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Die größte Reise ist das Leben selbst: Der berührende Roman »Karl Konrads heimliches Afrika« von Florian Beckerhoff jetzt als eBook bei dotbooks. Seit sein Vater und Bruder nach Afrika ausgewandert sind, lebt Karl Konrad mit seiner Mutter allein in einem kleinen Haus am Dorfrand. Niemals würde der Eigenbrödler sich so weit von zu Hause weg trauen – doch als eine Postkarte von seinem Bruder im Briefkasten liegt, kommt er ins Grübeln … Liegt das Abenteuer wirklich immer in der Ferne? Als der benachbarte Zirkus pleite geht und all seine Tiere verkaufen muss, fasst Karl einen Entschluss: Er baut sich sein ganz eigenes, heimliches Afrika – direkt hinter dem Waldrand! Bald wimmelt es um Karls Haus nur so vor Leben: Zebras, Giraffen, Strauße und sogar ein gutmütiges Flusspferd namens Esmeralda finden hier ihr neues Zuhause … Aber wie lange kann Karl dieses Paradies für sich behalten? Und was werden die anderen Dorfbewohner sagen, wenn sie davon erfahren? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der warmherzige Roman »Der Weltenträumer: Karl Konrads heimliches Afrika« von Bestsellerautor Florian Beckerhoff wird alle Fans von Fredrik Backman und Carsten Henn begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 307
Über dieses Buch:
Seit sein Vater und Bruder nach Afrika ausgewandert sind, lebt Karl Konrad mit seiner Mutter allein in einem kleinen Haus am Dorfrand. Niemals würde der Eigenbrödler sich so weit von zu Hause weg trauen – doch als eine Postkarte von seinem Bruder im Briefkasten liegt, kommt er ins Grübeln … Liegt das Abenteuer wirklich immer in der Ferne? Als der benachbarte Zirkus pleite geht und all seine Tiere verkaufen muss, fasst Karl einen Entschluss: Er baut sich sein ganz eigenes, heimliches Afrika – direkt hinter dem Waldrand! Bald wimmelt es um Karls Haus nur so vor Leben: Zebras, Giraffen, Strauße und sogar ein gutmütiges Flusspferd namens Esmeralda finden hier ihr neues Zuhause … Aber wie lange kann Karl dieses Paradies für sich behalten? Und was werden die anderen Dorfbewohner sagen, wenn sie davon erfahren?
Über den Autor:
Florian Beckerhoff, geboren 1976 in Zürich, wuchs in Bonn auf. Nach seinem Studium der Literaturwissenschaften in Berlin und Paris promovierte er an der Universität Hamburg über literarische Schwerversprecher und arbeitete danach unter anderem als Sprachlehrer, Museumswärter und Werbetexter. Seinem Bestseller »Frau Ella«, der mit Matthias Schweighöfer verfilmt wurde, folgten zahlreiche Romane und Kinderbücher. Florian Beckerhoff lebt heute mit seiner Familie in Berlin.
Bei dotbooks veröffentlichte Florian Beckerhoff seine Romane »Frau Ella«
»Das Landei«
»Ein Sofa voller Frauen«
»Die Geschichtenerzählerin: Ein Sommer bei Gesomina«
»Die Glückssuchenden: Herrn Haiduks Laden der Wünsche«
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eBook-Neuausgabe Juli 2024
Dieses Buch erschien bereits 2014 unter dem Titel »Karl Konrads heimliches Afrika« bei Ullstein.
Copyright © der Originalausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2012/List Verlag
Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive
von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)
ISBN 978-3-98952-252-7
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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13, 4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/egmont-foundation. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!
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Florian Beckerhoff
Der Weltenträumer: Karls Konrads heimliches Afrika
Roman
dotbooks.
für Silke und Victor
Als es am späten Vormittag dieses schon recht warmen Frühlingstages an der Haustür der Konrads klopfte, wusste Karl gleich, dass Hubertus ihm etwas zu übergeben haben würde. Die Zeiten, da der Briefträger ohne handfesten Grund bis an die Tür kam, waren lange vorbei. Zu straff war die Route mittlerweile durchgeplant, zu unvorhersehbar die Qualitätssicherungskontrollen des global agierenden Postdienstleisters. Es musste sich um ein Paket handeln oder um ein Einschreiben oder aber um eine Sendung per Nachnahme, wobei Karl nicht hätte sagen können, welche der drei Überraschungen ihm am liebsten gewesen wäre. Zweifellos hätte er aber jede der drei Möglichkeiten dem vorgezogen, was ihn dann tatsächlich erwartete, nachdem er die Flamme unter dem Gemüseeintopf kleiner gestellt hatte und mit umgebundener Schürze zur Haustür geschritten war. Schon durch das von dünnen Drähten durchzogene Milchglas erkannte er Hubertus an seiner massigen Erscheinung.
»Mahlzeit«, grinste der Postbote, kaum hatte Karl die Tür einen Spalt weit geöffnet.
»Hubertus«, sagte er. »Was gibt’s denn?«
»Du wirst es nicht glauben, aber ich konnte einfach nicht anders als draufgucken.«
»Wo drauf denn?«
»Briefgeheimnis gilt ja nur für Briefe.«
»Wieso Geheimnis?«
»Hier«, sagte Hubertus und streckte ihm die rechte Hand entgegen, in der sich ein einziges kleines Stück Pappe befand. Eine Postkarte. »Die ist von Tommy.«
Karl griff nach der Karte und betrachtete das leicht vergilbte Bild auf der Vorderseite. Zwei Zebras weideten in einem Sonnenuntergang. Durch den tiefroten Himmel zogen sich wurmartige Wülste. Die Karte hatte wohl eine beschwerliche Reise hinter sich, in deren Verlauf es zu heftigem Knicken gekommen war. Der geringste Vorwurf war dafür sicherlich Hubertus zu machen. Der beäugte Karl noch immer gespannt auf eine Reaktion. Er musste zügig weiter, wenn er keinen Ärger riskieren wollte.
