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Der weiße Raum – zusammengestellt und herausgegeben von Christian Dörge – vereinigt dreizehn meisterhafte Erzählungen von Thomas Ziegler (darunter auch das im Jahre 1984 mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnete Meisterstück Die Stimmen der Nacht): Seine phantastische Welten werden bevölkert von Paranoiden, Video-Freaks, telepathischen Ratten, durchgedrehten Volksvertretern, von auf Atombomben fixierten Militärs und anderen absonderlichen Helden und Anti-Helden – wie z.B. die Story des deutschen Kampffliegers, der sich unversehens auf einer fremden Welt wiederfindet, oder die Story von der Rentnergang, die sich gegen die Kinder verschworen hat.
»Ziegler beweist..., dass er nicht nur originelle Einfälle hat, sondern auch zu schreiben versteht, den Anglo-Amerikanern in jeder Hinsicht gewachsen ist.«
(Hannoversche Allgemeine Zeitung)
»Zieglers Texte zeichnen sich durch eine außergewöhnliche Atmosphäre, einen ökonomischen Stil und beklemmenden Realismus aus.«
(Heyne Science-Fiction-Lexikon)
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Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Der Autor
Der weiße Raum als Kunst - Ein Vorwort von Christian Dörge
Artefakt 5578
Die Stimmen der Nacht
Lichtjahreweit
Kirschlicht und Glaspol
Methusalem
Auf Achse (in Zusammenarbeit mit Ronald M. Hahn)
Video
Unter Tage
Marathon
City
Willkommen in der Stadt der Angst
Tief unten im Tal
Delirion: Liza
Der weiße Raum – zusammengestellt und herausgegeben von Christian Dörge – vereinigt dreizehn meisterhafte Erzählungen von Thomas Ziegler (darunter auch das im Jahre 1984 mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnete Meisterstück Die Stimmen der Nacht): Seine phantastische Welten werden bevölkert von Paranoiden, Video-Freaks, telepathischen Ratten, durchgedrehten Volksvertretern, von auf Atombomben fixierten Militärs und anderen absonderlichen Helden und Anti-Helden – wie z.B. die Story des deutschen Kampffliegers, der sich unversehens auf einer fremden Welt wiederfindet, oder die Story von der Rentnergang, die sich gegen die Kinder verschworen hat.
»Ziegler beweist..., dass er nicht nur originelle Einfälle hat, sondern auch zu schreiben versteht, den Anglo-Amerikanern in jeder Hinsicht gewachsen ist.«
(Hannoversche Allgemeine Zeitung)
»Zieglers Texte zeichnen sich durch eine außergewöhnliche Atmosphäre, einen ökonomischen Stil und beklemmenden Realismus aus.«
(Heyne Science-Fiction-Lexikon)
Thomas Ziegler.
(* 18. Dezember 1956, + 11. September 2004).
Thomas Ziegler war das Pseudonym des deutschen Schriftstellers, Übersetzers und Drehbuch-Autors Rainer Friedhelm Zubeil. Im Jahr 1977 debütierte er mit dem Dämonenkiller-Roman Eisvampire, welchen er unter dem Pseudonym Henry Quinn verfasste; dies Pseudonym nutzte er später auch für gemeinschaftliche Werke mit Uwe Anton und Ronald M. Hahn.
Mit Die Stimmen der Nacht gelang ihm ein einmaliges Kunststück: gleich zweimal erhielt er dafür den Kurd-Laßwitz-Preis - 1984 für die ursprüngliche Erzählung und 1994 für den daraus entstandenen Roman mit demselben Titel. Er schrieb in den 80er-Jahren für die Science-Fiction-Serien Die Terranauten (wiederum unter dem Pseudonym Robert Quint) und Perry Rhodan; bei beiden Serien war er zeitweise auch als Exposé-Autor verantwortlich und prägte diese nachhaltig. Darüber hinaus schuf er die Science-Fiction-Taschenbuchreihe Flaming Bess (neun Bände) sowie die mit zwei Bänden unvollständig gebliebene Fantasy-Serie Sardor. Der als Abschluss vorgesehene dritte Teil wurde als Fragment in Zieglers Nachlass gefunden. Die fehlenden Kapitel wurden von Markolf Hoffmann ergänzt und schließlich 2013 veröffentlicht.
Als herausragend gelten überdies seine SF-Story-Sammlungen Unter Tage (1982), Nur keine Angst vor der Zukunft (1985), Lichtjahreweit (1986), Eine Kleinigkeit für uns Reinkarnauten (1998).
Neben Science Fiction schrieb er skurrile, vorwiegend im Kölner Raum angesiedelte Kriminalromane wie beispielsweise Überdosis (1988), Koks und Karneval (1990) und Tod im Dom (1991).
Als Übersetzer lag sein Schwerpunkt bei Science Fiction-Romanen sowie bei Kompendien und Sachbüchern zu Star Wars. Von besonderer Bedeutung sind seine zahlreichen Übersetzungen der Werke von Philip K. Dick: u.a. die Valis-Trilogie (bestehend aus Valis, Die Göttliche Invasion und Die Wiedergeburt des Timothy Archer), Eine Handvoll Dunkelheit, Planet für Durchgangsreisende, Die Konservierungsmaschine, Die Kriecher, Androiden und Menschen, Kosmische Puppen und andere Lebensformen, Warte auf das letzte Jahr.
Rainer Zubeil verstarb im September 2004 . Seinen literarischen Nachlass verwaltet der Schriftsteller Ronald M. Hahn.
»Die Musen sind aus Glut, ein Leuchter von Kristallen,
Ein Lodern, Brausen, Grolln,
Der über jenem hängt, dem sie zu Wohlgefallen
Und Ruhm verhelfen wolln.«
- Jean Cocteau, Choral (1923)
Im weißen Raum existiert nichts Gewöhnliches; alles hat eine künstlerische und spirituelle Unterfütterung.
Diese an Allen Ginsberg erinnernde, das poetische Sein und Werden definierende Prämisse spiegelt den Ansatz eines zutiefst außergewöhnlichen Buches wider, wie es Der weiße Raum fraglos ist: die Verkehrung von Genre-Zwängen, von Selbstbegrenzung und dienstfertigen Bekenntnissen in ihr absichtsvoll wahrgenommenes Gegenteil. Der weiße Raum atmet, ist niemals ergebnislos, wodurch der Leser die Erfahrungen mit dem Autor zu teilen aufgefordert wird – Selbsterkenntnis wird nicht durch Selbstgespräch ersetzt. Das abstrakte, sozialkritisch-metaphysische Weltbild (und, soweit es das Handwerklich betrifft: das mechanische Weltbild) befindet sich – obgleich stilistisch gelegentlich im Klassischen verwurzelt – stets im Messbaren, Wissbaren, zitiert die Kontingenz und vermeidet sie zugleich, indem z.B. die Erzählung Die Stimmen der Nacht auf Zuspitzungen wie in Philip K. Dicks Das Orakel vom Berge zustrebt, diesen literarischen/semiotischen Weg jedoch gegen Ende vorsätzlich verlässt und den Höhepunkt nicht juristisch oder moralisch markiert, sondern ihn ins Elementare verrückt, wodurch ein einheitlicher, geradezu monolithischer Block entsteht, der sich formell als aus einem Guss verweist (trotz oder gerade wegen struktureller Parallelen zu Alain Resnais' L'Année dernière à Marienbad).
Die Interferenz von Utopie, Dystopie und existenziellem Drama ist fraglos die Stärke von Der weiße Raum. Die Orientierung/Zielbestimmung/Ausrichtung der Texte vollzieht sich dabei sorgfältig und stets im Einzelnen: Resonanzen werden nicht erzwungen und können auch nicht als Harmonien missdeutet werden, denn der Gleichklang und der Zusammenklang bedingen einander in der Sphäre von Thomas Ziegler, der niemals Gleiches und Ungleiches verschweigt, wenn stattdessen pluralistische Ansprüche kultureller Artefakte zu Parallelität und Interaktion verleitet werden können.
Und auf Kopernikus, Keppler und Galilei (und wiederum: Ginsberg) folgt: Nichts Weltliches ist Science Fiction, nichts Weltliches ist gewöhnlich. Literatur (resp. die Interpretation von Literatur) vermeidet eine solch radikale Unterscheidung zwischen Spekulation und Abstraktion nicht, denn Literatur ist auch immer Spiritualität. Ein Verbot der Bilder-Krümmung würde den Kosmos des Geschriebenen entmythologisieren. Doch das Kontinuum der Kunst indes hört niemals auf.
Christian Dörge
- München, im Juni 2017
Sammuell!
Es ist Wahnsinn, ich weiß.
Es kostet die Kooperative mehr Hycom-Punkte als Lotta Opvus für seine (mittlerweile legendären) Live-Berichte aus Magellan verschwendet hat, aber, Sammuell, die Lage ist zu ernst, um sich Gedanken über triviale Hycom-Punkte oder Transfer-Gebühren zu machen.
Und im übrigen - das ist Freiheit, stimmt's?
Sammuell!
Du weißt, dass ich Dich liebe. Ich wühle hier auf diesem Mistplaneten im Jahrtausendstaub und klopfe den Dreck von prähistorischen Toilettenbrillen, und während ich diese Sätze formuliere und durch den Hycom jage, wetzt draußen die gute Ariadne Vroster über die Fließstraße zwischen unseren Festwandzelten und brüllt ohne Unterlass, dass man im Quadrat Delta-Ce-Neunzehn eine unbeschädigte Marx-Engels-Gesamtausgabe aus der Prä-Blitz-Zeit gefunden hat. Prä-Blitz! Man wagt es kaum zu glauben.
Sammuell!
Dies ist die Erde, Sammuell, und ich krieche hier seit zwölf
Dekaden zwischen den Trümmern, die der Blitz vor wer weiß wie vielen Jahren hinterlassen hat, und wir haben seit unserer Ankunft Container voller historischer Fundstücke nach Omega Choral gestrahlt, genug, um die halbe galaktische Kommune und die Stellare Gesellschaft für Archäologie für die nächsten fünfzig Jahre in Atem zu halten.
Sammuell!
