Der Weltenwanderer - Gregor Sieböck - E-Book

Der Weltenwanderer E-Book

Gregor Sieböck

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Beschreibung

Ein einfaches Leben ohne Ballast. Die Welt erkunden, ohne ihr Schaden zuzufügen. Diese Wünsche stehen am Anfang von Gregor Sieböcks einzigartigem »Weltenwanderer«-Projekt. Drei Jahre lang lässt er alles hinter sich zurück, streift auf Pilgerwegen durch Europa, staunt über die einsame Weite Lateinamerikas, folgt im Hochland der Anden den Spuren der Inkas, wandert zu den verzauberten Tempelbergen Japans und durch die Wildnis Neuseelands. Am Ende seiner Reise hat er mehr gefunden, als er je erträumt hatte, und er ist noch lange nicht angekommen …

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Veröffentlichungsjahr: 2012

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www.piper.de

Mit 43 Farbfotos, 40 Schwarz-Weiß-Abbildungen und 8 Karten

ISBN 978-3-492-95728-1

Mai 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2011

erschienen im Verlagsprogramm Malik National Geographic

© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck 2010

Covergestaltung: Dorkenwald Grafik-Design, München

Fotos: Gregor Sieböck, mit Ausnahme der folgenden Fotos → A. Schumacher, → Robert Krenn und → Erik Schnaitl

Karten: Margarete Sieböck

Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

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Vorwort

Irgendwie landen sie immer bei mir: die ein wenig Seltsamen, die nicht so leicht Einordenbaren, die Man-weiß-nicht-so-Rechten. Das mag daran liegen, dass ich als Redakteur für das Wochend-Magazin der Oberösterreichischen Nachrichten und als Betriebsrat sowieso für fast alles zuständig bin. Deshalb passiert es regelmäßig, dass die Damen am Empfangstresen ihre ganz speziellen »Kunden« zum Buttinger schicken: »Gehen s’ ganz hinauf, in den dritten Stock, ganz nach hinten und dann ganz nach links. Sie können das Zimmer nicht übersehen!« Über meinem Büro hängen zwei dekorative Schilder aus dem alten, geschleiften Linzer Unfallkrankenhaus. »Chefärztliche Station« steht drauf und »Einzeltherapie«.

Es wunderte mich kein bisschen, als Ende Juni 2003 plötzlich ein Rucksack in meiner Tür stand. Ein riesiger Rucksack. Er hatte sich ein Bürschlein umgeschnallt, das sich als Gregor Sieböck vorstellte. Der Rucksack wollte mit ihm bis nach Tokio gehen. Ich lehnte mich weit in meinen Drehstuhl zurück, faltete die Hände über dem Bauch und bereitete mich geistig auf ein langes, kompliziertes Anamnese-Gespräch vor.

Pilgerweg, Santiago del weiß-Gott-wo, Blue Planet Footprint Campaign, Umweltprobleme, erschöpfte Ökosysteme, Ökostrom-Modelle, Ressourcenschonung, Save Tibet …

Mir schwirrte der Kopf. Dennoch hatte es der quirlige Schmalhans geschafft, eine Saite zum Klingen zu bringen, die Journalisten immer seltener hören: die Stimme des Authentischen, Ehrlichen und Geraden … so kakophon sie auch anfänglich daherkam. Da wollte doch einer tatsächlich zu Fuß um die Welt gehen, um Multiplikatoren, Radio- und Fernsehmenschen, ignoranten Schreibknechten wie mir, ordentlich das Karma zu wuchten. Der Mann war gut. So gut, dass er mich aus dem Sessel zwang und in den Linzer Landhauspark hinein zum Foto-Shooting. Er leierte mir gleich eine ganze Seite Reportage aus dem Kreuz … und noch eine… und über die Jahre noch eine … und noch eine … und …

Gregor Sieböck hat mich durch sein Vorbild tief bewegt und verändert. Ich freue mich jedes Mal wie ein südpatagonischer Schneekönig, wenn er seinen Rucksack in meiner Schreibstube parkt, mir von seinen Erlebnissen erzählt– und dabei so optimistisch lacht, als hätte er die Welt schon fertig gerettet.

Aus tiefstem Herzen wünsche ich Dir, wandernder Bär, all good medicine.

Klaus Buttinger

Redakteur Oberösterreichische Nachrichten

Der Traum von einem anderen Leben

In zwanzig Jahren wirst du eher darüber enttäuscht sein, was du nicht gemacht hast, als was du gemacht hast.Hole den Anker ein und segle hinaus aus dem sicheren Hafen. Erforsche, träume, entdecke.Mark Twain

Der Zug hält. Eilig öffne ich die Tür und stelle die große Tasche auf den Bahnsteig. Dann hüpfe ich wieder in den Wagon hinein, hole den schweren Koffer mit den Projektoren heraus, schließlich den Rucksack und zu guter Letzt die Sackkarre, mit der ich die ganze Ausrüstung transportiere. Geschafft! Doch der Zug wartet noch im Bahnhof. Ich hätte mich also nicht so beeilen müssen. Gemächlich packe ich die ganze Ausrüstung auf den Wagen und gehe los. Ein Bahnbediensteter kommt mir entgegen und fragt, wohin ich unterwegs bin. »Zum Diavortrag«, gebe ich ihm zur Antwort, »ich erzähle heute Abend in Ebensee Geschichten über meine dreijährige Wanderung um die Welt. Und schöne Bilder gibt’s auch dazu.« Kurzes Zögern bei dem Bahnbediensteten, und dann meint er: »Ach, bist du etwa derjenige, der drei Jahre nichts gemacht hat?« »Nichts gemacht?« Plötzlich muss ich laut lachen und frage ihn, wie er das denn meint. »Nun«, gibt er zur Antwort, »ich habe da in der Zeitung von einem Vagabunden gelesen, der drei Jahre um die Welt gelaufen ist, einfach so, ohne zu arbeiten, er hat einfach nichts gemacht. Bist du das etwa?« Der Mann lässt sich die Sonne ins Gesicht scheinen und ich frage ihn scherzhaft: »Und du, was machst du gerade, auch nichts, oder? Was ist schon ›nichts‹?« Seine Antwort kommt prompt: »Ich warte.« Da musste ich nun erst recht lachen.

Er wartete also. Wie lange müssen wir noch warten, um endlich festzustellen, dass unser Leben aufgrund des Wartens an uns vorbeigeht? Dieser Augenblick kommt schließlich nie wieder. Erinnerungen werden wach an meine Wanderung durch Kalifornien, wo immer wieder diese Fragen kamen: »Was machst du denn da? Du gehst? Warum? Kannst du dir nicht eine anständige Arbeit suchen?« Aber was ist schon eine anständige Arbeit? Den ganzen Tag vor dem Computer zu sitzen und ihn mit Informationen zu füttern? Waren durch halb Europa zu karren? Eine Straße bauen? Mache ich etwa nur dann etwas Anständiges, wenn ich damit viel Geld verdienen kann, oder gibt es noch mehr im Leben als wirtschaftlich erfolgreich zu sein? Versperrt uns vielleicht gerade diese Geschäftigkeit den Weg zu einem erfüllten Leben? Es waren genau diese Fragen, die mich beschäftigten, bevor ich zu meiner großen Wanderung aufbrach, und auf dem Bahnsteig in Ebensee kamen sie mir wieder in den Sinn. Da der Zug, auf den der Bahnbedienstete gewartet hatte, nun einfuhr, blieb jedoch keine Zeit mehr für ein weiteres Gespräch. So nahm ich meine Karre, ging damit zum Vortrag und erzählte meine Geschichte.