»Und?«, fragte er deshalb nach einer kurzen Weile.
»Ja«, sagte Karl.
»Ja was?«
»Ja eben.«
»Eben was?«
»Ja das! Das hier!«, meinte Karl ganz unerwartet aufgeregt. »Sind das jetzt weiße oder schwarze Streifen?«
»Entschuldige?«
»Die Dinger hier, die Zebras. Sind die schwarz mit weißen oder weiß mit schwarzen Streifen?«, fragte Karl und hielt die Karte so, dass Hubertus freie Sicht hatte auf die Tiere, die er am Morgen längst ausgiebig studiert hatte.
»Dem Kleinen scheint’s ja prächtig zu gehen da unten. Hatte wohl recht, sich davonzumachen«, versuchte er das Gespräch in die Bahnen zu lenken, die ihn viel stärker interessierten als das So-oder-so-Gestreiftsein der Zebras. »Seit wann ist der noch weg? Jahre muss das her sein.«
»Vermutlich sind sie schwarz, so wie die Menschen da«, sagte Karl wieder ruhiger. »Ja, schwarz mit weißen Streifen.«
Hubertus brauchte eine Weile, um Karls Gedankengang nachzuvollziehen.
»Zwei haben sie neulich hier gesehen«, meinte er schließlich.
»Was haben sie?«
»Richtige Schwarze.«
»Zwei schwarze Zebras?«
»Nein, richtig schwarze Menschen.«
Karl blickte an Hubertus vorbei auf die unbewohnten Bungalows gegenüber. Keine Wolke war am Himmel. Auch heute würde es nicht regnen.
»Na und?«, fragte er. »Ist das ein Grund zu stören?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte Karl sich ab und ging zurück ins Haus. Leise schloss er die Tür, um seine im Wohnzimmer ruhende Mutter nicht zu wecken. Die Postkarte legte er auf das Telefontischchen.
Zurück in der Küche, gelang es Karl einige Minuten lang, sich ganz auf die Möhren und Selleriestauden zu konzentrieren. Kaum waren die aber gestückelt und im Eintopf versunken, tauchten in seinem Kopf genau die Erinnerungen auf, die Hubertus so sehr interessierten. Immer wieder blickte Karl über die Schulter zurück in den Flur. Hastig griff er in das schmale Holzregal über dem Herd, nahm Salz und Pfeffer, um sich würzend auf andere Gedanken zu bringen. Ein Blick auf die Küchenuhr bestätigte ihm, dass er spät dran war. Es war ihm wichtig, dass seine Mutter pünktlich zu Mittag aß, und auch er selbst spürte den Magen knurren. Rasch ging er ins Wohnzimmer.
Karls viel zu langer Rücken schmerzte unter der Last seiner Mutter. Er versuchte, sich nichts davon anmerken zu lassen. Da sie wenig tun konnte, um ihm die Arbeit zu erleichtern, dauerte es einige Minuten, bis sie auf eigenen Beinen stand und sich von ihm an den längst eingedeckten Esstisch führen ließ. Mit zwei Ecken schlossen die Tischdeckenschoner an die Rundung der weiß betuchten Tischplatte an. Der unterste Punkt des jeweiligen Tellerrandes wiederum lag genau über der Unterkante des zugehörigen Tischdeckenschoners. Wie jeden Mittag setzte Karl seine Mutter auf den in Richtung Fenster blickenden Platz. Mit aller Kraft schob er sie bis an die Tischkante heran, damit Eintopfelemente, die auf dem Weg zu ihrem Mund verlorengehen würden, nicht auf den nur mühselig zu reinigenden Teppich fielen. Auf dem hinterließen die mit Metall beschlagenen Füße des Stuhls parallele Streifen, die Karl mit einem raschen Fußwischer entfernte. Verdammte Streifen! Auf dem Weg zurück in die Küche blickte er bewusst nicht in Richtung des Telefontischchens.
Nachdem Karl sich davon überzeugt hatte, dass die Kartoffeln ausreichend weich gekocht waren, nahm er den Eintopf von der Flamme und schüttete ihn schwungvoll in die bereitstehende Suppenschüssel. Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer stieß er fast gegen den Türrahmen, da er nicht anders konnte, als nach der Postkarte zu sehen. Verdammter Hubertus! Der hätte die Karte wie alle anderen Postsendungen auch in den Briefkasten werfen sollen, wo sie jetzt läge, ohne ihn zu belästigen! Denn Karl hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, erst nachmittags nach der Post zu sehen. Derart in Gedanken erreichte er schließlich unbeschadet den Esstisch, stellte die Suppenschüssel zentral zwischen die beiden Gedecke und gab seiner Mutter auf. Erst dann bediente er sich selber.
»Mahlzeit, Mama«, sagte er.
Sie aßen schweigend. Immer wieder fielen der Mutter einzelne Stücke vom Löffel auf die Tischdecke. Karl versuchte, sich auf sein Essen zu konzentrieren. Jedes Schmatzen seiner Mutter, jeder dumpfe Aufprall eines Stücks Gemüse ließ ihn jedoch mit einem leichten Stirnrunzeln in Richtung des Telefontischchens blicken. Natürlich hatte auch Mutter Konrad das ungewohnte Klopfen an der Haustür gehört.
»Es war nichts«, sagte er schließlich. »Hubertus hat sich vertan.«
Die Mutter schwieg wie schon so lange.