Dies ist die Erde, und es wird noch hundert weitere Dekaden dauern, bis ich wieder die Wärme Deiner Haut und die Zärtlichkeit Deines Mundes spüren kann. Wahnsinn, Sammuell, Wahnsinn. Dieser Preis, den wir für die vielen Zeitalter der Grauperiode hinblättern müssen - und wofür? Für den Blitz? Von dem kein Arsch
weiß, woher er kam? Geschweige denn, was er war? Er hat die Erde halb in den Raum geblasen, Sammuell, und uns beide getrennt. Genug Unheil also, um die ganze archäologische Perseus-Kooperative ins All düsen zu lassen, als Cromman Quolter und Sybbylla Shmornz von Stern zu Stern tauchten (in den Randgebieten, Sammuell, in den Randgebieten) und durch puren Zufall die Erde wiederentdeckten. Zwölf Jahrtausende, nachdem der letzte Hintertreppenwitz der Weltgeschichte auf Sigma Fugger den Weg alles Vergänglichen ging und das planetare R-Kom den Aufnahmeantrag (in vierzehnfacher Ausfertigung, wie wir inzwischen wissen) bei der galaktischen Kommune einreichte.
Sammuell!
Dies ist die Erde, und der Blitz hat sie verdammt verschmort, aber nicht arg genug, um alles wegzubrennen. Und es ist WAHR. Sammuell! New York existierte tatsächlich, aber es war keine Stadt, wie Generationen von Stellar-Archäos und Kosmos-Historikern vermuteten, sondern eine Müllkippe, Sammuell, eine Müllkippe. Uns traf fast der Schlag, mein heißblütiger Geliebter, das kann ich Dir sagen. Wer hätte das gedacht? Doch dies war nicht die einzige Sensation, nur die erste, die erste, verstehst Du? Wir stoßen hier auf Abgründe, menschlicher und sachlicher Art, und die gesamte Milchstraße wird noch vor Ablauf der Ausgrabungen zu flackern beginnen. Aber ich will Dir auch nicht verschweigen, dass sich uns mit jedem neuen Fund mehr Fragen stellen, als beantwortet werden. Es ist alles zu verwirrend, zu chaotisch, und selbst Morzack Moh'med hätte sich das nicht träumen lassen, obwohl er immerhin der erste Sternenjockei war, der die untergegangene Grauzeit-Kultur auf Ophiuchi-Vier entdeckte und damit das Tor zur Erde aufstieß (ohne dass ich jetzt Quolters und Shmornz' Leistungen schmälern möchte)!
Sammuell!
Was ist ein Soft-Porno? Generationen von Linguisten und Semantikern haben daran herumgedeutet und eine Verbindung zur antiken Computer-Software zu konstruieren versucht, ohne der Wahrheit auch nur um Lichtjahre nahezukommen. Wir wissen es jetzt, Sammuell, definitiv, tatsächlich. Wir haben alles entschleiert. Es ist erstaunlich. Es ist erregend. Es ist entsetzlich. Aber menschlich. Und himmelschreiend pervers. Ich weiß nicht, wie die alten Erdkerle (die ja nicht einen Schimmer von unseren Gebärgläsern besaßen) sich vermehrt haben, wenn sie alles nur von einigen Stars (auch Schauspieler, Schmierenkomödianten, Künstler, Pin-up-Girls & -Boys und Modelle genannt) haben vorspielen lassen, um es zu fotografieren oder zu filmen und dann zu verkaufen. Wahnsinn, Sammuell. Was menschlich ist, wurde in der Grauzeit abgelichtet und gegen Geld abgegeben. Gegen Geld, Sammuell! Warum haben es die Leute nicht selbst gemacht? Oder durften sie nicht? Konnten sie nicht? Wollten Sie nicht? Oder die Sache mit den Zeitungen, Sammuell. Eine archaische Vorform unserer Öffentlichen Hycoms. Auf Papier gedruckt oder mikroverfilmt oder über Video ausgestrahlt. Diese Zeitungen gehörten jemandem, Sammuell. Ist das nicht der Gipfel? Einem Einzelnen oder einer Gruppe von Menschen, die sich zu sogenannten juristischen Personen (?) zusammenschlossen, auch Gangs, AGes, Gesellschaften, Multis oder Firmen genannt, und diese juristischen oder organischen Personen bestimmten, was in diesen Zeitungen erscheinen durfte. Pervers, pervers.
Sammuell!
Auch wenn Du es nicht glaubst, es ist WAHR!
Was sind Dividenden? Oder Sozialämter? Was hat es mit Selbsterfahrungsgruppen auf sich? Wo liegt der Sinn der Einwegflaschen? Durften Frauenzeitschriften auch von Männern oder Kindern gelesen werden? Erschuf der Sachzwang den Menschen, oder war es umgekehrt? Liebte Jesus wirklich jeden, und wer war er überhaupt? Wenn es ihn gab, war er nymphoman? Was hatten Toilettenfrauen auf einem Männerklo zu suchen? Bestanden Verbindungen zwischen Entsorgungs- und Freizeitparks? Was ist ein Buchhalter? Sicher, wir wissen, was Bücher sind, aber benötigte jeder Leser wirklich einen Menschen, der das Buch hielt? Oder hielt er es ihm vor? War Antikommunismus eine Krankheit, und wann fand man ein Gegenmittel? Gab es für Justizvollzugsanstalten ein Bedürfnis? Wenn ja, warum baute man dann keine Bedürfnisanstalten? Fragen über Fragen.
Sammuell!
Erkennst Du unsere Probleme? Begreifst Du, dass wir hier vor einem Rätsel stehen, einem Rätsel so groß wie der höchste Berg auf Summa Erphus? Dies ist die Erde, Sammuell, und niemand weiß, welche Wunder wir noch entdecken werden.
Sammuell!
Du weißt, dass Dir mein Herz, mein Leib gehört, dass ich Dich mit einer Ausschließlichkeit liebe, die einfach monströs ist und die ich nicht für möglich gehalten hätte, als ich mein Geburtsprimal im Gebärglas erlitt. Dies ist wirklich die Erde, Sammuell, hier, direkt unter meinen Füßen, die alte, wahre Erde. Und sie ist monströser als unsere Liebe. Wir verstehen manches, wir erhellen die Vergangenheit, die ganze verdammte Grauzeit und weiter noch, sogar manche der Dinge, die sich hier vor dem Blitz abspielten. Aber dann fand ich das Artefakt.
Sammuell!
Artefakt 5578. Eine Zeitkapsel vermutlich. Vom Blitz nur leicht angeschmort. Wir haben sie geöffnet und alles sorgfältig analysiert, aber es ist verrückt, völlig verrückt. Und das liegt nicht nur daran, dass vieles nur fragmentarisch erhalten ist. Der Blitz, die Zeit, Sammuell. Es kann natürlich auch ein Witz sein. Die hinterlistige Fälschung eines Prä-Blitz-Hominiden. Doch das ist selbstverständlich nur eine Spekulation. Wir verstehen nichts, Sammuell. Nichts, einfach nichts. War es damals wirklich so?
Sammuell!
Ich habe das Artefakt kopiert, und Du wirst sehen, wie die Dokumente in Anschluss an diese Mitteilung aus Deinem Hycom purzeln. Vielleicht kennst Du die Antwort. Vielleicht durchschaust Du das Rätsel. Wir haben Kohlenstoff-Analysen durchgeführt. Die Dokumente sind authentisch. Das Artefakt ist echt. Prä-Blitz, Sammuell! Von der verschmorten Erde. Schau Dir die Aufzeichnungen an, die Tonbandbruchstücke, die Videofragmente, die Aufzeichnungsfetzen, das Unglaubliche, Unmögliche. Kannst Du Dir vorstellen, dass damals die Welt so gewesen ist? So pervers? So chaotisch? Grauzeit, Sammuell, das Artefakt 5578 ist Grauzeit pur. Dir werden die Haare zu Berge stehen! Aber die Dokumente sind authentisch. Jahrtausende alt, Sammuell. Und kein Arsch auf dieser Trümmerwelt kann etwas damit anfangen.
Sammuell!
Vielleicht findest Du die Lösung. Vielleicht entzifferst Du diese Ansammlung von Perversität und Wahnsinn.
Sammuell!
Ich liebe Dich! Wir werden uns wiedersehen. In hundert Dekaden. Oben im Zentrum. Wir werden beieinander liegen und uns umarmen, und wir werden uns lieben, bis Erschöpfung unsere Gedanken verdunkelt. Und dann, Sammuell, werden wir uns unterhalten und versuchen, das Mysterium des Artefaktes 5578 zu entschleiern, wir werden so lange diskutieren, bis wir eine Lösung finden.
Sammuell!
Ich liebe Dich.
Hier - ist das Artefakt.
Dein Petter Vanmerk.
Das Artefakt -1: Keine neuen Horizonte
- Wirtschaftsweise im Prinzip perspektivlos-
Obwohl es die zwölf Wirtschaftsweisen nicht zum Stern von Bethlehem, sondern zu dem von Untertürkheim zog, um das IX. Ostern-Symposium zu zelebrieren, blieb doch die ökonomische Erleuchtung im Nebel tarifpolitischen Getöses unsichtbar, wurde eine weitere Chance vertan, den Tanz um das Goldene Kalb Lohnzuwachs durch die Feste Burg sozialpartnerschaftlicher Verantwortung zu ersetzen. Im Glanz der festlichen Oster-Messen erschien das unentschlossene Taktieren der zwölf besten ökonomischen Spezialisten der Republik wie eine Wanderung im finsteren Tal stagflationärer Widrigkeiten, während der luziferische Versucher bereits in Gestalt des Kreises Radikaldemokratischer Wirtschaftswissenschaftler an die Himmelstür klopfte. Als wunderliches Ereignis am Rande sei erwähnt, dass sogar diese illustre Versammlung der zwölf Weisen nicht umhin kam, sich mit dem weltlichen Problem der zunehmenden Wohnungsnot in der Republik auseinanderzusetzen. Dass als Allheilmittel die Gebetsmühle empfohlen wurde, erscheint dem Beobachter jedoch nur als Jüngstes Gerücht...
- Video-Kommentar des Nachrichtenmannes Friedrich N.
