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mehrbuch-Weltliteratur! eBooks, die nie in Vergessenheit geraten sollten. Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht ist die zweite Autobiografie nach Kind dieser Zeit von Klaus Mann. Der Titel endet mit Klaus Manns Entscheidung zum Eintritt in die US Army. Der Titel bezieht sich auf Manns Ansicht, jeder Mensch habe an bestimmten Lebenspunkten die Möglichkeit, sich für das eine oder andere zu entscheiden und damit seinem Leben eine bestimmende Wendung zu geben. In seinem Leben war das die Wandlung vom ästhetisch-verspielten zum politisch engagierten Schriftsteller. #wenigeristmehrbuch
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Seitenzahl: 924
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Der Wendepunkt
Klaus Mann
Meiner Mutter und meiner Schwester Erika gewidmet
This, then, is life: here is what has come to the surface after so many throes and convulsions … How curious! how real!
Walt Whitman
Il y a dans tout aveu profond plus d'éloquence et d'enseignement qu'on ne peut croire tout d'abord.
André Gide
Wer spricht von siegen? Überstehn ist alles.
Rainer Maria Rilke
Wo beginnt die Geschichte? Wo sind die Quellen unseres individuellen Lebens? Welche versunkenen Abenteuer und Leidenschaften haben unser Wesen geformt? Woher kommt die Vielfalt widerspruchsvoller Züge und Tendenzen, aus denen unser Charakter sich zusammensetzt?
Ohne Frage, wir sind tiefer verwurzelt, als unser Bewußtsein es wahrhaben will. Niemand, nichts ist zusammenhangslos. Ein umfassender Rhythmus bestimmt unsere Gedanken und Handlungen; unsere Schicksalskurve ist Teil eines gewaltigen Mosaiks, das durch Jahrhunderte hindurch dieselben uralten Figuren prägt und variiert. Jede unserer Gesten wiederholt einen urväterlichen Ritus und antizipiert zugleich die Gebärden künftiger Geschlechter; noch die einsamste Erfahrung unseres Herzens ist die Vorwegnahme oder das Echo vergangener oder kommender Passionen.
Es ist ein langes Suchen und Wandern: wir mögen es zurückverfolgen bis ins fahle Zwielicht der Höhle, des barbarischen Tempels. Das blutige Zeremoniell der Darbringung geht weiter in unseren Träumen; in unserem Unterbewußtsein widerhallen die Schreie vom primitiven Altar, und die Flamme, die das Opfer verzehrt, sendet noch immer ihre flackernden Lichter. Die atavistischen Tabus und inzestuösen Impulse früher Generationen bleiben in uns lebendig; die tiefste Schicht unseres Wesens büßt für die Schuld der Ahnen; unsere Herzen tragen die Last vergessenen Kummers und vergangener Qual.
Woher stammt diese Unruhe in meinem Blut? Unter meinen nordischen Vorfahren mag es Piraten gegeben haben, deren Rastlosigkeit in mir weiterlebt. Welche meiner Schwächen und Laster verdanke ich einem hanseatischen Urgroßvater – Kapitän, Handelsmann der Richter –, dessen Namen ich nie kennen werde? Was ich für mein persönlichstes Drama hielt, ist vielleicht nur die Fortsetzung von Tragödien, die sich einst in der stickigen Gemütlichkeit eines norddeutschen Patrizierhauses abgespielt haben – weit weg, irgendwo am Gestade der Ostsee.
Eine würdig-idyllische Kleinstadt mit engen Gassen und grauen, giebeligen Häusern: beginnt hier die Geschichte? Ich habe nichts mit dieser Stadt zu tun, noch verlangt es mich, sie jemals zu besuchen. Und doch würde ich nicht existieren ohne einen gewissen Senator Heinrich Mann, hochrespektablen Bürger der Freien Hansastadt Lübeck, aber eben doch nicht mehr völlig hochrespektabel, schon ein wenig exzentrisch. Ein Lübecker Patrizier, der wirklich zur Gänze comme il faut ist, sucht sich seine Lebensgefährtin unter den Töchtern der Stadt und wählt nicht eine junge Dame aus dem fernen Brasilien, wie der Senator es tat. Sie war das Kind eines deutschen Kaufmanns und einer Eingeborenen. Daß sie als kleines Mädchen den Ozean auf einem Segelschiff überqueren mußte, um nach Lübeck zu gelangen, schien mir das aufregendste Detail ihrer Geschichte. Denn dort, in der nördlichen Fremde, genoß sie eine durchaus »feine«, bedauerlich unromantische Erziehung und bewegte sich bald ganz natürlich unter den blonden Gespielinnen. Doch blieb es reizend, sich den Großpapa vorzustellen – den ich übrigens in Wirklichkeit nie gesehen hatte –, wie er mit seiner exotischen Braut zur Kirche fuhr. Der Senator, sehr stattlich und distinguiert, mit Backenbart, hohem Stehkragen, lehnt, ein wenig befangen, im Fond der prächtigen Kutsche, den er mit ihr teilt. Sie, das dunkle Köpfchen an ihn geschmiegt, darf hinter geschlossenen Lidern noch einmal die Palmen und bunten Vögel ihrer brasilianischen Heimat sehen, während der Wagen, vorbei an viel altem Gemäuer und majestätisch ragenden Türmen, den Weg zum Altar nimmt.
Frau Julia schenkte dem Senator fünf Kinder, zwei Töchter und drei Knaben. Die beiden älteren Söhne hießen Heinrich und Thomas.
Das Mannsche Haus gehörte zu den feinsten der Stadt. Man speiste vorzüglich dort, auch die Weine ließen nichts zu wünschen übrig. Die Familie erfreute sich allgemeiner Beliebtheit, obwohl sie letzthin so viel Pech gehabt hatte, daß es beinah anstößig wirkte. Die Schwester des Senators, Elisabeth, ließ sich von ihrem süddeutschen Gatten scheiden und kam auch mit ihrem zweiten Gemahl nicht aus; noch problematischer stand es um einen Bruder, meinen Großonkel Friedel, einen neurotischen Tunichtgut, der sich in der Welt herumtrieb und über eingebildete Krankheiten klagte. Was aber die schöne Frau Senator betraf, so ließ sich nicht leugnen, daß sie unter den Damen der bourgeoisen Aristokratie oft ein wenig fehl am Platze wirkte. Nicht als ob an ihrem Lebenswandel etwas auszusetzen gewesen wäre! Man fand sie nur ein bißchen zu »originell«. Es lag wohl an der exotischen Herkunft. In Lübeck paßt es sich nicht, so dunkle Augen zu haben wie Frau Julia Mann; Schmelz und Feuer ihres Blickes hatten schon den Stich ins Skandalöse. Sie spielte Klavier, gerade ein wenig zu gut für eine Dame in ihrer Stellung, und sang fremdländische Lieder, die lieblich, aber auch verfänglich klangen: nur gut, daß man den Text nicht verstand … Die beiden Söhne, Heinrich und Thomas, wären gewiß viel lustiger und strammer geworden, hätten sie eine Mama von gutem nordischem Schlage gehabt, an Stelle der übertrieben pikanten Brasilianerin. Mit den beiden Jungen war nicht viel Staat zu machen; in der Schule fielen sie durch Aufsässigkeit und Faulheit auf, was verzeihlich gewesen wäre, wenn sie sich wenigstens sportlich hervorgetan hätten. Gerade auf diesem Gebiet aber waren sie komplette Versager. Es ging das Gerücht, daß sie sich mit Literatur beschäftigten. Der Herr Senator konnte einem leid tun! Kein Wunder, daß er oft so nervös und deprimiert erschien.
Offenbar stand auch mit seiner Getreidefirma nicht alles zum besten. Senator Mann war wohl nicht mehr ganz so tüchtig und energisch, wie seine Vorfahren es zu sein pflegten. Ein sehr feiner Herr, ohne Frage; vielleicht etwas zu fein, zu sensitiv, zu wählerisch, um es mit der derberen Konkurrenz aufnehmen zu können. Als er starb, ganz plötzlich, stellte sich heraus, daß das Vermögen der Familie beinah völlig dahingeschmolzen war. Die alte Firma wurde aufgelöst; Frau Julia verließ Lübeck, wo sie sich immer als Fremde gefühlt hatte. Es war das freiere, südlichere München, welches sie sich nun als Aufenthaltsort wählte. Sie ließ sich dort mit den drei jüngeren Kindern nieder; Heinrich und Thomas folgten, nachdem sie sich irgendwie durch die Schule gemogelt hatten. Jetzt waren sie endlich frei, zwei unabhängige junge Leute im Besitz einer bescheidenen Rente und einer Fülle von melancholischem Humor, Beobachtungsgabe, Gefühl und Phantasie. Beide waren seit längerem entschlossen, sich ganz der Literatur zu widmen, Schriftsteller zu werden.
Sie waren einander sehr ähnlich und doch grundverschieden; ihre Charaktere und ihre Träume schienen kontrastierende Variationen des gleichen Themas zu sein. Das Leitmotiv, das sie gemeinsam hatten und unablässig abwandelten, war das Problem der gemischten Rasse, die schmerzlich-stimulierende Spannung zwischen dem nordisch-germanischen und dem südlich-lateinischen Erbe in ihrem Blut.
