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Packende Geschichte einer Frau, auf der Suche nach sich selbst.Die junge, selbstbewusste Lektorin Ingrid hat ihre Karriere fest im Blick, bis sie sich auf der Weihnachtsfeier Hals über Kopf in den Rechtsanwalt Robert Altmann verliebt. Im Überschwang der Gefühle wirft Ingrid ihre Karrierepläne über Bord, kündigt und heiratet Robert. Doch schon bald bekommt Ingrids neue, heile Welt Risse und sie muss erkennen, dass ihre ganze Ehe ein einziger Irrtum ist... -
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Seitenzahl: 291
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Marie Louise Fischer
Saga
Der Weg zurück – LiebesromanCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1988, 2020 Marie Louise Fischer und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726444810
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
Die Julinacht war warm und der Himmel über der Vorstadt so klar, daß man die Sterne hätte sehen können, wenn die Gastgeber die Terrasse und den Garten hinter ihrem Haus nicht so großzügig mit bunten Lampions geschmückt hätten.
Es war ein gelungenes Fest. Jetzt, da es auf Mitternacht zuging, hatte Robert Altmann mit Rücksicht auf die Nachbarn die Stereoanlage abgeschaltet. Die Gäste waren so in ihr munteres Geplauder vertieft, daß sie es nicht einmal bemerkt hatten.
Ingrid, seine Frau, beobachtete ihn mit liebevollem Stolz, als er auf die Terrasse zurückkam und Bowle einschenkte. Er war der Mann, von dem sie in ihren Mädchenjahren geträumt hatte, zuverlässig, tüchtig und nicht ohne Humor. Ihr Herz schlug immer noch höher, wenn er ihr, wie jetzt eben, in die Augen blickte. Er sah so gut aus mit seinem braunen Haar, das sich gegen seinen Willen immer wieder lockte, auch wenn er es noch so energisch aus der Stirn gebürstet hatte, den klaren, intelligenten Augen in dem gutgeschnittenen Gesicht.
Aber sie verstand seinen Wink. Sie durfte nicht einfach dasitzen und ihn bewundernd anstarren. Die Gäste waren es, die ihre Aufmerksamkeit verdienten.
Sie nahm ihm den Krug aus der Hand und ging damit in den Garten, von Gruppe zu Gruppe, und schenkte nach. Bei jeder blieb sie ein paar Minuten stehen, gerade lange genug, um sich in das Gespräch mit einbeziehen zu lassen. Was für eine gute Idee war es gewesen, ihren dritten Hochzeitstag im Kreis der Freunde zu feiern! Natürlich würde der Garten unter den vielen Füßen leiden, aber das war halb so schlimm. Es war dumm, ausgerechnet jetzt an die vielen Zigarettenkippen zu denken, die sie im Gebüsch und auf dem Rasen finden würden. Ingrid genoß die Sympathie, die sie umgab. Sie war glücklich und nicht bereit, sich dieses Gefühl durch irgend etwas vergällen zu lassen.
Senta Kaminsky, ihre beste Freundin, hatte, wie nicht anders zu erwarten war, Georg Miller, den einzigen Junggesellen auf der Party, geangelt und beiseite gezogen. Er war Staatsanwalt, ein wirklich trockener Jurist, aber Senta verstand es offensichtlich, ihn aus der Reserve zu locken und zu amüsieren. Sie lachten beide auf jene Art, die verriet, daß es um einen sehr privaten Witz ging — ohne daß es ihnen im Augenblick auch nur so vorkam.
Ingrid verhielt den Schritt und überlegte, ob die beiden ihr Auftauchen womöglich als Störung empfinden könnten. Schon wollte sie zur Terrasse zurückkehren.
Aber da rief Senta munter: »He, Ingrid! Willst du uns etwa verdursten lassen?« Sie hielt ihr das Glas mit weit ausgestrecktem Arm entgegen.
»Ihr wart so in euer Gespräch vertieft«, sagte Ingrid entschuldigend, trat auf sie zu und schenkte nach.
»Deine Freundin amüsiert mich köstlich«, erklärte Georg Miller.
Sie schenkte auch ihm nach. »Ja, dazu hat sie Talent«, bestätigte sie ohne Neid und Häme.
»Na, erlaubt mal!« protestierte Senta. »Ich bin ein sehr ernsthafter Mensch . . .«
». . . und eine schwer berufstätige Frau!« ergänzte Ingrid. »Aber das ändert doch nichts an der Tatsache, daß du seit jeher eine Partygröße warst.«
»Du etwa nicht?«
»Ich fühle mich neben dir stets wie das Veilchen im Moose.«
»Oho! Ich kenne das Sprüchlein, Ingrid. Aber ich bin nicht die stolze Rose, die immer bewundert sein will.«
Sie lachten beide, und Georg Miller stimmte ein.
»Rose ist ein sehr passender Vergleich«, sagte er.
Senta sah wirklich blendend aus. Das schmeichelnde Licht des rosafarbenen Lampions, unter dem sie standen, ließ sie Jahre jünger wirken und machte ihre Züge weicher. Ihre runden, sorgfältig ummalten braunen Augen strahlten, und ihr kupferglänzendes, kurzgeschnittenes Haar leuchtete. Das tiefe Dekolleté ihres goldfarbenen Kleides gab ihre schönen, von der Sonne gebräunten Schultern frei. Sie las die Bewunderung aus Ingrids Blick und sagte großzügig: »Du siehst auch nicht übel aus, Kleine.«
Ingrid war tatsächlich klein, ohne Schuhe weniger als 1,60 Meter, aber da sie wunderschön proportioniert war, mit verhältnismäßig langen Beinen, einer sehr schmalen Taille und einem runden festen Busen, machte ihr das nichts aus.