Bevor ich zur großen Reise aufbrach, arbeitete ich als Wissenschaftsassistent an der Universität Lund in Schweden und verfasste Studien über eine nachhaltige Energieversorgung. Ich reiste von einer Konferenz zur anderen, führte Interviews, saß stundenlang vor dem Computer, um Daten einzugeben, und präsentierte dann meine Erkenntnisse. Ein kleiner Kreis von Interessierten hörte mir gespannt zu, aber ich hatte irgendwie das Gefühl, dass diese durchaus wichtigen Ergebnisse meiner Arbeit völlig spurlos an der Welt vorbeigingen. Aber die Zeit drängte, denn in den Zeitungen las ich von der drohenden Umweltkrise, von der Verschmutzung und Überfischung unserer Meere, vom steigenden Auto- und LKW-Verkehr, von der Zerstörung der Urwälder. Und immer wieder war die einzige Antwort der Wirtschaftstreibenden: »Wir brauchen noch mehr Wirtschaftswachstum, sodass wir uns irgendwann einmal ein umweltbewusstes Leben leisten könnten.« Irgendwann? Kaum einer wagte, den Status quo zu hinterfragen. Es war aber gerade dieses ständige Wirtschaftswachstum, das uns immer weiter an den Abgrund trieb, und nun wurde auch noch mehr davon gefordert! Einstein hatte es ja bereits vor Jahrzehnten wunderbar auf den Punkt gebracht: »Wir können ein Problem nicht mit dem gleichen Bewusstsein beseitigen, das in der Vergangenheit genau dieses Problem verursacht hat.« Wollen wir neue Wege beschreiten, so erfordert dies zuerst ein anderes Denken.

Ich suchte nach Lösungsansätzen, um den Herausforderungen unserer Zeit begegnen zu können, und dabei wurde mir klar, dass ein verantwortungsvolles Leben zuerst bei mir selbst beginnen musste. Aber wie? Ich wollte die Welt erwandern und unterwegs Sozial- und Umwelt-Initiativen besuchen, die einen alternativen Weg skizzierten. Es sollten Ideen sein, die von mir und allen anderen, welche diesen Weg gehen wollten, leicht verwirklicht werden könnten. Damit wollte ich versuchen, die weit verbreitete Ausrede zu entkräften, dass es für Veränderungen am notwendigen Wissen oder Geld fehle oder dass es dafür schlichtweg zu früh sei. Das war also mein Plan. Nun galt es nur noch eine geeignete Wanderroute zu finden. Ich hatte mich zwar schon entschieden, zu Hause loszuwandern, aber mein Ziel war noch unklar. Im National Geographic las ich, dass Tokio mit seinem Umland die größte Stadt der Welt sei, und somit war die Entscheidung gefallen: Ich wollte nach Japan wandern, denn diesen Gegensatz zwischen der Kleinstadt Bad Ischl und der Metropole Tokio fand ich spannend. Jetzt war nur noch die Frage der Richtung zu klären: Sollte mein Weg über die Seidenstraße oder Amerika führen? All jene, denen ich erzählte, ich würde nach Japan wandern, dachten sogleich an den Weg über Asien, denn Japan lag für uns Europäer nun einmal im Osten. Mit meiner Wanderung wollte ich jedoch auch ganz neue Wege aufzeigen, bestehende Gedankenmodelle bewusst in Frage stellen, und daher wählte ich den Weg nach Westen. Weil die Erde rund ist, kann Japan für uns Europäer genauso im Westen liegen. Der Weg nach Westen hatte auch den Vorteil, dass ich durch Lateinamerika und die USA wandern und dabei Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Süd und Nord erleben konnte. Die Entscheidung war gefallen: zu Fuß von Österreich nach Japan! Als ich meinem Zahnarzt von der Wanderung erzählte, meinte er spontan: »Bis Ebensee zwoa Stund und daun ziagt sie’s a bisserl!« Ebensee ist der Nachbarort von Bad Ischl, und was den Weg danach anbelangte, so war er wirklich weit.

Was sollte das nützen, wenn ich alleine um die Welt wanderte? Würde es mir als Einzelnem überhaupt gelingen, eine Veränderung herbeizuführen? Diese Zweifel kamen mir immer wieder in den Sinn. Als ich mit meinem Onkel Christoph durch das Salzkammergut wanderte, fragte ich ihn um seinen Rat. Wir spazierten gerade an einem versteckten Gebirgssee vorbei, da hob er, ohne viel zu sagen, einen Stein auf und warf ihn in den See. »Was siehst du?«, wollte er wissen. »Einen Stein, der ins Wasser fällt und Wellen schlägt«, gab ich zur Antwort. »Genau das ist es. Der Stein fällt ins Wasser und verbreitet Wellen. Sie strömen vom Zentrum aus und erreichen schließlich den ganzen See, bis zum Rand. Weiter von dort entfernt, wo der Stein ins Wasser gefallen ist, sind die Wellen nicht mehr so stark, aber du siehst und spürst sie immer noch. Genauso wird es mit deiner Wanderung und Umweltkampagne sein. Du wirst gehen und alleine deswegen setzt du ein Zeichen, das bis in den letzten Winkel der Welt und des Universums strömt. Mach dir also nie Sorgen, dass dein Handeln keinen Sinn hätte, es hat viel mehr Bedeutung, als dir im Augenblick bewusst sein mag.« Meine Zweifel waren ausgeräumt!

Ich suchte mir eine detaillierte Wanderroute aus, kontaktierte Freunde auf der ganzen Welt, studierte Karten und schrieb Briefe an Zeitungen und Radiostationen, um entlang des Weges die Botschaft von einem bewussten Leben, einem Leben, das nicht nur von wirtschaftlichen Interessen geprägt war, zu verbreiten – doch niemand glaubte, dass dieses Unterfangen gelingen würde. »Du bist ja völlig verrückt. Das schaffst du nie, Tausende Kilometer zu Fuß zu gehen, um die halbe Welt. Schau, du hast doch eine gute Arbeit, die Sicherheit eines geregelten Lebens, das kannst du ja nicht einfach aufgeben. Überleg es dir doch noch einmal. So eine Wanderung kannst du doch auch später noch machen. Schaffe dir erst einmal ein Haus, arbeite ein paar Jahre, heirate. Und wenn du dann immer noch gehen willst, dann kannst du ja losziehen.« Das waren einige der »guten« Ratschläge und diese hörte ich fast jeden Tag, sobald ich von meinen Plänen erzählte. Wenn ich dann trotzdem daran festhielt und die anderen merkten, dass ich es ernst meinte mit meiner Wanderung, kam immer wieder dieselbe Frage: »Aber ein Handy nimmst du schon mit, damit du anrufen kannst, wenn dir etwas passiert?« Ich wollte hingegen auf dieses verzichten, da es einerseits aufweiten Teilen der Strecken sowieso keinen Empfang geben würde oder sich dieser, wie in Lateinamerika, nur auf die größeren Städte beschränkte, wo ich aber jederzeit aus einer Telefonzelle anrufen konnte. Andererseits wollte ich lernen, Eigenverantwortung für mein Handeln zu übernehmen. Anstatt in Notsituationen zu kommen, wo ich auf äußere Hilfe angewiesen war, wollte ich versuchen, meinem inneren Gefühl zu folgen, und lernen, Gefahren abzuschätzen.

