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Ostberlin, 1970/71: Eine verbrecherische Jugendgang treibt im Klinikum Buch ihr Unwesen, bricht in die Wohnungen des Personals ein, plündert in Kiosken, Werkstätten und der Sparkasse. Mittels einer Schuheindruckspur wird der Roland K. als Täter überführt und zu einer Haftstrafe verurteilt. Der 17-Jährige ist der Kopf der Bande und mit allen Wassern gewaschen. Wieder in Freiheit, wird er wieder straffällig – und reist in die BRD aus. Im Westen setzt Roland K. seine Verbrecherkarriere fort / Doch auch hier macht er sich in einschlägigen Kreisen einen Namen/ ist die Welt nicht vor ihm sicher … Ostberlin, 1984: In mehreren Stadtbezirken lauert ein Mann nach Schulschluss Mädchen im Alter zwischen neun und zwölf Jahren auf und verschleppt sie an abgelegene Orte, wo er sie brutal missbraucht. Endlich führt ein handschriftlicher Zettel, den der Unbekannte an einem Tatort liegen lässt, die Ermittler auf die Spur … Am 23. Dezember 1987 wird eine 88-jährige Rentnerin von Nachbarn tot in ihrer Wohnung in der Friedrichshainer Mühsamstraße aufgefunden. Alles spricht für einen natürlichen Tod. Doch der Fundort gibt Rätsel auf, eine Obduktion wird angeordnet. Der Verdacht bestätigt sich, die alte Dame wurde erwürgt. Diese und zwei weitere aufsehenerregende Kriminalfälle rekapituliert Ex-Kriminaloberrat Bernd Marmulla, der als Ermittler an der Aufklärung der Verbrechen beteiligt war. Anhand originaler Akten und authentischen Bildmaterials rekonstruiert er den realen Hergang der Taten und den spannenden Prozess ihrer Aufdeckung – und erzählt nebenbei vom Leben in der damaligen Hauptstadt der DDR.
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Seitenzahl: 171
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Berndt Marmulla
Der Weihnachtsmord
und vier weitere Verbrechen
Bild und Heimat
Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden alle Namen von Tätern und Opfern verfremdet. Namensgleichheiten sind dem Zufall zuzuschreiben.
Von Berndt Marmulla liegt bei Bild und Heimat außerdem vor:
Der Kinderwagen-Brandstifter und vier weitere Verbrechen (Blutiger Osten 2019)
ISBN 978-3-95958-786-0
1. Auflage
© 2019 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin
Umschlaggestaltung: capa
Umschlagabbildung: Chris Keller / bobsairport
In Kooperation mit der SUPERillu
www.superillu-shop.de
Reise in die Vergangenheit
Berlin, 6. Juli 1994. Ein sonniger Sommertag. Vögel zwitschern in den Bäumen und unsere Katze spitzt die Ohren. Ich sitze auf dem Balkon, trinke die zweite Tasse Kaffee und schaue dem vorbeifahrenden 155er-Bus in Richtung S-Bahnhof Pankow nach. Kleine Kinder spielen vor dem Haus, lachen und rangeln herum. Ein Junge zieht einem Mädchen an den Zöpfen. Ich grinse und erinnere mich an meine eigene Schulzeit, in der ich Monika, die direkt vor mir saß, solange an ihrem Pferdeschwanz zupfte, bis sie heulte und die Lehrerin mich vor die Tür schickte.
Mein Gott, denke ich, ist das lange her. Eine Nachbarin und ihr Enkel kommen mit vollen Taschen vom Einkauf zurück. Ich winke ihnen zu. Sie grüßen zurück. Ich habe das Gefühl, im Urlaub zu sein. Weit weg vom Alltag und all den Kleinigkeiten, die noch zu erledigen sind. Zur Bank gehen, das Referat für den nächsten Tag vorbereiten. Und zum Sport und in die Sauna will ich auch noch. Also volles Programm. Mitten in meinen Gedanken hinein öffnet meine Frau die Balkontür und drückt mir die BZ in die Hand.