2
... und dann kam der Vierzehnte, und es hatte keinen Zweck mehr, das Ganze aufzuschieben, und Robby stieg aus dem Bett, griff nach seinen Klamotten, warf sich ein paar Spritzer Wasser in die verklebten Augen und sah immer wieder nervös auf die Uhr. Ein Blick auf den Zähler am Herd brachte ihn davon ab, sich Kaffee zu kochen, denn schließlich hatte dieser verdammte Monat noch sechzehn weitere verdammte Tage, und das bedeutete, dass er selbst bei eisernem Sparen die letzte Woche entweder im Dunkeln oder bei Angela zubringen musste, und beide Möglichkeiten waren ihm gleichermaßen unsympathisch.
Er presste flüchtig den Zeigefinger auf den Einschaltknopf des Batterieradios. »...keine Sorgen, Zaster borgen. Bei der fetzigen, angetörnten Bank für Ausgeflippte und andere junge Leute. Kommt zu uns. Niedrige Zinsen, freakige Geldverleiher, coole Konditionen. Kommt zur Pulver-Connection. Kommt zur Volkskredit-Bank.«
»Halt's Maul«, murmelte Robby automatisch und suchte unter dem ungespülten Geschirr der letzten Tage nach seinem Zigarettennotvorrat, aber alles, was er fand, waren durchweichte Kippen, fein garniert mit eingetrocknetem Tomatenketchup, festgepappten bräunlichen Soßenrückständen und irgendwelchen anderen unappetitlichen Dingen, die ihn unangenehm an seinen Magen erinnerten.
Aus den unteren Stockwerken drangen Flüche und lautes Geschrei.
Etwas polterte.
Dann ein Kreischen.
Stille.
Robby schluckte und kratzte sich den Kopf, fuhr dann mit den Fingern durch die ungekämmten Haarsträhnen, bis ein Hauch von Frisur und Ordnung in seinem dicken, schwarzen Haarschopf zu erahnen war. Er hatte noch zwei Stunden Zeit, ehe das Arbeitsamt dicht machte, und Huspensky - oder wie der Kerl auch immer hieß - würde so oder so missgelaunt die Papiere abzeichnen müssen, auch wenn sich das alles nur wenige Minuten vor der Mittagspause abspielte; schließlich war Huspensky dafür da, und es war seine verdammte Pflicht, Robby zu helfen, wenn er schon den ganzen Tag auf seinem Arsch hockte und ein Heidengeld dafür kassierte.
Erfreulicherweise fand er dann doch noch einen halbgefüllten Tabaksbeutel und zu seinem Erstaunen auch einen Krümel Shit - Grüner Türke für zehn Mark achtzig inklusive Cannabis-Steuer im Drugstore an der Ecke - , den er wohl irgendwann im Lauf der letzten Wochen achtlos fortgeworfen hatte, weil es ihm zu dieser Zeit sehr gut gegangen war und er nicht auf diese Kleinigkeiten achten musste. Ein wenig versöhnt mit dem an und für sich gar nicht so vielversprechenden Tag, hockte sich Robby auf den Boden, drehte einen krummen Stick, an dessen beiden Enden der trockene Tabak heraushing und ihm traurig zuzublinzeln schien, aber
Robby liebte diese Symbolismen nicht, und er zündete den Stick an und starrte nachdenklich aus dem Fenster.
Aus dem Radio drangen die drögen Gitarrenklänge und das grelle Synthesizerpfeifen des diestägigen Welthits, Suck my joybringer, Mister President von den Washington Pigs, einer Rhythm-and Blues-Vereinigung wegen Korruption abgesetzter Kongressabgeordneter, die so ihr politisches Glaubensbekenntnis in klingende Münze umsetzten.
Die Aprilsonne war schwach, hing blass am graublauen Himmel, so dass man mit ungeschützten Augen in sie hineinblicken konnte, aber selbst in ihrem vollen Lichtgesicht war nicht viel zu entdecken, und das sagte Robby genug über Angela und ihre Lumpenfreunde von der Sonnen-Kommune, mehr zumindest, als sie ihm erzählt hatte - in den endlosen Stunden zwischen drei und sechs Uhr morgens, in denen die Zeit manchmal stehenblieb und Angelas kleine benebelte Mauseaugen einen Stich ins Mystische bekamen. Unten auf der Straße herrschte das übliche Chaos hupender, brummender Autos und desorientierter Fußgänger, obwohl Robby im Lauf der letzten drei Jahre schlimmere Wohnungen und Straßen erlebt hatte, und manche besaßen nicht einmal eingebaute Ohrenschützer aus Schaumstoff wie hier, und man konnte oft genug allein vom Lärm der Fahrzeuge und Stimmen besoffen werden. Gegenüber entdeckte Robby, während er abwesend an dem Stick zog, die blonde junge Frau, deren Mülleimer ihm ihre verborgene Liebe für den Neun-Mark-neunzig-Whisky aus der Kauf+Spar-Filiale an der Blockecke verraten hatte. Sie öffnete das Fenster und schnüffelte vorsichtig in den jungen Tag, aber was sie roch, schien nicht ihren Beifall zu finden, denn mit leicht angegrauter Gesichtsfarbe schloss sie hastig wieder die Fensterläden und verschwand im dunklen, Robbys Blicken verborgenen Innern ihrer Wohnung.
Robby seufzte und wartete noch einige Minuten hoffnungsvoll, aber offenbar schien sie im Augenblick kein Interesse an einer Dusche oder einem Bad zu verspüren, und so musste Robby für dieses Mal auf den Genuss verzichten, durch das gardinenlose Badezimmerfenster einen Blick auf ihren unbekleideten ansehnlichen Körper zu erhaschen.
Es klopfte an der Tür.
Im Radio knarrte es. »Meine Damen und Herren und alles, was dazwischen liegt, die Nachrichten fallen für heute leider aus, da sich unser Sprecher, der selige Kuno Karl Kopke, beim routinemäßigen Durchlesen der Meldungen auf äußerst abscheuliche Weise das Leben nahm. Wir sind noch immer damit beschäftigt, unsere Tonbandmaschine zu säubern und senden bis dahin unser Elf-Uhr-Wunschkonzert live aus dem Atomkraftwerk Elmsbüttel unter dem Motto: das Radio bleibt aktiv.«
Robbys Gedanken hatten sich dank des Sticks völlig geklärt, und allein der Umstand, dass die Zeit so schnell verging, erregte ein wenig sein Erstaunen, doch alles übrige wirkte ganz und gar so, wie es sein sollte.
Das Klopfen wiederholte sich.
»Ja?«, sagte Robby und räusperte sich, als er den krächzenden Klang seiner Stimme vernahm. »Es ist nicht abgeschlossen«, fügte er dann noch hinzu, und erst jetzt drückte jemand die Klinke hinunter und stieß die Tür auf.
»Was machen Sie denn noch hier?«, schnauzte ihn ein dicker Mann in einem fleckigen Overall vorwurfsvoll an. Unruhig glitten seine kleinen dunklen Augen hin und her, und seine gerötete Gesichtsfarbe und die Zornesfalten auf seiner Stirn deuteten darauf hin, dass wohl er etwas mit dem grellen Lärm zu tun gehabt hatte, der noch vor wenigen Minuten in den unteren Stockwerken rumort hatte. Der dicke Mann in dem Overall stemmte die Arme in die feisten Hüften und schnüffelte. »Und überhaupt - wie sieht das hier aus?«
Robby blickte sich ein wenig irritiert um und wunderte sich gleichzeitig über seine bemerkenswerte Ruhe, die ihn davon abhielt, diesen unverschämten Eindringling am Kragen zu packen und aus der Wohnung zu werfen. »Wie soll's schon aussehen? Wie's heutzutage eben aussieht. Ich bin...«
»Robert Warschinzki«, nickte der dicke Mann. »Stand an der Tür. Ich hab's gelesen. Ich kenne Sie alle hier. Und ich frage mich, was zum Teufel geht hier eigentlich vor? Es begann schon im ersten Stock. Bei dieser Alten, dieser Rumberger. Ich mach hier nur meine Arbeit, Frollein, sagte ich, bin genauso ein armes Schwein wie Sie, also machen Sie's mir nicht noch schwerer. Außerdem, was kann ich dafür? Ich muss auch mein Geld verdienen. Ich hab' einfach keine Wahl, verstehen Sie? Aber meinen Sie, die Alte verstand? Mit 'nem Besenstiel ging die auf mich los, wenn ich's doch sage, mit 'nem Besenstiel, und hysterisch wurde sie auch noch, dass ich dachte: Vorsicht, Kalle, die bekommt hier gleich auf der Stelle ihren achten Herzinfarkt und bricht mausetot zusammen.«
Der dicke Mann setzte sich schnaufend auf den einzigen leeren Stuhl in Robbys Wohnschlafzimmerküchenabstellraum und wischte sich den Schweiß von der geröteten Stirn. »Ich also ab und in den zweiten Stock.«
»Ah«, machte Robby verständnisvoll und versuchte durch die Spinnweben in seinem Kopf Motiv und Sinn dieser seltsamen Unterhaltung zu entschlüsseln. »Hubert Hetschneider und gegenüber die Sonnen-Kommune.«