Die Menschen äußerten mir gegenüber auch ihre eigenen Zukunftsängste: »Wie viele Beitragsjahre du doch wegen deiner Wanderung für die Pension verlierst! Du kannst nicht einfach gehen, du musst arbeiten, Pensionsjahre ansparen und an deine Zukunft denken.« Versuchte ich einmal, jemanden anzuregen, auch aufzubrechen, die eigene Bestimmung zu leben, dann bekam ich nicht selten zur Antwort: »Ich kann nicht einfach etwas Neues beginnen. Wenn ich in Rente gehe, wird das möglich sein, aber jetzt geht es noch nicht.« Viele warten mit Veränderungen oder damit, ihre Träume zu leben, auf die Pension, doch wer sagt uns, dass wir diese überhaupt erleben? Aus diesem Grund nahm ich den Job bei der Weltbank, den ich bereits in Aussicht hatte, nicht an und begab mich stattdessen auf Wanderschaft.

Mut ist unumgänglich, wenn wir die eigene Bestimmung leben wollen: Mut, das einfache Leben zu wagen, Mut, »nein« zu sagen, Mut, dem Herzen zu folgen, Mut, nicht mehr auf den »magischen Augenblick« zu warten. Denn vielleicht würde dieser nie kommen, wenn ich nur darauf wartete, dass sich in meinem Umfeld etwas änderte. Die folgenden Worte von Lothar Zenetti ermunterten mich, mutig zu sein:

Mut!

Was keiner wagt, das sollt ihr wagenwas keiner sagt, das sagt herauswas keiner denkt, das wagt zu denkenwas keiner anfängt, das führt auswenn keiner ja sagt, sollt ihr’s wagenwenn keiner nein sagt, sagt doch neinwenn alle zweifeln, wagt zu glaubenwenn alle mittun, steht alleinwo alle loben, habt Bedenkenwo alle spotten, spottet nichtwo alle geizen, wagt zu schenkenwo alles dunkel ist, macht Licht

Zum Glück gab es auch viele Freunde, die mich anregten, meinen Weg zu gehen. Auf einer Dienstreise in den USA traf ich Silent Wind.

Er ist Indianer, und bei einer Busfahrt nach Washington DC erzählte er mir von dem alten Wissen seines Stammes: »Die vier Winde«, sagte er, »haben alle eine große Bedeutung. Es macht einen Unterschied, in welche Richtung du gehst. Wenn du nach Osten unterwegs bist, so ist dies die Himmelsrichtung des Neubeginns, denn dort geht die Sonne auf, der Weg nach Westen ist der Weg der Klarheit, der Weg nach Süden ist der Weg der Veränderung und der Weg nach Norden ist der Weg der Reflexion, der Tiefe, und du wirst lernen mutig zu sein. Denke daran, wenn du um die Erde gehst, und möge dich der Geist des Adlers immer begleiten.« Ich bat ihn noch, ob er mir einen Indianernamen für meinen Weg geben könne. Er müsse erst mit einem Ältesten darüber reden, aber er mache das gerne. Wochen später bekam ich dann einen Brief von Silent Wind, in dem er schrieb: »Du sollst als ›bear who walks with a message‹ oder als ›walking bear‹ durch die Welt ziehen.« So wurde ich zum »wandernden Bären«.

Bevor wir uns verabschiedeten, meinte Silent Wind noch, dass es wichtig sei, Mutter Erde immer zu danken: »Ihre Geschenke sind nicht selbstverständlich, und wir sollen ihr danken für all die Nahrung, die sie uns schenkt, für die Sonne, den Wind und den Regen. Gehe mit dieser Dankbarkeit durch das Leben, dann wird deine Wanderung ein Weg der Freude werden. Vergiss auch nicht, so sanft wie möglich aufzutreten, und wo du auch hinkommst, so wenig Spuren wie möglich zu hinterlassen, sodass auch die Generationen, die nach dir kommen, noch ein erfülltes Leben haben können.« Zum Abschied umarmten wir uns und dann spazierte ich alleine durch die Straßen von Washington, auf dem Weg zur Weltbank. Was für ein Kontrast! Aber vielleicht waren es gerade diese Gegensätze im Leben, die mir halfen, meinen Weg zu finden. Da war auch noch Satish Kumar, der in den 1960er-Jahren um die Welt gewandert war, um eine Kampagne gegen Atombombentests zu machen. Er schrieb mir in einem Brief: »Mache es. Die Wanderung wird dein Leben verändern. Was für eine wunderbare Idee.« Ich hielt den Brief in den Händen und wusste, dass er recht hatte. Einige Tage später ging ich zu meinem Chef und kündigte.

Vita est peregrinatio – Das Leben ist eine Pilgerwanderung

Wer am wenigsten von der Welt hat, der hat am meisten von ihr.Meister Eckhart 1

Mein Blick schweifte hinüber zu den Bergen des Salzkammerguts. Inmitten einer blühenden Almwiese spielte mir Hubert von Goisern auf der Ziehharmonika einen Abschiedsjodler. Während ich seinen Klängen lauschte, schwankte ich zwischen Heimatverbundenheit und der Sehnsucht nach der Ferne, freudiger Erwartung auf das Abenteuer und der Ungewissheit, ob ich es je schaffen würde. Die Entscheidung war jedoch längst gefallen: Ich wollte zu Fuß die Welt erkunden und am nächsten Morgen konnte es endlich losgehen!

Der 30. Juni 2003, jener Tag, an dem meine dreijährige Wanderung begann: Mein Freund Stefan Pointner begleitete mich und zusammen wanderten wir an einem sonnigen Sommermorgen den Wolfgangsee entlang. Ich war froh, dass ich die ersten Kilometer nicht alleine gehen musste und ihn an meiner Seite hatte. Zu zweit war doch so manches einfacher. Trotzdem drückte der Rucksack schwer auf meinen Schultern. Ich hatte 28 Kilogramm Gepäck mit dabei, obwohl ich lange versucht hatte, das Gewicht meines Rucksacks zu reduzieren. Irgendwie war es mir aber nicht gelungen. Drei Jahre wollte ich wegbleiben. Was sollte ich da alles mitnehmen? Neben wichtiger Ausrüstung wie Zelt, Schlafsack und Kocher war auch so manch unnötiger Kleinkram dabei, von dem ich erst lernen musste, Abschied zu nehmen. Ich hatte sogar eine Trillerpfeife eingepackt, weil Nordamerika auf meiner Route lag und es dort bekanntlich Bären gab. Freunde hatten mir erklärt, dass es am besten sei, laut in eine Trillerpfeife zu blasen, wenn ein Bär vor einem stand. Also war die Pfeife mit im Gepäck, obwohl es schon lange keine Bären mehr im Salzkammergut gab und Nordamerika noch Tausende Kilometer Fußmarsch entfernt war. Nach zwei Tagen Wanderung war ich jedoch des Rucksackschleppens so leid, dass ich so manch scheinbar wichtiges Utensil zurückließ. Erst durch das Loslassen von Gewohntem konnte ich zu neuen Zielen aufbrechen und der Rucksack war in diesem Fall mein bester Lehrmeister. So stellte ich mir immer wieder die Fragen: »Wie viel trage ich in meinem Leben? Was kann ich zurücklassen? Was brauche ich wirklich?« Das gilt nicht nur für den Rucksack, sondern ist auch für den Alltag relevant. Wir alle tragen unseren »Rucksack«, doch im Gegensatz zum Wandergepäck ist dieser meistens unsichtbar: Es sind Verhaltensmuster, Gewohnheiten, materielle Dinge, die wir angehäuft haben und die oftmals verhindern, unsere Träume zu leben. Genauso wie beim Wandern geht es auch im Leben immer wieder darum, ganz bewusst einen Blick in den »Rucksack« zu werfen und auszusortieren: Ich wollte leichter werden, um mehr Zeit und Raum für das Wesentliche zu schaffen, denn wie die Tibeter sagen: »Alles Leid kommt von der Anhaftung, alles Glück kommt vom Loslassen.«