»Schau mal, das wird dich mit Sicherheit interessieren«, sagt Gabi und bleibt erwartungsvoll im Türrahmen stehen.
Obwohl ich keine Lust zum Lesen habe, hat sie mich neugierig gemacht. Und Neugier ist ein wesentlicher Antrieb in meinem Leben. Als mein Blick in die Zeitung fällt, traue ich meinen Augen nicht. Das Bild eines alten »Bekannten« springt mir entgegen. Ein Foto von Reiner S. Ein alter Fall aus meiner fünfundzwanzigjährigen Vergangenheit bei der Kriminalpolizei. Obwohl ich seit zwei Jahren außer Dienst bin, versetzt mich das Foto und die Überschrift »33-jähriger Sexualtäter erneut festgenommen« schlagartig in eine andere Zeit. Er hat sich äußerlich nur wenig verändert. Die gleichen flach gekämmten Haare, die großen, weit aufgerissenen Augen und das schmale Gesicht. Nur der Schnauzbart ist neu und auch seine verbrecherische Vorgehensweise. Hatte er damals Mädchen zwischen acht und elf Jahren sexuell missbraucht und gequält, so lese ich jetzt, dass er fünf Prostituierte in Berlin vergewaltigt hat. Ich lasse Sport und Sauna sein und gebe mich den Erinnerungen hin …
Berlin-Lichtenberg, Nöldnerstraße. Montag, 24. September 1984
Maike war ein aufgewecktes Mädchen. Zehn Jahre alt, dunkelblondes, halblanges Haar und Brillenträgerin. Sie lachte gern, war strebsam in der Schule und bei allen beliebt. Und sie verstand sich gut mit ihren Eltern. Im Gegensatz zu vielen anderen Kindern in ihrem Alter. Zum Abschied noch ein Küsschen für die Mama. Dann lief sie los. Sie war spät dran und auf keinen Fall wollte sie nach dem Schulklingeln ins Klassenzimmer kommen. Ein einziges Mal war ihr das passiert. Damals war sie vier Minuten zu spät in den Russischunterricht reingeplatzt und alle hatten sie angestarrt. Der Lehrer hatte sie stumm, aber mit einem Stirnrunzeln begrüßt. Und weil es ausgerechnet auch noch ihr Lieblingslehrer gewesen war, hatte sie sich besonders geschämt. Sie war rot angelaufen wie eine Tomate und hatte sich dann still auf ihren Platz gesetzt und ihre Tasche ausgepackt. Das war vor fast einem Jahr gewesen, hat aber bis jetzt ein mieses Gefühl bei ihr hinterlassen. Seitdem ist sie immer pünktlich gewesen.
Auch heute hatte sie es wieder pünktlich geschafft, wenn auch nur auf den letzten Drücker. Jedenfalls saß sie beim Klingeln auf ihrem Platz. Und nur das war wichtig. Irgendwie fand sie den heutigen Tag verdammt spannend. Die Biologielehrerin sprach über das Leben im Wasser. Von den Eintagsfliegen, deren Larven sich im Wasser entwickeln, über dem Wasser häuten und dass ihre Lebenszeit nur zwischen zwanzig Minuten und vier Tagen dauert. Als die Lehrerin erzählte, die Männchen würden kurz nach dem Geschlechtsakt sterben, kicherte die halbe Klasse. Im Deutschunterricht mussten alle einen Aufsatz schreiben. Das Thema: Ein Wochenende mit den Jungen Pionieren. Zwei Stunden hatten sie dafür Zeit. Maikes Fantasie schlug Purzelbäume. Sie kletterte auf Bäume, versteckte sich im Wald und ließ von den anderen suchen. Dann ab in den See und ein Wettschwimmen veranstaltet. Natürlich siegte sie und wurde von den anderen Jungpionieren gefeiert.