Der dicke Mann schnaufte und griff in eine Tasche seines fleckigen, einstmals dunkelblauen Overalls und entzündete eine Zigarette. »Hetschneider, das ist dieser Wahnsinnige, eh? Ich sagte zu ihm Schönen guten Morgen, der Herr, aber die Lage ist ernst, und ich komme von meinem Chef und der von Nowossny, und ich weiß gar nicht, was Sie hier überhaupt noch zu suchen haben. Ich hätte besser meinen Mund gehalten, denn dieser Hubert brüllte gleich los: Ich bin Künstler, begreifen Sie? Künstler! Und ich habe ein Recht darauf, hier zu sein, auch wenn dies eine gottverdammte Bruchbude und Nowossny ein widerlicher Hurensohn ist, und ich sag Ihnen was, ich werde mich in meiner Spüle demonstrativ ertränken, wenn Sie auch nur einen Finger rühren, um das Haus abzureißen. Ich habe Verbindungen, sagte dieser Hubert, dieser Künstler. Ich werde eine ganze Bande Livemänner alarmieren, und die werden jede Ihrer Bewegungen, jeden Furz und jedes Ihrer schwachsinnigen Worte auf Videoband aufnehmen, und vor allem werden die filmen, wie ich mich ersäufe, und Sie, sagte dieser Hubert und deutete mit seinem spitzen, nikotingelben Zeigefinger auf mich, Sie werden verantwortlich für meinen Tod sein. Ausgerechnet ich!« Der dicke Mann rauchte und schnaufte und nickte. »Dann warf er die Tür zu und fing an zu rumoren, und dann hörte ich Wasserrauschen, und alles war natürlich für die Katz. Also ab zur gegenüberliegenden Tür. Ich habe geklingelt, und ein dralles Weib öffnete und starrte mich an. Ich komme von..., begann ich, aber die ließ mich gar nicht ausreden, sage ich Ihnen, die breitete nur die Arme aus und kreischte: Eine neue verlorene Seele, die den rechten Weg gefunden hat, und kaum hatte sie das von sich gegeben, wimmelte es im Korridor von Männlein und Weiblein, und alle trugen Togen und hatten bemalte Köpfe, und einer hatte sogar eine Kuchengabel durch seine Nasenflügel gebohrt und geiferte mich an...« Der dicke Mann schauderte. »Diese Augen, wissen Sie, Monsteraugen, sage ich Ihnen, schrecklich, wie die mich anstarrten, und der mit der - genau, Küchengabel hielt noch 'ne zweite in der Hand, und ich wusste was der wollte, als der auf mich zu tänzelte. Gott! Ich hab' um mein Leben gefürchtet und bin abgehauen. Können Sie mir das verdenken? Aber was wird mein Chef sagen? Egal, ich bin kein Held, und bei den heutigen Hungerlöhnen ist so was bei mir nicht drin. Also, die Treppe weiter hinauf, und dann stand ich vor der Tür Ihres Nachbarn.«
Robby kratzte die Bartstoppeln an seinem Kinn und nickte weise. »Protkop«, erklärte er. »Terrier Protkop und Anhang.«
»Gangster«, stöhnte der dicke Mann. »Man hat mich bedroht. Ein großer Dürrer und ein kleiner Dürrer. In Bademänteln. Rosa geblümt. Eine widerliche Farbe. Ich weiß, was Sie wollen, sagte der große Dürre. Aber da haben Sie sich in den Finger geschnitten. Sie werden hier nichts erreichen. Nichts! Aber Sie können die Fronten wechseln und hereinkommen, damit Sie uns oder wir Sie vergewaltigen.« Der dicke Mann schnaubte entrüstet und sah Robby bittend an. »Können Sie sich das vorstellen? Vergewaltigen. Mich. So hoch kann ja gar kein Stundenlohn sein. Es war entsetzlich. Einfach ent-setz-lich. Dann machte sich auch noch der kleine Dürre an seinem Bademantel zu schaffen, rosa geblümt, und das war zu viel. Und dann hab' ich bei Ihnen geklopft.«
Elf Uhr fünfzehn. Und hier sind erstaunlicherweise doch noch die Nachrichten, liebe Hörer und Abhörer, grölte es aus dem Radio. Das neue Rasterfahndungsprogramm des BKA wurde nach Aussage des Bundesinnenministers im März auch auf alle Bademeister ausgedehnt, die ihr Wasser bei den Wasserwerken nicht in bar und unter falschem Namen bezahlen. Die einzige Möglichkeit, den Terrorismus in den Griff zu bekommen, sagte der Minister auf unsere Frage nach dem Sinn dieser Aktion.« Robby wurde von einer unangenehmen Nervosität gepackt, denn nun musste er sich wirklich beeilen, wollte er nicht vor Huspenskys verschlossener Bürotür stehen und zu einem späteren Tag zu einer unangenehmen Unterhaltung geladen werden, so von der Art: Sie haben sich seit vierzehn Tagen nicht mehr bei uns gemeldet, obwohl Sie doch ständig verfügbar sein müssen, wenn Sie Ihren Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung... und der ganze andere Scheiß, das, was man sich in dieser Zeit eben anhören musste, wenn man sich in dieser bedenklichen Situation befand.
Robby blickte den dicken, schnaufenden, rauchenden Mann an. »Also, ich muss Sie jetzt wirklich rausschmeißen, Herr... äh, tut mir leid, aber ich hab was Wichtiges vor und nun tatsächlich keine Zeit mehr...«
»Es stinkt«, erklärte der Dicke unbeeindruckt. »Ich werde das Fenster öffnen. Unter diesen Umständen kann kein ehrlicher Mensch arbeiten. Das verstößt gegen meine Würde. Aber ich verstehe einfach nicht, warum Ihnen Grabbert nichts davon gesagt hat...«
Robby wurde hellhörig. In der Tat hatte er die Lage mit einem Mal völlig in der Hand und durchschaute die ganze Komplexität dieser Begegnung. »Grabbert? Dieser Mistkerl von der Wobau? Was haben Sie denn mit dem zu schaffen?« In Wirklichkeit war Grabbert nicht nur ein Mistkerl, sondern auch ein gottverdammter Schleimer und Kinderschänder, der nur durch seine verwandtschaftlichen Beziehungen (Neffe eines Schwagers einer Tante von & Nowossny, einem der Direktoren der Wohnungsbau GmbH Co. KG) zum Verwalter einiger der Wobau gehörenden Häuserblocks aufgestiegen war, anstatt irgendwo in der Gosse oder im Knast zu enden, wie es dieser Obernarr eigentlich verdient hätte... Darüber hinaus war Grabbert ein völlig korrupter Hausverwalter und ließ die Gebäude auf dem· Holunderberg so gut es ging verkommen, wohl gemeinsam mit seiner Wobau-Sippschaft in der Hoffnung, die Häuser alsbald abbruchreif und die Genehmigung zu eben jenem Abbruch zu bekommen und dann die Grundstücke mit einem fetten Profit an irgendwelche Spekulanten aus Frankfurt oder Berlin zu verhökern. Robby nickte ernst. Genau so würden es die Bastarde anstellen, und das Erscheinen des Dicken war wohl ein Omen dieser erschreckenden Umwälzung auf dem Holunderberg.
»Klar«, nickte der dicke Mann und drückte seine Zigarette aus. »Diese Bruchbuden werden abgerissen, und neue, feine, schöne Häuser dafür gebaut. Ich bin hier, um die Abbrucharbeiten vorzubereiten. Und ich kann Ihnen sagen, ich versteh' wirklich nicht, warum Sie alle noch hier wohnen und nicht schon lange ausgezogen sind. Haben Sie keinen Brief bekommen?« Mit einem kritischen Blick betrachtete der dicke Mann die Berge ungespülten Geschirrs, das zerwühlte Bett und die Kleidungsstücke auf Sesseln und Stühlen und all die anderen wirklich unwichtigen Kleinigkeiten, die Robbys Vergnügen an seiner Wohnung nicht sonderlich schmälerten, bei manchen unverständigen Besuchern allerdings ein verwirrtes Stirnrunzeln auslösten.
»Was für einen Brief?«, fragte Robby und nahm mit einem faden Lächeln die Zigarette entgegen, die ihm der Dicke anbot, zündete sie an, rauchte. »Wieso überhaupt ein Brief? Wozu? Was will dieser Grabbert? Er soll mir vom Leibe bleiben. Ich werde erst mit ihm sprechen, wenn das Treppenhaus renoviert ist. Renoviert, klar? Richten Sie ihm das aus.« Robby rauchte und musterte düster seinen mysteriösen Besucher.
»Sie missverstehen alles«, sagte der dicke Mann gelassen und kratzte sich die Genitalien. »Ich bin nur ein kleines Licht. Ich bekomme meine Anweisungen, und damit hat es sich. Ich bin nicht dafür verantwortlich. Ich weiß überhaupt nicht, was Sie und die anderen Gespenster in diesem Hause wollen. Stehe ich unter Anklage? Dann verwechseln Sie einiges. Ich sollte besser fragen, was Sie hier überhaupt noch zu suchen haben, Sie und Ihre unmöglichen Nachbarn, hm?«
»Ich wohne hier«, erklärte Robby mit dem Rest Würde, den ihm seine Erregung und Nervosität noch ließen.
Der dicke Mann sah ihn gleichgültig an. »Jetzt nicht mehr.«
»Ich werd' verrückt«, sagte Robby.
Sie saßen sich schweigend gegenüber, rauchten, blickten sich an. Robby räusperte sich. »Wir werden das klären«, versprach er. »Ich weiß verdammt gut, dass wir das klären werden. Später. Ich muss weg. In einer Stunde bin ich wieder da. Ich werde Grabbert die Birne eindreschen. Ich werde ihn verklagen. Ich werde der ganzen Wobau die Hölle heiß machen.« Robby nickte bekräftigend. Er wusste, er würde es tun. Er war wirklich sicher, und dann konnte Grabbert zum Teufel gehen und auch sein fetter Verwandter samt seiner Tante und der ganzen übrigen Nowossny-Bande, und die Zeitungen würden über ihn schreiben, die TV-Sender über ihn berichten, und vielleicht würde das auch die blonde junge Maid von gegenüber veranlassen, ihm ihre Badeshow live und in Farbe zu zeigen...
»Haben Sie denn keinen Kündigungsbrief bekommen?«, fragte der dicke Mann.
Robby wollte sich gerade erheben, zur Tür eilen und mit großen Schritten das dunkle, baufällige Treppenhaus hinunterhasten, denn die Zeit war nun wirklich knapp, und unter Umständen würde dieser Sack Huspensky irgendeinen Vorwand finden, um ihm Unannehmlichkeiten zu machen, aber dann blieb er ganz unversehens stehen und stöhnte fast unter der schrecklichen Erleuchtung. Der Brief! Einschreiben oder so was. Noch völlig besoffen war er aus dem Bett gefallen, als das Schrillen der Türglocke nicht aufhören wollte, und hatte irgendwie die Tür erreicht und sie geöffnet und dem Briefträger seinen abgestandenen Whiskyatem ins Gesicht geblasen. Ein Wunder, dass der gute Mann nicht gleich gekotzt hatte. Fuck it, wo steckte der Brief? Vermutlich auf der städtischen Müllkippe. Robby pflegte zu gewissen Zeiten keine Briefe zu öffnen und hatte ihn naheliegender Weise auf dem neben der Tür stehenden Abfalleimer deponiert und war wieder ins Bett gekrochen. Der Brief war natürlich zum Teufel.