»Wir alle finden, daß Robert um dich zu beneiden ist«, behauptete Georg.
»Und ich beneide dich um Robert!« fügte Senta hinzu. »Aber das ist natürlich nicht wörtlich zu nehmen. Ich habe durchaus nicht vor, mein schönes Single-Dasein in absehbarer Zeit zu verändern. Doch wenn ich mal heirate, dann einen Mann wie Robert.«
»Ich bin immerhin auch Jurist«, erinnerte Georg, »ich habe mit Robert zusammen studiert.«
»Darf ich das als Antrag verstehen?« fragte Senta mit übertriebener Koketterie.
Die beiden Frauen lachten, als Georg ins Stottern geriet. »Du kannst dich wieder abregen, Georg«, sagte Senta endlich großmütig, »das war natürlich nur ein Scherz. Aber im Ernst, Ingrid, es muß schon ein tolles Gefühl sein, im eigenen Haus zu leben.«
Unwillkürlich blickten alle drei zu dem zweigeschossigen Haus hinüber, das Rechtsanwalt Robert Altmann und seine Frau vor gut einem Jahr bezogen hatten.
»Eigentlich gehört es noch der Bank«, stellte Ingrid richtig, »jedenfalls ist es bis zum letzten Dachziegel mit Hypotheken belastet.«
»Trotzdem . . .«, begann Senta und verstummte mitten im Satz.
Auf dem Balkon war eine kleine weiße Gestalt erschienen mit langem, aufgelöstem blondem Haar und aufgerissenen Augen, die wie schwarze Höhlen wirkten. Sie beugte sich weit über das Geländer.
»O Gott!« rief Ingrid unwillkürlich, dann preßte sie die Hand auf den Mund.
»Das ist doch nur Natalie«, erklärte Senta nüchtern. »Hoffentlich kippt sie nicht runter«, sagte Georg.
»Ach was! Sie spielt täglich da oben. Sie kennt sich aus.« »Mami!« rief das kleine Mädchen, und dann noch einmal lauter: »Mami!«
Alle sahen zu ihr hoch, und die fröhlichen Stimmen verstummten.
»Ich kann nicht schlafen, wenn ihr so laut seid!« rief das Mädchen.
Gaby Bergmeister, Natalies Mutter, hatte auf der Terrasse gesessen. Erst beim zweiten Schrei ihres Kindes war sie aufgesprungen. »Geh sofort wieder rein! Ich komme nach oben!« Sie verschwand im Haus.
»Ich sag’s ja immer«, behauptete Senta, »Kinder zu haben ist auch keine reine Freude.«
Ingrid schenkte ihr und Georg ein vages Lächeln und wandte sich ab. Der Bowlenkrug war jetzt fast leer. Sie überlegte, ob sie noch einmal Wein und Sekt auf die Erdbeeren schütten sollte oder ob der Zeitpunkt gekommen wäre, die Gulaschsuppe heiß zu machen. Robert hatte sich schon wieder so in ein Gespräch mit Peter Bergmeister vertieft, daß sie ihn nicht unterbrechen mochte. Flüchtig wunderte sie sich über ihre Entschlußlosigkeit. Sie erinnerte sich, wie stolz sie noch vor ein paar Jahren auf ihre Selbständigkeit gewesen war, und nun fiel ihr eine so einfache Entscheidung schwer.
In der kleinen Küche sah es schlimm aus. Benutzte Pappteller stapelten sich, und der Mülleimer quoll über. Ingrid öffnete den Kühlschrank, fand eine schon geöffnete Flasche Wein und goß den Inhalt in den Krug. Sie überlegte, ob sie nicht dennoch die Platte des Elektroherdes unter dem Riesentopf mit Suppe einschalten sollte, ließ es dann aber doch.
Als sie die Küche verlassen wollte, spürte sie den Schmerz kommen. Sie straffte die Schultern und atmete tief durch. ›Doch nicht jetzt!‹ dachte sie. ›Doch nicht ausgerechnet in dieser herrlichen Nacht! Das darf nicht wahr sein!‹
Aber die Schmerzen ließen sich nicht, wie sie schon seit langem wußte, durch Autosuggestion vertreiben. Sie begannen im Kreuz und schienen durch das Rückgrat in den Hinterkopf hinaufzusteigen. In wenigen Minuten würde es soweit sein, daß sie das Gefühl haben würde, in der Mitte durchzubrechen — die Angst, ihr Kopf müßte bersten.
Mit einem Minimum an Bewegung stellte sie den Krug aus der Hand, eilte ins Schlafzimmer und streifte ihre Pumps noch auf der Schwelle ab. Ohne Licht anzuknipsen, ging sie lins Bad, fand die Dose, die sie suchte, auf den ersten Griff im Spiegelschrank über dem Waschbecken. Sie öffnete sie, schüttete sich zwei Tabletten in die hohle Hand und spülte sie mit Wasser aus dem Zahnputzglas hinunter.
Aus dem Garten drang das Stimmengewirr der Gäste in das ebenerdige Schlafzimmer. Ingrid schloß das Fenster. Sie brachte gerade noch die Kraft auf, sich das Kleid über den Kopf zu ziehen, ließ es aber achtlos auf den Teppichboden fallen, bevor sie sich auf ihrem Bett ausstreckte.
›Nichts mehr denken‹, befahl sie sich, ›überhaupt nichts denken, ganz entspannen!‹ Das war die einzige Methode, mit der es ihr mehr oder weniger erfolgreich gelingen konnte, ihrer Schmerzen Herr zu werden. Sie schloß die Augen und hoffte inbrünstig, daß es heute der Fall sein würde. Nichts wäre ihr unangenehmer gewesen, als ihren Mann zu beunruhigen oder das mitleidige Interesse der Freunde auf sich zu ziehen.