Als zum Schulschluss die Glocke läutete, packte Maike die Hefte in ihre Schultasche. Ein Geschenk von Oma, mit dem sie besonders sorgfältig umging. Ein wenig traurig war sie allerdings darüber, dass Jens sie nicht wie sonst ein Stück begleiten konnte; er war mit seinem Vater verabredet und musste heute in die entgegengesetzte Richtung. Zum Abschied hatte er sie immer auf die Wange geküsst. Das hatte ihr stets gut gefallen. Ihrer Freundin Claudia hatte sie verraten, dass sie ein wenig in ihn verliebt wäre. Nachdem Maike auch noch Zeichenblock und Stifte in den Schulranzen gesteckt hatte, winkte sie zu Jens hinüber. Auf den Wangenkuss musste sie heute verzichten. Jens war viel zu schüchtern, um sie vor den Augen der anderen zu küssen. Am Schultor blieb sie noch kurz stehen und sah, wie Jens mit zwei Freunden über die Straße rannte. Wenig später bog sie in die Nöldnerstraße ein und träumte vor sich hin. Wie so oft, wenn sie allein unterwegs ist. Ein junger Mann kam ihr entgegen und fragte freundlich nach einer Straße. Nach welcher, daran konnte sie sich später nicht mehr erinnern. Auf jeden Fall liefen sie gemeinsam ein Stück die Straße hinunter. Der Mann erzählte, er wolle von einem Freund eine Säge abholen, um sich einen Schuhschrank zu bauen. Maike blieb stumm und träumte weiter vor sich hin. Als der Mann sie fragte, ob sie gut in der Schule sei, antwortete sie mit einem Ja. Der Mann strich ihr über den Kopf und lobte sie. Die Sonne schien. Maike freute sich. Dann schwiegen sie.
Am Rand eines leeren Grundstücks blieb sie stehen und pflückte ein paar Blumen für ihre Mutti, die sie vorsichtig in die Schultasche legte. Ein paar Meter weiter dann das zerfallene Haus, das sie schon mehrmals mit Jens erkundet hatte. Als der Mann und sie an der Ruine vorbeikamen, packte der Fremde sie plötzlich an den Schultern und zog sie in das halbdunkle Gemäuer. Es roch nach Abfall und nach Urin.
Maike schrie, der Fremde hielt ihr den Mund zu. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Maike strampelte mit den Beinen, wollte nach ihm treten, sich befreien. Er drückte ihr den Hals zu. Sie bekam kaum noch Luft. Der Mann schob sie gegen eine Steinwand und die scharfen Kanten des Mauerwerks bohrten sich in ihren Rücken. Den Schmerz nahm die Zehnjährige kaum noch wahr; für einen Augenblick wurde ihr schwarz vor Augen und sie verlor kurz das Bewusstsein.
Was der Fremde dann mit ihr trieb, nahm sie nur noch wie durch einen dichten Nebel wahr. Sie wollte nach Hause. Zu Mutti und Vati. Sie wollte ins Bett; wollte nur noch schlafen. Selbst zum Wehren war sie zu schlapp. Was der Fremde in den nächsten zwanzig Minuten mit ihr trieb, beschrieb das Strafgesetzbuch der DDR laut Paragraf 148 als Sexuellen Missbrauch eines Kindes. Erst nachdem Maike mit offenen Augen schlaff in seinen Armen hing und sich kaum noch bewegte, ließ der Vergewaltiger von ihr ab. Nicht ohne ihr zum Abschluss noch zu drohen; sollte sie schreien oder ihn anzeigen, würde er sie töten. Dann hörte sie seine Schritte, wie er auf zerbrochenes Glas trat und fluchte. Dann war es still.
Als Maike aus ihrer Starre erwachte, rannte sie weinend aus der Ruine raus. Sie stolperte über einen rostigen Eimer, fiel hin, stand auf und rannte weiter. Nur schnell weg von hier. Weg von der Stelle, an der sie eben den größten Horror erlebt hatte, den ein Mädchen erleben konnte. Als sie wenige Minuten später nach Hause kam, brach sie im Flur zusammen und erzählte stotternd, was passiert war. Die Mutter fuhr mit ihr sofort ins nächste Krankenhaus und die diensthabende Ärztin beruhigte Mutter und Tochter. Bei der Untersuchung der Zehnjährigen stellte sie Verletzungen an den Genitalien und Würgemale am Hals fest. Daraufhin alarmierte die Ärztin die Kriminalpolizei im Stadtbezirk Lichtenberg.