»Wir klären das«, wiederholte er lahm. »Ganz bestimmt. Und nun« - er straffte sich - »gehen Sie bitte hinaus.«
Der dicke Mann schnitt eine Grimasse. »Ich habe Anweisung, die bauliche Substanz einer jeden Wohnung zu untersuchen und für den Abbruch...«
Robby hatte plötzlich ein Ketchup-fleckiges Küchenmesser in der Hand. Der dicke Mann gurgelte und sprang aus dem Sessel. »Ich werde Grabbert davon berichten«, stieß er hervor. »Dieses ganze Haus ist eine Mördergrube. Und überhaupt, was habe ich damit zu tun?«
»Raus mit Ihnen!« brüllte Robby fuchsteufelswild und...
3
SETZ DEN NOTSTAND MATT- SPAR KILOWATT
Slogan einer Änzeigenserie des Bundesministeriums für Energie- und Rohstoffversorgung.
4
»Gnädige Frau, ich kenne Sie, aber ich weiß nicht, wie ich auf Sie raufkomme.«
Baudezernent Jonegan zu Frau OStD Pfeife. unbestätigt.
6
LIEBER FUSSPILZ ALS ÜBERHAUPT NICHTS ZU ESSEN
Aufkleber, Herkunft unbekannt.
7
»...Macht sie kaputt!«, kreischte der unförmige Mann in dem zerschlissenen Fußballtrikot und schwenkte seine Fahnenstange wie eine Sense. »Macht sie alle! Haut sie in die Fresse!«
Von irgendwoher flog ein Ziegelstein und traf den Schreihals in die Magengrube. Mit einem rülpsenden Laut setzte er sich auf den Hintern und spuckte halbverdautes Bier über den Bürgersteig. Geschrei, Gegröle, misstönendes Gerassel, Sirenengeheul und Getröte lagen wie Smog über der Fußgängerzone.
Robby kratzte sich die Nase und schielte aus dem Eingang des Lederwarengeschäftes, in den er sich beim Nahen der randalierenden Fußballfans des 1. FC Ruhrstadt zurückgezogen hatte. Die alkoholisierte Meute hatte vor einer halben Stunde die Bahnhofskneipe verlassen und sich in das Gewühl der Innenstadt gestürzt, um vor dem Anpfiff des entscheidenden Meisterschaftsspiels in die richtige Stimmung zu kommen. Ein Martinshorn heulte in der Ferne auf, gefolgt von einem zweiten, und Robby entspannte sich ein wenig.
Die Meute in den rot-blauen Trikots, mit den Fahnenstangen, Totschlägern, Rasseln und Schnapsflaschen, reagierte auf die Martinshörner wie ein sensibler Organismus. Klirrend landete eine Flasche in der Fensterscheibe einer Boutique, dann ergossen sich die gnomenhaften, entfesselten Gestalten in die Seitenstraßen, um sich dem Zugriff der traditionell zu spät eintreffenden Ordnungshüter zu entziehen.
»Penner«, keifte eine entmenschlichte Stimme hinter Robbys Rücken. »Verlauster Drecksack!«
»Ganz richtig«, bestätigte Robby, wandte sich um und blickte in das bleiche Gesicht des Lederwarenverkäufers, der sich drohend hinter ihm aufgebaut hatte. »Dieses Gesindel wird von Tag zu Tag dreister.«
Der Bleiche schnappte nach Luft. »Verschwinde!«, brüllte er Robby an. »Du vertreibst mir die Kundschaft, du arbeitsscheuer Nichtsnutz!«
Offensichtlich meinte er Robby mit seinen Ausfällen. Robby zuckte die Achseln und äugte durch die halb geöffnete Ladentür des Ledergeschäftes, in dem die Überreste südamerikanischer Kaimane ihr Rentnerdasein als Aktenköfferchen und Theatertäschchen fristeten. Das feine elektrische Wispern eines Bioclimate-Maker, der die Kundschaft wohl zu einem konsumfreudigeren Verhalten überreden sollte, erreichte Robbys Körperelektrizitätsfeld und dämpfte die Entrüstung über den ordinären Umgangston des Bleichen. Er zuckte die Achseln und schob sich aus dem Eingang, stieg über einen umgeworfenen Abfallbehälter und setzte seinen Bummel fort. Die Fußgängerzone füllte sich allmählich wieder mit Menschen, und jetzt erschienen zwischen den gelb kränkelnden Gewächsen in den hier und dort stehenden Betonkübeln auch einige Polizisten und blickten sich unentschlossen um und reagierten auf die spöttischen Bemerkungen der Passanten mit jener beruflichen Nonchalance, die Robby schon immer an ihnen bewundert hatte. Da von den tobenden Fans des städtischen Fußballclubs (der im Jahr einen Zuschuss von einer knappen Million Mark aus Steuergeldern erhielt) niemand mehr zu sehen war, zogen die Beamten unverrichteter Dinge wieder ab, allerdings nicht ohne zuvor einen Werbestand der Radikaldemokratischen Partei einer hochnotpeinlichen amtlichen Kontrolle unterzogen zu haben. Robby schlenderte weiter und bemühte sich, die Erinnerung an sein unerquickliches Gespräch mit Huspensky zu verdrängen. Teufel auch, der Sack hatte ihm das Messer auf die Brust gesetzt und ihm gedroht, die Unterstützung zu sperren oder ihn zum Sozialen Arbeitsdienst in Unterföhrenheim in der finstersten Ecke des Bayerischen Waldes zu verbannen, wenn er nicht umgehend das Stellenangebot der Deutschchemie AG annehmen würde; egal, ob Robby nun als Werkzeugschlosser ausgebildet war oder nicht. Robby spuckte verächtlich aus und blieb vor der Plattenkiste stehen, musterte geistesabwesend die LP-Cover, Musikkassetten und Videobänder im Schaufenster. Huspensky hatte leicht reden. Es war schon ein Unterschied, ob man Tag für Tag in einem klimatisierten Büro des öffentlichen Dienstes Akten wälzte und Arbeitslose schikanierte oder ob man in einer stinkenden Lagerhalle der Deutschchemie hochbrisante Fässer mit Trichlorphenol, Tetrachloridbenzodioxin und Hexachlorcyclohexan stapelte.
Der Hi-Fi-Lautsprecher über der Tür der Plattenkiste brüllte die neuesten Hits. Wann machst du deine Alte kalt? lallte Rocky St. James zu den süßen Klängen eines digital aufgenommenen Streicherquartetts. Robby schüttelte sich. Und im Übrigen spielte es auch keine Rolle, ob er nun den HCH-Job wollte oder nicht - der geschniegelte Personalchef der Deutschchemie, Hubert Graf Kalle von Bohle und Anhalter, hatte ihm schon einmal erklärt, dass er Leute wie Robby für ein Sicherheitsrisiko hielt, aber interessierte das Huspensky?
Don't forget your machine-gun, rieten African Bullett, eine südafrikanische farbige Band ehemaliger Untergrundkämpfer, die nach dem Fall des Apartheid-Regimes in Pretoria über den Kontinent tingelten und Gelder für den Wiederaufbau locker machten. Nein, was Huspensky wollte, das war klar wie ein Sonnenaufgang in der Karibik. Er wollte Robby den öffentlichen Geldhahn zudrehen, und dazu war ihm jedes Mittel recht, sogar die Deutschchemie.
»Wahnsinn«, murmelte eine Stimme, die Robby seltsam vertraut vorkam, so rostig klang sie, und kaum hob er den Kopf, da sah er auch schon Don the Dope, den Superstar der Funk-Punk-Rock-Formation Pete Paranoia & his Nightmares, die ihre Gigs in einem verkommenen Lagerhaus auf dem höchsten Punkt des Holunderberges durchzogen und seit einem Monat die städtischen Alternativcharts mit It's fine be mad in the White House anführten. D on the Dope hieß mit bürgerlichem Namen Detlef Damroß, und Robby kannte ihn seit seiner Schulzeit, kannte ihn sogar gut, alldieweil sie gemeinsam einen tattrigen Geschichtslehrer davon überzeugt hatten, dass das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937 nach ihrer gründlichen historischen Analyse mindestens irgendwo im ostbengalischen Sumpfland anzusiedeln war und jede Abweichung von dieser Maximalforderung Verrat! Verrat! bedeutete. »Wahnsinn«, wiederholte Don the Dope und strich sich eine rosa Haarlocke aus den Augen. »Es ist unglaublich. Unerhört. Das bedeutet Revolution. Mindestens. Das werden wir nicht zulassen. Nein!«
»I wanna fuck the Pope«, lispelten die Nightgirls aus dem Hi-Fi-Lautsprecher.