Nach einer Weile öffnete sich die Tür. »Inge?« fragte Senta Kaminsky.
Dann erkannte sie im Schein der Lampions, der von außen hereindrang, Ingrids ausgestreckte Gestalt. »Dachte ich’s mir doch!«
»Kein Licht, bitte!«
»Was ist los mit dir?« Senta kam näher, hob das hellblaue Seidenkleid auf, strich es glatt und legte es über einen Stuhl.
»Nichts. Vielleicht habe ich zuviel getrunken.«
»Du doch nicht!« Senta öffnete das Fenster. »Frische Luft wird dir in jedem Fall guttun.«
»Dieser Lärm . . .«
»I wo! Alle sind doch schon ganz leise geworden.« Senta setzte sich auf die Bettkante.
Bei der leichten Bewegung der Matratze zuckte Ingrid unwillkürlich zusammen.
»Ich dachte, du wärst wieder ganz gesund?« fragte Senta vorsichtig.
»Mir fehlt ja auch nichts.«
»Warum verläßt du dann, ohne Muh und Mäh zu sagen, dein eigenes Fest?«
»Es war mir plötzlich — alles — ein bißchen zuviel«, sagte Ingrid mühsam.
»Das ist wohl die Untertreibung des Jahres. Ich habe schon vorhin gemerkt, daß etwas nicht mit dir in Ordnung ist. Als du mich und Georg so abrupt hast stehenlassen. Du sahst aus wie dein eigenes Gespenst.«
»Hat Robert es gemerkt?«
»Bestimmt nicht. Der Gute hat einen Kleinen in der Krone.«
»Und die anderen?«
»Du kannst doch hören, daß alle quietschvergnügt sind.« Ingrid seufzte tief. »Wenigstens etwas.«
»Jetzt mal ehrlich: wieder die alte Geschichte?«
»Ja«, mußte Ingrid zugeben.
»Aber ich dachte, du hättest dich gründlich untersuchen lassen.«
»Habe ich ja auch. Fünf Tage war ich im Klinikum Großhadem.«
»Und?«
»Die Ärzte haben nichts gefunden. Sie behaupten, daß ich organisch völlig gesund wäre.«
»Jetzt dreh dich mal auf den Bauch. Ich werde dich ein bißchen massieren.«
Ingrid folgte der Aufforderung. »Sie glauben, ich bilde mir das alles nur ein.«
»Haben sie das gesagt?«
»Nicht wortwörtlich. Aber ich habe es ihnen angemerkt.« »Da irrst du dich sicher.«
»Nein, Senta! Was sollen sie denn sonst denken, wenn sie nicht die geringste organische Störung finden konnten?« »Hast du ihnen denn auch gesagt, daß das alles erst nach diesem Eingriff angefangen hat?«
»Natürlich. Aber sie behaupten, daß da überhaupt kein Zusammenhang bestehen könnte.«
»Na ja, man weiß doch, wie diese Ärzte sind. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Du mußt es eben noch mal woanders versuchen.«
»Ich mag nicht mehr. Du weißt doch, bei wie vielen Kapazitäten ich schon gewesen bin. Ich habe mir geschworen, daß nach Großhadern Schluß sein soll.«
»Fühlst du dich besser?«
»Ja, tatsächlich. Die Massage tut mir gut.«
»Deine Stimme klingt schon munterer.«
»Wenn du bloß immer in der Nähe wärst!«
Senta lachte. »Das könnte dir so passen. Aber im Ernst: Was willst du gegen diese Anfälle tun? Irgend etwas müssen sie dir in der Klinik doch geraten haben.«
»So selten wie möglich Tabletten zu nehmen — die haben gut reden. Sooft wie möglich an die frische Luft zu gehen tue ich ja sowieso, du weißt, ich arbeite im Garten. Und ich muß turnen — eine Krankengymnastin hat mir gezeigt, welche Übungen ich machen soll.«
»Und? Hältst du dich daran?«
»Ich würde alles tun, um wieder gesund zu werden.«
»Vielleicht solltest du in einen Gymnastikkurs gehen.« »Warum? Ich turne jeden Morgen.«
»Ich könnte mir vorstellen, daß es in einer Gemeinschaft mehr Spaß macht.«
»Es geht mir ja nicht darum, Spaß zu haben, sondern diese verdammten Schmerzen loszuwerden.«
»Wie wäre es denn tatsächlich mit Massage? Deine Schultermuskulatur ist ziemlich verkrampft, meine Liebe.«
»Ich weiß.«
»Laß dir von deinem Arzt ein paar Stunden verschreiben.« »Wenn das helfen könnte, hätte es Professor Feldmann schon von sich aus getan.«
»So voll und ganz würde ich mich auf den Guten nun auch nicht verlassen. Seine Ratschläge kommen mir ziemlich dürftig vor.«
»Sind sie auch.«
»Hat er dir gar nichts anderes zu sagen gewußt?«
»Doch«, gab Ingrid widerwillig zu.
