird. Das würde die Dinge nur verkomplizieren. Oder besser gesagt: Es würde dazu führen, dass sie die Sache selbst in die Hand nehmen, damit sie in den Abendnachrichten landen.
»Komm schon …«, flüstere ich, denn ich hoffe inständig, dass der Typ sich abwendet und sich wieder seinem eigentlichen Job zuwendet: Müttern, die am Steuer mit dem Handy telefonieren, einen Strafzettel zu verpassen.
Aber die Frau lässt nicht locker, und der Cop stiefelt schließlich die Stufen zur Haustür hinauf und schlägt mit dem Messingklopfer gegen das Holz. Die Tür geht auf, Bender tritt auf die Veranda, um sich mit dem Mann zu unterhalten. Die Frau beobachtet alles aus sicherer Entfernung, offenbar hat sie keine Lust auf eine Wiederholung der früheren Auseinandersetzung.
Während Bender in seiner Tasche herumkramt, redet er nervös auf den Polizisten ein und zieht schließlich ein Schlüsselbund hervor, vermutlich die Autoschlüssel. Er überquert den Rasen und geht auf den Mercedes zu, dabei macht er beschwichtigende Gesten. Ich sehe, wie Bender sich hektisch auf der Straße umsieht, denn er weiß, dass Ruiz gleich hier aufschlagen wird.
Seth rammt mir den Ellbogen in die Rippen, als ein weißer Ford Expedition an unserem Transporter vorbeicruist und sein Tempo kurz vor Benders Haus verlangsamt. Im Wagen sitzen zwei Männer, aber die Fenster sind zu dunkel, um den Fahrer genauer zu identifizieren. Er ist jetzt direkt am Haus, nahe dem Streifenwagen, der Polizist bemerkt die Reaktion in Benders Miene – dem die nackte Panik ins Gesicht geschrieben steht, das sehe ich sogar aus der Entfernung –, und er dreht sich zu dem Wagen um. Sein glänzender Glatzkopf verfolgt die Bewegungen des SUV, die Sonnenbrille hat er mittlerweile hochgeschoben, sie sitzt jetzt auf seiner Stirn. Er reckt das Kinn vor, zieht ein wichtiges Gesicht und nimmt die breitbeinige Cop-Position ein, damit die anderen wissen, dass er sie im Visier hat. Der SUV beschleunigt, fährt bis zur nächsten Kreuzung weiter und biegt dann links ab.
Hoskins meldet sich über Funk, seine Stimme klingt angespannt. »Verfolgen?«
Meine Hände haben sich in die Konsole gegraben.
»Detective Rhyzyk, soll ich die Verfolgung aufnehmen?«
»Nein«, sage ich. Schweißtropfen rinnen mir über die Stirn. »Bleib, wo du bist. Wir warten, wie es weitergeht.«
Ich hoffe, dass unser Mann seinen Pudel ins Haus bringt, die Lady sich zufrieden verzieht und der Cop auch wieder abhaut. Ruiz fährt hoffentlich nur eine Runde um den Block und kehrt irgendwann zurück. Aber ich möchte wetten, dass dies nicht passieren wird. El Gitano hat nicht so lange im Drogengeschäft überlebt, weil er zweimal vorgefahren ist. Er und sein Bodyguard starren sicher wie gebannt in den Rückspiegel, jedes Fahrzeug, das sich ihnen nähert, wird ihnen verdächtig vorkommen. Es ist ein verdammt beschissener Zufall, dass unser Drogendealer ausgerechnet in dem Moment auftauchen musste, als unser Polizist hier den Freund und Helfer raushängen ließ.