»He, Don, altes Haus«, sagte Robby und klopfte dem schlanken jungen Mann in dem hautengen Seidenpyjama wohlwollend auf den Rücken. »Was hast du auf dem Herzen? Ist euer Manager mit den Einnahmen des letzten Konzerts auf und davon und verprasst jetzt die Drei Mark fünfundachtzig in einem Düsseldorfer Freudenhaus?«
»Du kannst gut Witze machen«, klagte Don the Dope und schwenkte ein grellfarbenes LP-Cover. »Du bist einer von diesen Aussteigern und brauchst dich nicht mit den Widrigkeiten der Musik-Szene und profitgeilen Plattenbossen herumzuschlagen. Ich bin ruiniert, begreifst du? Am Boden zerstört. Aus. Ende. Feierabend. Und zu allem Überfluss tropft in meiner Bude seit gestern Abend der Wasserhahn; dieses chemikalienverseuchte Trinkwasser hat schon wieder die Gummidichtungen zerfressen.« Der Musiker schnitt eine düstere Grimasse. »Und da du die Größe meiner Wohnung kennst, brauche ich dir nicht extra zu sagen, dass jeder zusätzliche Tropfen die Prämien für meine Lebensversicherung in horrende Höhen treibt.. Da wir gerade vom Treiben sprechen, was treibst du dich hier herum? Gesunde Stadtluft schnuppern? Oder hast du's jetzt mit dem Konsumrausch? Ich kann dich davor nur warnen. Schau mich an, dann weißt du, wohin das führt.«
Robby schüttelte den Kopf. »Nichts so Ernsthaftes«, erklärte er und suchte nervös in den Taschen seiner Jeans nach einer Zigarette, bis Don the Dope Einsicht zeigte und ihm eine filterlose Acapulco-Gold zwischen die Lippen schob. »Ich hab' erfahren, dass ich den Rest meiner Tage entweder in einem Fass voller chemischer Brühe oder im Bayerischen Wald zubringen muss, Bäume roden oder den Einheimischen das Essen mit Messer und Gabel beibringen. Als Alternativvorschlag könnte ich natürlich auch behilflich sein, für die Nowossny-Gang meine Wohnung in Trümmer zu legen...«
Don the Dope riss die Augen auf. »Du weißt es also auch! Natürlich, warum hätten sie ausgerechnet dich verschonen sollen? Heute Morgen kam Karl Kaputnik in unser Holunderberg-Studio und murmelte etwas von Bulldozern und Planierraupen und begrapschte mit seinen Wurstfingern unsere Acht-Wege-Boxen. Nachdem Pete und ich ihn mit dem Mikrofonkabel gefesselt und ihm ein Potpourri unseres neuesten Smash-Hits vorgespielt hatten, rückte er dann mit der Sprache raus. Wahnsinn, Robby, totaler Wahnsinn. Diese Lumpen wollen den ganzen Holunderberg kahlrasieren und für Nowossnys Schwiegersohn eine Marmorvilla mit Hundeklo und Wasserbett hinsetzen, inklusive Ausnüchterungszellen und Baumhäuser für die Leibwächter der Direktorenmafia. Das schreit zum Himmel, Robby. Das werden wir uns nicht bieten lassen. Bis hierhin und keinen Schritt weiter!«
»Und was willst du unternehmen?«
»Kämpfen«, verkündete Don the Dope. »Mit Fingernägeln und falschen Zähnen, wenn es sein muss. Das ist die größte Sache seit Brokdorf, sage ich dir, und ich werde mich eher als Grundstein einmauern lassen, als nur einen Schritt aus unserem Studio zu setzen. Wir werden, wenn nötig, alle unsere Fans zusammentrommeln und...«
»Ich wüsste nicht«, unterbrach Robby mit einem vertrauenerweckenden falschen Lächeln, »was deine kleine Schwester und deine schwerhörige Großmutter gegen Nowossnys Planierraupen und Winkeladvokaten ausrichten sollen.«
Don the Dope funkelte ihn beleidigt an. »Du bist ein verdammter Zyniker, aber du kannst nichts dafür. Und im Übrigen haben wir keine andere Wahl. Wir kämpfen.«
»Wer kämpft, sieht nicht«, orakelte Robby.
»Wer aufgibt«, fügte Don hinzu, »verliert mehr als sein Augenlicht...«
»In Ordnung«, nickte Robby. »Tun wir's. Aber tun wir's rasch. Nur: was?«
»Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht...«
8
NOWOSSNY: An sich ist die ganze Sache recht einfach. Vor allem gibt es bei näherem Hinsehen überhaupt keine andere Möglichkeit. Wir sollten uns doch nichts vormachen, mein lieber Paul. Es sind Bruchbuden, und Sie können mir glauben, mein Herz blutet dabei, wenn ich daran denke, dass Menschen in ihnen hausen. Denn sie sind wirklich alt und baufällig und vielleicht sogar feucht und ungesund, und es hat gar keinen Zweck, irgendwelche Versuche zu ihrer Erhaltung zu machen. Und ich kann Ihnen jetzt schon sagen - also, nach dem, was ich von meinen Architekten gehört habe - , dass wir nach Abbruch und Neubau der Stadt mehr und wesentlich bessere Wohneinheiten zur Verfügung stellen können, als diese Ruinen sie jetzt bieten.
PFEIFE: Wie? Äh, ich... äh...
NOWOSSNY: Es besteht überhaupt kein Grund zur Aufregung. Es ist eine völlig legale Sache, die schon tausendmal irgendwo stattgefunden hat. Wir wollen doch nicht so tun, als sei das etwas Verbotenes und Unehrenhaftes. Im Gegenteil, wir erfüllen der Stadt einen Wunsch - den Wunsch nach ausreichendem Wohnraum. Und Sie, mein lieber Paul, werden dafür sorgen.
PFEIFE: Wie?
NOWOSSNY: Es ist ein Kreuz. Wir haben einen Haufen Geld in diese Ruinen investiert, aber irgendwann ist Schluss, und wann soll sich das überhaupt rentieren? Wer hat schon Interesse an einer Wohnung mit Klo im Keller und Dusche unterm Dachgiebel? Wer bezahlt da heutzutage noch eine kostendeckende Miete?
PFEIFE: Äh...
NOWOSSNY: Es wird sich nicht aufhalten lassen. Der ganze Immobilienmarkt geht zum Teufel. Und Sie und Ihre Fraktion reden doch schon seit Jahr und Tag davon, den Holunderberg zu sanieren, diesen Schandfleck, nicht wahr?
PFEIFE: Wie?
NOWOSSNY: Sie schaffen das schon, Paul. Jetzt genug davon. Wir wollen uns diesen heiteren Abend nicht mit geschäftlichen Dingen verderben. Reden wir doch lieber über Ihren Bauernhof in Unterammergau. Sagten Sie nicht, Paul, dass das Dach...
PFEIFE: Also, diese Schindeln sind sehr wasserdurchlässig und windschief und von einer solch ekligen Farbe, und die Veranda ist immer noch in einem solchen Zustand, dass da dringend etwas getan werden müsste, und ich bin mir sicher, das ist genauso dringend wie diese Sache mit dem Holunderberg...
Mitschnitt eines Gespräches zwischen Karl. C. Nowossny, Direktor der Wobau, und Paul Martin Pfeife, Oberstadtdirektor von Ruhrstadt und Vorsitzender des Bauausschusses.
9
KEIN GELDSACK AUF DEM HOLUNDERBERG!
Flugblatt-Text.
10
...trug Adelheid Rumberger trotz des warmen Frühlingstages einen grünkarierten Wintermantel und hatte sich mit einem abgesägten Besenstiel vor der Tür des Hauses Holunderberg 34 aufgebaut. Sie musterte Robby und Don mit einem kritischen Blick, bevor sie schließlich nickte und ein bellendes »Könnt passieren« hervorstieß. Ihre Augen lugten wachsam hinter den dicken Brillengläsern auf die Straße, und sie würde mit ihrem Leben und dem abgesägten Besenstiel das Haus gegen jeden ungebetenen Besucher verteidigen.
»Ich hab' doch gesagt«, erklärte Don und betrat das muffige Treppenhaus, »alles eine Sache der Organisation, eh?« Er ächzte unter der Last des schweren Kartons, den er vor der Brust hielt und damit die Treppen hoch wankte. »Verdammt, wer hätte gedacht, dass Flugblätter so schwer sein können?«
Robby sagte nichts, sparte seinen Atem für den Treppenaufstieg und seufzte erleichtert, als sie endlich den zweiten Stock erreichten und bereits von Angela und den Freaks der Sonnen-Kommune erwartet wurden. Durch die geöffnete Wohnungstür drang das Klingeln des Telefons. Dann eine gedämpfte Stimme: »Der vierundachtzigste Solidaritätsanruf!«
»Wo habt ihr so lange gesteckt?«, fragte Angela mürrisch. Robby hob den Kopf, halb noch auf der Treppe stehend, so dass er zu ihr hinaufblicken musste, und litt vorübergehend unter einer absurden perspektivischen Verzerrung. Angela wirkte klein, doch dies lag nicht allein an den erstaunlichen Sichtverhältnissen, die die dritte Acapulco-Gold in ihm ausgelöst hatte, denn selbst unter anderen Umständen war sie zierlich, ohne jedoch schmal zu sein, und ansonsten war sie ganz und gar nicht hellhäutig und blass wie die meisten Frauen, sondern schwarzhaarig und schwarzäugig und von einem dunklen Teint, fast von der Farbe, wie ihn ein schwachgehäufter Löffel Kakaopulver in einer Tasse Milch erzeugte. Robby war überrascht, wie die Dinge von der letzten Treppenstufe aus verändert wirkten und ihren richtigen Stellenwert erhielten. Alles in allem war Angela ein verflixt hübsches Mädchen, und es war wirklich tragisch, dass ihre Gedanken gewöhnlich um die Göttlichkeit der Sonne kreisten.
»Kommt rein«, erklärte das Mädchen und griff nach dem zuoberst liegenden Flugblatt, auf dem in großen Lettern HÄNDE WEG VOM HOLUNDERBERG! stand. Sie rümpfte die Nase und ging voraus in die menschenüberlaufene Wohnung, wo Schreibmaschinen tickten und Gesprächsfetzen wie fette Schneeflocken bei einem Blizzard tanzten, während Mitglieder der Bürger gegen Baumafia-Initiative ein und aus gingen.