»Also red schon!«
»Er hat mich an einen Therapeuten überwiesen! Aber natürlich gehe ich da nicht hin.«
Unwillkürlich ließ Senta die Hände sinken. »So natürlich kann ich das durchaus nicht finden.«
»Bitte, mach weiter, Senta! Du ahnst nicht, wie gut mir das tut.«
Senta befolgte ihren Wunsch. »Aber dann erklär mir gefälligst auch, warum du diesen Therapeuten nicht aufsuchen willst!«
»Wozu sollte ich? Ich bin doch nicht seelisch krank. Meine Schmerzen sind nur zu körperlich.«
»Wer weiß?«
»Ich weiß es! Und wenn du selber ein einziges Mal so gelitten hättest wie ein Hund, wüßtest du es auch.«
»Trotzdem würde ich an deiner Stelle zu diesem Therapeuten gehen, und wenn es nur wäre, um dich mal richtig auszusprechen.«
»Quatsch! Dazu brauche ich keinen fremden Menschen. Ich kann mit Robert über alles reden und mit dir ja auch, mit Gaby und sogar mit meiner Schwiegermutter, wenn ich sie auch nur selten sehe.«
»Cynthia ist reizend, nicht wahr?«
»Ja, sie ist wirklich nett. Wir hatten sie für heute eingeladen, aber sie mochte nicht kommen. Für so einen Rummel wäre sie zu alt, hat sie behauptet. Dabei ist sie noch keine Sechzig.«
»Schade. Sie wäre sicher ein Gewinn gewesen.«
»Soll ich dir mal was sagen?«
»Nur zu!«
»Ein Wunder ist geschehen! Meine Schmerzen sind weg.« »Tatsächlich?« fragte Senta erfreut.«
»Das war der kürzeste Anfall meines Lebens! Dank deiner, Senta.«
»Dann kann ich dir nur raten: Steh auf, mach dich ein bißchen frisch und geh wieder hinaus, bevor jemand dein Verschwinden bemerkt.« Senta knipste eine Nachttischlampe an, erhob sich und bot der Freundin die Hand, um ihr auf die Beine zu helfen.
Ingrid ließ sich hochziehen.
Senta stützte sie. »Kommst du allein zurecht?« fragte sie besorgt. »Ich möchte nicht zu lange . . .« Sie sprach den Satz nicht aus.
Ingrid verstand sie auch so. »Ich schaffe es schon«, versicherte sie, »mir ist nur noch ein wenig schwindelig. Das sind sozusagen die üblichen Nachwehen. Aber für diesmal ist es überstanden. Ich bin mir sicher.«
Wenige Minuten später stand Ingrid allein in ihrem schönen, fröhlich gekachelten Badezimmer und musterte sich im Spiegel über dem Waschbecken. Das grelle Licht tat ihr in den Augen weh, aber sie brauchte es, um ihr Äußeres genau zu begutachten.
Sie sah elend aus. Ihr Gesicht schien spitzer geworden zu sein, die sonnenbraune Haut wirkte gelblich, und ihre sonst so ausdrucksvollen grauen Augen blickten matt. Um wieder Farbe zu bekommen, legte sie Make-up auf und verrieb es sorgfältig. Sie zog ihre Lippen nach und bürstete die langen Wimpern, deren natürliches Schwarz sie durch Tusche vertieft hatte.
Ihr aschblondes Haar war schweißverklebt. Ingrid schüttete ein Tonikum auf die Kopfhaut, rubbelte es mit einem Frottiertuch trocken und bürstete es aus. Danach sah sie wieder leidlich aus. Mit einem tiefen Seufzer wandte sie ihrem Spiegelbild den Rücken zu, knipste das Licht aus und verließ Bad und Schlafzimmer. Sie betrat die Küche und stellte überrascht fest, daß Gaby Bergmeister sich darangemacht hatte, Ordnung zu schaffen. Die benutzten Pappteller waren verschwunden, und der Mülleimer quoll nicht mehr über. Gaby war gerade dabei, mit einem Lappen das Spülbecken auszuputzen.
»Aber, Gaby«, rief Ingrid, »was tust du denn da? Du bist ein Schatz, aber das solltest du doch nicht!«
Gaby lachte. »Ist doch weiter nichts dabei! Ich bin einmal zum Container gelaufen, das war alles. Hoffentlich bist du mir nicht böse, daß ich mir deine Schürze ausgeborgt habe.«
»Unsinn. Natürlich nicht. Ich nehme dir höchstens übel, daß du hier werkelst, statt dich draußen zu amüsieren.« »Ach, weißt du, der Gedanke, daß du heute früh in eine völlig versaute Küche kommen würdest, hat mir den Spaß ein bißchen verdorben.«
»Wie albern von dir! Schließlich ist es meine Küche und mein Fest.«
»Aber es war meine Tochter, die dich zu Tode erschreckt hat.«
»Wie kommst du darauf?«
»Ach, Ingrid, ich kenne dich doch. Du bist überempfindlich.«
»Bin ich nicht. Aber ich gebe zu, ich hatte eine Sekunde Angst, sie könnte herunterstürzen, und ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie wegen unseres Lärms nicht schlafen konnte.«
»So ähnlich habe ich mir das vorgestellt. Aber du irrst dich gewaltig. Natürlich hat sie geschlafen. Ich hatte sie ja extra wegen des Krachs in das Wohnzimmer nach vorne raus umquartiert. Aber natürlich wollte sie auch was von unserem Fest haben, zumindest einen großen Auftritt.«
Ingrids Augen weiteten sich. »Du meinst — sie hat es mit Absicht getan?«
»Aber ganz bestimmt. Sie konnte im Wohnzimmer so gut wie nichts hören. Sie ist aufgewacht und hat sich erinnert, daß im Garten was los ist. Wahrscheinlich hat sie sich sogar schon vor dem Einschlafen vorgenommen, in der Nacht aufzuwachen und auf sich aufmerksam zu machen. Kinder sind zu so was imstande.«
»Möglich, ja«, gab Ingrid zu, »aber warst du selber denn nicht auch erschrocken?«
»Ach wo. Ich hatte damit gerechnet. Für diesen Fall hatte ich ein Schälchen mit Erdbeeren beiseite gestellt. Sie hat sie dann auch ganz vergnügt aufgefuttert und ist gleich wieder eingeschlafen.«
»Nachdem du mir das so erklärst«, sagte Ingrid, »komme ich mir ziemlich dumm vor.«
»Wenn du erst Kinder hast, wirst du auch noch lernen, die kleinen Schlingel zu durchschauen.«
Robert Altmann steckte den Kopf durch die Tür und kam herein, als er seine Frau entdeckte. »Ach, hier steckst du!« Er betrachtete sie besorgt. »Alles in Ordnung?«
»Wir haben das Gulasch aufgestellt«, erklärte Gaby munter, »und wir dachten, wir könnten bei dieser Gelegenheit auch ein bißchen aufräumen. Es ist ja immer besser, wenn man dabei ist. Damit nichts anbrennt.«
»Ach so«, sagte Robert, ohne die Augen von seiner Frau zu wenden.