Aus diesem primären Konflikt entsprang ihnen ein zweiter, der Antagonismus zwischen »Bürger« und »Künstler«: auf der einen Seite der Typ des gewöhnlichen und robusten Durchschnittsmenschen; auf der anderen der Entwurzelte, Gespaltene, von des Gedankens Blässe Angekränkelte – Hamlet, der Intellektuelle. Die Beziehung zwischen den beiden ist problematisch, doppeldeutig, geladen mit ambivalentem Gefühl. Eine recht eigentlich erotische Beziehung, wenn man Eros, im Sinne des Sokrates, als den Dämon der unstillbaren Sehnsucht, des dialektischen Spieles versteht. Der »Bürger«, das heißt der normale Mann, der sich wohlfühlt in seiner Haut und in dieser Welt, ehrt und bewundert (wenngleich niemals ganz ohne mißtrauische Reserve) die »Macht des Geistes«, die »erhabenen Ideale«, die »reine Schönheit der Kunst«, all jene sublimen Produkte moralischer Fragwürdigkeit, leidvollen Dienstes, stolz verborgener Qual. Der kreative Typ seinerseits empfindet eine seltsame Mischung aus Verachtung und Neid angesichts von so viel ahnungsloser Unschuld. Wie leicht, denkt er, muß das Leben sein für jene, die keinen Traum, keine Sendung haben! Glückliche Toren – sie wissen nichts vom Fluch der schöpferischen Manie, vom Martyrium der Auserwähltheit! Wie glatt und leer ihre Gesichter sind, wie hübsch, ach, wie verlockend! Wäre man doch wie sie! … Möchte man es wirklich? Würde man mit ihnen tauschen?
Es hängt vom individuellen Fall ab, welches Element in diesem Gefühlskomplex die Oberhand gewinnt: die Sehnsucht oder die Verachtung. Beim jungen Heinrich Mann dominierte der künstlerische Stolz; seine Geringschätzung des Philisters – wenngleich zunächst durchaus vom Ästhetischen her bestimmt – hatte von Anfang an die gesellschaftskritisch-revolutionäre Nuance. So unbedingt und intensiv war diese Idiosynkrasie gegen den deutschen Spießer, den »Untertan«, daß sie zum Ausgangspunkt, zur Basis einer politischen Gesinnung werden konnte. Der soziale Radikalismus seiner Reifezeit entspringt, scheinbar paradox und doch logisch, dem radikalen Ästhetizismus jener frühen Epoche.
Der jüngere der beiden Brüder hingegen war geneigt, die sehnsüchtige Zärtlichkeit für die Blonden und Lachenden inniger zu betonen als die sinnlich-übersinnlichen Ekstasen des Künstlertums. Er war ein Bohémien mit schlechtem Gewissen, voll Heimweh nach den »Wonnen der Gewöhnlichkeit«, dem Paradies des wohlbehüteten Bürgerhauses. Und während Heinrich Mann, der Schüler Stendhals und D'Annunzios, den deutsch-bürgerlichen Geschmack durch den nervösen Elan seiner frühen Prosa befremdete und verletzte, warb der andere, an Fontane, Storm und Turgeniew erzogen, mit diskreteren und delikateren Mitteln. Der wehmütig-humoristische Ton, das Lächeln einer Ironie, die aus Verzicht und Verlangen kommt, wird zum besonderen Kennzeichen, zur stilistischen Spezialität des jungen Autors.
Sie lebten und reisten zusammen, ein ungleiches und doch so brüderliches Paar. Nach längerem Aufenthalt in Italien ließ man sich in München nieder, wo die Mutter mit den drei jüngeren Geschwistern schon seit geraumer Weile ihren Haushalt hatte. Heinrich und Thomas logierten nicht mehr zusammen; vielmehr bezog jeder eine Junggesellenwohnung in Schwabing, das damals noch ein wirkliches Zentrum geistigen Lebens und zudem ein Tummelplatz exzentrischer Originale war.
Frau Julia Mann wohnte mit den zwei Töchtern und dem halbwüchsigen Viktor nicht weit von ihren beiden Ältesten. Die brasilianische Schöne hatte sich unversehens, gleichsam über Nacht, in eine schlichte Matrone verwandelt, als hätte sie Schönheit, Anmut und Lächeln wie Juwelen oder kostbare Andenken ihren Kindern zum Opfer gebracht. Das ältere der beiden Mädchen, Lula, war von scheuem Liebreiz, wart und reserviert; die jüngere, Carla, beeindruckte die Herrenwelt durch sensuellen Charme und leicht gewagte Manieren. Sie wollte Schauspielerin werden, trug kecke Hüte und rauchte Zigaretten. Ihr Bruder Heinrich betete sie an und porträtierte sie später in vielen seiner Bücher. Aber da war es schon zu Ende mit ihren Kapricen und Extravaganzen; die zu tief dekolletierten Abendkleider, die hektischen Flirts, die Bohème-Alluren – sie hatte einen hohen Preis für alles dies bezahlt. Die letzte Szene ihres Dramas spielte sich hinter verschlossenen Türen ab. Sie nahm Gift im Hause ihrer Mutter, die auf dem Korridor zuhören mußte, wie ihr Kind in der verriegelten Stube röchelte und verschied. Die Schauspielerin Carla Mann beging Selbstmord, ehe ihre theatralische Karriere eigentlich begonnen hatte, vielleicht, weil sie im Grunde ihres Herzens wußte, daß ihr Talent für eine Karriere großen Stils wohl kaum ausgereicht hätte. Mit etwas Geringerem aber fand sie sich nicht ab.
Die beiden älteren Brüder dieses reizenden und bemitleidenswerten Geschöpfes begannen ihre künstlerische Laufbahn in aller Ruhe und mit Selbstgewißheit. Heinrichs kühnes und provokantes Talent wirkte zunächst nur auf eine kleine Gruppe eingeweihter Connaisseurs, während die Arbeiten von Thomas schon anfingen, bei einem breiteren Publikum Aufsehen zu machen. Heinrich, stolz und gehemmt, beschränkte seine gesellschaftlichen Kontakte beinahe ausschließlich auf die Schwabinger Bohème; Thomas fand seinen Weg zu einigen der exklusiveren Münchener Salons. Und während Heinrich sich im Literatencafé mit der befangenen Würde eines verirrten Prinzen bewegte, blieb Thomas in der »großen Welt« stets ein intellektueller Außenseiter, hinter dessen verbindlich-urbanem Auftreten sich Schüchternheit verbarg. Der junge Poet mochte sich in den Häusern der Kommerzienräte und Barone als Zigeuner empfinden; aber er war ein Zigeuner mit untadeligen Manieren – zu höflich und diszipliniert, um seine Verlegenheit oder seinen Spott zu zeigen, wenn eine der mondänen Gastgeberinnen ihn mit jubilierender Herzlichkeit begrüßte: »Ich bin ja so glücklich, daß Sie gekommen sind, mein lieber junger Freund! Gerade haben die Gräfin und ich uns über Ihren Roman unterhalten – wie heißt er noch? Budden …? Mein armes Gedächtnis! Helfen Sie mir doch, liebster Herr Mann! Ist es Buddenbrooks …?«
Die schönste und geistvollste femme du monde der bayerischen Kapitale, Frau Hedwig Pringsheim-Dohm, sollte eine entscheidende Rolle in der Biographie des jungen Hanseaten spielen; denn in dem Renaissance-Palast der Pringsheims gab es, neben vielen anderen Kostbarkeiten, ein höchst liebliches und besonderes Mädchen, namens Katja – die einzige Tochter, Schwester von vier Brüdern, deren jüngster ihr Zwilling war.
Die Pringsheims waren eine ungewöhnliche Familie, auffallend sogar in dem bunt gemischten Milieu der Münchener Gesellschaft vor dem ersten Weltkrieg. Der Professor und seine Gattin stammten beide aus Berlin: er, jüdischer Herkunft, Erbe eines großen Vermögens, das während der sogenannten »Gründerjahre« von seinem Vater im Schlesischen erworben worden war. Sie, aus unbemitteltem, aber gesellschaftlich prominentem Hause. Madame Pringsheims Vater, Ernst Dohm, gehörte zu den Gründern der satirischen Wochenschrift »Kladderadatsch«, die in der Bismarck-Zeit einen nicht unerheblichen politischen Einfluß ausübte. Ihre Mutter, Hedwig Dohm, war eine führende Frauenrechtlerin und übrigens auch literarisch erfolgreich. Ihre Romane, die um die Jahrhundertwende viel gelesen wurden, handelten meist von unverstandenen Frauen, die unter ihren banausischen Gatten litten, Nietzsche lasen und das Wahlrecht verlangten. Der Salon der Frau Hedwig Dohm gehörte zu den angeregtesten intellektuellen Treffpunkten des alten Berlin. Franz Liszt, mit dem die alte Dame übrigens eine auffallende Ähnlichkeit hatte, war einer der regelmäßigen Besucher.
Die Dohms hatten mehrere Töchter; eine von ihnen, Hedwig, fiel durch Schönheit und Anmut auf. Sie wurde Schauspielerin und spielte Shakespearesche Heldinnen in Meiningen. Als der große Joseph Kainz dort als Romeo gastierte, war sie seine Julia und sah so unwiderstehlich aus, daß einer der jungen Kavaliere in der Proszeniumsloge, Dr. Alfred Pringsheim aus Berlin, prompt beschloß, sie zu ehelichen. So geschah es. Der junge Gatte baute seiner geliebten Hedwig ein fürstliches Haus in der feinsten Gegend der schönen Stadt München.
Er sammelte Gemälde, Gobelins, Majolikas, Silbergerät und Bronze-Statuetten – alles im Renaissance-Stil. Seine Kollektion war so bedeutend, daß Kaiser Wilhelm II. ihm als Zeichen seiner Anerkennung dafür den Kronenorden zweiter Klasse verlieh. Das Palais in der Arcisstraße wirkte wie ein Museum, war aber mit allem Komfort der Neuzeit ausgestattet. Die Pringsheims waren unter den ersten, die sich in München ein Telephon und elektrisches Licht zulegten. Ihr Haus wurde bald zu einem Zentrum der intellektuellen und mondänen Welt.