Ächzend setzte Robby den Karton ab und massierte sein schmerzendes Kreuz. »Wie sieht's aus?«, erkundigte er sich und sah Angela wieder an und hatte mit einem Mal den verrückten Wunsch, wie eine Supernova zu explodieren und sie mit seinen feurigen Protuberanzen-Armen an die Brust zu drücken. Sie musterte ihn kritisch und knöpfte mit dem Instinkt des Weibes ihren obersten Blusenknopf zu, so dass ihm der Blick auf die volle Rundung ihrer Brüste von nun an verwehrt blieb und Robbys Supernova zu einem Schwarzen Loch zusammenschrumpfte. »Der DGB hat sich der Bürger gegen Baumafia-Initiative endlich angeschlossen«, sagte sie und überflog flüchtig das Flugblatt. »Das wird uns organisatorisch mächtig auf die Sprünge helfen und die Bonzen davon abhalten, direkt mit ihren Panzerwagen und chemischen Keulen hier einzumarschieren. Außerdem haben wir einen Haufen Solidaritätsadressen bekommen, unter anderem von der SDAJ, der Bewegung Bewusster Schwuler, dem PEN, dem SPD-Unterbezirksverein von Plusendorf an der Plumpe, sogar unterzeichnet vom Ortsgruppenvorsitzenden Daniel Herbst, der DKP-Betriebsgruppe Deutschchemie, dem Internationalen Komitee für die Rechte lesbischer Lehrerinnen, der Fakultät der Universität Berlin, der SMV des Schulzentrums Süd, von Professor Sulzmann, Lehrstuhlinhaber für Parapsychologie an der Universität Heidelberg, der Alternativen Liste NRW, dem VVN, dem Antifa-Aktionskreis von Wetzlar, der DFG-VK, dem Jugendzentrum Börse, dem BBU, der Gesellschaft für Aussöhnung und Entspannung, dem Alterspräsidenten des Bielefelder Rentnerclubs Graue Panther und einem Haufen anderer Organisationen, Gruppen, Grüppchen und Privatleuten.«
»Ermutigend«, frohlockte Robby. »Und was ist mit den Radikaldemokraten? Denen müsste es doch möglich sein, im Stadtrat etwas dagegen zu unternehmen...«
»Zur Zeit laufen da noch Gespräche.« Das Mädchen gähnte ausgiebig. »Wird schon werden. Wir haben jetzt andere Sorgen. Das Zeug hier muss schleunigst verteilt werden, und ich schätze, dass du der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort bist, um diese Aufgabe...«
11
Wir stellen fest: Es gibt ein Grundrecht auf ausreichenden Wohnraum, den jeder Mensch zur freien Entfaltung seiner Persönlichkeit benötigt. Wir stellen fest: Dieses Grundrecht ist in Gefahr, durch ein republikweites Spekulanten-Unwesen ausgehöhlt zu werden. Es ist bekannt, dass bereits zehn Millionen Menschen, also fast ein Sechstel der Bevölkerung, unter unzureichenden und unwürdigen Bedingungen wohnen. Und über jene, die sich ihr Grundrecht durch überhöhte Preise erkaufen müssen, gibt keine Statistik Auskunft...
Auszug aus einem Grundsatzpapier zum 10. ordentlichen Parteitag der Radikaldemokratischen Partei.
12
»Wie? Ich weiß von nichts. Nie gehört. Wie? Warum fragen Sie mich das überhaupt? Wie? Nein, offiziell bin ich überhaupt nicht informiert. Der Antrag fehlt, wenn... Im Übrigen ist dies eine Entscheidung des Rates... Wie? Nein. Natürlich nicht. Die Verwaltung prüft, der Rat beschließt. Objektiv. Natürlich objektiv... Wie? Auf keinen Fall. Dafür verbürge ich mich. Nein,
nein. Davon weiß ich nichts. Wie? Wie?«
Oberstadtdirektor Pfeife in einem Interview der Alternativ-TV.
13
PFEIFE IST UND BLEIBT WAS ER IST
Flugblatt-Text.
14
»...und es ist völlig klar, dass wir uns das auf keinen Fall bieten lassen werden. Auf keinen Fall, unter keinen Umständen!« Die Stimme von Sigrun Hammerweh, Landesjugendsekretärin des DGB und neuestes Mitglied der Bürger gegen Baumafia-Initiative, ergoss sich mit mehreren hundert Watt aus den Lautsprechertürmen von Pete Paranoia & his Nightmares. Beifall brandete auf, wälzte sich wie ein gewaltiger akustischer Wurm durch die menschenüberlaufene Straße, die sich oben auf dem Kamm des Holunderberges zu einer Kreuzung verbreiterte und der Demonstration der Bürger gegen Baumafia-Initiative genug Platz bot. Bürgersteig, Straßen und sämtliche Fenster waren schwarz von Menschen. Rote Fahnen und Transparente wurden geschwenkt. »Jawoll!«, tönte es
zustimmend aus der Menge. Und: »Wir haben auch Rechte!« Und: »Das kann man mit uns nicht machen!« Und: »Bravo! Ein wahres Wort zur rechten Zeit!« Und: »Ich denk', das is'n Rockfestival?«
Robby stand eingekeilt in der Menge, neben ihm Angela, und mit einem feinen lästerlichen Lächeln nahm er den Druck ihres warmen Körpers zur Kenntnis. Irgendwo vor ihm schwenkte Don the Dope seine Gitarre, ein wenig seitlich versetzt klatschten Terrier Protkop und Anhang enthusiastisch Beifall, lautstark unterstützt von der Witwe Rumberger und jener jungen blonden Maid, deren Badeshow Robby des Öfteren durch das gardinenlose Badezimmerfenster des gegenüberliegenden Gebäudes hatte beobachten können.
»Man wird versuchen«, setzte die Landesjugendsekretärin ihre Rede fort, »uns zu kriminalisieren. Man wird versuchen, Dreck über uns auszuschütten, um die öffentliche Meinung - pardon, die veröffentlichte Meinung - gegen uns aufzubringen. Aber dafür ist es bereits zu spät. Wir plädieren nicht dafür, den Holunderberg in seiner jetzigen Form zu belassen. Wir plädieren auch nicht für einen allumfassenden Kahlschlag, nur um die Grundstücke irgendwelchen Geschäftemachern in den Rachen zu werfen. Unsere Forderung ist klar: Sanierung statt Planierung! Und gemeinsam werden wir es schaffen. Nur gemeinsam sind wir stark; stark genug, um Nowossny und dem Stadtrat zu widerstehen. Stark genug, um unsere Rechte durchzusetzen. Wir geben nicht nach.«
Wieder brandete Beifall auf, flatterte wie ein Vogel über die zahllosen Köpfe, und es waren Greise und Kinder, Männer und Frauen, Jugendliche und Junggebliebene, die hier standen und zeigten, dass sie sich nicht herumstoßen ließen wie ausrangierte Möbelstücke. Mehr als die Hälfte der Holunderberg-Bewohner und viele Bürger aus der restlichen Ruhrstadt nahmen an dieser Protestversammlung teil, und befriedigt erkannte Robby, wie die grünlackierten Mannschaftswagen der Bereitschaftspolizei unter dem Druck des Beifalls zögernd in die Seitenstraßen zurückwichen. Robby hatte fast Mitleid mit den Polizisten, von denen manche vermutlich mit den Demonstranten sympathisierten, aber die Anordnungen des Polizeipräsidenten und Stadtrates befolgen mussten.
Es war klar, dass Pfeife und die Nowossny-Gang nur auf einen Zwischenfall warteten, um die Bürger gegen Baumafia zu kriminalisieren und die Demonstration mit Gewalt zu zerschlagen.
Unruhe keimte plötzlich in Robby auf. Forschend sah er sich um, sah in verschwitzte Gesichter, gerötet von der Wärme des Maitages, sah Augen, die blitzten und funkelten und nicht mehr stumpf und kraftlos waren wie in der Vergangenheit, und es war wirklich erstaunlich, was Nowossny binnen kurzer Zeit zustande gebracht hatte.
Eine Stimme gellte auf. »Geh'n wir runter in die Stadt und zeigen wir denen, was 'ne Harke ist!«
Die Stimme war wie ein Stich, wie der Biss einer Flamme, und der Argwohn schlug über Robby wie eine dunkle Welle zusammen. Er tauschte mit Angela einen knappen Blick, und in ihren zärtlichen, spitzbübischen Mauseaugen sah er, dass sie ebenfalls verstanden hatte und sein plötzliches kaltes Misstrauen teilte.
In der Menge schüttelte jemand drohend eine Faust. »Wir holen Pfeife aus dem Rathaus!«, brüllte die gleiche Stimme und ein Arm schleuderte einen Flachmann in die Richtung der Polizisten, während die Landesjugendsekretärin des DGB das eilends zusammengezimmerte Podium frei machte und Otto Adalbert Mühleisen, Tabakwarenladenbesitzer auf dem Holunderberg und erbitterter Feind Nowossnys und seiner Sippschaft, Solidaritätsadressen zu verlesen begann.
»Komm«, sagte Robby kurz zu Angela und begann sich durch die Menge zu schieben, hin zu dem Großmaul, das unverdrossen weiterhetzte und allmählich zustimmendes Gemurmel erntete. Aus einer Seitenstraße schob sich langsam und leise brummend und wie abgesprochen der erste gepanzerte Wagen. »Man muss Nowossny und Pfeife aufhängen«, machte sich der Schreier wieder bemerkbar.
Eine Hand berührte Robbys Schulter. Er sah sich um, lächelte schwach. Es war Hubert Hetschneider, gefolgt von einigen grün geschminkten Mitgliedern der Sonnen-Kommune. »Da macht einer Stunk«, raunte Hubert ihm zu. Er war klein und blass, und seine Haare begannen an den Schläfen bereits zu ergrauen. »Es ist widerlich, wer sich heutzutage alles einmischt. Die Leute werden schon unruhig.« Gewöhnlich verbrachte Hubert Hetschneider seine Zeit damit, aus leeren Eierkartons surrealistische Aktionsskulpturen zu basteln, die er nach Fertigstellung mit den Freaks der Sonnen-Kommune auf dem Hinterhof verbrannte, als Symbol für die Vergänglichkeit des Menschen und den Triumph der Braunsehen Bewegung, aber seit er - wie alle Bewohner des Holunderberges seinen Kündigungsbrief erhalten hatte, setzte er seine gesamte künstlerische Energie für das Design der Flugblätter der Bürger gegen Baumafia ein. Gemeinsam drängten sie sich durch die widerstrebend zur Seite weichenden Massen und erreichten endlich den Schreihals, einen zerlumpten, langhaarigen jungen Burschen mit fanatisch glühenden Augen, dessen Lumpen allerdings einen gepflegt-zerlumpten Eindruck machten, dessen Haare nach Shampoo und Man No. 1 dufteten, und dessen Fanatismus durch einen Schnellehrgang erworben worden war.