Ingrid war dankbar, daß Gaby für sie geschwindelt hatte. Trotzdem war sie nicht sicher, ob das ganz richtig gewesen war. Aber sie brachte nicht die Kraft auf, die Wahrheit zu sagen. Sie redete sich ein, daß es falsch wäre, ihn zu beunruhigen, und zwang sich zu einem Lächeln.
»Du siehst müde aus«, stellte er fest.
»Bin ich auch«, gab sie zu.
»Na, es ist ja bald überstanden!« tröstete Gaby. »Sobald die Bande ihr Gulasch verschlungen hat, setzt ihr ihnen einfach nichts mehr zum Trinken vor, und dann werden sie sich schon verkrümeln.«
»Warum legst du dich nicht jetzt schon hin, Liebling?« schlug Robert vor.
»Nein, das möchte ich nicht. Wie sähe denn das aus? Äußerst unhöflich. Und ich will nicht, daß sie nachher darüber ratschen, wie arm du dran bist, weil du eine kranke Frau geheiratet hast.«
»Ach, was! Die können mir doch den Buckel runterrutschen.«
»Es sind unsere Freunde, Robert.«
»Du bist mir sehr viel wichtiger.«
»Und du bist sehr lieb.« Sie hätte ihn gern geküßt, dachte aber daran, daß sie gerade erst Lippenstift aufgetragen hatte und nicht mit ihm allein war. »Mach dir nur keine Sorgen!« Ihr Lächeln war jetzt warm und strahlend. »Das letzte Stündchen halte ich schon noch durch.«
Doch das Fest dauerte, anders als erwartet, bis in den frühen Morgen. Die Kerzen in den Lampions waren längst ausgebrannt, und die aufgehende Sonne erhellte den Himmel, als es zum allgemeinen Aufbruch kam.
Senta zog die Freundin zum Abschied beiseite und raunte ihr zu: »Ich würde es an deiner Stelle doch tun. Du weißt schon, was.«
»Aber warum? Wenn es doch sinnlos ist . . .«
»Just for fun. Eine neue Erfahrung. Bloß, damit du mal erlebst, wie so was vor sich geht.«
»Ich werd’s mir überlegen.«
»Das ist nicht genug. Mach es!«
Ehe Ingrid noch etwas erwidern konnte, wurden sie getrennt.
Die Altmanns hatten ihre Freunde vors Haus begleitet, mahnten sie, die Türen leise zu schließen und die Motoren nicht aufheulen zu lassen. Die Gäste bedankten sich für die herrliche Nacht, bevor sie sich lachend davonmachten. Den Arm um ihre Schultern gelegt, führte Robert seine Frau in die Wohnung zurück.
Gaby begegnete ihnen vom Garten her. Sie trug ein Tablett mit benutzten Kaffeetassen und vollen Aschenbechern herein. Peter folgte ihr, in der einen Hand den leeren Gulaschtopf, in der anderen eine Kanne. Die beiden Frauen hatten zuvor noch Kaffee gekocht und serviert. In der Küche sah es nicht viel besser aus als nach Gabys Eingreifen um Mitternacht.
»Wißt ihr was?« schlug sie auf ihre resolute Art vor. »Es lohnt sich jetzt gar nicht mehr, schlafen zu gehen. Machen wir uns gleich an die Arbeit und beseitigen den Verhau. Dann können wir uns nachher in die Sonne legen und ausruhen.«
Die anderen zögerten.
»Los!« drängte Gaby. »Ihr Männer kümmert euch um den Garten und die Terrasse, und ich betätige mich in der Küche.«
»Ich mach natürlich mit«, erbot sich Ingrid, »ich glaube sowieso, ich bin viel zu überdreht, um schlafen zu können.«
»Kommt gar nicht in Frage!« protestierte Robert. »Du legst dich nieder. Auch wenn du nicht schlafen kannst, solltest du dich langlegen. Und euch danke ich für euer großzügiges Angebot, aber das alles hat Zeit bis morgen.« Er verbesserte sich. »Bis heute nachmittag, meine ich.«
Gaby war nicht so leicht bereit aufzugeben. »Aber ich könnte doch . . .«
Peter schnitt ihr das Wort ab. »Nichts da! Du hast gehört, was der Hausherr befohlen hat. Also sei ein braves Kind und komm mit mir nach oben.«
»Findest du nicht, daß du übertreibst?« fragte er, als die Wohnungstür hinter ihnen ins Schloß gefallen war. »Wir zahlen ganz schön Miete, da mußt du Ingrid nicht auch noch die Hausarbeit abnehmen.«
»Hast du denn nicht gemerkt, daß sie schlecht beieinander ist?«
»Na wennschon! Dann soll sie keine Partys geben.«
»Aber, Peter! So herzlos kenne ich dich ja gar nicht.«
»Ich kann es nur nicht leiden, wenn du dich ausnutzen läßt. Du arbeitest von morgens bis abends bei deinem Immobilienfritzen, und sie sitzt zu Hause und dreht Däumchen. Da wäre es doch noch schöner . . .«
»Du mußt verrückt sein, Peter! Du weißt genau, wie dankbar wir dafür sein müssen, daß sie ihren Beruf aufgegeben hat. Sonst könnte sie sich ja nicht um Natalie kümmern, und ich müßte mich noch mehr abhetzen.«
Sie waren hintereinander die Treppe hinaufgestiegen. Auf dem obersten Absatz, vor der Tür zu ihrer Wohnung, blieben sie stehen.