Zu dieser Leichtigkeit gehörte es für mich auch, dass ich mich vom übertriebenen Sicherheitsdenken unserer Gesellschaft verabschiedete. Immer wieder hörte ich den Einwand, dass es viel zu gefährlich sei, alleine unterwegs zu sein. Was konnte mir schließlich nicht alles passieren? Die Zahl der Überfälle sei ständig am Steigen, plötzliche Krankheiten könnten mich heimsuchen oder ich würde womöglich irgendwo in der Einöde verdursten. Kurzum, ich sollte auf keinen Fall in die weite Welt hinausziehen, denn ich würde es nicht überleben. Das alles hatte jedoch weniger mit mir als mit gesellschaftlichen Ängsten zu tun, die von den Tageszeitungen und vom Fernsehen geschürt wurden und die Bevölkerung verunsichern. Es ist eben einfach, unsere Gesellschaft mit Angstmacherei und Einschüchterung zu kontrollieren. Aber was ist gefährlicher: jeden Tag auf einer stark befahrenen Straße mit dem Auto in die Arbeit zu fahren oder zu Fuß durch die Welt zu ziehen? Nur weil Ersteres fast alle machen, Letzteres hingegen kaum jemand, heißt es noch lange nicht, dass mein Weg gefährlicher war. Im Gegenteil! Oft fallen mir die Worte von Charlie Chaplin ein: »Das Leben ist wunderschön, wenn du keine Angst davor hast.« Ich hatte Vertrauen, dass die Wanderung gut ausgehen würde, und mit jedem Schritt wuchs diese Gewissheit. Dieses Vertrauen war der Schlüssel dazu, wieder wohlbehalten nach Hause zu kommen. Außerdem reifte in mir unterwegs die Erkenntnis, dass ich Sicherheit, wenn überhaupt, nur durch beständiges, spirituelles Wachstum gewinnen konnte.

Während meiner Arbeit hatte ich Geld gespart, und das sollte für die Wanderung reichen. Dabei nützte ich meine Ersparnisse für die Lehrjahre des Wanderns und eben nicht, wie viele meiner Bekannten, um mir ein Auto, einen Fernseher oder andere Konsumgüter zu kaufen. In den drei Jahren, in denen ich schließlich unterwegs war, gab ich insgesamt so viel Geld aus, wie ein billiges Mittelklasseauto gekostet hätte. Wenn ich sehe, wie viele Menschen Autos besitzen, denke ich immer, dass auch sie alle dieses Geld nützen könnten, um ihrer Sehnsucht zu folgen. Viele, denen ich begegnet bin, wären auch gerne auf eine lange Reise gegangen, doch gleichzeitig waren sie nicht bereit, das Altvertraute aufzugeben. Ich wollte hingegen nicht »alles« haben, sondern entschied mich für das Unterwegs-Sein – verzichtete dafür aber auf anderes. Daher hatte ich auch nie ein Problem, die Wanderung zu finanzieren.

So wanderte ich im Salzkammergut los, mit meinem ersten Wanderziel vor Augen: Ich wollte auf dem alten Jakobsweg nach Santiago de Compostela gehen.

Bereits auf dem Jakobsweg durch Österreich erlebte ich den Zauber der Pilgerwanderung. Ich spazierte einen Wildbach entlang und streifte durch ausgedehnte Wälder, als ich mich dazu entschied, an einer Bank eine kurze Rast einzulegen. Dort traf ich ein Ehepaar aus dem Ruhrgebiet. Sie wollten wissen, wohin ich unterwegs war. Ich erzählte von meinem Vorhaben, nach Santiago zu wandern, und zum Schluss drückte mir der Herr einen 10-Euro-Schein in die Hand. »Für ein Bier«, sagte er und lächelte. Ich war verblüfft und freute mich sehr über das unerwartete Geschenk. Als ich im nächsten Ort vorbeikam, kehrte ich in die Bäckerei ein und feierte den schönen Tag.

Immer wieder wurde ich eingeladen. Eines Morgens stand eine Bäuerin, auf deren Hof ich zelten durfte, mit einem Tablett vor meinem Zelt: »Es gibt Frühstück: eine Marmeladesemmel und Tee. Lass es dir schmecken!« Das war eine wunderbare Überraschung.

Eines frühen Abends wanderte ich durch Wörgl im Tiroler Inntal und fand keinen geeigneten Platz zum Schlafen. Daher entschied ich mich, noch zu den Bauernhöfen oberhalb der Stadt aufzusteigen. Bei einem klopfte ich schließlich an die Tür und fragte, ob ich im Obstgarten mein Zelt aufstellen dürfte. Doch kaum hatte ich dieses ausgepackt, kam auch schon die Bäuerin gelaufen: »Komm doch zu uns ins Haus, wir haben ein Gästezimmer«, rief sie mir zu. Ein herrliches Bett und eine warme Dusche warteten bereits auf mich und bald schlief ich selig ein.

Am nächsten Morgen weckte mich der Duft von frisch gebackenem Brot. Lange saßen wir bei Butterbrot und Tee um den Frühstückstisch und tauschten Geschichten aus. Die Bauersleute erzählten mir von dem Lärm der Autobahn, der aus dem Inntal zu ihnen dröhnte. »Auch der Flugverkehr nimmt ständig zu«, meinten sie. »Es ist völlig verrückt, dass die Menschen so viel in der Gegend umherfahren und fliegen, und kaum einer ist sich der Konsequenzen dieses Lebensstils bewusst. Setz dich doch dafür ein, dass die Menschen nicht mehr so viel fliegen.« »Ich stimme euch zu, aber zuerst muss ich bei mir selber anfangen. Ich nehme auch ab und zu noch das Flugzeug und selbst auf dieser Wanderung werde ich wohl mit dem Flieger nach Lateinamerika reisen«, gab ich ihnen zu bedenken. »Ich werde jedoch eure Anregung ernst nehmen.«

»Auf nach Santiago!«, riefen sie mir nach, als wir uns verabschiedet hatten, und ich antwortete mit dem alten Pilgergruß: »Ultreja!« Wir winkten uns zu, bis ich hinter der Kurve verschwand.

Die Gastfreundschaft begleitete mich auf meiner ganzen Reise, ob in Tirol, in den Schweizer Bergen, im Baskenland, bei den Gauchos in Patagonien, den Campesinos in den Anden, in den USA, Japan oder Neuseeland. Überall auf der Welt traf ich nette Menschen auf meinem Weg. Gastfreundschaft kennt eben keine Grenzen.