Sobald sie ihm signalisierte, dass sie genug gegessen habe, stand er auf, deckte Teller, Besteck und Suppenschüssel ab und ging in die Küche, um Kaffee zu kochen. Als er zurück ins Wohnzimmer kam, zeigte die Mutter lächelnd in Richtung des Radios, woraufhin er ihr den gewohnten Sender einstellte. Wie üblich hatte er am Abend auf seine Frequenz geschaltet, um das klassische Konzert zu hören. Mutter Konrad lauschte am liebsten den glücklichen Schlagern.
Weit, weit hinaus aufs Meer, treibt mich die Sehnsucht sehr …
Karl hatte vergessen, den kleinen Wasserboiler über dem Waschbecken einzuschalten, als er den Kaffee aufgesetzt hatte. Während das Wasser sich jetzt immer lauter rauschend erhitzte, füllte er den Rest des Eintopfs in eine der großen Plastikschalen, die er mit Frischhaltefolie bedeckte und in den Kühlschrank stellte. Der Aufschnittvorrat neigte sich dem Ende zu. Später würde er ins Dorf zur Fleischerei gehen müssen. Auch die Butter reichte nur noch zum Abendbrot, und das, obwohl er immer darauf achtete, im Supermarkt genug für die Woche einzukaufen.
Aus dem Wohnzimmer drang die Stimme des Nachrichtensprechers. Seit fast zwei Monaten hatte es nicht geregnet, was für die Jahreszeit nicht typisch war. Für die kommenden Tage erwartete man feuchte Luft von Norden. Es folgte Musik, und endlich kochte auch das Wasser im Boiler. Karl griff nach den dunkelvioletten Haushaltshandschuhen. Seine Finger waren ein gutes Stück zu lang. Das Gummi spannte unangenehm, doch er hatte alle verfügbaren Modelle ausprobiert. Verglichen mit dem Ärger, den sie beim Ausziehen machten, war das Überziehen ein Leichtes. Dann tauchte er die Hände ins Wasser. Mit einer kleinen Verzögerung drang die Wärme durch das Gummi.
Ziemlich genau in dem Moment, da Karls durchblutungsbedingt leicht unterkühlte Finger die Wärme des Abwaschwassers in sich aufsogen, trat Hubertus aus der fast schon sommerlichen Mittagshitze in den angenehm temperierten Verkaufsraum der Fleischerei im Zentrum des Dorfes. Das letzte hier verbliebene Geschäft führte eine multiple Existenz als Lebensmittelladen, Paketannahme, Zeitschriftenhandlung, Tabakbedarf, Touristeninformation, Fahrkartenverkauf, Imbiss, Stehcafé und nicht zuletzt auch noch als klassische Fleischerei mit Schlachtlizenz. Lange hatte der Fleischer nach einem Namen für sein Unternehmen gesucht, der dieser Expansion von Waren und Dienstleistungen angemessen Rechnung tragen könnte. Letztlich hatte er, der den Großteil des Tages in der zum Garten hin gehenden Wurstküche verbrachte, aber eingesehen, dass hier sprachlich nichts zu machen war. Eine Erkenntnis, die ihm nicht zuletzt die Anschaffung eines neuen Firmenschildes erspart hatte.
»Sag mal, du kennst dich doch mit Tieren aus«, sagte Hubertus zu Elke, der für ihre gut dreißig Jahre noch sehr jugendlich wirkenden Fleischereifachverkäuferin. Mit ihren anderthalb Metern schaute sie gerade eben über die Auslage, durch deren makellos poliertes Glas bei all der guten Wurst auch ihre drallen Rundungen ins Auge fielen.
Wie jeden Tag, an dem Post ausgetragen wurde, stärkte sich Hubertus auch heute mit einem kleinen Eisbein für den Rücktransport des Dienstfahrrads in die zentrale Verteilstelle. Früher hatte er es über Nacht behalten dürfen, aber auch die Zeiten waren vorbei.
»Was denn für Tiere?«, fragte Elke, während sie Bohnen- und Kartoffelsalat mit einem weißen Plastiklöffel umhob, damit sich keine trockenen Stellen bildeten.
»Zum Beispiel Zebras«, sagte Hubertus, ohne von seinem Teller aufzusehen.
»Zebras?«
»Ja, du hast doch sozusagen beruflich mit Tieren zu tun.«
»Das sind die mit den Streifen, oder?«
»Genau«, sagte Hubertus. Stundenlang hatte er über Karls seltsame Frage nachdenken müssen.
»Kann man die essen?«, fragte Elke. »Also, ich erinnere mich an nichts aus der Ausbildung. Vielleicht weiß da der Chef mehr.«
»Nee, lass den mal«, winkte Hubertus ab, da er sich plötzlich an seine Verschwiegenheitspflicht als Briefträger erinnerte.
Elke aber kannte ihn nach mehr als einem Jahrzehnt mittäglicher Plaudereien viel zu gut, um nicht zu wittern, dass er ihr etwas verheimlichte.
»Was interessieren dich denn Zebras?«, fragte sie, nachdem die Salate wieder wie gerade erst frisch zubereitet aussahen.
»Gar nicht«, schmatzte er vor sich hin. »Sind ja weit weg – in Afrika.«
Ob nun bewusst oder unbewusst, gab Hubertus Elke mit dieser beiläufig formulierten Antwort den entscheidenden Wink, in welche Richtung sie weiterbohren musste. Und wirklich, sie ließ genau die Zeit verstreichen, die nötig war, um klarzustellen, dass sie das Thema wechselten, sie also von alleine auf das Folgende zu sprechen kam. Dann sah sie wieder zu ihm rüber.
»Sag mal, den Tommy Konrad hat man auch seit Jahren nicht gesehen, oder?«
»Wen jetzt?«
»Na Tommy, den Bruder vom Karl, der nach Afrika ist, um den Vater zu suchen.«
»Ach der«, sagte Hubertus und nuckelte zum Abschluss seines Mittagessens an der verbliebenen Schwarte.