Es war übrigens keineswegs nur sein Reichtum, dem der Professor sein soziales Prestige verdankte. Weit davon entfernt, sich mit der Position eines wohlhabenden Dilettanten und Müßiggängers zufriedenzugeben, nahm er seinen Beruf äußerst ernst und machte sich einen Namen in der Gelehrtenwelt. Er war Mathematikprofessor an der Universität München – geachtet als Dozent und Theoretiker. Seine vierte Passion – neben der Mathematik, der schönen Frau Hedwig und den italienischen Altertümern – war die Musik Richard Wagners: der junge Professor gehörte zu den ersten finanziellen Förderern der Bayreuther Festspiele und blieb sein ganzes Leben lang ein enthusiastischer Anhänger des Wagner-Kultes. Sein persönlicher Kontakt mit dem Meister freilich kam zu einem etwas abrupten Ende, als sich der Meister in Gegenwart seines »nicht-arischen« Bewunderers eine antisemitische Bemerkung entschlüpfen ließ. Das Genie war taktlos und undankbar, und der Professor hatte ein reizbares Temperament.
Der gesellschaftliche Stil des Hauses war zugleich zwanglos und opulent. Die berühmtesten Maler, Musiker und Dichter der Epoche trafen sich dort mit Prinzen vom Hause Wittelsbach, bayrischen Generälen und durchreisenden Bankiers aus Frankfurt und Berlin. Die Wirtin – eine verführerische Mischung aus venezianischer Schönheit à la Tizian und problematischer grande dame à la Henrik Ibsen – beherrschte die in unserem Jahrhundert so seltene Kunst vollendeter Konversation, wobei sie ihre geübte Beredsamkeit gerne mit Kaskaden perlenden Gelächters begleitete. Sie wußte immer amüsant und originell zu sein – ob sie nun über Schopenhauer und Dostojewski plauderte oder über die letzte Soirée im Hause der Kronprinzessin. Zu ihren Verehrern gehörten Künstler wie Franz von Lenbach, Kaulbach und Stuck, von denen sie sich porträtieren ließ, und Schriftsteller wie Paul Heyse und Maximilian Harden, die ihr die geistvollsten Huldigungen darbrachten. Professor Pringsheim seinerseits – klein von Statur, äußerst agil und lebhaft – schokierte und erheiterte die Gäste mit sarkastischen Bonmots und Wortspielen, oft etwas gewagter Natur. Seine knarrende Stimme ward übertönt vom melodiösen Protest der heiter entrüsteten Gattin: »Ach, Alfred! Wie schrecklich du wieder bist!«
Es war in diesem kosmopolitisch geselligen, heiter kultivierten Milieu, daß der ernste junge Romancier aus Lübeck dem dunkeläugigen Mädchen begegnete, dem sein Herz sich zuwendete und ein Leben lang die Treue hielt. Er hatte sie von weitem beobachtet, ehe er sie noch gesellschaftlich kennenlernte. Sie pflegte auf dem Rad zur Universität zu fahren – umgeben von ihren Brüdern wie eine gelehrte kleine Amazone von der Schar ihrer Trabanten. Sie studierte Mathematik und vereinte den schlagfertigen Witz der Porzia mit Jessicas exotisch-süßer Erscheinung. Die Sanftheit des goldbraunen Blicks kontrastierte zur aggressiven Ironie der geschwinden Rede; hinter der kapriziösen Wortgewandtheit der verwöhnten Prinzessin verbargen sich kindhafte Sprödheit und Unschuld. Der junge Romancier war bezaubert. Er sah und beschrieb sie als ein Wunder von Geist und Charme, eine zugleich wilde und delikate Blume von fremder Lieblichkeit. Neben ihrem Zwillingsbruder Klaus, dem jungen Musiker, zeigte sie sich bei Theaterpremieren, auf Festen, in der Oper. Das Gespräch zwischen den beiden wimmelte von geheimen Formeln, zärtlichen Anspielungen, rätselhaften Scherzen. Die zwei seltsamen Kinder schienen in einer Welt für sich zu leben – beschützt von ihrem Reichtum und von ihrem Witz, bewacht und verwöhnt von Bedienten und Verwandten. Daheim, im väterlichen Palast, spielten und kicherten sie miteinander, während das Lachen ihrer Mama von der Terrasse kam wie das Plätschern einer Fontäne und die Melodien aus »Walküre« und »Parsifal« vom Musiksaal zu den Zwillingen herübertönten.
Zunächst verhielt die Märchenprinzessin sich spöttisch kühl gegenüber den Werbungen des jungen Dichters. Allmählich jedoch gelang es seinen subtilen Schmeicheleien und seiner geduldigen Zärtlichkeit, das Eis zu brechen – besonders da der Zwillingsbruder und die majestätische Mama seine Absichten eher begünstigten. Was den Vater betraf, so war er freilich als Gegner zu betrachten: jeder, der ihm das geliebte Kind entführen wollte, hatte mit seinem Widerstand zu rechnen. Es war keine leichte Aufgabe, das gallige Temperament des Alten wenigstens halbwegs zu besänftigen und ihn dahin zu bringen, daß er die Visiten des Freiers mit einer Art von grollender Resignation duldete. Glücklicherweise gab es wenigstens eine Neigung, die der kratzbürstige Gelehrte und sein künftiger Schwiegersohn gemeinsam hatten, außer ihrer Liebe zu Katja – die Liebe zu Wagners Werk. Der Professor machte sich nichts aus Literatur, noch interessierte der Romancier sich für Mathematik oder Majolikas; aber beide waren unter dem Bann von »Tristan« und »Lohengrin«. Wenn sie sich sonst nicht viel zu sagen hatten, so konnten sie immer noch Zitate aus den Musikdramen austauschen und sich gemeinsam kostbarer Details aus dem bewunderten Oeuvre erinnern.
Die Romanze zwischen Katja und Thomas entwickelte sich unter dem Schutz Wagnerischer Harmonien. Endlich wurde sie von den Eltern gesegnet und von einem protestantischen Pastor legalisiert.
Das Hochzeitsfest im Hause Pringsheim war ein gesellschaftliches Ereignis großen Stils, wie man sich vorstellen kann. »Ganz München« gratulierte dem jungen Paar; der Professor hielt eine Rede voll beißender Scherzhaftigkeiten; Frau Hedwig schimmerte in großer Toilette wie ein Traum von Tizian, und sogar Frau Julia Mann zeigte in festlicher Erregung Spuren der alten Schönheit. Die Braut glich mehr denn je einer Märchenprinzessin – die dunklen, versonnenen Augen weit geöffnet unter dem Myrtenkranz. Blaß und jung saß sie zwischen dem grimmig witzelnden Papa und dem Bräutigam, dessen Gesicht mit dem buschigen Schnurrbart gleichfalls recht bleich erschien. Ein hübscher junger Mann, wie allgemein festgestellt wurde – und wie gut er sich hielt, wie gestrafft und zusammengenommen, beinah militärisch. Aufrecht und schlank in seinem gutsitzenden Frack, versuchte er seine Erregung zu verbergen – lächelnd und konversierend, so liebenswürdig und korrekt wie je. Aber die hellen Augen, zugleich zerstreut und durchdringend unter den schräg gestellten Brauen, schienen nichts von der Rede zu wissen, die so glatt und kühl aus seinem Munde kam. Übrigens geschah es auch wohl, daß seine Braut zu antworten vergaß und in Gedanken versunken blieb, während der Vater scherzte und der Gatte parlierte.
Klammerte sich ihr Herz an die Vergangenheit? Gedachte sie all der süßen und vertrauten Dinge, die sie verlieren sollte? Die Spiele mit den Brüdern, die Teegesellschaften der Mama, der Gutenachtkuß des Vaters, die Riten am Frühstückstisch – sollte es mit all dem nun vorüber sein? Die Neckereien, das Gekicher, die Studien, das Familienkauderwelsch, jedem Außenstehenden unverständlich. Es galt, Abschied davon zu nehmen.
Und jetzt? Was wartete ihrer, wenn dies Fest vorüber war? War es ein neues Abenteuer, ein neues Märchen, das nun beginnen sollte? Was meinte er denn, ihr junger Schriftsteller, wenn er von einem »strengen Glück« sprach, das sie gemeinsam erleben würden? Er hatte eine seltsame Art, solche Dinge zu sagen, feierlich und spöttisch zugleich, als machte er sich ein wenig lustig über sein eigenes Wort, über das eigene Gefühl. »Ein strenges Glück« … wie charakteristisch für ihn diese Formel war! Er verachtete alles Weiche und Schlaffe. Glück – ein gewöhnliches Glück ohne Strenge – wäre wohl ein bißchen weich und schlaff, etwas banal, ein wenig ordinär: so viel verstand die sinnende junge Braut.
Aber warum war sie auserwählt – sie unter allen Frauen –, sein ungewöhnliches und strenges Los zu teilen? Was war es, was sie mit diesem disziplinierten Träumer aus einer fernen hanseatischen Stadt verband? Gehörten sie zueinander, sie und er, weil sie beide »anders« waren – beide distanziert vom Wirklichen, beide problematisch, verwundbar und zur Ironie geneigt? Das satte und sentimentale Behagen trivialen Eheglückes hätte zu ihr so wenig gepaßt wie zu ihm.
Denn offenbar gehörte sie nicht zu jenem Typ der Blauäugigen und »Gewöhnlichen«, zu denen die Helden seiner Bücher sich mit so viel zärtlicher Verachtung und ironischer Sehnsucht hingezogen fühlten. Sie war weder blond noch unwissend und robust, sondern dunkeläugig und nachdenklich und nur zu vertraut mit den Schmerzen, die er beschrieb. Ihre Ehe war also nicht die Begegnung zweier polarer Elemente; eher handelte es sich wohl um die Vereinigung von zwei Wesen, die sich miteinander verwandt wußten – um ein Bündnis zwischen zwei Einsamen und Empfindlichen, die gemeinsam einen Kampf zu bestehen hofften, dem jeder für sich vielleicht nicht gewachsen wäre. Sein Entschluß, die Freuden und Verantwortlichkeiten des normalen Lebens zu akzeptieren, Kinder zu zeugen, eine Familie zu gründen – sein Entschluß, glücklich zu sein: was war es denn im Grunde, wenn nicht ein von moralischem Pflichtgefühl diktierter Schritt, ein Versuch, jene »Sympathie mit dem Tode« zu überwinden, die wie ein Leitmotiv durch das Gewebe all seiner Träume ging? Weder Disziplin noch Ironie wären stark genug gewesen, jener süßen und gefährlichen Verlockung zu begegnen – Tristans nihilistischer Verzückung, dem Nirwana-Komplex, der tödlichen Faszination aller Romantik. Welche Macht war groß genug, um es aufzunehmen mit diesem dunklen Zauber? War die Liebe das magische Heilmittel, durch dessen Kraft das Fragwürdige und Zerstörerische sich dem Leben dienstbar machen ließe? … Aber wie schwer muß es sein, das Idiom der Liebe zu lernen! Wieviel Scham wird zu überwinden, wieviel Opfer werden zu bringen sein!?