Eine kurze Geschichte von Naomi Shihab Nye, einer amerikanischen Dichterin mit palästinensischen Wurzeln, soll dieses Geschenk der Gastfreundschaft illustrieren:

»Die Araber hatten einen Brauch: ›Wenn ein Fremder an dein Tor klopft, gib ihm für drei Tage zu essen, bevor du fragst, wer er ist, woher er kommt und wohin er geht. So wird er wieder genug Kräfte haben, um zu antworten – oder bis dahin seid ihr so gute Freunde und es ist dir einerlei.‹ Lasst uns dorthin zurückkehren. ›Reis? Pinienkerne? Hier, nehme das rote Brokatpolster. Mein Kind wird deinem Pferd Wasser bringen. Nein, ich war nicht beschäftigt, als du kamst! Ich wollte auch nicht geschäftig sein. Das ist nur die Rüstung, die jeder von uns […] anlegt, um vorzutäuschen, sein Leben mache einen Sinn.‹ Ich spiele bei diesem Spiel nicht mehr mit. ›Dein Teller wartet auf dich. Wir werden frische Minzeblätter in deinen Tee geben.‹«2

Ich bog um die Ecke eines Ladens in Silz in Tirol und stieß fast mit einem Wanderer zusammen, denn er war flott unterwegs. »Wohin gehst du?«, fragte ich ihn. »Nach Jerusalem, zu Fuß«, bekam ich zur Antwort. »Und du?«, wollte er von mir wissen. »Nach Tokio, auch zu Fuß.« Für einige Sekunden herrschte Skepsis bei uns beiden, da keiner dem anderen so richtig Glauben schenken wollte, aber dannmussten wir beide lachen: Noch so ein »Verrückter«! Martin Vosseler und ich schlossen sogleich Freundschaft. Wir fanden heraus, dass wir beide am selben Tag losgewandert waren, er in Basel, ich in Bad Ischl, er auf dem Weg nach Osten, ich nach Westen, er, um eine Kampagne zur Nutzung der Solarenergie zu machen, ich zur Förderung eines umweltbewussten Lebens auf der Erde. Wie ich später erfuhr, kam Martin wirklich nach Jerusalem. Von dort reiste er mit Schiff und Zug in seine Heimat zurück. In Basel angekommen, hatte er nicht einmal Zeit, seinen Rucksack auszupacken, denn die Stadtregierung plante den Bau einer Schnellstraße durch ein Vogelschutzgebiet. Spontan nahm er sein Zelt und besetzte als Einziger das Gebiet. Schon bald war er jedoch nicht mehr alleine und sie leisteten gewaltlosen Widerstand. Es folgten Monate des Verhandelns mit der Stadtverwaltung. Martin ging in einen Hungerstreik und gab unzählige Interviews in den Medien, in denen er erläuterte, warum seiner Meinung nach die Straße nicht gebaut werden sollte – bis sie letzten Endes trotzdem genehmigt wurde. Eine Niederlage? Oder vielleicht doch die Gewissheit, dass viele Menschen die Kampagne und den gewaltfreien Widerstand unterstützt hatten, und die Hoffnung, ein Bewusstsein für den respektvollen Umgang mit unserer Erde geschaffen zu haben?

Nach der Besetzung der Aulandschaft fuhr Martin mit einem Solarboot über den Atlantik. Die Kraft der Sonne, die einen hocheffizienten Motor mit der Wattleistung eines Bügeleisens antrieb, bewegte einen Katamaran und vier Reisende mit ihrer gesamten Ausrüstung in gerade mal drei Wochen übers Meer. Martin hatte seine Bratsche mitgenommen und sein Freund eine Geige und zusammen mit zwei Musikerinnen von der New Yorker Philharmonie spielten sie bei ihrer Ankunft im Hafen von New York Joseph Haydns Sonnenaufgangsquartett. Sie wurden wie Helden empfangen. Viele Menschen, denen er in den USA begegnete, waren froh, einmal eine hoffnungsvolle Geschichte miterleben zu dürfen. Nach einer kurzen Pause setzte Martin die Reise fort und wanderte von Los Angeles nach Boston.

Nach einigen Wandertagen im Inntal führte der Jakobsweg über den Arlberg weiter in Richtung Schweiz. Es war faszinierend, wie weit ich an einem Tag gehen konnte und dabei auch noch so viele Erlebnisse hatte, Neues entdeckte und nette Menschen traf. Abends blickte ich meist dorthin zurück, von wo ich morgens losgewandert war. Eines Nachmittags ging dann aber plötzlich gar nichts mehr. Ich war viel zu schnell und ohne Pause auf der Asphaltstraße vom Arlberg abgestiegen. Auf einer Bank machte ich im Schatten der Obstbäume einen kurzen Mittagsschlaf. Als ich aufwachte und aufstehen wollte, fiel ich jedoch gleich wieder um. Meine Fußsohlen brannten so sehr, dass ich nicht mehr stehen konnte. Irgendwie schaffte ich es trotzdem, weiterzugehen, und humpelte den Weg entlang. Um nicht an die Füße zu denken, sang ich laut: »I wü ham noch Fürstenfeld!« und erwachte erst wieder aus meiner Trance, als jemand neben mir herging. »Wo gehst du hin?«, fragte er mich. Völlig geistesabwesend antwortete ich: »Nach Tokio, zu Fuß!« Dabei brauchte ich mit meinen lädierten Fußsohlen eine halbe Minute für zehn Meter Wegstrecke. Er lächelte nur: »Nach Tokio also?! Nicht nach Schlins?« »Nein, nach Japan. Also, eigentlich schon nach Schlins (denn das war ja der nächste Ort am Weg), aber dann eben irgendwann nach Tokio!« Es folgte ein etwas zögerliches »Hmmm!« Monate später bekam ich von ihm eine E-Mail, in der er schrieb: »Damals dachte ich mir: ›Was ist denn das für ein Kauz?‹ Du hattest einen riesigen Rucksack, sodass ich von hinten glaubte, es wäre ein Rucksack mit zwei Beinen dran. Tibetische Gebetsfahnen auf dem Rucksack wehten im Wind und du hast auch noch so unglaublich falsch gesungen. Du bist gehumpelt, als ob du es nicht bis zum nächsten Strauch schaffen würdest, aber deine Antwort kam prompt: ›Ich gehe nach Japan.‹ – wo das ja noch dazu in der ganz anderen Richtung lag.« Er stellte sich trotzdem vor, Konrad war sein Name, er mache gerade mit seiner Frau und seiner Tochter einen Sonntagsspaziergang: »Soll ich etwa deinen Rucksack ein Stück tragen?«, wollte er wissen. »Der sieht so schwer aus. Möchtest du vielleicht auch ein paar Mannerschnitten haben, damit du wieder zu Kräften kommst?« Konrad schulterte meinen Rucksack. Auf einmal schien ich zu fliegen. Ich werde seine Hilfsbereitschaft nie vergessen! In Vorarlberg kurierte ich dann bei Freunden meine lädierten Füße aus und schließlich wanderte ich mit neuen Kräften weiter in die Schweizer Berge.