Während Maike einer älteren Kriminalbeamtin die Tat schilderte und danach erschöpft ins Bett fiel, nahm die örtliche Kriminalpolizei die Ermittlungen auf. Doch es gab kaum brauchbare Täterhinweise und auch die Personenbeschreibung konnte keinem bekannten Sexualtäter zugeordnet werden. Man kam keinen Schritt weiter.
Berlin-Köpenick, Waldgelände Wuhlheide. Mittwoch, 10. Oktober 1984
Es war ein Tag wie jeder andere. Nur dass es regnet, fand die elfjährige Doris ziemlich doof. Und dass sie einen Regenschirm für den Weg in die Schule mitnehmen sollte, fand sie noch doofer. Doch ihre Mutter ließ nicht mit sich reden und drückte ihr trotz heftigstem Widerspruch den Schirm in die Hand. Das alte Ding von Oma ist grottenhässlich und an zwei Stellen schon repariert. Einen grünen und einen weißen Flicken auf dem grauen Schirm. Wie sieht das denn aus? Alle würden sie auslachen. Doch Doris hatte schon eine Idee. Mit einem »Na ja, Mama, du hast ja recht«, verließ sie das Haus. Danach stellte sie das Monster heimlich hinter den Apfelbaum und machte sich auf den Weg zur Schule. Ich bin doch nicht aus Zuckerguss, murmelte sie vor sich hin.
Im Klassenzimmer angekommen, roch es nach irgendwas Süßem. Da hatte Jessy es mal wieder mit ihrem Westparfüm übertrieben. Ihre Tante wohnte in Steglitz und brachte ihr immer heimlich Westsachen mit. Jeans, T-Shirts, Adidas-Turnschuhe und auch dieses Stinkezeug. Ein Junge aus der nächsthöheren Klasse meinte in der Pause: »Bei euch riecht es ja wie im Puff.« Alle lachten, obwohl jeder wusste, dass er noch nie einen Puff von innen gesehen hatte. Ein wenig neidisch war Doris aber trotzdem. Weniger auf das Parfüm, mehr auf die schicken Westklamotten. Die Schulglocke läutete.
Alle saßen auf ihren Stühlen und warteten, dass die Tür aufging und Frau Reimers den Raum betrat. Sie war genauso streng, wie sie aussah. Niemand konnte sie leiden. Graues Kleid, Strümpfe in der gleichen Farbe und einen akkuraten Dutt am Hinterkopf.
»Sie ist ein uraltes Monster«, flüsterte Heini.
Doris lachte. Dann waren alle still und schrieben ein Deutschdiktat. Danach zwei Stunden Mathe, anschließend Physik, Chemie und Russisch. Die letzte Stunde fiel aus. Herr Weber war krank. Alle waren froh. Auch er war nicht sonderlich beliebt. Und dass er schielte, machte ihn auch nicht sympathischer. Man wusste nie, wen er gerade im Blick hatte. Dorisjedenfalls war froh, früher gehen zu können. Sie hatte Kopfschmerzen und ihre Klamotten waren auch noch nicht wieder richtig trocken. Den Gedanken, dass sie besser auf ihre Mutter hätte hören sollen, ließ sie trotzdem nicht aufkommen. Raus aus der Schule, rechts herum, dann zweimal links. Nun schlenderte sie die Lichtenberger Wönnichstraße entlang. Ein paar Jungen rannten vorbei und zogen an ihren Haaren.
»Man, seid ihr blöd«, rief sie ihnen hinterher.
Doch die lachten nur und streckten ihr die Zunge raus.