Bin ich tapfer genug? dachte die junge Braut – sehr zart und kindlich zwischen dem amüsanten Papa und dem feierlichen Bräutigam. Soll alles ganz und gar anders sein von jetzt an? Wird es sehr lange dauern, bis ich mich dran gewöhne?
Alles dauert lang, das Leben hat es nicht eilig. Die großen Entscheidungen mögen in einem dramatischen Augenblick gefaßt werden, aber sie materialisieren und entwickeln sich nur allmählich; es dauert Monate oder Jahre, bis sie die Bedeutung und die vertraute Gestalt der Realität annehmen.
Eine kleine Wohnung in der Franz-Joseph-Straße in Schwabing, nicht weit vom Pringsheimschen Elternhause – war das die große Verwandlung? Der intime Kontakt mit dem barocken Vater, der glänzenden und zärtlichen Mama, den ritterlichen Brüdern ging weiter – beinahe unverändert. Alles schien fast beim alten. Erst nach Monaten wurde klar, daß man schon mitten im neuen Abenteuer, mitten in der Metamorphose war.
Wie schwer und entstellt sie nun erschien, die delikate Märchenprinzessin! Wie verwirrt und hilflos sie war, angesichts der natürlichsten und doch wunderbarsten Verheißung! Nur Geduld, kleine Mutter! – ein paar Monate noch, und du weißt, ob es ein Bub ist oder ein Mädchen …
Es war ein Mädchen; sie wurde auf den Namen Erika getauft. Sie hatte die dunklen Augen der Mutter. Der junge Vater war über die Maßen stolz auf sie.
Und bevor Erika noch ihr erstes »Papa« stammeln lernte, traf ein Bruder und Gespiele ein – am 18. November 1906. Zwei seiner Onkel – der Zwilling der Mutter, Klaus, und der ältere Bruder des Vaters, Heinrich – standen Pate bei ihm. Sein voller Name war Klaus Heinrich Thomas Mann.
... a stone, a leaf, an unfound door; of a stone, a leaf, a door. And of all the forgotten faces.
Thomas Wolfe
La réalité ne se forme que dans la mémoire.
Marcel Proust
Erinnerungen sind aus wundersamem Stoff gemacht – trügerisch und dennoch zwingend, mächtig und schattenhaft. Es ist kein Verlaß auf die Erinnerung, und dennoch gibt es keine Wirklichkeit außer der, die wir im Gedächtnis tragen. Jeder Augenblick, den wir durchleben, verdankt dem vorangegangenen seinen Sinn. Gegenwart und Zukunft würden wesenlos, wenn die Spur des Vergangenen aus unserem Bewußtsein gelöscht wäre. Zwischen uns und dem Nichts steht unser Erinnerungsvermögen, ein allerdings etwas problematisches und fragiles Bollwerk.
An was erinnern wir uns? An wieviel? Nach welchen Prinzipien bewahrt unser Geist die Spuren gewisser Eindrücke, während wir andere in den Abgrund des Unbewußten versinken lassen? Gibt es irgendeine Identität oder authentische Verwandtschaft zwischen meinem gegenwärtigen Ich und dem Knaben dessen Lockenkopf ich von vergilbten Photographien kenne? Was wüßte ich von jenem goldhaarigen Kinde ohne die Andenken und Erzählungen, die vom kollektiven Familien-Gedächtnis – das heißt also von Augenzeugen der älteren Generation – überliefert werden? Wie mag es gewesen sein, die seidige Last dieser Locken zu tragen? Wenn ich versuche, die vergangene Sensation in mir wachzurufen, finde ich mich immer in einem bestimmten Zimmer unseres Münchener Hauses, dem Salon meiner Mutter, den wir Kinder übrigens nur selten betraten. Dort gab es auf einem runden kleinen Marmortisch eine flache Silberschale, in der eine Kollektion alter Photographien aufbewahrt wurde. Es mag unter diesen Familienreliquien gewesen sein, daß ich das Porträt meines ehemaligen Selbst entdeckte. Wahrscheinlich war ich erst sechs oder sieben Jahre alt, als ich, ein pausbäckiger kleiner Narziß, mein eigenes Bildnis zum ersten Male bewunderte. Der Knabe, der Mutters Andenken in der verlassenen Wohnstube durchstöberte, hatte sein goldenes Gelock schon verloren: er trug eine schlichte Pagenfrisur, mit Fransen, die ihm tief in die Stirne hingen. Der Blick, mit dem er das lächelnde Antlitz seiner Vergangenheit betrachtete, war schon von Heimweh erfüllt.
An was also erinnere ich mich? Wer ist der Knabe, den ich im Dämmerlicht jenes Salons wiedererkenne? Ist es der, der die seidenen Locken trug? Oder ist es schon sein »alternder« Bruder, der sehnsüchtig auf eine Lieblichkeit schaut, die einmal die seine war? Erinnere ich mich der Locken oder nur der Erinnerung, die sie im Gemüt des lockenlosen Kindes zurückließen?
Unser Unterbewußtsein reagiert auf gewisse Zeichen, geheime Winke und Stichworte, die herbeigeweht kommen – niemand weiß, woher. Da ist ein Aroma, schwach und doch unverkennbar – ein Gemisch aus Gummi und lackiertem Holz, mit einer ganz leichten Beimischung von Kattun, dem Stoff, aus dem Vorhänge gemacht sind: die Vorhänge eines Kinderwagens. Aber ist es mein Kinderwagen, von dessen sanftem schwingendem Rhythmus ich mich jetzt wieder geschaukelt fühle? Oder täuscht mich die Erinnerung? Was ich jetzt für mein Erlebnis halte, gehört vielleicht in Wirklichkeit meinem jüngeren Bruder Golo. Schon immer hatte ich eine gewisse Neigung, ihm sein Eigentum wegzunehmen – Bonbons, Spielsachen oder die bunten Steine und Schneckenhäuser, die wir aus dem Garten ins Haus schleppten; denn ich war älter und größer als er – so mußte er sich's wohl gefallen lassen. Versuche ich nun, ihm den seligen Schlummer seiner ersten Kindheit zu stehlen? Ich mußte schon aufrecht gehen, mühselig, Schritt für Schritt, als er noch das Vorrecht genoß, herumgefahren zu werden. Kein Zweifel, der Kinderwagen, an den ich mich erinnere, ist eben der, um welchen ich Golo damals beneidete. Wie innig wir uns auch bemühen mögen, uns zurückzuversetzen in das Paradies vollkommener Wunschlosigkeit – das Gefühl, dessen wir uns wirklich entsinnen und welches uns zu jeder Zeit beherrscht zu haben scheint, ist immer nur die Sehnsucht nach einem Glück, das mit dem Beginn unseres bewußten Lebens verlorenging.
Der Kinderwagen ist das verlorene Paradies. Die einzig absolut glückliche Zeit in unserem Leben ist die, welche wir schlafend verbringen. Es gibt kein Glück, wo Erinnerung ist. Sich der Dinge erinnern, bedeutet, sich nach der Vergangenheit sehnen. Unser Heimweh beginnt mit unserem Bewußtsein.
Wie könnte ich jemals das geliebte Bild vergessen, das mir so oft half, Schlaf und Vergessenheit zu finden? Nacht für Nacht beschwor ich den Schatten einer Wiege, mit Segeln versehen – einer Zauberbarke, mich weit forttragend: durch dunkle Wälder, über stille Wasser, geradewegs in die purpurne Tiefe eines unendlichen Himmels. Ich muß wohl die beflügelte Wiege als Kind auf irgendeinem Bild gesehen oder in einem Märchen von ihm gehört haben. Sie verfolgte mich durch Jahre – ein Symbol der Flucht, des seligen Entgleitens. Allmählich jedoch veränderte die Wiege ihre Form; sie wurde länger und enger. Das Schiff, das mich jetzt zum Hafen der Vergessenheit trägt, ist aus härterem Stoff gemacht und von düsterer Farbe. Wiege und Sarg, Mutterschoß und Grab – in unserem Gefühl fließen sie ineinander, werden sich beinah gleich.
Der Schlaf, den wir ersehnen, der vollkommene Schlaf, ist traumlos. Wir werden von Träumen heimgesucht, sobald wir gelernt haben, uns zu erinnern und Reue zu empfinden. Im Alter von fünf oder sogar früher war ich schon vertraut mit dem bösen Geflüster der Albträume. Die Stube, die ich erst mit Erika teilte, dann mit Golo, füllte sich nachts mit Gespenstern. Wie ich ihn verabscheute, den blassen Herrn, der fast jede Nacht meinen Frieden zu stören kam. Manchmal trug er seinen Kopf unterm Arm, als wäre es ein Blumentopf oder ein Zylinder. Mir brach der Angstschweiß aus angesichts dieser weißen Fratze, die in so ungewöhnlicher Position freundlich nickte und grinste. Mein Grauen erreichte schließlich einen solchen Grad, daß ich es nicht mehr für mich behalten konnte. Ich besprach die Sache mit unserer Kinderfrau. Anna mit den blauen Backen. Die Blaue Anna ihrerseits erörterte das Phänomen mit unserem Vater, der der Ansicht war, es sei höchste Zeit, dem kopflosen Ärgernis ein Ende zu bereiten.