»Hat seinen Bruder einfach sitzengelassen, als die Mutter so krank wurde«, ergänzte Elke. »Aber was soll er auch hier, so mit Abitur?«
»Schön ist was anderes, klar. Erst der Vater, dann der Bruder, und Karl muss bleiben. Kann aber sein, dass Tommy geschrieben hat. Da war irgendwas heute. Eine Postkarte oder so. Mit Zebras drauf.«
»Mit Zebras? Ist ja ein Ding. Und das nach drei Jahren. Und was schreibt er?«
Was Elkes ganze Routine in Sachen Verhörtechnik, die sie betont halbinteressiert nachfragen ließ, nicht ganz überdecken konnte, war, dass Tommy Konrads Schicksal sie um ein Vielfaches stärker interessierte als der gewöhnliche Dorftratsch. Tommy war nicht nur der Einzige aus ihrem Grundschuljahrgang, der es aufs Gymnasium geschafft hatte, nein, er sah auch ganz gut aus und konnte schöne Augen machen, dass es sie jetzt noch wurmte, ihn damals nicht gekriegt zu haben. Und dann war ausgerechnet er nach Afrika. Wie alle Guten sich von hier verdrückten.
»Karl meint, ihm geht’s gut da unten.«
»Meint er?«
»Mhm.«
»Na dann.«
»Er fragt sich nur, ob diese Zebras weiß mit schwarzen Streifen sind oder umgekehrt.«
Hubertus’ Schulterzucken bestätigte Elke, dass auch er von der Reaktion des Bruders überrascht worden war. Mit einem kurzen Runzeln der fein gezupften Brauen signalisierte sie ihm, dass auch ihr Karls mit den Jahren zunehmende Kauzigkeit nicht entgangen war.
»Ich würde ja sagen Schwarz mit Weiß«, sagte sie schließlich. »So wie die Straße, also die mit Zebrastreifen.«
Hubertus nahm sich eine Minute, um Elkes Ansatz mit Karls Gedanken zu vergleichen. Auch ihre Argumentation war leicht angreifbar, da es die Streifen der Zebras bestimmt nicht erst nach den Zebrastreifen gegeben hatte. Angesichts ihres freundlichen Lächelns sah er dann aber keinen Anlass, ihr zu widersprechen.
»Das nenn ich mal ne logische Denke«, grinste er.
Zufrieden darüber, die schroffe morgendliche Abfuhr an Karl Konrads Tür durch diese feine mittägliche Unterhaltung wieder wettgemacht zu haben, zahlte Hubertus sein Eisbein und verabschiedete sich bis zum nächsten Mittag, für den Fall, dass man sich abends nicht im Adler sehen würde. Vor ihm lagen knapp zwölfeinhalb Kilometer auf dem Dienstfahrrad durch die Mittagshitze, zuzüglich der Fahrt zurück auf seinem eigenen Fahrrad. Es gab sicher Schlimmeres, aber ein Mittagsschlaf hätte ihm jetzt schon gefallen, nur käme er dann ganz sicher zu spät zur Fahrradabgabe. So gut Mittagessen und Mittagsschlaf theoretisch zusammenpassten, so wenig fanden sie nebeneinander Platz in seinem Zeitplan. Da musste man Prioritäten setzen. Der Gedanke an einen Mittagsschlaf ohne Mittagessen erschien Hubertus vollkommen unsinnig.
Karl Konrad hingegen hätte es seiner Mutter gleichtun und einen Großteil des Tages verschlafen können. Ihm wäre Derartiges allerdings nie in den Sinn gekommen. Gleich nach dem Abwasch hatte er sich darangemacht, den staubigen Gehweg vor dem Gartentor zu fegen. Auch die Straße war nicht asphaltiert. Hier standen Wochenendhäuser von immer seltener einfallenden Städtern. Links und rechts des Konradschen Grundstücks war die festgetretene Erde übersät von Flecken des gelblichen Blütenstaubs, der klimabedingt früher als sonst von den Bäumen herunterrieselte. Auf den gut sieben Metern, die Karl zu bearbeiten hatte, lag die Erde vom grobborstigen Besen fein strukturiert. Noch einmal machte er den ganzen Weg hin und zurück, wobei er den Besen hinter sich herzog, um sein Werk mit zwei parallel zur Straße verlaufenden Längsstreifen zu vollenden, die sich wiederum in zahllose Einzelstreifen gliederten. Abschließend betrachtete er das Ganze mit einem Ausdruck leichter Unzufriedenheit um die Mundwinkel, was nicht etwa daran lag, dass er schlecht gearbeitet hätte. Nein, auch die verdammten Streifen im Staub erinnerten ihn wieder an die Zebras. Selbst überrascht von der Heftigkeit seiner Reaktion, schlug er den Besen mehrmals auf den Gehweg, dass die Streifen nur so zerstoben, sich Inseln der Unordnung bildeten, die kaum noch von den Blütenstaubflecken zu unterscheiden waren. Dann wandte Karl sich plötzlich ab. Im Haus überzeugte er sich davon, dass seine Mutter schlief und das Glas Wasser gut erreichbar auf dem Sofatisch stand, und trat kurz darauf mit einer dunkelbraunen Umhängetasche ausgerüstet wieder auf die Straße. Ohne den Gehweg eines weiteren Blickes zu würdigen, ging er mit raumgreifenden Schritten in Richtung Hauptstraße, wandte sich dort nach rechts, versuchte auf den im Vorjahr neu gepflasterten Bürgersteigen so wenige Fugen wie möglich zu berühren und erreichte schließlich den zentralen Dorfplatz, in dessen Mitte die seit Jahrzehnten ungenutzte Kirche stand. Hier lag auch schon das Ziel seines kleinen Ausflugs, jene multifunktionale Fleischerei, in der Elke seit Hubertus’ Abschied keinen einzigen Kunden mehr hatte bedienen dürfen.