Ich muss wissen, was hier läuft, aber der Cop soll nicht spitzkriegen, dass die Drogenfahndung von Dallas ihn abhört und auf Band hat, dank der freundlichen Unterstützung des FBI, deswegen sage ich Hoskins, er soll sich ruhig verhalten, und bedeute Seth, dass er mir vorsichtig aus der Hintertür des Transporters folgen soll. Wir tragen beide Shorts und T-Shirts, die SIG Sauer unter der lockeren Kleidung verborgen, damit wir im Bedarfsfall als durchgeknallte Jogger im Viertel herumlaufen können, die vor lauter Fitnesswahn einen Hitzschlag riskieren. Sachte schließe ich die Transportertür, lasse mich auf den Gehweg gleiten und trabe locker drauflos.
Wir nähern uns dem Polizisten, der sich immer noch mit dem zunehmend aggressiven Bender auseinandersetzt. Da fängt die Frau auf einmal an, sich bei beiden zu entschuldigen.
Wir traben ein bisschen auf der Stelle, in sicherem Abstand, ganz die besorgten Bürger.
»Was ist hier los?«, fragt Seth.
Die Frau wendet sich zu uns um, ihr Schnauzer kläfft aufgeregt. »Ich habe einen schlimmen Fehler gemacht. Furchtbar!« Ihr Gesicht ist tränenverschmiert, die Unterlippe zittert, und sie wischt sich mit dem Handrücken die Nase ab. »Ich wollte doch nur … wegen dem kleinen Hund. Aber dieser Mann, der gehört zu meiner Gemeinde.«
Der Polizist winkt mir zu und weist in die Richtung, aus der wir soeben gekommen sind. »Bitte treten Sie zurück! Hier gibt es nichts zu sehen.«
Also machen Seth und ich auf dem Absatz kehrt und joggen gemächlich zurück zum Transporter, als der weiße SUV von vorhin wieder auftaucht. Er kommt direkt auf uns zu.
Schluss mit dem Theater. Ich bleibe stehen und nehme den vorbeifahrenden Wagen genau ins Visier. Das Seitenfenster gleitet herunter, und für einen kurzen Moment blitzt das Gesicht des Fahrers auf: Hakennase, schmale Augen, erinnert mich schwer an eine präkolumbianische Maske. Er hat mich jetzt auf dem Schirm, stuft mich aber wohl als ungefährlich ein. Mich beschleicht allerdings das ungute Gefühl, dass er innerlich einen Schalter umgelegt hat.
Aus seinem Fenster ragt plötzlich eine Semiautomatik und feuert. Bender tanzt wie eine Marionette über den Gehweg, dann klappt er zusammen, Blut spritzt aus ihm heraus wie aus einem geplatzten Ballon. Der Polizist neben ihm ist völlig besudelt. Noch bevor der nach seiner Waffe tasten kann, hat ihn die zweite Ladung erwischt, und er stürzt in den Garten.
Seth und ich hechten ins nächstbeste Gestrüpp und rufen der Frau zu, sie soll in Deckung gehen, aber sie steht mitten auf dem Gehweg, kreischend, ihren Schnauzer panisch an sich gedrückt. Der Lauf der Waffe bewegt sich mit einer eleganten Minimalbewegung, der Schütze findet sein nächstes Opfer und streckt es mit drei Kugeln nieder.
Die Beifahrer perforieren Hoskins’ rostroten Transporter, durchsieben das Metall und zerschießen die Fenster. Seth und ich feuern zurück, aber der Fahrer gibt Vollgas und braust mit quietschenden Reifen davon.
Als Seth zu unserem Wagen sprintet, stürzt ein großer Mann in Unterhose und flatterndem Bademantel aus seinem Haus und feuert mit seinem Großkalibergewehr auf den SUV. Die Waffe macht einen Höllenlärm und lässt im Nachbargarten ein paar Bambusbüsche hochgehen.
»Feuer einstellen, Arschloch!«, brülle ich, während ich neben der Frau mit dem Schnauzer knie, die über ihren Hund gestürzt und auf dem Gesicht gelandet ist. Sie hat keinen Puls, Blut quillt aus ihren Wunden und strömt wie ein dunkelroter Fluss über den Gehweg. Sie und ihr Hündchen sind im Jenseits vereint.