Die Übernachtung auf der Alm bei Morgenholz war unvergesslich. Zuerst kochte ich ein gutes Abendessen und dann schlief ich bei Kuhglockengeläute selig ein. Am nächsten Tag querte ich weite Almen und kam bald nach Einsiedeln, einem berühmten Wallfahrtsort am Schweizer Jakobsweg. Ich besuchte die Abendmesse. Als ich im Anschluss daran am Ausgang eine Kerze für meine Freunde und Eltern anzündete, kam ein Schweizer Ehepaar auf mich zu. »Gehst du etwa nach Santiago? Du hast ja einen so großen Rucksack.« »Ja, das möchte ich gerne, aber der Weg ist noch weit«, antwortete ich. Spontan drückte mir der Herr 45 Schweizer Franken in die Hand und meinte: »Zünde doch bitte für meine Familie eine Kerze in Santiago an und gönne dir unterwegs einmal ein richtig gutes Abendessen.« Ich konnte es kaum glauben. Die Welt war so unglaublich freundlich!

In der nahen Gastwirtschaft traf ich Gisela, eine Jakobspilgerin aus München, und auch noch zwei Schweizer Pilger. Unter alten Kastanienbäumen tranken wir Einsiedler Dinkelbier und tauschten unsere Erlebnisse aus. Die Schweizer erzählten, sie hätten einmal keinen geeigneten Platz zum Nächtigen gefunden und daher war ihnen nichts anderes übrig geblieben, als ihre Schlafsäcke innerhalb der Friedhofsmauern auszurollen. »Das hatte durchaus Vorteile«, meinten sie, »denn es war ein ruhiger Schlafplatz und außerdem gab es einen Brunnen, um ein Bad zu nehmen und die Wasserflasche aufzufüllen. Nur in der Früh kam der Totengräber vorbei und wir wurden etwas unsanft geweckt.« Sie gaben noch einige Schwänke aus ihrem Pilgerleben zum Besten. Spätnachts spazierte ich zum Kloster hinüber und schlug neben den Klostermauern mein Nachtquartier auf- allerdings außerhalb der Friedhofsmauer, denn die Geschichte mit dem Totengräber hatte mich doch etwas abgeschreckt. Es wurde trotzdem eine unruhige Nacht, denn ich schlief gleich neben dem Kirchturm mit seinem eindrucksvollen Glockengeläut.

Der Weg ist das Glück

»Es gibt keinen Weg, der zum Glück führt. Der Weg ist das Glück.«

Auf meiner dreijährigen Wanderung habe ich oft an diesen Satz gedacht, den mir Julia, eine Freundin aus dem Wallis, mit auf den Weg gegeben hat. Der Weg ist das Glück, wenngleich dieser oftmals auch beschwerlich war: So erlebte ich in der Schweiz einige starke Sommergewitter. In einer Nacht stürmte es, Blitze schlugen in der Nähe ein und ich machte kaum ein Auge zu. Erschöpft kroch ich am Morgen aus meinem Schlafsack und wanderte am Ufer des Vierwaldstättersees entlang. Der Weg führte weiter über den Brünigpass zum Brienzer See. Als ich aus dem Tal auf die Anhöhe hinaufstieg, zogen schon wieder dunkle Gewitterwolken am Himmel auf. Diesmal wollte ich aber nicht draußen übernachten und flüchtete gerade noch rechtzeitig in ein Ferienhaus. Die Besitzer nahmen mich herzlich auf und nach einem guten Abendessen schlug ich in der Garage mein Nachtquartier auf. Die ganze Nacht über wütete ein starkes Gewitter. Es hagelte, ein paar hundert Meter von der Hütte entfernt rollte sogar ein Kugelblitz den Hang hinunter und am Morgen schlug auch noch ein Blitz direkt neben der Hütte ein. Es folgte ein ohrenbetäubender Donnerschlag. Dabei wurde mir bewusst, wie sehr ich doch auf der Wanderung den Naturgewalten ausgesetzt war.

In einem Vorort von Lausanne zeltete ich auf dem Sportplatz einer großen Schule. In der Früh wachte ich zeitig auf, denn ich wollte das fast vierzig Kilometer entfernte Nyon erreichen. Im Morgengrauen wanderte ich durch das verschlafene Lausanne und erreichte bald das Ufer des Genfer Sees, doch gerade in diesem Augenblick zog erneut ein starkes Gewitter auf. Ich flüchtete in ein Kaffeehaus und nach einem guten Cappuccino wanderte ich wieder weiter. Es dauerte jedoch nicht lange und das Gewitter kam zurück. Diesmal kehrte ich auf ein Bier ein. Kaum war ich wieder unterwegs, machte das Gewitter noch einmal eine Runde und zog ein drittes Mal über mich hinweg. Ich war auf weiter Flur und es gab weit und breit nichts zum Unterstellen. Oder doch? Hatte da etwa jemand sein Wohnmobil geparkt? Ich begann zu laufen und stellte mich unter das Vordach des kleinen Campingbusses. Uli und Stefanie, die beiden Besitzer, machten gerade eine Kaffeepause und luden mich ein. Außerdem kochten sie mir ein fantastisches indisches Linsendal, dazu gab es Rotwein und im Anschluss daran noch einen kräftigen Espresso. Das Gewitter hatte mir eine wunderbare Begegnung beschert. Ich verweilte lange bei den beiden und schon war es sechs Uhr am Abend. Nyon war noch weit, also machte ich mich wieder auf den Weg.

Nach dem Treffen mit Uli und Stefanie »flog« ich richtiggehend am See entlang. Nach einigen Stunden erreichte ich Nyon, wo gerade das große Paléo-Musikfestival stattfand. Dort hielt ich es jedoch nicht lange aus, denn nach der Einsamkeit auf den Pilgerwegen herrschte mir einfach zu viel Rummel. Wo sollte ich jedoch zu so später Stunde noch einen guten Zeltplatz finden? Auf der Suche nach einem geeigneten Nachtquartier wanderte ich im Dunkeln den Genfer See entlang. Ich kam an hohen Mauern und Zäunen von reichen Grundbesitzern vorbei, aber ich fand keinen Ort zum Schlafen und die Nacht wurde immer länger. Der finstere Ort und die wild gewordenen Hunde hinter der nahe gelegenen Mauer luden nicht gerade ein, länger zu verweilen. Ich sehnte mich nach dem Morgengrauen, doch gerade die letzte Stunde vor Sonnenaufgang schien mir die dunkelste von allen zu sein. Es wurde einfach nicht hell. Die breite Schnellstraße führte nach Genf. Zu dieser Stunde war sie gespenstisch leer. Schließlich wollte ich nicht mehr weitergehen, setzte mich einfach ins Gras und wartete auf die Sonne. Nach einer halben Ewigkeit kam sie endlich. Was für ein Geschenk!

Um halb sechs Uhr in der Früh kam ich nach einer siebzig Kilometer langen Etappe endlich im Genfer Stadtzentrum an. Ich war die ganze Nacht durchgewandert. In der Jugendherberge fiel ich sogleich müde ins Bett, schlief, faulenzte, kochte vier große Mahlzeiten, um meinen Heißhunger zu stillen, und genoss noch einen langen Mittagsschlaf im Park am Ufer des Genfer Sees. So hatte ich meine erste lange Etappe geschafft und war voller Freude. Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal mit einem schweren Rucksack siebzig Kilometer an einem Stück wandern könnte, und doch war es mir gelungen. Dabei stellte ich fest, dass die Grenzen wirklich oft nur im Kopf waren. Was war schon unmöglich?