»Die Bratwurst«, fragte Karl, kaum hatte er den Verkaufsraum betreten. »Ist die mit Majoran?«
»Bratwurst ist immer mit Majoran«, sagte sie.
Karl überlegte einen Moment, ob er sich zum Abend wirklich eine Wurst gönnen sollte. Er verschob die Entscheidung, um zunächst das Pfund Butter und den fehlenden Aufschnitt zu bestellen.
»Ist aber gut, die Bratwurst«, sagte Elke schließlich, nachdem sie jeweils drei Scheiben Jagdwurst, Fleischwurst und Salami sowie einen kleinen Block halbgrober Gurkensülze abgewogen und in Papier geschlagen hatte.
Natürlich wusste Elke, dass Karl wusste, wie die Bratwurst schmeckte. Seit zehn Jahren wurde sie nach unverändertem Rezept zubereitet, weshalb Karls Frage nach der Verwendung von Majoran nur ein weiteres Indiz für seine zunehmende Verwirrtheit war. Doch Elke sah gar keinen Grund, das Spiel nicht mitzuspielen. Sie wollte Karl ja unbedingt in ein Gespräch verwickeln.
»Deine Mutter hat die immer gemocht«, sagte sie. »Als sie noch selber kommen konnte.«
»Ach ja?«
»Dein Bruder auch, bevor er nach Afrika musste.«
»Was heißt denn hier müssen?«
Die deutliche Reaktion überraschte sogar eine auf investigative Verkaufsgespräche spezialisierte Frau wie Elke, wobei sie eine gewisse Freude angesichts dieses schnellen Erfolgs kaum verheimlichen konnte. Ohne Hubertus in irgendeiner Weise zu verraten, hatte sie gleich ins Schwarze getroffen. Über die Auslage hinweg starrte Karl sie einen Moment lang an, als vermute er genau den richtigen Hintersinn ihrer Frage. Das war doch wohl kein Zufall und so weiter. Schnell aber bekam sein schmales Gesicht mit den beiden Falten zwischen Nasenflügeln und Mundwinkeln wieder seine gewohnt undurchdringliche Gleichgültigkeit. Dass ausgerechnet Karl nicht von ihr wollte, was er natürlich auch nie kriegen würde. Wo selbst bei niedrigeren Temperaturen kaum einer hier die Augen von ihr lassen konnte.
»Ich zahle«, sagte er.
Elke kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass sie heute nichts weiter von ihm erfahren würde.
»Zwei siebenundfuffzig«, las sie vom Bon ab, den die elektronische Kassenwaage ihr entgegenschob.
Karl zählte genau passend Münzen auf die Auslage, verstaute den kleinen Plastikbeutel in seiner Ledertasche und verließ grußlos den Laden. Elke stach mit einer Gabel in die zuoberst liegende Scheibe auf dem Fleischwurststapel, drehte diese geschickt ein und führte sie zum Mund. Wann hatte sie überhaupt angefangen, diese Wurst zu mögen, mit der man sie noch vor kurzem hätte jagen können? Wenn sie so weitermachte, musste sie bald neue Hosen kaufen. Kauend sah sie dem hageren Mann hinterher, der sich zügig vom Dorfzentrum entfernte. Die Sonne stand schon schräg. Karl Konrad warf einen bemerkenswert langen Schatten. Die Wurst schmeckte köstlich, das musste sie dem Fleischer lassen. Mit der konnte man sich gut einen Nachmittag vertreiben, an dem kein Kunde einen behelligte. Da hatte sie dann abends richtig Lust auf Bier und Quatschen unter Menschen.
»Du willst doch nicht zum Pack in die Spelunke gehen?«, hörte Elke ihren Chef auch an diesem Abend, als sie sich oben in ihrem Zimmer ausgehfertig machte.
Wieder einmal trat er ohne anzuklopfen ein. Sie stand vorm Spiegel und trug nicht allzu sparsam Lidschatten und Lippenstift auf, was sie tagsüber in der Fleischerei nicht durfte. Der Fleischer war schon im Anzug, einem Dreiteiler aus bestens gepflegter grauer Schurwolle, warum auch immer er das viel zu knappe Ding Abend für Abend anzog. Bei den herrschenden Temperaturen grenzte das an Wahnsinn, zumal es hier oben unterm Dach noch viel stickiger und heißer war. Mit ruhiger Hand zog Elke den Lippenstift nach, öffnete leicht den Mund, um ihren Chef zu ärgern. Ganz hinten im Spiegel sah sie die Matratze liegen, die ihr als Bett diente. Gleich daneben stand die Küchenzeile, ordentlich gescheuert und trotzdem unerträglich hässlich. Verglichen mit diesem Loch erschien sogar der Adler reizvoll wie die große weite Welt.
»Und das geht Sie was an?«, fragte sie.
»Ja, wen denn sonst, bitte?«
Er lächelte ungeschickt.
Die ersten Jahre nach dem Verschwinden seiner Frau hatte er sich noch redlich um Elke bemüht. Sie brauchte nach dem Tod der Mutter Ausbildung, Arbeit und Unterkunft, er jemanden für den Verkauf, der nicht komplett dumm war. In letzter Zeit aber schien er an Unredlicheres zu denken. Seit er von Elkes kurzem Intermezzo mit dem Fernradfahrer Wind bekommen hatte. Da hatte Elke die so ehrlich um sie werbenden Lokalmatadoren zutiefst verletzt, als sie im Adler mit dem knutschte, den seine Tour durch ganz Europa ausgerechnet hierhin führte, in dieses eine nie genutzte Fremdenzimmer gleich über dem Schankraum. Und dann hatte sie den unrasierten Sportler, der sie an Tommy Konrad denken ließ, später noch eingeladen, hier hoch über die Fleischerei auf einen Teller Wurstsalat. Und natürlich war es dabei nicht geblieben. In diesen Stunden mit dem Fernradfahrer hatte sie daran glauben wollen, dass Tommy gekommen war, um sie zu erlösen aus diesem Kaff, der Fleischerei, dem Leben, das so nicht bleiben konnte. Elke war zu klug, um am Morgen darauf traurig zu sein, als der Typ sich wieder auf sein Fahrrad schwang. Ärgerlich waren nur die seitdem regelmäßigen Ausfälle von Seiten des Fleischers, der sie in der Nacht gehört hatte.