Sie hatte eine Eins in der Russischarbeit geschrieben und freute sich auf die zwanzig Pfennige, die sie von ihrer Oma dafür bekäme. Und auf das Eis, das sie sich dafür kaufen würde. Vanille mag sie besonders gern. Aber leider ist das viel zu oft ausverkauft. Übermütig hüpfte sie über den Bürgersteig und versuchte, nicht auf die Risse zwischen den Platten zu treten. Das machte sie oft und freute sich, wenn sie es bis zur nächsten Ecke schaffte. Dabei fiel ihr ein, dass sie ihrer Mutter versprochen hatte, nach der Schule einkaufen zu gehen. Sie setzte sich auf eine alte Mauer und kramte in der Schultasche nach dem Einkaufszettel. Wie immer war ihre Mutter in Eile gewesen, um nicht zu spät zur Arbeit ins Kabelwerk Oberspree zu kommen.
»Mensch, Mama, deine Krakelschrift ist urst schlimm«, murmelte Doris vor sich hin. Mühsam kämpfte sie sich durch die schwer lesbare Liste durch:
»4 kleine Schrippen
ein Roggenmischbrot
100 g Malzkaffee
2 Flaschen helles Bier
2 Flaschen Vita Cola
ein Päckchen Brausepulver
ein Paket ATA fein, 250 g
1 Schachtel filterlose Real«
Zigaretten und Bier würde sie im Konsum nicht bekommen, weil sie noch nicht sechzehn war. Deshalb würde Oma zum Einkaufen mitkommen. Bei der Gelegenheit würde bestimmt noch etwas Süßes für sie abfallen. Sie steckte den Zettel in die Tasche zurück. Am liebsten wäre sie noch eine Weile sitzen geblieben. Aber Oma, die am S-Bahnhof Wuhlheide wohnte, wartete mit dem Essen. Und es gab ihr Lieblingsgericht: Erbseneintopf mit Würstchen und dazu ein großes Glas Club-Cola.
Doris sprang von der Mauerkante und hüpfte weiter über den Bürgersteig, bis sie für einen Moment nach Luft schnappend stehen blieb. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. In der Ferne hupte ein Auto, ein Moped Marke Schwalbe knatterte an ihr vorbei. An der Ecke Münsterlandstraße kam ihr ein junger Mann entgegen und fragte, wie er zum S-Bahnhof Rummelsburg käme. Da Doris in dieselbe Richtung musste, gingen sie zu zweit weiter. Der Mann war freundlich und gewann schnell ihr Vertrauen. Sie plauderten über dies und das und über jenes. Doris erzählte stolz von ihrer Eins in Russisch. Der Mann lobte sie und streichelte ihr übers Haar. Das fand sie zwar ein bisschen komisch, sagte aber nichts. Sie wusste natürlich, dass sie auf keinen Fall mit einem Fremden mitgehen dürfe; das hatten ihre Eltern oft genug eingepaukt. So oft, dass Doris erst letzte Woche zu ihrem Vater gesagt hatte, das hätte er ihr nun schon hundertmal erzählt. Und übrigens wäre sie kein kleines Kind mehr und auch nicht schwer von Begriff. Aber hier, auf offener Straße und am helllichten Tag, was soll da schon passieren?
Am Bahnhof angekommen, warteten sie auf die nächste S-Bahn in Richtung Wuhlheide. Sie stiegen in den ersten Wagen und setzten sich auf eine der harten, abgeschabten Holzbänke. Er erzählte ihr, dass er ein schlechter Schüler gewesen wäre und später viel nachzuholen gehabt hätte. Sie erzählte von ihrer Oma und dass sie Bahnhof Wuhlheide aussteigen müsse.