Nach dem Ruhetag in Genf besuchte ich Julia und Didier im Wallis. Julia und ich hatten uns vor vielen Jahren in Ecuador kennen gelernt, als wir beide bei einem Straßenkinderprojekt mitgearbeitet hatten, und nun luden die beiden mich zum gemeinsamen Wandern in die Walliser Berge ein. Wir zogen hinauf in die hohen Schneeberge, zu den Gletschern und Bergwäldern.

Haute-Nendaz, 4. August 2003

Ich sitze in der Küche von Julias Chalet hoch oben in den Walliser Bergen, lese Claude Marthalers Reiseerzählungen von seiner siebenjährigen Weltumradlung und hänge meinen Gedanken nach. Diese Woche im Wallis hat mich verändert. Ich beginne nun zu reisen um des Reisens willen und nicht mehr nur um in Tokio anzukommen. Die Wanderung hat eine große Eigendynamik bekommen. Ich konnte die Eile der letzten Monate ablegen. So genieße ich das unbeschwerte Leben. All das haben diese Tage im Wallis ausgelöst, das spontane Bleiben an einem Ort, die Kraft der Stille in der Abgeschiedenheit des Chalets, die gemütliche Stube mit ihren vielen Gerüchen, die hohen schneebedeckten Berge in der Umgebung, der Zeltplatz direkt neben dem reißenden Gebirgsbach und natürlich auch das Zusammentreffen mit Julia und Didier. Der Weg ist zum Ziel geworden und die Pilgerwanderung wurde zu meinem Leben: einem Leben abseits der ausgetretenen Pfade, ohne viel Besitz. Einem Leben, in dem Zeit bleibt, um an schönen Orten zu verweilen, um die Schönheit der Natur mit allen Sinnen zu erfahren, um der Seele freien Lauf zu lassen, ohne sie einzuengen. Einem spontanen Leben, in dem der Augenblick zählt, mit dem Bewusstsein, dass er einzigartig ist und nie wiederkommen wird. »La vie est belle«, das Leben ist schön!

Von Genf wanderte ich weiter nach Frankreich. Es folgten heiße Sommertage mit Temperaturen bis 48 Grad Celsius. Brennende Wälder, Hitze und Trockenheit begleiteten meinen Weg ab der französischen Grenze. Ich trank bis zu acht Liter Wasser pro Tag und stellte fest, dass unsere Welt aus dem Gleichgewicht geraten war. Die Erde schien unter der Last, die wir Menschen ihr aufbürdeten, zu schwitzen. Ich schaffte es jedoch trotz der Hitze bis nach Le Puy-en-Velay, einem großen Pilgerzentrum in Zentralfrankreich. Dort angekommen, begrüßten mich verwinkelte Gassen mit Kopfsteinpflaster, alte Paläste und eine beeindruckende Kathedrale. Voller Freude spazierte ich durch die mittelalterliche Stadt, in der es oft schien, als ob die Zeit in der Hochblüte der Jakobspilgerschaft stehen geblieben wäre.

In Le Puy besuchte mich mein Freund Herbert, der gekommen war, um gemeinsam ein paar Tage über die einsame Hochfläche des Aubrac zu wandern. Als er aus dem Zug stieg, folgten ihm noch zwei andere Pilger. Doch schon bald stürmte einer von ihnen wieder Hals über Kopf in den Zug zurück, um wenig später wieder mit seinem Wanderstock in der Hand herauszuspringen. Er musste sich wohl erst an seinen neuen Begleiter gewöhnen.

Herbert und ich spazierten in die Altstadt hinauf und bezogen die Pilgerherberge. Dort kochten wir zur Feier des Tages groß auf, dazu gab es Rotwein. Als wir gerade das Glas ansetzten, spazierten die beiden Pilger vom Bahnhof bei der Küchentür herein. Sie wohnten also auch in unserer Herberge. Lothar und Andreas, die aus Schwaben kamen, wollten bis Santiago wandern und waren gerade am Anfang ihrer großen Reise. Sie strahlten übers ganze Gesicht, weil sie auf Pilgerwanderung gehen durften.

Am nächsten Morgen trafen wir uns alle in der Pilgermesse in der Kathedrale und dann wanderten wir zusammen los. Über dem Ausgang der Kathedrale stand »St. Jacques«. Santiago. Ich spürte den zunehmenden Zauber, der von diesem Ort ausging und mich wie ein Magnet anzog. Voller Freude wanderten wir an diesem Morgen los: Santiago entgegen. Lothar und Andreas legten einen ordentlichen Schritt vor und waren bald hinter einer Kurve verschwunden. Herbert und ich waren nicht so in Eile. Zudem waren wir am Vorabend noch lange in einer Bar gesessen, wo wir Herberts Ankunft in Le Puy gefeiert hatten. Dummerweise hatte ich zwei Café Cognac getrunken. Der Kaffee hatte mir eine schlaflose Nacht bereitet und der Cognac zu einem verwirrten Kopf geführt. In der Früh waren meine Beine wie Blei gewesen.

Aufgrund unserer gemächlichen Geschwindigkeit trafen wir jedoch alsbald auf zwei Pilgerinnen. Sie erwiderten unser »Bonjour!« etwas unerwartet mit einem »Griaß eich!«. »Wo kommt denn ihr her?«, fragte sie Herbert erstaunt. »Aus Linz und aus Sierning«, gaben sie uns zur Antwort. Na so was, das war ja fast der Nachbarort von Nussbach, wo Herbert und ich in die Volksschule gegangen waren. Da war nun die Freude groß. Wir spazierten zusammen weiter und zogen Stunden später gemeinsam in der Pilgerherberge von Montbonnet ein. An diesem Tag hatten wir gerade einmal 15 Kilometer geschafft, doch angesichts der zwei Café Cognac war das immer noch eine reife Leistung. Jedenfalls hatte ich mit jedem Schritt auf die Anhöhe des Aubrac meinen Preis dafür bezahlt. Aber was für eine Überraschung: Im Salon der Herberge saßen Lothar und Andreas, die beiden Schwaben. Da es im ganzen Ort nichts zu essen gab, kochten Herbert und ich für uns alle. Unsere Rucksäcke waren noch gut gefüllt, da wir in Le Puy im Bioladen einkaufen gewesen waren. Es gab Spaghetti mit Le-Puy-Linsen. Und nachdem alle satt waren, feierten wir noch bis spät am Abend unseren ersten gemeinsamen Wandertag.

Erst Jahre später fand ich heraus, dass damals unsere Nudeln das Fundament für eine wunderbare Liebesgeschichte waren. Lothar und Christine verliebten sich auf der gemeinsamen Wanderung am Jakobsweg und leben seither zusammen. Ich denke, es waren nicht nur die Nudeln, welche die beiden zusammengebracht haben, aber Spaghetti können durchaus eine verbindende Wirkung haben. Somit haben die beiden Café Cognac auch wieder ihren Sinn gemacht. Während wir nämlich damals in Le Puy in der Bar gesessen waren, hatten wir noch eine 30-km-Etappe für unseren ersten Wandertag geplant. Dann hätte es keine Spaghetti und kein gemeinsames Wandern gegeben, und überhaupt, was wäre da wohl aus der Liebe geworden?

Fast zwei Wochen lang wanderten wir gemeinsam über das magische Hochland des Aubrac. Es war einer der schönsten Abschnitte des ganzen Jakobswegs und wir waren glücklich, dass wir diesen Weg gehen durften. Abends kochten wir, feierten und lachten, bis uns der Bauch wehtat, und kamen uns vor wie die Könige. Bald waren wir als die »deutschen Barbaren« bekannt, weil wir so viel und laut lachten. Ein Pilger aus Paris hatte uns einmal sogar allen Ernstes erklärt, dass Pilger nicht so laut lachen sollen. »Wie schade«, dachten wir und lachten ob dieses Vorschlages nur noch mehr.