Da fliegt die Ladetür des rostroten Transporters auf und die Undercoveragenten steigen aus: Hoskins und Craddock sind unverletzt, Ryan, der Jüngste im Team, hat weniger Glück gehabt, in seiner Schulter steckt ein großer Metallsplitter. Seth hat bereits Verstärkung angefordert, innerhalb von Minuten wimmelt es auf der Straße vor Polizisten, sogar das Einsatzkommando, der Heli und Leute aus unserer Drogeneinheit sind im Einsatz. Das FBI trudelt als Letztes ein.
Der Heli hat den weißen SUV irgendwann gefunden, aber das Haus, vor dem er geparkt hat, ist leer, der betagte Besitzer und sein Lincoln Towncar verschwunden.
Ich gebe meinem Vorgesetzten Sergeant Verne Taylor einen kurzen Bericht. Er ist schwitzend und fluchend im ärgsten Gedränge eingetroffen und bekommt gerade noch mit, wie sich der Gelegenheitsschütze aus der Nachbarschaft mit dem Bademantel das Gesicht und die nackte Brust abwischt und vor laufender Kamera aufplustert. »Wenn die Cops in Dallas ihre verdammten Waffen dabeihätten, wie es sich gehört, müssten wir nicht ihre Drecksarbeit erledigen. Und jetzt hat mir die Polizei das Gewehr abgenommen. Womit soll ich mich nun schützen?«
Wir identifizieren Mutter Teresa anhand des Inhalts ihrer Designerhandtasche: American Express Platin Card und eine kompakte Beretta mit einem von Diamanten besetzten Griff in Pavé-Fassung, ein Valentinsgeschenk von ihrem Gatten, wie sich herausstellt. Zum Schutz beim Gassigehen. Welche Gefahren der Gute in diesem Nobelviertel erwartet haben mag, ist nicht überliefert, aber dazu gehörte sicher nicht, dass sich die wilden Exzesse des mexikanischen Drogenkriegs ausgerechnet in den makellos gepflegten Vorgärten seiner friedlichen Nachbarschaft abspielen würden.
Aus der Ferne wirkte Mutter Teresa so Mitte vierzig, aber aus nächster Nähe betrachtet ist sie wohl um einiges älter. Im Führerschein steht, sie sei achtundsechzig. Ihr Blondschopf hat einen feinen grauen Ansatz, hinter ihren Ohren erkenne ich jetzt die rosa Narbenwülste vom letzten Facelifting. Wie gern würde ich ihr die Haare wieder davorschieben, so tapfer hat sie um ihre Schönheit gekämpft, aber damit würde ich der Forensik ins Handwerk pfuschen. Als die männlichen Kollegen die ersten Zoten über ihre »Plastikmöpse« reißen, die ihr stoisch aus dem liegenden Körper ragen, während sich der Rest der Schwerkraft ergibt, mache ich einen Abgang.
Ein Krankenwagen bringt Ryan in die Klinik, Seth kümmert sich bis auf Weiteres um Benders Hund, damit er nicht im Tierheim landet.
Ich sitze auf der Bordsteinkante. Mir klappern die Zähne, obwohl es sicher nicht kalt ist. Ach, könnte ich doch nur bei Benny anrufen!
Eine Sanitäterin, eine Schwarze, deren Uniform so knapp sitzt, dass sie aufgesprüht sein könnte, will mich eigenhändig in den Wagen tragen, wenn ich nicht freiwillig gehe. Sie misst mir den Puls.
»Wir Frauen müssen zusammenhalten«, bemerkt sie augenzwinkernd. »Hab ich recht, Baby?«
Dann legt sie mir ein Kühlkissen in den Nacken und deckt mich zu. »Was für ein Sonntag«, sagt sie kopfschüttelnd und lässt sich eine Viertelstunde Zeit, um das Formular auszufüllen.