Er erschien zur Schlafenszeit in unserem Zimmer – was an sich schon ein ungewöhnliches Ereignis bedeutete – und hielt eine strategische Konferenz mit uns ab. Der enthauptete Gast, so meinte er, war eigentlich gar nicht so sehr fürchterlich – wir sollten uns doch nicht von ihm bluffen lassen. »Schaut ihn doch einfach nicht an, wenn er wiederkommt!« riet der Vater. »Dann wird er wahrscheinlich ganz von selbst verschwinden, weil es doch langweilig und sogar etwas peinlich für ihn wäre, so ganz unbeachtet herumzustehen. Wenn ihr ihn aber auf diese Art nicht loswerden könnt, dann müßt ihr ihn eben mit lauter Stimme darum ersuchen, sich zum Teufel zu scheren. Sagt ihm nur, daß ein Kinderschlafzimmer kein Ort ist, wo anständige Geister sich herumtreiben, und daß er sich schämen sollte. Und wenn das immer noch nicht genügt, so tut ihr gut daran hinzuzufügen, daß euer Vater sehr reizbar ist und häßlichen Spuk in seinem Haus nicht duldet. Dann wird er sich bestimmt aus dem Staube machen. Denn es ist eine in Geisterkreisen wohlbekannte Tatsache, daß ich wirklich sehr schrecklich sein kann, wenn ich einmal die Geduld verliere.«
Wir folgten seinem Rat, und alsbald verging der Spuk. Es war ein durchschlagender Erfolg und bewies uns aufs eindrucksvollste, wieviel der väterliche Einfluß sogar in der Gespenster-Sphäre vermochte. Um diese Zeit begannen wir ihn »Zauberer« zu nennen, zunächst nur unter uns; da wir aber bemerkten, daß der Name ihm nicht mißfiel, kam er bald auch offiziell zur Anwendung.
Das Leben eines Fünfjährigen ist voll von Problemen und Komplikationen, verglichen mit dem seligen Dämmern der Babyzeit. Es scheint jedoch paradiesisch im Gegensatz zu der Fülle von Konflikten und Heimsuchungen, mit denen der Erwachsene fertig zu werden hat. In einem Fall wie dem meinigen wird dieser Kontrast besonders auffallend; denn der verhältnismäßige Friede und die Geborgenheit, deren das Kind im allgemeinen teilhaftig ist, scheint verdoppelt durch das idyllische Wesen der Epoche und des sozialen Milieus. Wenn der Knabe vergleichsweise sorglos ist, sogar inmitten allgemeiner Krise, so muß das Kind, das in einer privilegierten und hochgesitteten Umgebung aufwächst, wohl den Eindruck bekommen, daß unser Universum in der Tat nichts zu wünschen übriglasse und alles in allem eine ganz vorzügliche Einrichtung sei.
Die Beklommenheit des Kindes beschränkt sich auf seltene Stunden und auf jene kurzen Augenblicke des Schauderns zwischen Schlaf und Wachen, wenn plötzlich die Ur-Angst, das Grauen der verlassenen Kreatur die junge Seele anfällt. Aber wie sterbensbange dir auch in dieser dunkelsten Minute gewesen sein mag – der frühe Morgen wird dich wieder heiter finden. Du bist ausgeruht; das kalte Wasser, das du dir ins Gesicht spritzst, läßt dich vor Wonne jauchzen; das Frühstück wird dir zum Fest. Ein neuer Tag! Dein Tag! Deine Sonne! Dein Hunger. Und hier hast du dein Butterbrot, dein Müsli, deinen Apfel, womit du ihn wohlig stillst …
Das Kind ist dem primitiven Menschen verwandt – unschuldig und gierig, ohne Arglist und ohne Gnade, unwissend und schöpferisch. Wie der Mensch der frühlingshaften Urzeit, so wertet und ordnet das Kind alle Phänomene neu, gleichsam zum ersten Male. Naiv und realistisch, immer nur am Nahen und Faßbaren interessiert, errichtet es seine eigene Hierarchie und schafft sich seine Mythen aus dem, was es sieht, hört, schmeckt, berührt. Nichts existiert außerhalb der Sphäre seiner direkten Interessen und unmittelbaren Wahrnehmungen. Wie könnte es an der absoluten Gültigkeit seiner individuellen Erfahrungen zweifeln? Der kindliche Geist vergleicht nicht, sondern nimmt jedes Ding und jedes Ereignis als etwas Einmaliges, Erstmaliges, Absolutes.
Ein Regentag, eine Reise, die physischen Sensationen von Kälte, Hunger, Fieber, Zahnweh oder Müdigkeit; die Wirkung von Melodien oder Liebkosungen – die ganze Skala unseres emotionellen und somatischen Erlebens ist mit Erinnerung belastet. Unvermeidlich kommt der Tag für uns alle – früher vielleicht, als man glauben möchte! – da es keine »neue Erfahrung« mehr gibt, sondern nur noch die Variationen vertrauter Muster. Nach einer langen Zeit intensiven und bewußten Lebens mag man sogar den Punkt erreichen, da man die allgemein menschlichen Charakteristiken in den besonders geprägten Zügen eines geliebten Menschen wiedererkennt. Dann ist man wohl so weit, hinter dem vertrauten Gesicht der eigenen Mutter das Drama und die Schönheit der Mutterschaft zu sehen. Dem reifen, erfahrenen Geist wird der »Typus« wesentlicher als der zufällig-individuelle Repräsentant. Das Kind hingegen verwechselt den zufälligen Vertreter mit der Gattung. Ihm gilt es für ausgemacht, daß alle Mütter seiner Mutter gleichen. Wie der primitive Mensch früher Kulturepochen die Impulse und Elemente, die sein persönliches Leben beherrschten – Liebe, Sturm, Wasser, Krieg, Fruchtbarkeit – personifizierte und deifizierte, so ist es für das Kind die Mutter, der Hund, der Garten, die Milch, die Krankheit.
Sogar die Kosenamen, die das Kind für seine Nächsten erfindet, scheinen ihm die ganze Spezies, den Typ zu bezeichnen. Da wir unsere Mutter »Mielein« nannten, fanden wir es äußerst schrullenhaft von anderen Kindern, sich so ulkiger und ausgefallener Anreden wie »Mutti« und »Mama« zu bedienen. Gibt es irgend jemand, der nicht weiß, wer »Offi« und »Ofey« sind? Man könnte ebensowohl fragen, wer ein gewisser Jupiter war und was er mit einer Dame namens Juno zu tun hatte. Offensichtlich ist Ofey Mieleins Vater, folglich Offis Mann; denn Offi, ganz natürlich, ist Mieleins Mutter, unsere glanzvolle Großmama mit ausdrucksstarker, theatralisch geschulter Stimme, perlendem Gelächter und schönen, kurzsichtigen Augen, vor die sie meist eine Lorgnette hält. Die Lorgnette ist aus goldbraunem Schildpatt und hängt an einer langen Silberkette. Die alte Dame – uns schien sie schon uralt, als sie erst fünfzig war und sich noch sorgfältig die Haare färbte – hat eine unbarmherzige Manier, den Gesprächspartner durch ihre Gläser zu mustern. Nervöse Menschen wurden unruhig unter ihrem durchbohrenden Blick, nicht aber wir. Natürlich nicht! Sie ist ja »unsere« Offi, und die Lorgnette gehört zu ihr wie die Eule zur Pallas Athene oder der Blitz zum Zeus.
Die großen Würdenträger der Hierarchie sind über Kritik erhaben – was aber nicht heißen soll, daß sie Angst und Schrecken einflößen. Sie sind so, wie sie sind und müssen mit schonungsvollem Respekt behandelt werden. Dann kommt man mit ihnen aus. Der Vater zum Beispiel kann sehr generös und scherzhaft sein, wenn man auf seine kleinen Schwächen die gebührende Rücksicht nimmt. Er hat etwas gegen schmutzige Fingernägel und kann es nicht leiden, wenn man sich bei Tische des Daumens zum Aufschieben bedient. »Um Gottes willen, nicht den Daumen!« ruft er dann wohl aus und schneidet eine angewiderte Grimasse. »Wenn schon aufgeschoben werden muß, dann tu's mit der Nasenspitze oder der großen Zehe! Alles ist besser als der abscheuliche Daumen!« Seine Aversionen sind meist von dieser irrationalen und schrullenhaften Art. Von neun Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags muß man sich still verhalten, weil der [Vater] arbeitet, und von vier bis fünf Uhr nachmittags hat es im Hause auch wieder leise zu sein: es ist die Stunde der Siesta. Sein Arbeitszimmer zu betreten, während er dort mysteriös beschäftigt ist, wäre die gräßlichste Blasphemie. Keines von uns Kindern hätte sich dergleichen je in den Sinn kommen lassen. Schon mit geringeren Verfehlungen kann man den Vater erheblich irritieren. Es ist quälend, bei ihm in Ungnade zu sein, obwohl, oder gerade weil sein Mißmut sich nicht in lauten Worten zu äußern pflegt. Sein Schweigen ist eindrucksvoller als eine Strafpredigt. Übrigens ist nicht immer leicht vorauszusehen, was er bemerken und wie er reagieren wird. Die Mutter zankt, wenn man Ungezogenheiten begeht – von der Marmelade nascht, die für die Erwachsenen reserviert ist, oder die frisch gewaschene Matrosenbluse mit Tinte beschmiert. Der Vater ist dazu imstande, so eklatante Übeltaten zu ignorieren, während scheinbar ganz harmlose Irrtümer ihn überraschend verdrießen können. Die väterliche Autorität ist unberechenbar.