»So ein Zufall«, sagte der junge Mann, »da muss ich auch raus.«
Nach zehn Minuten Fahrt hatten sie ihr Ziel erreicht. Gemeinsam liefen sie durch das Wäldchen, eine Abkürzung auf dem Weg zu Omas Wohnung. Während beide durch das knisternde Laub schlurften, war Doris gedanklich schon bei ihrer Erbsensuppe und stolperte über einen herabgefallenen Ast. Gerade noch rechtzeitig streckte der Fremde seine Arme aus und fing sie auf. Eben wollte sich Doris für seine Hilfe bedanken, da packte er zu. Erst brutal an den Schultern, dann presste er eine Hand auf ihre Brust.
»Aua, du tust mir weh«, schrie sie.
Doch der Fremde war plötzlich kein freundlicher junger Mann mehr. Er hielt ihr den Mund zu und schleifte sie ins Gebüsch. Er drohte ihr mit Schlägen, falls sie sich wehren sollte.
»Und wenn du schreist, mach ich dich tot«, flüsterte er mit einer Stimme, von der Doris Gänsehaut bekam.
Dann würgte er sie und hielt ihr anschließend die Spitze eines Küchenmessers an den Hals. Total verängstigt ließ sich die Schülerin ohne Gegenwehr sexuell missbrauchen. Seine Hände waren überall. Unter ihrem Pullover, in ihrer Hose, an ihrem Po. Beim Betasten ihrer kleinen Brüste fing er an zu stöhnen. Danach musste sie ihn oral befriedigen. Anschließend packte er ihren Kopf und drückte Doris auf die Knie. Er befahl ihr, sich auf den Boden zu legen und so lange liegen zu bleiben, bis er wiederkäme. Ihre Nasenspitze berührte den schlammigen Boden und sie roch den Moder und das verfaulte Holz. Ihr wurde übel. Aber Doris gehorchte. Sie spürte die Nässe und Kälte, die sich langsam durch Hose und Pullover saugte. Sie wagte nicht einmal mehr, ihre Augen zu öffnen.
Es vergingen mehrere Minuten, die Doriswie Stunden vorkamen. Doch der Mann kam nicht zurück. Irgendwann fand sie die Kraft, die Augen aufzumachen und sich aufzusetzen. Er war nicht zu sehen. Aber war er wirklich weg oder beobachtete er sie aus einem Gebüsch heraus? Nach ein paar weiteren Minuten nahm Doris allen Mut zusammen, stand auf und rannte und rannte und rannte. Vorbei an gefällten Bäumen, sterbenden Birken und grünen Tannen. Äste schlugen ihr ins Gesicht, sie stolperte, stand auf und rannte weiter.
Erschöpft kam sie bei Oma Gisela an und fiel ihr schluchzend in die Arme. Oma fragte nicht lange, sondern rief sofort Tochter und Schwiegersohn an. Dann kochte sie einen Kakao. Eine eiserne Reserve, die sie für den Geburtstag ihrer Enkelin aufgehoben hatte. Doch die wollte jetzt weder den Kakao trinken noch die Erbsensuppe essen. Regungslos saß die Elfjährige auf dem Sofa und weinte.
Die Mutter des Mädchens hatte sich nach dem Anruf sofort bei ihrem Meister abgemeldet, sich in ihren Trabi gesetzt und war zu Oma gefahren. Von hier aus brachte sie ihre Tochter direkt ins Oskar-Ziethen-Krankenhaus nach Lichtenberg. Die Ärztin dokumentierte Unterleibsverletzungen, Würgemale und zahlreiche blauangelaufene Druckstellen an Bauch und Gesäß. Noch immer hatte Doris nicht alles erzählt. Ihre Mutter wusste nur, dass sie sexuell missbraucht worden war. Doch die Einzelheiten kannte sie nicht. Ihre Tochter stand noch unter Schock, und jedes Mal, wenn die Tür aufging und eine Krankenschwester das Zimmer betrat, zuckte das Mädchen zusammen.