Langsam lässt das Zittern nach, ich versuche, ruhig zu atmen, und schließe die Augen, aber meine Gedanken kreisen immer noch um die Vollkatastrophe der letzten Stunde. Wenn Bender seinen Vierbeiner nicht im Wagen gelassen hätte, die Frau nicht aufgetaucht wäre, Ruiz nicht gerade in dem Moment seine Runde gedreht hätte, als Bender mit dem Polizisten sprach … und so weiter, schön im Kreis. Onkel Benny hat immer drei Zufallsarten benannt, die bei einer Ermittlung eintreten können. Der erste ist der glückliche Zufall, bei dem alle Beweise ineinandergreifen wie bei einem kunstvollen Origami-Projekt. Der zweite ist ein unglücklicher Zufall, der eine ganze Ermittlung zunichtemacht: Wenn beispielsweise ein wichtiger Zeuge stirbt, ein grundlegendes Beweismittel verschwindet, ein unerfahrener Kollege den Tatort verunreinigt oder wohlmeinende Zivilisten Chaos verbreiten. OT Benny: »Ein Zivilist hat eine Ermittlung schneller versaut als ein betrunkener Schausteller eine vierzehnjährige polnische Jungfrau.« Bestes Beispiel: unsere Lady mit dem Schnauzer.
In die dritte Zufallskategorie fallen diese seltenen, völlig abgedrehten Ereignisketten, die sich sämtlicher Logik und allen Naturgesetzen widersetzen und so gefährlich sind, dass man am besten nicht darüber nachdenkt. Die Rhyzyk-Cops in meiner Familie nannten diese Aneinanderreihung von absurden Begebenheiten popierdolony, was so viel bedeutet wie: »kosmisch so am Arsch, dass menschliche Kontrolle unmöglich ist«. Jeder Cop, der lange genug im Einsatz ist, wird über kurz oder lang mit einem solchen Ereignis konfrontiert. Wie ein abergläubischer Seemann vor dem drohenden Sturm greife ich an meine Michaels-Medaille – Sankt Michael ist der Schutzheilige der Polizisten – und verdränge den Gedanken ganz schnell wieder.
Ich habe in meinen zwei Jahren bei der Drogenfahndung in Dallas einige erfolgreiche Razzien durchgeführt und mehrere aufgeklärte Fälle vorzuweisen. Bis heute gibt es unter meiner Ägide keinerlei Opfer zu beklagen, außer denen, die an einer Überdosis gestorben sind. Aber jetzt, nach meinem ersten geleiteten Einsatz, muss ich mich für einen toten Verdächtigen, eine tote Zivilistin und einen toten Polizisten verantworten. Dazu wurde ein Kollege aus meinem Team schwer verletzt.
Die Sanitäterin schließt ihre Untersuchung endlich ab und meint, ich solle nach Hause gehen. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen.
Jackie hat den Tisch gedeckt und das Essen fast allein vorbereitet. Meist kochen wir gemeinsam, aber sie weiß, dass ich einen beschissenen Tag hinter mir habe, deshalb überlässt sie mich den trüben Gedanken, denen ich mich im zweiten, winzigen Bad – »Das Büro« genannt – hingebe. Ich habe schon zweimal mit meinem Vorgesetzten geredet, und mit seinen dreißig Jahren Erfahrung weiß er genau, dass solche Dinge passieren können, selbst wenn man noch so solide Arbeit geleistet hat, aber so, wie sich die Dinge entwickeln, sieht es nicht aus, als würde sich die Lage in nächster Zeit irgendwie entspannen.
Bei unserem zweiten Telefonat eröffnet mir Taylor, dass der gestohlene Lincoln gefunden wurde. Der Besitzer lag tot auf der Rückbank, mit zwei Kopfschüssen getötet. Ein weiterer unschuldiger Zivilist, der unglückseligerweise zu Hause war, als El Gitano an seiner Tür klingelte oder einfach hereinspazierte. Der Lincoln stand in Oak Cliff, im Süden von Downtown Dallas, neben einer verlassenen Autowerkstatt. Die zuständigen Cops durchkämmen die Gegend und befragen Anwohner, aber bislang haben sie nichts herausgefunden. Er rät mir, erstmal auszuschlafen und am Morgen um acht zum Teammeeting zu kommen.