»Außerdem sollen Sie anklopfen.«
»Na, komm schon, Kleines«, versuchte er sich als charmanter Stenz und trat noch näher an sie ran. »Warum denn draußen essen, wenn’s zu Hause schmeckt? Ich dachte, du magst deine Arbeit hier.«
»Sie finden eh keine andere als mich«, sagte sie ganz ruhig. »Also für den Verkauf. Und jetzt raus hier!«
»Mensch, Mädchen«, wurde er weinerlich. »Das kann doch nicht so schlimm sein, bei der Hitze und wir beide hier und du so herrlich moppelig, das passt doch viel zu gut, um’s nicht zu machen. Ich zahl dir auch was extra.«
»Raus jetzt! Versuchen Sie mal kalte Duschen!«
Sie war die letzte Frau im Dorf. Natürlich brauchte sie den Job und das Zimmer. Sonst hätte sie gar nichts außer dem komischen Gefühl im Bauch.
Aus Sicht des Dorfes hätte man meinen können, dass der von Norden her angekündigte Regen diesen kleinen Flecken Erde knapp verfehlt hatte und einige Kilometer weiter hinter dem Wald niedergegangen war. Tatsächlich aber waren die feuchten Luftmassen einfach verschwunden, hatten sich in Nichts aufgelöst und wurden daraufhin natürlich auch von keinem der vielen Wetterdienste mehr erwähnt. Als hätte es all die verheißungsvollen Ankündigungen nie gegeben. Die Sonne schien einfach weiter, entzog dem Boden Tropfen um Tropfen das wenige verbleibende Wasser und brachte die Säfte der Männer umso stärker in Wallung. Ansonsten passierte kaum etwas, ja, vielleicht noch weniger als sonst.
Erst zwei Tage nach dem ungewöhnlichen Erscheinen des Postboten an der Konradschen Haustür fiel Karls Blick wieder auf die Postkarte von seinem Bruder. Weder hatte in der Zwischenzeit jemand angerufen, noch war es Zeit für den halbwöchentlichen Hausputz gewesen, der ihn erst jetzt das dunkelgrüne Telefon abstauben und die Zebras weiden sehen ließ. In diesem Sonnenuntergang. In Afrika. Karl Konrad war ein disziplinierter Mensch, der gerne im Voraus wusste, was er von sich zu erwarten hatte. Zu unvorhersehbar war diese Welt um ihn herum. Deshalb konnte er jetzt nicht zufrieden sein. Die Zebras erinnerten ihn an seine unsinnig unkontrollierten Auftritte Hubertus und Elke gegenüber. Nur deshalb und nicht aus eigentlichem Interesse nahm er die Karte in die Hand und drehte sie um.
Liebe Mutter, lieber Kalli,
viele Grüße aus dem immer sonnigen Afrika! Hier ist es wirklich phantastisch. Ich lebe in einem tollen Haus mit Veranda und eigenem See. Überall sind Tiere. Zebras, Hippos, Strauße, Warzenschweine und so weiter. Ich habe auch zwei eigene Bedienstete, die widersprechen nie!
Ich hoffe, es geht euch gut,
euer Tommy
Karl betrachtete die beiden Zebras auf der Vorderseite, las dann ein zweites und drittes Mal die Zeilen, die angeblich sein Bruder geschrieben hatte. Auch wenn seine sich langsam ausbildende Weitsichtigkeit ihn die schnörkelige Handschrift nur schwer entziffern ließ, konnte es am Inhalt keinen Zweifel geben. Er begriff dennoch nicht recht, was die wenigen Sätze ihm sagen wollten. Da entdeckte er die vertikal an den Rand gequetschte Zeile rechts von der Adresse.
PS: Vielleicht schaffe ich es Weihnachten nach Hause.
Kerzengerade verharrte er im schummrigen Flur, die Karte direkt vor den Augen.
Als Karl seine Mutter im Wohnzimmer stöhnen hörte, hätte er nicht sagen können, wie lange er da gestanden hatte. Schnell machte er die paar Schritte zu ihr hin, die Karte in der Hand. Mutter Konrad lag wie jeden Tag auf dem Sofa, die dunkelbraune Wolldecke bis unter die Achseln hochgezogen, den nur noch spärlich grau behaarten Kopf auf einem großen Leinenkissen. Fragend blickte sie ihn an und streckte ihre Rechte langsam nach der Karte aus. Es war zu spät. Trotzdem zögerte Karl einen Moment, versuchte ihrem Blick, dem Bitten dieser braunen Augen standzuhalten. Er musste wegsehen und reichte ihr die Pappe. Kaum hatte sie die in der Hand, wandte er sich hastig ab, um das Radio anzustellen, und eilte dann zurück in den Flur. Zum Abschluss des Hausputzes hatte er den Kachelboden feucht zu wischen.