»Wir werden den Bonzen zeigen, wer die Macht hat«, grölte der Bedarfs-Revoluzzer und schüttelte wieder die Fäuste mit den manikürten Fingernägeln. Dann war Robby auch schon bei ihm und packte ihn am Nacken und schrie: »Halt's Maul, Paul! Was soll dieser Mist? Das hier ist eine friedliche Demo, und Nowossny soll mich holen, wenn ich zulasse, dass so ein verdammter Brüllaffe den Bullen Gelegenheit zum Zuschlagen gibt. Ist das klar - und wer bist du überhaupt? Du wohnst doch gar nicht auf dem Holunderberg, eh? Ich hab dich nie gesehen, und das ist doch verflucht komisch, dass du jetzt anfängst, hier als Stinker aufzutreten. Wer bist du, he?«
»Lass mich los«, schnauzte der Bursche und versuchte Robbys Hand abzuschütteln. Mit einem Ruck befreite er sich dann, trat Robby gegen das Schienbein und rannte davon, während Hubert Hetschneider ihm nachsetzte und ihn an der künstlich ausgeflippten Schmuddeljacke zu fassen bekam, auf der MARX FOREVER mit rotem Zwirn eingestickt war, und es gab ein reißendes Geräusch, und der Second-Hand-Politrocker stand im Hemd da, bis er sich mit Zähnen und Klauen durch die Menge wühlte und irgendwo in einer Seitenstraße hinter einer Grünen Minna Schutz suchte und verschwand.
Robby rieb sich das schmerzende Schienbein und fluchte.
»Da soll mich doch der Irrsinn beißen«, entfuhr es Hubert Hetschneider, dem Eierkartonaktionskünstler vom Holunderberg, und er schwenkte entrüstet einen Dienstausweis, der aus der funkelnagelneuen Lumpenjacke des Schein-Radikalen gefallen war. »Ein mieser Provokateur, Robby. Das ist die Höhe! Das Fass ist voll.« Er gestikulierte wild und winkte dem Livemann fordernd zu, der ein wenig überhöht auf einem Treppenabsatz über der Menge stand und mit seiner tragbaren Videokamera die Demonstration für die Ruhrstädter Alternativ-TV filmte. »Das bricht der Sippschaft das Genick«, schäumte Hubert. »Das bringen wir ins Fernsehen und...«
15
STRASSENSCHLACHT IN RUHRSTADT
Militante Demonstranten verwüsteten gestern in Ruhrstadt ganze Straßenzüge und stießen wüste Morddrohungen gegen Oberstadtdirektor Pfeife aus. Zentrum der schlimmsten Ausschreitungen seit Jahren war das Gebiet des wegen seiner hohen Kriminalitätsrate berüchtigten Holunderbergs. Nur mit knapper Not entkam ein Beamter des LKA den Angriffen mehrerer linksradikaler Gewalttäter. Unverständlicherweise ließ die Polizei die Extremisten gewähren und sicherte auf Kosten der Steuerzahler darüber hinaus die auch vom DGB mitgetragene Demonstration. Oberstadtdirektor Pfeife nahm die Ausschreitungen zum Anlass, vor einer Aushöhlung des Demonstrationsrechtes durch radikale Gruppen zu warnen. Gleichzeitig kündigte er scharfe Maßnahmen...
Artikel in video-bild.
16
DGB GEGEN BAUSPEKULANTEN
Flugblatt-Text.
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»Notfalls versuchen wir es auch ohne Gewalt.«
Karl C. Nowossny, nach einer unbestätigten Meldung von Alternativ-TV.
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...und Angela lag unter ihm, ein hominider Asteroid, der weich und warm und sehnsuchtsvoll die Landung des terrestrischen Raumschiffes erwartete. Das schwere Keuchen des Sonnenwindes lag über dem All, der parsekweiten Finsternis, die nur durch das Glühen von Raumschiff und Landeplatz gemildert wurde. Robby senkte sich langsam, dirigierte die Planetenfähre, bis die zahllosen synaptischen Computer des Limbischen Systems keinen Zweifel mehr an der Richtigkeit des Rendezvous-Punktes besaßen und der letzte Düsenstoß das Raumschiff hineinführte in die Schleuse des Asteroiden, tiefer in den Landetunnel hinein, und die Reibungshitze ließ Trägerschiff und Asteroiden verschmelzen, so dass sie eins wurden, in Gestalt und in Gedanken, und sich hinaufschaukelten bis zu jenem Punkt, wo das Gitternetz des Kosmos zerriss und sich die Pforten zu einer höheren, unbegreiflichen Dimension öffneten, in dem es nichts gab, nichts, nur sie beide auf ihrem himmelhohen Flug über die Grenzen von Raum und Zeit...
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StV Trolle ( radikaldem. Fraktion): Ist Ihnen bekannt, Herr Baudezernent, dass Ihr Schwager, Josef Polter, bis vor kurzem Leitender Direktor der Wohnungsbau GmbH & Co KG und beteiligt an den Vorplanungen des Holunderberg-Projektes...
(Zwischenruf Kommunisten raus!; Unruhe bei den Vertretern der radikaldemokratischen Fraktion; weitere Zwischenrufe.)
Baudezernent Jonegan: Mmm. Was will'n der, Pfeife?
OStD Pfeife: Wie?
(Zwischenruf: Und was ist mit diesem Schweizer Bankkonto?)
StV Bange (konservative Fraktion): Ich leite die Sitzung und bestimme die Reihenfolge der Fragen...
(Zwischenruf: Denk ich an Unterammergau, seh ich einen Bauernhof; Gelächter; leichte Unruhe bei den Vertretern der konservativen Fraktion; Heiterkeit bei den Sozialliberalen.)
StV Bange (konservative Fraktion): Ruhe. Wer sich nicht an die Geschäftsordnung hält, wird des Saales verwiesen. Stadtverordneter Fröhlich, bitte.
(Zwischenruf: Der ist doch nur so fröhlich, weil ihm Nowossny genügend Geld in den Arsch steckt.)
St V Bange (konservative Fraktion): Ruhe!
Baudezernent Jonegan: Was is'n hier los?
StV Fröhlich (konservative Fraktion): Herr Baudezernent, was ist - Ihrer Meinung nach - Ursache für die derzeitige radikale Verleumdungskampagne gegen das Wohnraumbeschaffungsprogramm Holunderberg?
Baudezernent Jonegan: Was is'n das für'n Scheiß?
(Befremden unter den Stadtverordneten; Zwischenrufe Der Kerl ist ja betrunken; Wie immer! Gelächter.)
StV Immer (konservative Fraktion): Herr Dezernent, ich möchte die Frage meines Vorredners aufgreifen und insbesondere...
Baudezernent Jonegan: Pfeife, man hat mir was reingetan...
OStD Pfeife: Wie?
StV Bange (konservative Fraktion): Herr Baudezernent, darf ich fragen...?
Baudezernent Jonegan: Nein, du Affe.
OStD Pfeife: Herr Jonegan!
Baudezernent Jonegan: Wie?
StV Immer (konservative Fraktion): Würden Sie bitte auf meine Fragen antworten, Herr Dez...
Baudezernent Jonegan: Geh' mir nicht auf'n Geist, du Arsch.
StV Bange (konservative Fraktion): Mäßigen Sie sich, Jonegan.
(Zwischenrufe; Unruhe.)
Baudezernent Jonegan: Hurensöhne. Man hat mir was reingetan... He, Pfeife, weißt du, was deine Frau jetzt treibt?
OStD Pfeife: Wie?
Baudezernent Jonegan: Die treibt's mit Petroli.
OStD Pfeife: Wie?
StV Bange (konservative Fraktion): Jonegan, wie kommen Sie...?
(Zwischenruf: Die erste interessante Sitzung dieser Legislaturperiode; Buhrufe; Gelächter bei der radikaldemokratischen Fraktion.)
Baudezernent Jonegan: Halt's Maul, Bange. Du weiß doch am besten, wie's bei so Orgien zugeht. Schnaps und Weiber, wie? Hab ich dich nicht letztens bei Nowossny gesehen?
StV Bange (konservative Fraktion): Ich verbitte mir...
Baudezernent Jonegan: He, klar. Im Blauen Salon, mit nacktem Arsch und zwei Weibern, die genauso viel trugen wie jetzt Pfeifes Alte.
OStD Pfeife: Jonegan, Sie... Das wird ein Nachspiel haben. Darauf können Sie sich verlassen.
Baudezernent Jonegan: Wie?
(Zwischenrufe: Tragt den Kerl weg; Unverschämtheit; Bravo, weiter so; Tumulte; Gelächter bei der radikaldemokratischen Fraktion.)
Illegaler Mitschnitt einer außerordentlichen nicht-öffentlichen Sitzung des Stadtrates von Ruhrstadt - Hearing Holunderberg-Problem.
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STOPPT DIE SPEKULANTEN! JETZT!
Flugblatt-Text.
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...hat die rechte Seilschaft im Ruhrstädter Rathaus erneut eine Kostprobe ihres bereits sattsam bekannten Talentes zur Verhetzung und Vernebelung gegeben. Während Pfeife, Oberstadtdirektor von Ruhrstadt, Bauernhofbesitzer in Unterammergau und gefürchteter Blut-und-Boden-Mystiker der konservativen Fraktion, die nahende Krise der Ratssitzung durch seine bekannten nichtssagenden Statements zu verzögern suchte und mehrere Minuten für Unruhe im Saal sorgte, bis ihn sein einsichtiger Referent (und nebenberuflich Pfeife-Lobhudeler in der W AZ) in die hinteren Ränge zerrte, verzettelte sich Baudezernent Jonegan bei dem anschließenden Hearing durch zeitraubende Nebensächlichkeiten und peinliche Ausbrüche. Jonegan, sturzbetrunken und von den Drahtziehern der Holunderberg-Affäre nur ungenügend auf die Fragen der Ratsmitglieder vorbereitet, ließ es sich nicht nehmen, im Zuge der Anhörung statt Informationen über die Nowossny-Pfeife-Bange-Verschwörung pikante Details über das Privatleben der illustren Politaristokratie von Ruhrstadt zu liefern. Weitere Nachforschungen wurden allerdings durch das einmütige Verlassen des Saales durch die konservative und sozialliberale Fraktion verhindert. Den Vertretern der Radikaldemokraten blieb eine weitere Anhörung des unglücklichen Baudezernenten leider verwehrt. Jonegan, von alkoholseliger Müdigkeit überrascht, schlief seinen Rausch auf dem Boden des Ratssaales aus und wurde von OStD Pfeife und seinem Referenten aus dem Raum geschleift.
Das eigentliche Problem, die Holunderberg-Affäre, blieb – natürlich - unerörtert.
Artikel in DIE NEUE TAGESZEITUNG.
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