»Du hast ja recht, Gaby«, gab Peter zu, »ich weiß auch nicht, was für eine Laus mir über die Leber gelaufen ist. Entschuldige, bitte.«
»Ach was. Du bist einfach übermüdet.«
»Für dich war es mindestens genauso anstrengend.«
»I wo! Ich habe doch nicht halb soviel Charme versprüht wie du!« Sie schlang die Arme um seinen Hals. »Ich hoffe nur, daß du nicht zu müde bist.«
»Dafür nie!« Er küßte sie leidenschaftlich. »Verstehst du endlich, warum du mir mit deinem Aufräumfimmel auf die Nerven gegangen bist?«
Sie kicherte. »Das hättest du mir doch gleich sagen können.«
Peter schloß auf, und auf Zehenspitzen, um Natalie nicht zu wecken, schlichen sie in die Wohnung.
Robert ließ mit der Brause Wasser in die große, runde Badewanne laufen, während Ingrid sich schon auszog.
»Das war ein gelungenes Fest, nicht wahr?« fragte sie, während sie ihre Pumps von den Füßen schüttelte.
»Kann man wohl sagen!« Er schüttete reichlich Zusatz in das Wasser. »Aber so ausschweifend lang hätte es nicht zu dauern brauchen.«
»Daß sie so lange geblieben sind, ist doch nur ein Beweis dafür, wie gut es ihnen gefallen hat.«
»Stimmt schon. Aber ein wenig Rücksichtnahme wäre schon angebracht gewesen. Niemand hat mein ostentatives Gähnen beachtet.«
Ingrid lachte leise. »Du Armer!«
»Du hast dich übrigens prachtvoll gehalten. Mittendrin hatte ich das Gefühl, es würde dir zuviel, aber dann . . . Alle haben mich um dich beneidet.«
»So soll es ja auch sein.« Ingrid kam ins Bad.
Er richtete sich auf und betrachtete sie bewundernd. »Du hast wahrhaftig eine Figur wie eine von diesen Puppen, mit denen die kleinen Mädchen so gern spielen. Wie heißen die doch?«
»Barbie?«
»Ja, genau so siehst du aus.«
»Aber ich bin von Fleisch und Blut.«
»Gott sei Dank.«
Ingrid ließ sich in die Wanne gleiten. »Ah, das tut gut!« sagte sie aufseufzend.
»Ist die Temperatur richtig?«
»Ganz genau.« Ingrid dehnte und streckte sich in dem wohlig warmen Wasser.
»Soll ich dir den Rücken schrubben?« Er hatte sein Jackett schon abgestreift.
Sie streckte die Arme nach ihm aus. »Komm zu mir!«
»Bin schon dabei.« Er schlüpfte aus Hose, Hemd und Unterhose.
Mit Vergnügen beobachtete sie seinen von der Sonne gebräunten, sehr männlichen Körper mit breiten, muskulösen Schultern, schmalen Hüften und flachem Bauch. »Laß alles liegen, wo es ist«, sagte sie, als er seine Kleidungsstücke aufsammeln wollte, »darauf kommt es auch nicht mehr an.«
Sie rückte zur Seite, als er zu ihr in die Wanne stieg, dann schmiegte sie sich an ihn.
Er streckte die langen Beine aus, schlang einen Arm um sie und legte die Hand auf ihren Busen. »Soll ich dir was sagen? Das ist für mich der schönste Moment.«
Sie bedeckte seine Brust mit kleinen, zärtlichen Küssen. »Für mich auch.«
»Dann frage ich dich ― wozu haben wir uns das angetan?« »Es war deine Idee«, erinnerte sie ihn.
»Du bist in letzter Zeit so selten unter die Leute gekommen.«
»Hast du geglaubt, mir liegt etwas daran? Am liebsten bin ich mit dir allein.«
»Ist das wahr?«
»Du solltest es eigentlich wissen.«
»Mir geht es ja auch so, Liebling, aber in meinem Fall ist es was anderes. Ich stecke von früh bis spät in Verhandlungen, da ist mein stilles Heim eine Oase für mich. Zu dir nach Hause kommen, von dir erwartet werden, das scheint mir der schönste Preis für all meine Bemühungen.«
»Und ich bin ganz zufrieden damit, die Wohnung und den Garten in Ordnung zu halten, dir was Gutes zu kochen, mich für dich hübsch zu machen . . .«
Er unterbrach sie. »Aber das ist keine Unterhaltung!«
»Mir genügt ein gutes Buch.«
»Wird dir das nicht eines Tages langweilig werden?« »Solange du mich liebst, bestimmt nicht.«
Er legte die freie Hand unter ihr Kinn, hob ihren Kopf und blickte ihr forschend in die Augen, in denen er Liebe, Zärtlichkeit und Vertrauen las. Ihre Lippen fanden sich zu einem langen, innigen Kuß.