O süße Claudia, die Nacht im Sand mit dir war wunderbar …
Vom Badezimmer aus, wo er das schmutzige Putzwasser entsorgte, hörte Karl zwei Lieder später den halbstündlichen Wetterbericht. Keine Aussicht auf Regen. Ungewöhnlich hohe Temperaturen. Sommerlich. Er betrachtete das gurgelnd in den Ausguss schäumende Wasser, schüttelte kurz den Kopf, weil er meinte, ein Schluchzen zu hören. Er musste jetzt den Garten wässern. Noch nie hatte er das vor Mitte Mai gemacht, doch der Rasen war schwer wiederherzustellen, wenn er erst einmal zu viel Feuchtigkeit verloren hatte.
Karl ging gleich vorne aus dem Haus, wo sich rechts der Tür der Wasseranschluss befand. Den ordentlich über die Haltevorrichtung aus vergilbtem Plastik gelegten Gartenschlauch bedeckte eine dicke Schicht Blütenstaub. Zügig krempelte Karl die Ärmel seines großkarierten Hemdes hoch bis über die Ellenbogen und legte mit der Rechten eine Schlaufe Schlauch nach der anderen um seinen linken Unterarm. Auf dem Weg in den Garten ließ er den Schlauch dann auf die Betonplatten gleiten. An der Rasenkante angekommen, legte er die verbliebenen Schlauchschlingen vorsichtig ab und ging zurück ins Haus und in die Haushaltskammer. Hier wurde den Winter über der Rasensprenger verwahrt. Die von drei Aluminiumrohren verbundenen Füße aus Hartplastik lagen in der Originalverpackung.
Karl war noch ein Kind gewesen, als sein Vater ihm die ersten Lektionen in Sachen Bewässerung erteilt hatte. Diese Gegend verfüge nicht über ausreichende Wasserressourcen und jeder Tropfen sei wertvoll. Karl hatte neben dem Schreibtisch stehen dürfen, während sein Vater die optimale Bewässerung des Gartens errechnete. Dazu der Duft des selbstgeräucherten Fischs. Die Hand des Vaters in seinem Nacken. Das vor Jahrzehnten angelegte Dokument befand sich von einer Klarsichthülle geschützt neben dem Gerät in der Verpackung. Karl nahm das ganze Paket unter den Arm.
Zurück im Garten, blickte Karl durch das große Fenster ins Wohnzimmer. Ganz reglos lag die Mutter auf dem Sofa. Schnell wandte er sich wieder dem Bewässerungsplan zu, den er doch längst auswendig kannte. Anhand der vorgegebenen Orientierungspunkte suchte er die erste Position für den Rasensprenger. Sein Vater hatte immer gewusst, was zu tun war. Position und Zeit waren die alles entscheidenden Variablen, vorausgesetzt, die Zuflussgeschwindigkeit ließ sich kontrollieren, was beim beständigen Wasserdruck der öffentlichen Versorgung gegeben war. Position und Zeit. Karl platzierte das Gerät so exakt wie möglich. Dann zog er die letzten Meter Schlauch über den Rasen und stülpte das Ende über den vorgesehenen Pfropfen am Gerät. Zufrieden streckte er sich wieder in die Höhe und schritt zurück ums Haus zum Wasseranschluss. Vier Umdrehungen bis zum Anschlag. In fünfundzwanzig Minuten würde er das Gerät neu positionieren, so dass anschließend wieder genug Zeit wäre, um mit der Mutter zu Mittag zu essen. In der Zwischenzeit würde er alles vorbereiten.
Zwei Teller samt Besteck in den Händen, trat Karl ins Wohnzimmer. Durch das Fenster konnte er die feinen Wasserstrahlen in der Sonne funkeln sehen. Im Radio sang eine Frauenstimme. Das Gesicht der Mutter war schmerz verzerrt. Feucht von Tränen. Das hatte er von draußen nicht bemerkt. Dazu diese Musik.
Das Glück meiner Tage hat einen Namen …
Auf ihrer Brust lag die Postkarte. Was auch immer sie dachte, er hätte es verhindern müssen. So hatte er sie noch nie gesehen. Hilflos blickte Karl aus dem Fenster.
»Komm, Mama«, sagte er nach einer Weile. »Wir müssen essen.«
Die Karte verstaute er in seiner linken Hosentasche. Aus der rechten holte er sein Taschentuch hervor und tupfte das Wasser von der rissigen Haut. Nur an die Furchen im Augenwinkel traute er sich nicht heran. Sie schimmerten weiter feucht, als er ihren Körper anhob, sich gemeinsam mit ihr aufrichtete und sie an den Tisch führte. Karl servierte den aufgewärmten Eintopf, schöpfte der Mutter und sich selbst den Teller voll. Dann schaufelte er die grobgeschnittenen Gemüsestücke mit wilder Hast in sich hinein. Erst als sein Teller leer war, blickte er auf. Sie weinte immer noch.
»Du musst das essen, Mama.«
Er nahm sich nach, ganz ohne Hunger. Nur um sich zu beschäftigen, hob er weiter Gemüse an die schmalen Lippen, die sich gerade so weit öffneten wie nötig. Erst als er seinen zweiten Teller restlos geleert hatte, blickte er wieder aus dem Fenster. Um den Rasensprenger bildete sich schon eine kleine Pfütze.
»Verdammt!«, rief er.
Mutter Konrad, die gerade begonnen hatte, doch etwas zu essen, verschluckte sich. Ganz trocken waren plötzlich ihre Augen, ein heulendes Würgen entfuhr ihr, Karl konnte es nicht fassen. Da hustete sie schon und keuchte heftig. Etwas Grünes flog aus dem Mund hinaus auf die Tischdecke. Karl betrachtete das Stück Gemüse. Er starrte es an, als könnte es ihn beruhigen, ihn vergessen lassen, dass die Mutter geweint und er den Rasen überwässert hatte und auch noch anderes ganz anders lief, als es zu laufen hatte. Da streckte die Mutter ihre vom Eintopf leicht bekleckerte Hand aus und legte sie Karl auf den Unterarm.