Ich schreibe diese traditionellen Formeln hin: »Vater«, »Mutter«, »väterliche Autorität« – und finde sie ungenau, beinah irreführend. Was haben diese Clichés mit einer Wirklichkeit zu tun, die sich aus tausend einmaligen, unwiederholbaren Nuancen zusammensetzt? »Vater« …: das ist die kitzelnde Berührung eines Schnurrbartes; der Duft von Zigarren, Eau de Cologne und frischer Wäsche; ein sinnendes, zerstreutes Lächeln, ein trockenes Räuspern, ein zugleich abwesender und durchdringender Blick. »Vater« bedeutet eine freundliche, sonore Stimme; die langen Bücherreihen im Arbeitszimmer – feierliches Tableau voll geheimnisvoller Lockung! –; der wohlgeordnete Schreibtisch mit dem stattlichen Tintenfaß, dem leichten Korkfederhalter, der ägyptischen Statuette, dem Miniaturporträt Savonarolas auf dunklem Grund; gedämpfte Klaviermusik, die aus dem halbdunklen Wohnzimmer kommt.
Ja, die Musik, mehr als irgendein anderes Attribut, scheint essentiell zu seinem Wesen zu gehören. Früher einmal hat er Violine gespielt; aber das war vor unserer Zeit, in einer prähistorisch-legendären Epoche. Indessen bezweifelt niemand, daß er auch jetzt noch reizend fiedeln könnte, wenn er Lust dazu hätte. Manchmal pfeift er uns ein Liedchen vor. Keine Geige hat einen reineren Klang. Und nach dem Abendspaziergang, vor dem Nachtmahl der Erwachsenen, zieht er sich gerne in den dämmrigen Salon zurück. Dort sitzt er dann am großen Bechsteinflügel, halb versteckt hinter der schweren dunkelroten Samtportiere, und läßt die väterliche Melodie ertönen. Wir hören zu, auf der Diele oder im ersten Stock, wo wir mit dem Fräulein essen.
»Er spielt so schön«, sagt eines von uns vier Kindern. »Übt er an seinem Schreibtisch zwischen neun und zwölf Uhr vormittags?«
Aber das Fräulein lacht. »Er übt überhaupt nicht«, erklärt sie uns, etwas schnippisch. »Er kann eigentlich gar nicht spielen. Er improvisiert nur ein bißchen.«
Aber was er da in der schattigen Einsamkeit des Salons dem Klavier anvertraute oder sich von diesem künden ließ, war kaum als »Improvisation« zu bezeichnen. Es war immer der gleiche Rhythmus, zugleich schleppend und drängend, immer das gleiche chromatische Crescendo, das gleiche Werben und Locken, die gleiche Erschöpfung nach todestrunkener Ekstase. Es war immer »Tristan«.
Wenn es eine schwere und delikate Aufgabe ist, das Wesen des väterlichen Mythos zu definieren, um wie vieles dunkler und zarter ist das Geheimnis der Mutter! Denn sie ist uns näher als der Vater, der dem Sohne ein Fremder bleibt. Sie ist die vertrauteste Figur, die unentbehrliche. Sie lehrt uns, zu beten und zu schwimmen und uns die Zähne zu putzen; sie macht den Speisezettel, kauft die Geburtstagsgeschenke, sieht die Schulaufgaben durch, geht mit uns zum Rodeln und zum Schlittschuhlaufen. Das mütterliche Haar ist weich und dunkel; die mütterlichen Augen sind goldbraun; die mütterlichen Hände sind zugleich zart und tüchtig: sie können das Loch in deinem Hemd stopfen und, wenn es not tut, sogar deine Haare schneiden. Sie können strafen und streicheln, spielen und liebkosen.
Vater und Mutter sind unzertrennlich und doch durchaus verschieden – ein heterogenes Doppelwesen. Der Vater spricht eher langsam, mit einer gleichmäßigen und sonoren Stimme; die Redeweise der Mutter ist geschwind, und ihre Stimme springt vom tiefsten Baß zu überraschenden Höhen. Sie ißt gern die bitterste Schokolade, trinkt den Tee ohne Milch und Zucker; er hat ein Faible für süße Suppen, Reisbrei und Hafergrütze, lauter Dinge, die sie perhorresziert. Mielein ist praktisch, aber unordentlich; der Zauberer ist weltfremd und verträumt, aber ordentlich bis zur Pedanterie. Der Mutter macht es nichts aus, wenn man sie um drei Uhr morgens stört, aber sie ärgert sich, wenn man die neuen Handschuhe verliert oder zu spät zum Zahnarzt kommt; der Vater weiß nicht einmal, daß man Handschuhe besitzt und daß unsere Zähne ärztliche Behandlung nötig haben, aber er mißbilligt es, wenn wir beim Essen schmatzen oder den schönen neuen Treppenläufer mit schmutzigen Schuhen betreten.
Sie sind so, wie sie sind – sehr liebenswert, sehr gewaltig, aber nicht ohne ihre kleinen Grillen und Tücken. Der Vater, zum Beispiel, legt Wert darauf, daß man ihn ab und zu auf ausgedehnten Spaziergängen begleitet, was um so lästiger ist, als wir bei solchen Gelegenheiten paarweise vor den Eltern wandeln müssen. Die Mutter hat eine sehr unangenehme Art, einen am Ohrläppchen zu ziehen, wenn sie findet, daß man ernstliche Strafe verdient – es tut fast ebenso weh wie die Bohrmaschine des Doktor Cecconi.
Zahnarzt Cecconi (übrigens der Gatte der deutschen Dichterin Ricarda Huch, was uns aber damals keinen Eindruck machte) nimmt in der Hierarchie keine unbedeutende Stellung ein, wenngleich er natürlich nicht zu den zentralen Mythen gehört, wie etwa die Affa. Muß ich wirklich erklären, wer die Affa ist? Ja, es empfiehlt sich wohl in Anbetracht der allgemeinen Uneingeweihtheit, um nicht zu sagen Unbildung. Die Affa also ist die Perle, das Faktotum, das muntere Zimmermädchen mit dem roten, lachenden Gesicht, dem stolzen Busen und den flinken Fingern. Beim Servieren trägt sie ein weißes Spitzenschürzchen; wenn Gäste da sind, schmückt sie sich mit einem steifen Häubchen. Je mehr Besuch kommt, desto animierter erscheint die Affa. – »Sie ist eine geborene Festordnerin«, sagt der Zauberer von ihr. Wenn die Eltern verreist sind, ist es die Affa, die den Haushalt führt; sie hat eine »Vertrauensstellung«. Sie gehört zur Familie. Köchinnen kommen und gehen (sie heißen meistens Fanny, aber es sind doch immer wieder andere); Hausmädchen kündigen. Aber die Affa bleibt. Es hat sie immer gegeben. Sie ist seit Menschengedenken bei uns. Fast so lang wie der Motz.
Wie, auch der Motz darf nicht als bekannt vorausgesetzt werden? Es ist peinlich, einer erwachsenen Leserschaft die Grundtatsachen des Lebens explizieren zu müssen. Der Motz ist eine Grundtatsache. Er hat ein schwarzes, seidiges Fell mit einem hübschen weißen Flecken auf der Brust. Die Erwachsenen sagen, er sei ein schottischer Schäferhund, ein »Rassetier«, etwas überzüchtet. Aber das sind lauter Redensarten. Der Motz ist eben der Motz, ein unentbehrlicher, gar nicht wegzudenkender Bestandteil des Kosmos, wie Zauberer, Mielein und Offi.
Das Seltsame an Kindern ist, daß sie die Notwendigkeit und Richtigkeit der Erscheinungen, die sie umgeben, niemals in Frage stellen, dabei aber alles ungemein komisch finden. Onkel Cecconi ist komisch, weil er mit einem fremden Akzent spricht und Grimassen schneidet. Affa ist zum Totlachen mit ihren grünen, glitzernden Augen, ihrer dynamischen Tüchtigkeit und den imposanten Linien ihrer Figur. (»Die Affa hat so eine große, weiche Brust«, bemerkte ich als Fünfjähriger. Woraufhin man mich fragte, ob ich das schön oder garstig fände. »Schön find ich's grad nicht«, erwiderte ich sinnend. »Aber ich seh's gern.«)
Der Motz ist über alle Begriffe drollig, wenn er sich in einen tobenden Teufel verwandelt, was fast immer geschieht, wenn man sich mit ihm auf die Straße wagt. Sanft und folgsam zu Hause, fängt er draußen prompt zu rasen an, erregt vom Geruch der Freiheit. Es ist ein wahres Delirium, in das er verfällt; er geifert, heult, tanzt, springt, dreht sich krampfhaft im Kreise, außer Rand und Band, von Sinnen vor Wonne oder vor Wut – wer weiß es.
Wir sind eine Sensation, wenn wir uns mit dem Motz in der Öffentlichkeit zeigen; übrigens fallen wir auch ohne ihn auf, allerdings nicht so heftig. Gassenkinder haben eine gewisse Neigung, uns Unartigkeiten nachzurufen. »Langhaarete Affen!« oder »Narrische Bagasch!« Erwachsene hingegen bleiben stehen und lächeln, was auf seine Art auch recht lästig ist. Sie meinen es wohl nicht schlecht; manchmal bieten sie uns sogar etwas an, einen Apfel oder ein Stück Schokolade. Dagegen hätten wir an sich nichts einzuwenden, wenn die Spender nur den Mund halten wollten! Leider traktieren sie uns nicht nur mit Süßigkeiten, sondern auch mit Geschwätz. »Was für niedliche kleine Racker ihr seid!« schwätzt die alte Dame, die sich im Englischen Garten unaufgefordert auf der Bank neben uns niederläßt. »Alle vier so drollig und apart! Wer ist denn euer Pappi?«
Natürlich antworten wir nicht, sondern kichern nur und zucken die Achseln. »Na, was gibt's denn da zu lachen, mein Junge?« Die Urschel, ein wenig pikiert, wendet sich mit ihrer Frage an das größte Kind – nämlich an Erika, die sie, in echt urschelhafter Verblendung, für einen Buben hält. Dies kleine Mißverständnis scheint uns dermaßen ulkig, daß uns gar nichts anderes übrigbleibt, als jubilierend davonzulaufen.