Ingrid war tatsächlich froh, nach der Party ihr geruhsames Leben wiederaufnehmen zu können. Es trafen einige Gegeneinladungen ein, aber ohne große Aussprache waren sie und ihr Mann sich darin einig, sie höflich abzulehnen. Er war meist abgespannt, wenn er nach Hause kam, erholte sich aber dann rasch wieder bei ein wenig Gartenarbeit. Später spielten sie Tischtennis auf der Terrasse oder Gin-Rummy, das vertrackte Kartenspiel.
Die Tage eilten nur so dahin. Ingrid wunderte sich, wie schnell die Zeit verging. Es machte ihr nichts aus, allein zu sein, aber sie freute sich immer, wenn Natalie sie besuchte. Die Kleine war tagsüber im Kindergarten, war auch schon selbständig genug, um den Weg ohne Begleitung zu schaffen. Aber es kam häufig vor, daß ihre Mutter am Nachmittag nicht rechtzeitig zu Hause sein konnte. Dann rief sie Ingrid an, die sich um Natalie kümmerte, bis Gaby oder Peter — er arbeitete als Ingenieur in einem Münchner Elektrokonzern in der Richard-Strauss-Straße — heimkamen. Inzwischen standen die Sommerferien vor der Tür, die Natalie bei ihrer Großmutter im Bayerischen Wald verbringen würde. Ingrid wußte, daß sie die Kleine vermissen würde, aber nicht so sehr, daß es ihr wirklich Kummer bereitet hätte.
Das Wetter schlug um, und ein warmer, aber anhaltender Sommerregen setzte ein. Robert, der normalerweise von seinem Haus in Krailling zu Fuß zur S-Bahnstation zu gehen pflegte, zog es bei diesem Wetter vor, sich von Ingrid mit dem Auto zur Bahn bringen und von dort wieder abholen zu lassen. Sie tat es mit Vergnügen.
Aber eines Morgens, als sie zurückkam, erschien ihr die Wohnung so leer, verlassen und düster, daß eine Woge von Melancholie sie mit sich zu reißen drohte. Niemand außer ihr war im Haus. Sie hätte jemanden anrufen können, aber fast alle, die sie kannte, waren berufstätig. Ein privater Anruf hätte für jeden eine Störung bedeutet, fürchtete sie.
Es blieb nur ihre Schwiegermutter. Sie hatte den Hörer schon in der Hand, legte ihn dann aber wieder auf, bevor sie noch die erste Zahl gewählt hatte. Sie war sich nicht sicher, ob Cynthia, die abends gern lange beim Bridge aufblieb, um diese Tageszeit schon auf den Beinen war.
Sie versuchte sich gut zuzureden, sagte sich, daß die Schwiegermutter ihren Anruf doch nur natürlich finden würde, selbst wenn sie noch im Bett liegen sollte. Aber sie konnte sich nicht dazu überwinden.
Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie überhaupt nicht mehr gern telefonierte. Flüchtig ging es ihr durch den Kopf, wie sonderbar das war. Früher, im Lektorat des »Kronen-Verlags«, hatte ein Teil ihrer Arbeit darin bestanden, sich telefonisch mit Autoren, Agenten und Mitarbeitern in Verbindung zu setzen. Und das war nicht mehr als anderthalb Jahre her. Es hatte ihr gar nichts ausgemacht, war ihr so selbstverständlich gewesen wie das Atmen. Jetzt hatte sie das merkwürdige Gefühl, daß ein Anruf von ihr als aufdringlich empfunden werden müßte.
Ingrid versuchte über sich zu lachen, aber sie empfand es nicht als komisch, sondern als beängstigend. Sie brauchte ihre ganze Willenskraft, um ihre gymnastischen Übungen nachzuholen, die sie sonst zu machen pflegte, sobald ihr Mann das Haus verlassen hatte. Danach fühlte sie sich ein wenig besser.
Nicht weil es nötig gewesen wäre, sondern nur um sich die Zeit zu vertreiben, räumte sie die Schränke im Schlafzimmer aus und sah sämtliche Kleidungsstücke durch. Als sie tatsächlich ein Jackett ihres Mannes fand, an dem sie einen Fleck übersehen hatte, war das ein Erfolgserlebnis für sie. Das Schrillen des Telefons alarmierte sie. Ihr Herz klopfte ganz unsinnig, als sie ins Wohnzimmer lief, um abzuheben. Mit atemloser Stimme meldete sie sich.
»Ingrid, was ist denn mit dir los?« fragte Senta. »Habe ich dich etwa aus dem Keller gelockt?«
»Ach nein, überhaupt nicht!« Ingrid lachte nervös. »Schön, dich zu hören. Du scheinst Gedanken lesen zu können. Stell dir vor, ich wollte mich vorhin schon selber bei dir melden.«
»Warum hast du es dann nicht getan?«
»Aber ich weiß doch, wieviel du zu tun hast!« Ingrid ließ sich in den Sessel vorm Schreibtisch sinken. »Ich wollte nicht in eine Besprechung oder so platzen.«
»Na und? Was wäre dann gewesen? Meine Sekretärin hätte dich abgewimmelt, und ich hätte später zurückgerufen. Ich hätte wenigstens gewußt, daß du mich sprechen willst.«
»Aber so war es doch gar nicht. Ich meine, ich habe dir nichts Besonderes zu erzählen.«
»Warum wart ihr Samstagabend nicht bei Kittners? Sie sagten mir, sie hätten euch eingeladen.«
»Ja, das stimmt. Aber Robert und ich hatten einfach keine Lust.«
»Um die Wahrheit zu sagen: Ich finde es nicht richtig, daß ihr euch so einigelt. Ich hatte den Eindruck, daß Kittners ein bißchen beleidigt waren, und außerdem haben euch alle vermißt.«
»So arg wird es damit auch nicht gewesen sein.«
»Nicht, daß wir uns ohne euch nicht auch amüsiert hätten. Aber schade war es doch.«
»War Georg auch dort?«
»Aber sicher! Du, über den könnte ich dir einiges erzählen. Der ist ein ganz tiefes Wasser.«
»Ich bin gespannt«, sagte Ingrid, obwohl sie nicht wirklich neugierig war, da sie nur zu gut wußte, daß die Freundin ihre Abenteuer maßlos zu übertreiben pflegte.