Nachdem ich aufgelegt habe, spüre ich ein unterschwelliges Beben, das mir durchs Mark fährt wie ein pochender Zahn. Die Nachbarn haben die Abendnachrichten so laut laufen, dass die Wände wackeln. Es geht – wie kann es anders sein – um ein Blutbad in einem noblen Vorort von Dallas.
Als ich endlich aus dem Büro geschlichen komme, hat Jackie das Essen schon serviert – ein komplett vegetarisches Gericht, geschieht mir recht.
»Wie geht es dir?«, fragt sie, dann schließt sie mich fest in die Arme, schmiegt sich an meinen Hals. Ich spüre ihren feuchten Atem auf der Haut, rieche den Wein.
Vorsichtig löse ich ihre Hände von meiner Hüfte. »Geht schon«, murmele ich.
»Und der verwundete Detective? Kevin Ryan?«
Ich drücke ihr einen Kuss auf den Scheitel und nehme sie fest in die Arme.
»Ryan kommt wieder in Ordnung«, versichere ich ihr.
Wir setzen uns. Ich starre auf Zuckerschoten mit Rosenkohl – kleine grüne Hirne in Olivenöl – und bemühe mich, meine Enttäuschung zu verbergen. Ich will Jackie nicht kränken, also schiebe ich mir ein paar in den Mund und spüle mit Wein nach.
Jackie beobachtet mich. Ich tue, als würde mir ihr Kaninchenfutter schmecken. Sie lächelt. »Du wirst mir schon noch danken, wenn sich deine Cholesterinwerte wieder im menschlichen Bereich einpendeln.«
Jackie ist Radiologin an einer großen Kinderklinik und hat während der letzten zehn Jahre viele Fälle von Kindesmisshandlung aufgedeckt. Sie setzt sich vehement für die Opfer ein. Wenn sie vor Gericht aussagt – eine Furie im Zeugenstand, die ihr forensisches Wissen wie eine Waffe einsetzt –, finde ich sie unwiderstehlich. Auf ihrer Station hat sie es mit einem Verdachtsfall pro Woche zu tun.
Ich denke rechtzeitig daran, sie nach ihrem Tag zu fragen.
»Stressig«, sagt sie. »Bis Mittag hatte ich mehr als zwanzig Akten auf dem Tisch. Wir sind im Augenblick unterbesetzt, kann sein, dass ich länger arbeiten muss. Heute musste ich einen Säugling messen, zehn Monate alt, mit Hydrozephalie, Gorham-Stout-Syndrom, Perikard-Erguss. Das war hart …«
Wenn man uns bei unseren Gesprächen über unseren chaotischen Berufsalltag zuhören würde, könnte man meinen, wir wären völlig abgebrüht. Meine Geschichten sind oft brutal und nicht besonders originell – ein Toter hinter dem Piggly Wiggly, ein Ertrunkener im Fluss –, ihre hingegen sind gespickt mit eleganten lateinischen Wörtern, die für Laien ziemlich unverständlich sind. Aber ich habe gesehen, wie sie ein krankes Kind hält, voller Hingabe und mit wilder Entschlossenheit, es mit Klauen und Zähnen zu verteidigen.
Ich betrachte sie, ihr glänzend schwarzes Haar fällt ihr fedrig in den Nacken, während sie das Essen geschickt auf dem Teller herumschiebt und beim Sprechen mit der Gabel herumwirbelt wie eine Dirigentin.