Noch ganz atemlos vor Heiterkeit gesellen wir uns zu unserem Fräulein, das inzwischen, mit einer Kollegin plaudernd, voranspaziert ist. Wir bestürmen sie mit erregten Fragen. Warum will die fremde Urschel wissen, wer unser Vater ist? Und warum nennt sie ihn »Pappi«, wo er doch Zauberer heißt? Und wie, um Gottes willen, kommt sie dazu, uns »niedlich« und »apart« zu finden? Was bedeutet »apart«? Ist es ein Schimpfwort oder das Gegenteil?
»Eher das Gegenteil«, bedeutet uns das Fräulein. »Die Dame wollte nur sagen, daß ihr ein bißchen anders ausseht als die andren Kinder.« Sie prüft uns mit nachdenklichem Blick, um dann, mehr für sich selbst, hinzuzufügen: »Es liegt wohl vor allem am Haarschnitt und überhaupt an der künstlerischen Aufmachung.«
Unsere »künstlerische Aufmachung«, das sind die Leinenkittel mit den hübschen Stickereien aus den Münchener Werkstätten. Mielein hat sie selber ausgesucht, rote Kittel für die Buben, blaue für die Mädchen, wie es sich gehört. Was soll daran nun »apart« sein? Und warum verhöhnen uns die Gassenkinder, wenn wir uns in unseren schmucken Wämsern auf der Straße zeigen, zwei adrette Pärchen (Erika und ich; Golo und Monika), gefolgt von der Gouvernante, beschützt vom hysterisch kreiselnden Schäferhund?
Wie töricht die Fremden sind! Begreifen sie denn nicht, die frechen Buben und verschrobenen Urscheln, daß wir durchaus in Ordnung sind, weder »apart« noch »narrisch«? Zugegeben, Monika ist noch ein bißchen klein und unbeholfen; aber so gehört es sich eben für das jüngste Schwesterchen. Was den Golo betrifft, ein Jahr älter als Monika, so ist er auch nicht viel größer, aber entschieden ernster und gesetzter, fast gravitätisch. Ohne Frage, der Golo ist das Muster und Vorbild eines kleinen Bruders, das Brüderchen par excellence. – Was gibt es da zu lachen? Oder lassen die fremden Toren es sich gar einfallen, die beiden »Großen«, Erika und mich, ridikül zu finden? Das wäre ja noch schöner! Das ahnungslose Pack sollte sich doch lieber der eigenen eklatanten Dummheit schämen, anstatt über uns die Nase zu rümpfen! Denn schließlich, wir sind »echt«, sind »wirklich«, während die Wirklichkeit der anderen problematisch bleibt. Die anderen sind nur »Leute«; wir sind – wir.
Unser Leben ist vorbildlich, comme il faut, da es eben einfach Leben ist, das einzige, das wir kennen. Das Leben bedarf keiner Rechtfertigung, keiner Erklärung. Was bliebe denn übrig von der Welt, wenn es »unsere« Welt nicht gäbe? Ein Nichts, ein Vakuum …
Glücklicherweise können die Fremden uns nichts anhaben mit ihrem Unverstand. Wir brauchen sie nicht; was hätten sie uns zu bieten? Sie sind »affig«, »blöd«, »falsch« und »eingebildet«. Wir kommen ohne sie aus; in unserem eigenen Bereich finden wir alles, was uns wichtig ist. Wir haben unsere eigenen Gesetze und Tabus, unseren Jargon, unsere Lieder, unsere willkürlichen, aber intensiven Vorlieben und Aversionen. Wir genügen uns; wir sind autark.
Die Fanny kocht die Suppe, die Affa deckt den Tisch. Die Fanny ist weniger wichtig als die Affa, aber beide sind unentbehrlich. So auch die dritte Magd, das Hausmädchen. Sie mag noch so häufig kündigen: die kosmische Ordnung sorgt für eine Nachfolgerin, die mit der Vorgängerin fast identisch scheint. Es ist immer das gleiche plumpe Ding vom Lande, aus Passau oder Ingolstadt, die unsere Betten macht. Sie hat große, rote, etwas aufgesprungene Hände, wäßrige, helle Augen und eine niedrige, trotzig gebuckelte Stirn. Ihre wichtigste Funktion in unserem Hauswesen besteht darin, uns Kindern volkstümliche Lieder beizubringen. Ob das Hausmädchen nun Liesbeth heißt oder Therese, ob sie aus Niederbayern stammt oder aus dem Fränkischen, sie ist eine Sängerin und Gesangspädagogin. Von ihr lernen wir all die schönen, rührenden Balladen von verlassenen Bräuten, treulosen Matrosen, gebrochenen Schwüren und Herzen. Wir verstehen nicht ganz, worum es sich eigentlich handelt, aber die Augen werden uns doch naß, wenn wir dem Hausmädchen mit feierlichen Mienen nachsingen: »Mariechen saß weinend im Garten – im Grase lag schlummernd ihr Kind; – mit ihren schwarzbraunen Locken – spielt' leise der Abendwind …« Wie süß und traurig tönt Mariechens Klage! Sie beschwert sich darüber, daß der Liebste nie schreibt. Hat er sie ganz vergessen? Ja, das hat er wohl, und da die Schwarzbraune es sich nun eingesteht, zieht sie auch gleich die einzig logische Konsequenz – kurz entschlossen, ohne übrigens viel Aufhebens davon zu machen. Hinein in den See mit dem Bankert! – Und hinterdrein springt die gelockte Mama.
Wir finden den Schluß etwas jäh, vor allem tut es uns um das Baby leid: was kann das arme kleine Ding dafür, daß der Matrose so vergeßlich ist? Aber dieses etwas irritierende Detail kann uns doch nicht die Freude an dem schönsten Lied verderben. Wir singen es im Chorus, zweistimmig, mit Gefühl.
»Ich verstehe wirklich nicht, warum meine Tochter ihren Kindern erlaubt, so greuliches Zeug zu singen!« Dies ist Offis Stimme: sie ist zum Tee gekommen, nun unterhält sie sich mit dem Kinderfräulein. Das Kinderfräulein, man weiß ja, wie sie sind, ist nur zu entzückt, Offi beipflichten zu können. »Wie recht Frau Geheimrat haben!« ruft sie schrill. »Es ist das Hausmädchen, die Luise, eine ganz ordinäre Person, die gnädige Frau sollte einschreiten, aber auf mich wird hier ja nicht gehört …«
Mielein ist in solchen Fällen geneigt, unsere Partei zu ergreifen. Nicht zu offen natürlich. »Ihr dürft dem Fräulein Betty nicht widersprechen!« ermahnt sie uns etwas vage. »Es kann ja sein, daß sie gerade etwas nervös war. Wahrscheinlich, weil sie sich so viel über euch ärgern muß … Singt uns das Lied doch mal vor, nur, damit wir uns ein Urteil bilden können. Wenn es ein garstiges Lied ist, sollt ihr es nicht mehr singen.«
Mariechen ist ein durchschlagender Erfolg; Mielein und der Zauberer ersticken fast vor Lachen. Endlich bringt der Vater hervor, daß dies, seiner Meinung nach, ein ungewöhnlich rührendes Lied sei; wir sollten es jedoch nicht zu häufig vortragen, teils aus Rücksicht auf Fräulein Bettys Nerven, teils weil die Ballade wirkungsvoller bleiben würde, wenn wir sie für besondere Gelegenheiten aufsparten. Weihnachten wäre vielleicht eine solche Gelegenheit, schlägt einer von uns vor; und die Eltern stimmen lachend bei.
Fräulein Bettys Miene ist säuerlich, um nicht zu sagen bitter, da wir sie von dem elterlichen Entscheid unterrichten.
Das Fräulein kann uns nicht viel anhaben, solange Mielein da ist, um unsere natürlichen Rechte zu schützen. Aber die Lage wurde alarmierend, als die Mutter einen Winter in Davos verbringen mußte, wegen des Hustens und weil sie oft ein bißchen Fieber hatte. Sie schrieb uns drollige und lange Briefe, was es im Sanatorium zu essen gebe, und wie langweilig es für sie sei, jeden Tag so viele Stunden auf dem Balkon zu liegen. Sie schrieb uns, daß sie Sehnsucht nach uns habe und daß wir brav sein sollten. Es waren sehr schöne Briefe, aber doch kein Ersatz für Mieleins Gegenwart. Wenn sie nicht da war, hatten wir niemand, der abends mit uns betete (denn vor dem Fräulein mochten wir unsere Gebete nicht sagen); niemand, der zur Spitze der Hierarchie und zugleich zu uns gehörte, Affa, Fanny, das Hausmädchen, der Motz und wir vier waren schon recht; aber es fehlte uns an Macht und Würde. Der Zauberer und Offi hatten zwar sehr viel Macht; aber letztere erschien doch nur für kurze Inspektionsvisiten, während ersterer, obwohl er mit uns lebte, an unserem alltäglichen Leben kaum Anteil nahm. Wir waren dem Fräulein ausgeliefert, auf Gedeih und Verderb. Sie hatte beinah unumschränkte Machtbefugnis; ihre Herrschaft nahm vorübergehend den Charakter einer Diktatur an.