»Pass doch auf«, sagte er. »Du machst das Hemd noch dreckig.«
Nachdem Karl das Wasser endlich abgestellt hatte, verbrachte er den Nachmittag damit, den dunkelgrün lackierten Zaun zur Straße hin vom Blütenstaub zu befreien und dabei die Gedanken an diese so schlecht gelungene erste Tageshälfte zu verdrängen. Mühsam schrubbte er sich mit einer alten Zahnbürste den Gehweg entlang, immer wieder kurz erfreut, wenn ein weiteres Stück Zaun feucht-sauber in der Sonne glänzte. Doch Karl war unruhig. Wie ein Tier vor einem Beben.
Die Gaststätte Adler lag, vom Konradschen Haus gesehen, kurz hinter dem Dorfzentrum. Karl musste also sowohl die Kirche als auch die um diese Zeit geschlossene Fleischerei passieren, als er am Abend auf ein Getränk einkehren wollte. Stahlblau ließ die Dämmerung den wolkenlosen Himmel strahlen. Nur ganz hinten am Horizont, wo sich in Karls Rücken die Landstraße in einem schon dunklen Wald verlor, schimmerte es noch leicht orange. Wäre Karl etwas früher aufgebrochen, er hätte einen Sonnenuntergang gesehen, der dem auf der Postkarte von seinem Bruder in nichts nachstand. War er aber nicht, weshalb er jetzt die Straße entlangschreiten konnte, ohne an das verdammte Stück Pappe in seiner Hosentasche erinnert zu werden. Seine halbwegs ausgeglichene Stimmung wurde allerdings noch vor Betreten der Kneipe getrübt, da er Hubertus’ Fahrrad an der Hauswand lehnen sah. Die Vorfreude auf eine kalte Cola mit Zitronenscheibe war dahin. Hoffentlich hatte Hubertus genug Anstand, ihn nicht noch einmal so dumm anzusprechen.
Karl drückte die Tür hinter sich zu und ging grußlos zu seinem Platz ganz am Ende des Tresens. In Schulterhöhe standen Pokale im Regal, so dass er nicht ganz an die Wand heranrücken konnte.
»Cola«, sagte er zu Ray.
»Eis und Zitrone?«
Karl nickte.
Neben Hubertus saßen Elke und Manfred an einem der beiden großen Tische. Am anderen Ende des Tresens standen Oschi und sein namenloser Trinkkumpan, die hier ihr in der Fleischerei erworbenes Bier genießen durften, vorausgesetzt, sie bestellten hin und wieder einen Schnaps dazu.
»Bitte«, sagte Ray und stellte die Cola auf einen Bierdeckel.
Sofort bildete sich Kondenswasser am kalten Glas. Schon liefen die ersten Tropfen hinunter bis auf den Bierdeckel. Ray stand am Waschbecken und polierte Gläser, als wartete er darauf, dass etwas passierte. Die Runde am Tisch schwieg. Die Trinker nuckelten an ihren Flaschen. Karl nahm sich Zeit. Verträumt betrachtete er seine Cola. Minutenlang. Als Karl endlich nach dem Glas griff, seine Fingerabdrücke sich deutlich in diesem feinen Film kondensierter Luftfeuchtigkeit abzeichneten, sahen sie alle so unverhohlen in seine Richtung, dass man glauben konnte, sie hätten ihm Gift in die Cola getan.
»Sag mal«, räusperte sich Ray und blickte auf von seinem vielfach polierten Glas. »Geht’s dem Tommy tatsächlich so prächtig in Afrika?«
Mit einem Mal verschwand die Schönheit dieser goldbraunen Flüssigkeit, sah Karl nicht mehr die zarten Linien, die das Kondenswasser auf sein Glas zeichnete, nicht das Funkeln des Lichts in den einzelnen Tropfen. Stattdessen war Wasser auf dem Rasen, standen die Zebras auf der Weide, lag das Gemüse auf dem Tischtuch.
»Was habt ihr denn mit diesem Afrika?«, fragte er laut und stand von seinem Barhocker auf. »Als müsste man dafür Heimat und Familie verlassen! Was könnt ihr mich denn nicht damit in Ruhe lassen?«
Wütend sah er in die Runde. Dann knallte er das abgezählte Geld für die Cola auf den Tresen und verließ den Schankraum, ohne sich noch einmal umzublicken. Die Tür zog er hinter sich zu.
Ray blickte an der noch nahezu randvollen Cola vorbei auf die verbliebenen Gäste und zuckte mit den Schultern.
»Dem kannste nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, hab ich dir doch gesagt«, meinte Hubertus leicht verärgert.
»Bei mir ist der auch so plötzlich abgehauen letztens«, sagte Elke.
»Wie das jetzt? Du und der?«
»Schwachkopf!«
»Ich kann ihn schon verstehen. Einfach weg, der Vater und dann der Bruder, und er ganz alleine hier mit seiner Mutter.«
»Und deswegen muss er auch selber immer abhauen?«
»Wer ist denn nicht allein hier?«
»Also ne Mutter hab ich zumindest nicht.«
»Ist wohl genetisch. Fluchtreflex, gibt’s auch bei Tieren. Hab ich auf Arbeit mal im Fernsehen gesehen.«
»Unsinn. Das macht ihm halt zu schaffen.«
»Der ist nur neidisch, weil der Tommy es zu was gebracht hat«, sagte Elke und blickte sehnsüchtig aus dem Fenster in die Dunkelheit.
»Dass ihr Weiber immer gleich psychologisch werdet.«
»Der ist jedenfalls bald reif für den Käfig. Der macht das nicht mehr lange.«
Darin waren sie sich letztlich bei aller Widersprüchlichkeit der im Weiteren vorgebrachten Thesen einig. Eine Überraschung wäre das nicht, wenn Karl hier eines Tages durchdrehen würde.