»Nicht am Telefon! Da würde der Draht heißlaufen. Sag mal, warst du inzwischen beim Therapeuten?«
»Nein.«
»Du enttäuschst mich.«
»Ich dachte, ich hätte dir klargemacht, daß es sinnlos wäre.«
»Im Gegenteil! Wenn du ihn nicht wirklich brauchst — und dieser Überzeugung bist du ja —, müßte es doch doppelt Spaß machen.«
»Ich mag meine Zeit nicht an so etwas Blödes verschwenden.«
»An was verschwendest du sie denn lieber?«
Ingrid mußte an ihre Aufräumerei denken. Sie fühlte sich getroffen, merkte, daß sie errötete, und ärgerte sich. »Hör auf, mich zu bevormunden! Dazu hast du kein Recht.« »Oh, entschuldige, bitte. Das hat natürlich nur dein heißgeliebter Robert. Ich frage mich aber manchmal, ob der Gute dieses Recht mit dem nötigen Verantwortungsbewußtsein ausübt.«
Am liebsten hätte Ingrid den Hörer auf die Gabel geworfen. Aber sie brachte nicht die Energie dazu auf. So blieb sie stumm, weil sie befürchtete, ihre Stimme könnte versagen.
»He, was ist los mit dir?« rief Senta. »Warum sagst du nichts?«
»Mir fehlen die Worte«, brachte Ingrid mühsam hervor. »Es war bestimmt nicht meine Absicht, dich zu beleidigen.«
»Du sprichst in einem Ton über Robert . . .«
Senta fiel ihr ins Wort. »Na, hör mal, wir sind doch Freundinnen, wir können doch offen zueinander sein. Hast du vergessen, wie wir früher die Männer durchgehechelt haben?«
»Das war etwas anderes.«
»Na schön, dann nehme ich meine Bemerkung mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns zurück. Jetzt sag mir aber mal, wir geht es dir eigentlich? Was macht dein Kopf? Dein Rükken?«
»Vollkommen in Ordnung.«
»Keine Schmerzen mehr?«
»Überhaupt keine.«
»Na, das freut mich aber.«
»Du siehst also, daß es völlig idiotisch wäre, zum Psychotherapeuten zu laufen. Versprich mir, daß du mir nie mehr damit kommst.«
»Nein, meine Liebe, das kann ich nicht. Ich bin nach wie vor der Meinung, daß du dich um eine sehr interessante Erfahrung bringst.«
»Auf die ich nicht den geringsten Wert lege.«
»Wie stellt sich Robert denn dazu?«
Ingrid hatte ihrem Mann den Vorschlag des Professors verschwiegen. Da sie das nicht zugeben wollte, um weitere Diskussionen zu vermeiden, sagte sie stur: »Ich möchte nicht darüber reden.«
»Sei doch nicht so dickköpfig.«
»Ich bin, wie ich bin!« rief Ingrid. »Warum trampelst du auf mir herum? Nicht alle können sein wie du!«
Senta lachte. »Das wäre wohl auch kaum empfehlenswert. Also, mach’s gut, Kleine! Laß von dir hören, wenn du mal in zugänglicherer Stimmung bist.« Es knackte in der Leitung, und das Gespräch war aus.
Einige Sekunden lang war Ingrid wie gelähmt. Sie saß da, den Hörer in der Hand, und konnte nichts begreifen. Sie hatte sich so über Sentas Anruf gefreut. Bisher waren sie immer blendend miteinander ausgekommen, obwohl sie so verschieden waren oder gerade darum. Was war nur schiefgelaufen?
Ihre Wege hatten sich seit Ingrids Kündigung beim Verlag getrennt, nein, eigentlich schon seit ihrer Verheiratung.
Nur daß sie es nicht hatte wahrhaben wollen. Vielleicht war es ganz gut, daß es zu diesem Streit gekommen war. Wenn Senta erwartete, daß sie nun einrenken würde, sollte sie sich schwer täuschen.
Sie hatte keine Lust, sich wieder zum Psychotherapeuten drängen zu lassen.
»Zum Teufel mit Senta!« sagte sie laut und legte endlich auf.
Ingrids Laune besserte sich im Laufe des Tages nicht, obwohl sie sich das vorzumachen suchte. Sie knipste alle Lichter in der Wohnung an, schaltete das Radio ein, aber bald darauf wieder aus, weil ihr die Musik nicht gefiel. Sie legte eine Platte auf, ein Klavierkonzert von Mozart, das sie sehr liebte. Aber heute war es, als kämen die Klänge nicht zu ihr herüber. Sie versuchte es mit Bach, und das war schon besser.
Zu Mittag löffelte sie ein Joghurt und legte sich dann bis drei Uhr auf die Couch. Dann holte sie das Auto aus der Garage — es regnete immer noch in Strömen —, fuhr nach Planegg, brachte Roberts Jackett zur Reinigung und kaufte fürs Abendessen ein.