Irgendwann kam dann doch der Abschied, denn ich wollte längere Etappen gehen. Daher zog ich alleine weiter. Anfangs begleitete mich eine große Einsamkeit, saß ich doch fortan abends alleine bei meinem Abendessen und fragte mich, was um alles in der Welt es bringen sollte, so schnell unterwegs zu sein, wo ich doch auch mit Lothar und Andreas bis Santiago hätte gehen können. Hinzu kam noch der eintönige Weg, der stundenlang zwischen Buchsbaumsträuchern hindurchführte. Er war monoton und endlos. Aber auch die Einsamkeit gehört zum Pilgerleben und dafür freute ich mich dann wieder umso mehr über jede Begegnung.

Eines Nachmittags sah ich schon aus der Ferne einen anderen Wanderer, der mir entgegenkam. Er trug auch einen großen Rucksack. Schließlich standen wir einander gegenüber, waren aber vermutlich beide schon zu lange alleine unterwegs, um viel zu reden. »Wo gehst du hin?«, wollte er wissen. »Nach Santiago. Und du?« »Ich wandere durch Frankreich und ziehe von einem Ort zum anderen«, antwortete er. Er klopfte mir auf die Schultern, gab mir einen festen Händedruck und ging wieder seines Weges. Trotz der flüchtigen Begegnung schwebte noch lange die Freude mit, wieder einmal den Weg mit jemandem geteilt zu haben und nicht ganz alleine zu sein. Für einige Stunden leuchtete selbst der Buchsbaum in einem schönen Licht – ich hatte sein Strahlen vorher gar nicht bemerkt.

In einer Pilgerherberge in Frankreich traf ich ein Ehepaar aus Belgien, das mit seinen beiden Kindern im Alter von sechs und acht Jahren und zwei Eseln unterwegs war. Nachdem sie ihr ganzes Hab und Gut verkauft und ihre Arbeit gekündigt hatten, waren sie zu Fuß losgewandert. Sie waren vorerst einmal nach Santiago unterwegs, wollten aber noch nach Afrika weiterziehen. Die Eltern unterrichteten ihre Kinder unterwegs und machten immer wieder längere Pausen, sodass die Wanderung für sie nicht zu anstrengend wurde. Eile hatten sie jedenfalls keine und wollten einfach so lange unterwegs sein, wie das Geld reichte. Ihre Geschichte hat mich tief beeindruckt, strahlten sie doch so viel Mut und Lebensfreude aus. Mir erging es ähnlich. In den vergangenen Wochen hatte ich mich in den Weg verliebt wie in ein hübsches Mädchen. Jeden Tag brachte der Weg ein neues Leben, eine neue Geschichte und ich dachte immer wieder an Julias Gedanken: »Es gibt keinen Weg, der zum Glück führt. Der Weg ist das Glück« … und lächelte.

Über die Pyrenäen bis zum Meer

Du darfst niemals glauben, dass etwas unmöglich ist.Matti Wuori

Maisfelder, so weit das Auge reichte, und die Pyrenäen wollten einfach nicht näher kommen. Müde vom Gehen kam ich an einer Bank vorbei. Auf einem Tisch stand eine Kühltasche mit kaltem Wasser, frischen Erdbeeren, Tomaten und allerlei Köstlichkeiten. »Für die Pilger zur freien Entnahme« war auf einem Schild zu lesen. Gerade als ich den Rucksack abstellte, kam aus der anderen Richtung eine junge Frau. Sie war Schweizerin und auf dem Rückweg von Santiago de Compostela. Das Pilgerleben machte ihr eine so große Freude, dass sie sich entschieden hatte, weiterzuwandern. Nun war sie auf dem Weg von Santiago nach Rom. Daheim hatte sie ihre Arbeit und Wohnung aufgegeben und war ohne Geld auf Pilgerwanderung unterwegs. »Ohne Geld zu gehen, erfordert ganz schön viel Vertrauen in die Mitmenschen und auch die Bereitschaft, mitunter einmal ohne Essen unter freiem Himmel zu schlafen«, meinte sie, doch vielleicht war sie gerade deswegen so guter Dinge und voll Lebensfreude. In einer Gesellschaft, die fast jede Handlung mit Geld bewertete, war das eine mutige Entscheidung.

Ich durchquerte das wilde Baskenland, vorbei an uralten Häusern, kleinen Dörfern und durch Edelkastanienwälder. Hoch oben auf einem Hügel, unweit der Pyrenäen, am Ende eines steinigen Prozessionsweges, kam ich zur Kapelle von Soyarza und verweilte lange an diesem magischen Ort – »ein Ort, an dem der Weltfrieden zu Hause ist«, wie eine Pilgerin vor mir ins Gästebuch geschrieben hatte.

Zusammen mit Jean, einem Pilger aus Paris, wanderte ich von der Kapelle nach Ostabat hinunter. In früheren Zeiten war das ein bedeutender Pilgerort gewesen. In den Hospizen konnten bis zu 5000 Wanderer beherbergt werden, kamen doch unweit von Ostabat drei Jakobswege aus verschiedenen Teilen Frankreichs zusammen. Von all diesen Gebäuden blieb aber nur eine kleine Pilgerherberge übrig – doch diese war sehr schön, gleich neben einem alten Bauernhof, in einer Scheune eingerichtet. Der Bauer lud uns zu einem Schnaps ein und dann statteten wir noch dem nahe gelegenen Dorfgasthaus einen Besuch ab. Dort war das halbe Dorf versammelt. Zuerst wurden wir Auswärtigen etwas verstohlen beobachtet, aber schon nach einer gemeinsamen Runde Rotwein kamen wir ins Gespräch. Die Männer trugen Baskenmützen und erzählten uns, dass sie sich Frankreich nicht zugehörig fühlten. Die französische Regierung habe sie lange als Außenseiter behandelt und versuche immer noch auf subtile Art und Weise, ihre Kultur zu unterwandern. Bis vor einigen Jahren seien Kinder, die in baskische Schulen gingen, nicht vom Schulbus mitgenommen worden und auch ihre Sprache sei den französischen Bürokraten lange Zeit ein Dorn im Auge gewesen. In den Medien wurden sie immerzu als Aufwiegler dargestellt, doch ich erlebte sie als sehr freundliche Menschen. Bis spät in die Nacht erzählten sie noch Geschichten, bis es für uns schließlich an der Zeit war, in die Pilgerherberge zurückzuspazieren.

Als ich dort ankam, saß Caro aus Dijon auf den Stufen vor dem Eingang und betrachtete den Sternenhimmel. Sie war bereits seit Le Puy-en-Velay ganz alleine am Jakobsweg unterwegs und hatte dabei fast immer im Zelt übernachtet. In Ostabat schlief sie nun einmal zur Abwechslung in einer Herberge. Wir schauten zu den Sternen hinauf, suchten Sternbilder und unterhielten uns bis in die frühen Morgenstunden über unser Leben und die Magie des Pilgerns. Als ich in ihre schönen, tiefgründigen Augen blickte, dachte ich mir, dass es eine Freude wäre, nicht immer nur alleine durch die Welt zu wandern.

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