Als wir uns kennenlernten, hatte sie langes Haar, das ihr in zwei geflochtenen Zöpfen über die Schultern fiel. Sie war auf einer Farm in Oregon aufgewachsen und war der fröhlichste Mensch, den ich je getroffen hatte. An unserem ersten richtigen Date brachte ich sie zu einem Schießstand, weil sie in allem, was sie tat, von unerschütterlicher Selbstsicherheit erfüllt war, sei es intellektuell oder körperlich. Jackie wusste stets, wo sie stand und wozu sie auf der Welt war. Mir fiel nichts anderes ein, womit ich sie hätte beeindrucken können. Und das wollte ich unbedingt. Also zeigte ich ihr, was ich am besten beherrschte.
»Was?«, fragt sie mich jetzt, den Kopf schiefgelegt, ein Lächeln im Gesicht. »Du siehst mich so komisch an.«
In Wahrheit hatte ich ihr Tattoo angesehen, eine rote Rose, geformt wie ein winziges Herz mit schwarzem Rahmen, direkt unter ihrem linken Schlüsselbein. Das hatte sie sich stechen lassen, nachdem wir den Film The Rose Tattoo gesehen hatten.
»Komisch?«, frage ich, während ich meinen Blick langsam wandern lasse, über die zarte Stelle an ihrer Kehle bis zu ihren nussbraunen Augen. Mich erfüllt eine große Dankbarkeit, dass ich diese gütige, kluge, elegante Frau an meiner Seite habe. Jackie hat mich gelehrt, geduldig zu sein.
»Das liegt an meinem Gesicht, Süße«, sage ich und drücke ihr zur Beruhigung die Hand.
»Schlimmer, schlimmer Tag«, sagt sie kopfschüttelnd. »Es wird auch wieder besser. Tut es doch immer.«
Und für den Rest des Abends erlaube ich mir, daran zu glauben.
Am nächsten Morgen versammelt sich das Undercover-Team. Seth, Hoskins, Craddock und Ryan, den Arm in der Schlaufe, sind schon vorher eingetrudelt. Als ich reinkomme, kriege ich gerade noch mit, wie Craddock Ryan aufzieht. Er hätte sich schneller wegducken müssen, sagt er.
»Aber so eine Schlaufe ist ein echter Muschimagnet«, tröstet Hoskins. »Die Mitleidstour zieht immer. Huch! Sorry, Detective Rhyzyk, hab dich gar nicht erwartet. Wo bleibt der Kugelhagel?«
»Geht’s wieder, Ryan?«, frage ich ungerührt. Ryan grinst und reckt einen Daumen in die Luft.
»Ach, dem geht’s prima«, mischte sich Hoskins ein. »Viel wichtiger: Wie geht’s dir? Zittern die Hände noch?«
Ich werfe Hoskins einen warnenden Blick zu und gehe wortlos davon. Sergeant Taylor und unser FBI-Koordinator Carter Hayes, der wie immer aussieht wie den Katalogseiten entsprungen, in Khakihose und Button-Down-Hemd, sitzen in einer Ecke und sprechen leise miteinander. Im Vergleich zu Taylor, muskulös und breitschultrig, wirkt Hayes wie ein echter Schreibtischtäter, was vermutlich genau zutrifft. Bis vor ein paar Jahren hat Taylor noch an Rodeo-Wettbewerben teilgenommen, einer der wenigen schwarzen Teilnehmer in seiner Abteilung.
Hoskins latscht mir schon die ganze Zeit hinterher, den Blick fest auf mein Schuhwerk geheftet. »Ich stehe total auf deine Kampfstiefel, Detective!«, sagt er. Sie sind Teil der Ausrüstung für unsere taktische Spezialeinheit, zu der ich natürlich nicht gehöre. Aber wenn ich nicht undercover arbeite, ziehe ich sie gern an, um den Jungs ein bisschen den Kopf zu verdrehen. Meine Version von Springerstiefeln.
Ich seufzte, denn wenn ich jetzt nicht reagiere, hält er nie die Fresse. »Oh, danke schön, Bob. Ich würde sie dir gern leihen, aber deine Füßchen sind ein bisschen zu zart dafür.«
Alle außer Hoskins lachen. Gleichgewicht wiederhergestellt.