Das Kinderfräulein ist eine der Hauptmythen meiner Kindheit. Sie ist empfindlich, hochmütig und launenhaft, zuweilen liebenswert, dann wieder erschreckend. Wenn sie sich ärgert oder Kopfweh hat, erstarrt ihr Gesicht zu einer aschfarbenen Maske; aber sie kann auch strahlen. Alle scheinen sich ein wenig vor ihr zu fürchten, sogar die Eltern. Ihre vorwurfsvolle Miene gemahnt uns daran, daß sie im Hause des Baron Tucher wie eine Prinzessin gehalten wurde, die Zöglinge folgten aufs Wort, dort war das Fräulein glücklich. Der Baron (er war blind, wie das Fräulein sich mit respektvoller Rührung erinnert) verzog mit seinen Mustersöhnchen nach Kanada nicht ohne die unschätzbare Gouvernante aufs herzlichste zum Mitkommen aufzufordern. »Wär ich doch mit den Tuchers gegangen!« seufzt sie nun. Wir haben es wohl wieder einmal an der nötigen Ehrerbietung fehlen lassen. »Dann müßt ich mich nicht so viel kränken …« Sie weint ein bißchen, und auch uns werden die Augen feucht. Wir begreifen, daß die Gute uns ein großes, schweres Opfer bringt, indem sie auf Kanada verzichtet und bei uns bleibt »in diesem saloppen Künstlerhaushalt«. Keine andere würde es bei uns aushalten. – Dies wird uns immer wieder aufs eindrucksvollste versichert. »Wenn ich einmal nicht mehr da bin«, sagt das Fräulein (man weiß nicht ganz, ob sie an ihren Hintritt denkt oder nur an einen Stellungswechsel), »dann werdet ihr ja sehen, was aus euch wird. Die nächste hält es hier keine vierundzwanzig Stunden aus. – Oder sie sorgt dafür, daß ihr Disziplin lernt. Dann ist Schluß mit der Schlamperei! Ihr werdet Augen machen …« Uns wird bange ums Herz. Wir flehen das Fräulein an, uns doch bitte ja nicht zu verlassen. Sie ist mild und weise; ihre Nachfolgerin wäre vielleicht ein Drache, ein wahrer Ausbund an Tücke und Grausamkeit …
Sie waren sich alle gleich. In imposanter Parade folgten sie einander, von der legendären Blauen Anna bis zu jenem hochbeinigen, spleenigen Geschöpf, das wir »Betty-Lilie« nannten, wegen ihres delikaten Teints und Charakters. Die Chronik unserer Kindheit ließe sich in fünf bis sechs Perioden einteilen, nach den wechselnden Regimes der Gouvernanten; man könnte von einer »Blauen-Anna-Periode« oder einer »Betty-Lilie-Ära« sprechen wie von der Elisabethanischen Zeit oder der Victorianischen Epoche. Natürlich unterschieden sich die hohen Frauen in Einzelheiten voneinander, aber was sie gemeinsam hatten, war tiefer und wesentlicher. Alle schwelgten sie in der Erinnerung an einen idealen Haushalt, dem sie einst in führender Stellung angehört hatten, das Palais eines ehrwürdigen Barons oder Kommerzienrates, wo es zugleich sittsam und lustig zugegangen war. Alle bemerkten sie mit demselben gönnerhaften Lächeln, daß unsere Eltern »sehr interessante Menschen« seien, wobei sie diskret auf den Unterschied anspielten, der zwischen unserer Bohemewirtschaft und dem tadellosen Haushalt des Kommerzienrates nun einmal leider bestand. »Andere Kinder« waren kräftig, brav und wahrheitsliebend, im Gegensatz zu uns wilden und heuchlerischen Schwächlingen. »Andere Kinder« verstanden Spaß und wußten eine Tracht Prügel einzustecken; sie putzten sich die Zähne mindestens dreimal täglich, gingen zur Kirche, aßen angebrannten Grießbrei ebenso gern wie Schokoladentorte und waren ihrem Fräulein zärtlich-ehrerbietig zugetan.
Wir konnten andere Kinder nicht leiden. Es war erst viel später, als ich etwa zwölf Jahre alt war, daß wir anfingen, Freunde zu haben. Anfangs hatten wir durchaus an uns selbst genug.
Erika und ich wurden in eine Privatschule geschickt – ein etwas prätentiöses kleines Etablissement von altmodisch-muffiger Gediegenheit, wo die Sprößlinge der Münchener beau monde die Kunst des Lesens und Schreibens erlernten. Schule, in diesem vorbereitenden Stadium, bedeutete weder Spaß noch viel Plage. Das bißchen Wissenschaft – Alphabet, Einmaleins, die Geschichte vom Herrn Jesus – war leicht genug zu begreifen. Die Lehrerin, eine alte Jungfer mit glattem grauem Scheitel und säuerlich-pedantischer Miene, konnte als komische Figur aufgefaßt werden. Was unsere Mitschüler betraf, so hatten wir nur wenig Kontakt mit ihnen. Sie waren nicht eingeweiht in die Geheimnisse unserer Spiele; sie schienen eine andere Sprache als wir zu sprechen.
Unsere Spiele waren komplizierter als die Fibel, aufregender als die groben Belustigungen, die unter Kindern sonst wohl üblich sind. Es waren eigentlich keine »Spiele«; vielmehr handelte es sich um eine großangelegte, sorgfältig ausgesponnene Phantasmagorie, ein mythisches System innerhalb des Kindheitsmythos. Es beruhte auf zwei verschiedenen Sagenkreisen, die ineinander griffen und allmählich miteinander verschmolzen. Der erste Kreis umfaßte unsere eigene Welt – das Haus, den Garten, die Eltern, das Kinderfräulein –, während der zweite das Reich der Puppen und der Hunde in sich schloß.
Das erste Spiel ging auf einen sentimentalen Schmöker zurück, den Fräulein Betty uns einmal vorgelesen hatte. Das Buch – es hieß »Kapitän Spieker und sein Schiffsjunge« – machte uns einen so tiefen und nachhaltigen Eindruck, daß wir heute noch lange Stellen daraus auswendig wissen. Es war nicht so sehr die abenteuerliche Handlung, die uns bezauberte, wie das Milieu, in dem die Geschichte sich zutrug – die zugleich romantische und mondän-luxuriöse Sphäre des großen Ozeandampfers. Das Schiff, in das sich unser Haus und Garten verwandelten, war genau dem Kapitän-Spiekerschen Modell nachgebildet. Affa und die anderen Mädchen wurden in unserer Phantasie zu rüstigen Matrosen; Mielein war eine Art von eleganter Hausdame oder Oberaufseherin, während dem Zauberer natürlich das Amt des Kapitäns zufiel, der sich meistens im Heiligtum der »Betriebskabine« verborgen hielt. Es gab nur vier Passagiere – zwei kapriziöse Damen, Prinzessin Erika und Mademoiselle Monika, und zwei Herren von hohem Rang und unermeßlichem Reichtum, die Steinrück und Löwenzahn hießen. Es machte Golo und mir großen Spaß, diese zwei großartigen Weltenbummler zu personifizieren und das eigene Benehmen ihrem pompös-spleenigen Stil anzupassen. Sie waren keine frivolen Draufgänger, unsere reisenden Millionäre; vielmehr handelte es sich um zwei Herren gesetzten Alters, die eine schwere Last von Verantwortlichkeiten und väterlichen Sorgen zu tragen hatten. Kurze, aber inhaltsschwere Radiogramme informierten sie über die beunruhigenden Schwankungen an der Börse; atemlose Geheimboten überbrachten furchtbare Bulletins, das Betragen der fernen Söhne betreffend. Diese jungen Leute – typische Repräsentanten frivol-sybaritischer jeunesse dorée – verschwendeten Millionen für grandiose Ankäufe von Karamelbonbons und Schokoladentorten, worüber die geplagten Väter, nebeneinander auf dem Promenadedeck spazierend, sorgenvoll die Köpfe schütteln mußten.
Mein Sohn Bob war eine hübsche Puppe aus Zelluloid, sehr süß und albern, mit aufgerissenen, lachenden blauen Augen und schelmischen Grübchen in den rosa Backen. Ich liebte ihn heiß und hätte um die Welt nicht eine Nacht ohne ihn geschlafen. Seine Funktionen in meinem Leben waren mannigfacher und komplexer Art. Erstens war er mein geliebtestes Spielzeug und höchst geschätzter Besitz; zweitens gehörte er zu den Hauptfiguren, nicht nur in der »Gro-Schi« (Großes Schiff)-Welt, sondern auch in dem anderen Legendenkreis, den wir durch die Jahre hindurch entwickelten und weiterspannen. In diesem zweiten Mythos erschien der Zelluloid-Adonis als Sohn und Retter des greisen Königs Motz, dessen Leben und Reich von einer feindlichen Koalition bedroht war – dem grimmen Heere der Amazonen, als deren Anführerin unser Fräulein figurierte, und der Kohorte böser Gassenjungen, die uns auf dem Spaziergang zu belästigen pflegten.
Leider war Prinz Bob nicht so tugendhaft wie mutig. Nach gewonnener Schlacht erging er sich gerne in allerlei üppigen Zerstreuungen, unter denen der übermäßige Genuß von Cremetörtchen die kostspieligste und unmoralischste war. Kurzum, der strahlende Held und Erbe war zugleich ein rechtes Sorgenkind und ein leichtsinniger Taugenichts, der eine Menge skandalöser Unkosten verursachte. Und es war eben in dieser Eigenschaft – in seiner Rolle als schlemmerischer Prinz Charming – daß mein Zelluloid-Bob in der eleganten Sphäre des Passagierdampfers Zutritt fand. Seine liebenswürdige, wenngleich korrupte Persönlichkeit verband die beiden Regionen, den mondänen Dampfer und das kriegerisch-heroische Traumland.
Der blutige Zwist zwischen den edlen Puppen und den garstigen Amazonen schien ebenso unabsehbar wie die ziellose Wasserfahrt unseres Hauses. Die Intrigen und Abenteuer der beiden phantastischen Welten gingen mehr und mehr ineinander über. Golo und ich, die zwei gequälten Magnaten, hatten uns nicht nur über das jähe Auf und Ab der Wertpapiere Sorge zu machen, sondern auch über die strategische Lage an der Motzfront.
»Haben Sie das gelesen, Hochwürden?« fragte ich Golo, der antwortete: »Nein, Durchlaucht. Was gibt's denn Neues?«