Nach der Untersuchung rief die Ärztin die Polizei. Der diensthabende Kriminalbeamte in Lichtenberg setzte sich telefonisch mit der Kripo Köpenick in Verbindung, in deren Zuständigkeitsbereich das Waldgebiet gehörte. Aber wo genau war das Verbrechen geschehen? Behutsam versuchte eine Kriminalbeamtin mehr von Doris zu erfahren. Doch das traumatisierte Mädchen sah die Beamtin nur mit großen Augen an und schwieg. Daraufhin vereinbarten Polizei und die Mutter, abzuwarten und am nächsten Tag gemeinsam mit Doris das Waldgelände abzusuchen.
Doris erlebte eine furchtbare Nacht. Eine von vielen weiteren, die in den nächsten Monaten noch folgen sollten. Sie schlug im Schlaf um sich, weinte und schrie. Schließlich schlüpfte sie unter die Decke im elterlichen Ehebett. Erst hier wurde Doris ruhiger und schlief in den Armen ihrer Mutter ein.
Die Spur erst am nächsten Tag zu verfolgen, war eine unglückliche Entscheidung. Sie wurde aus Rücksicht auf das Opfer getroffen und war menschlich auch richtig. Doch in der Nacht von Mittwoch zu Donnerstag zog ein Unwetter über Berlin hinweg und Regenmassen machten den Wald zu einem Tatort ohne Spuren. Es schüttete wie aus Eimern, der Sturm hatte Äste von den Bäumen gefegt und wie Mikadostäbchen durch die Luft gewirbelt. Innerhalb weniger Stunden hatte sich der Wald optisch so verändert, dass er kaum wiederzuerkennen war. Der Leiter der Spurensicherung, ein gemütlicher Kollege, kurz vor der Berentung, hatte seine Gummistiefel zu Hause vergessen, fluchte und verwünschte das Scheißwetter.
Doris hatte sich inzwischen etwas erholt und schilderte das Verbrechen in allen Einzelheiten. Vom Ansprechen auf der Straße über die S-Bahn-Fahrt, die Gespräche bis hin zur brutalen Vergewaltigung. Ihre Mutter war bei der Befragung stets dabei, nahm ihre Tochter zwischendurch immer wieder tröstend in die Arme und streichelte ihre Hände. Dass sie fast ebenso unter dem Verbrechen litt wie ihr Kind, versuchte sie vor ihrer Tochter zu verbergen. Das Mädchen konnte den Täter ziemlich genau beschreiben. Wobei sie zwischendurch immer wieder weinte und Pausen brauchte. Das Gespräch führte dieselbe Beamtin, die auch einen Tag zuvor im Krankenhaus mit ihr geredet hatte. Sie war einfühlend, stellte behutsame Fragen und ließ Doris zum Antworten alle Zeit der Welt. Auf vielen Seminaren hatte sie den Umgang mit traumatisierten Opfern gelernt. Das Mädchen tat ihr leid, und sie dachte an ihre eigene Tochter, der glücklicherweise ein solches Erlebnis erspart geblieben war. Zum Abschluss wurde nach Doris’ Angaben im Präsidium ein subjektives Porträt (Phantombild) des Täters gezeichnet und als Fahndungsfoto an alle Dienststellen geschickt.
Die Kripo hatte zwar alles Mögliche getan, trotzdem gab es in den nächsten Tagen keine brauchbaren Hinweise. Die Ermittlungen gerieten ins Stocken.
Phantombild des Täters Reiner S.
Fünf Tage später. Montag, 15. Oktober 1984. Ein Schock für alle. Der Unbekannte hatte erneut zugeschlagen. Tatort: Stadtpark Lichtenberg. Eine Grünanlage im alten Ortskern, zwischen Scheffel- und Möllendorffstraße. 53 000 Quadratmeter zum Erholen, Laufen und mit einer Freilichtbühne für kulturelle Angebote ausgestattet. Auf dem aus Trümmern aufgeschütteten Helenenhügel wird im Winter gerodelt, im Sommer trifft man auf den Wiesen sonnenhungrige Frauen und Männer, die nahtlos braun werden wollen. Doch an diesem kühlen Herbsttag, an dem die Wolken tiefer hingen als sonst und Nebel über die Wiesen schwebte, waren nur wenige Spaziergänger unterwegs.