Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Leibgeber agiert als Leimrute für die Spendenakquise, Lautsprecher für die Öffentlichkeitsarbeit und Lockvogel für die Mitarbeitergewinnung beim Kriegsgräberverein. Landmarken seines Geschäftsgebietes sind die NS-Ordensburg Vogelsang, das KdF-Hotel in Waldbröl, das Führerhauptquartier Felsennest in Bad Münstereifel, die Arno-Breker=Ausstellung auf Schloss Nörvenich, das Soldatengrab von Generalfeldmarschall Walter Model im Hürtgenwald, das Zivilgrab des SS-Lagerarztes von Buchenwald, August Bender, nahe Düren und das Grab von Hitlers Euthanasiebeauftragten Prof. Karl Brandt im Bergischen Land. In das graue Gefieder seiner An-züge gekleidet, plappert er wie ein Papagei Vereinsparolen nach („Versöhnung!“ „Versöhnung!“ „Versöhnung!“). Er wird gefüttert. Er wird getränkt. Aber vom Fliegen kann er sich seinem Käfig nur träumen. Leibgeber identifiziert sich weder mit der falschen Verbandspolitik noch der verlogenen Versöhnungsphilosophie noch der fatalen Vereinsgeschichte des Kriegsgräbervereins. Seine mangelnde Identifikation ist kein akademisches Problem. Hinter Leibgebers Nicht-Identifikation lauert eine physische Bedrohung: keine Nahrung, keine Kleidung und kein Obdach. Um zu überleben, tut er das Falsche und strengt sich auch noch richtig dabei an. Das ist sein „unglückliches Bewusstsein“ (HEGEL) www.gadowliteratur.de
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 682
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Für Astrid
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe den Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!
Immanuel Kant, »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«
PROLOG
ERSTES KAPITEL
ZWEITES KAPITEL
HINTER DER DORNENHECKE: DEUTSCHER SOLDATENFRIEDHOF APSCHERONSK – REDE
DRITTES KAPITEL
HINTER DER DORNENHECKE: DEUTSCHER SOLDATENFRIEDHOF RSHEW – REDE UND
VIERTES KAPITEL
HINTER DER DORNENHECKE: DEUTSCHER SOLDATENFRIEDHOF SOLOGUBOWKA – REDE
FÜNFTES KAPITEL
HINTER DER DORNENHECKE: DEUTSCHER SOLDATENFRIEDHOF ROSSOSCHKA – REDE
SECHSTES KAPITEL
HINTER DER DORNENHECKE: DEUTSCHER SOLDATENFRIEDHOF POTELITSCH – REDE
SIEBENTES KAPITEL
HINTER DER DORNENHECKE: DEUTSCHER SOLDATENFRIEDHOF LA CAMBE – REDE UND
ACHTES KAPITEL
HINTER DER DORNENHECKE: DEUTSCHER SOLDATENFRIEDHOF COSTERMANO – REDE
NEUNTES KAPITEL
HINTER DER DORNENHECKE: DEUTSCHER SOLDATENFRIEDHOF COSTERMANO – REDE
ZEHNTES KAPITEL
HINTER DER DORNENHECKE: DEUTSCHER SOLDATENFRIEDHOF BEBERBEKI – REDE UND
ELFTES KAPITEL
HINTER DER DORNENHECKE: DEUTSCHER SOLDATENFRIEDHOF DUCHOWSCHTSCHINA –
DAS ZWÖLFTE KAPITEL
DREIZEHNTES KAPITEL
HINTER DER DORNENHECKE: DEUTSCHER SOLDATENFRIEDHOF MALEME – REDE UND
VIERZEHNTES KAPITEL
EPILOG
HINWEISE
Am späten Nachmittag veranstaltete der Landesverband in der Jesuitenkirche schräg gegenüber dem Hauptbahnhof die Landesfeier zum Volkstrauertag. Die Jesuitenkirche gilt als größter Sakralbau Kölns gleich nach dem Dom. Im Zweiten Weltkrieg bis auf die Umfassungsmauern zerstört, erhielt das glanzvolle Gotteshaus des Frühbarock, das zudem romanische und spätgotische Stilformen aufweist, in den Jahren 1949 bis 1979 seine ursprüngliche Gestalt zurück. Der imposante Eingang an der Westseite wird durch flankierende Türme bewacht. Das Innere des Sakralbaus beeindruckt durch das Raumvolumen und die Pracht der Ausstattung, vor allem durch den triumphalen, in Goldglanz erstrahlenden Hochaltar, neben dem am Nachmittag vor dem Volkstrauertag die Deutschland- und die Europafahne, die Fahne des Kriegsgräbervereins und die Fahne des Erzbistums hingen. Im Chorraum des Altars saßen die Musiker des Landespolizeiorchesters und stimmten ihre Instrumente. Neben dem Altar stand ein Rednerpult. Um das Publikum zum Schweigen zu bringen, intonierte das Polizeiorchester die Arie Nr. 15 aus dem 12. Auftritt des 2. Aufzuges der »Zauberflöte«. Ein in Schlips und Kragen gewandeter Sänger vom Düsseldorfer Staatsschauspiel sang Verse des Schikaneder-Librettos.
In diesen heil’gen Ha-hallen Kennt man die Rache ni-hicht Und ist ein Me-hensch ge-fa-hallen Führt Lie-Hiebe! i-hihn zur Pflicht Dann wandert er an Freundes Ha-hand Vergnügt und froh ins be-he-hessre La-hand Dann wandert er an Freundes Ha-hand Vergnügt und froh ins bessre La-hand Dann wandert er an Freundes Ha-hand Vergnügt und froh ins bessre La-hand Ins be-hessere, ins be-hessere Land
Die einleitenden Worte zur Begrüßung der Veranstaltungsteilnehmer wurden vom Landesvorsitzenden gesprochen. Cäsars Internet-Seite kommunizierte das politische Evangelium des großen Vorsitzenden: »Für mich ist das Christentum und das christliche Menschenbild der entscheidende Maßstab für mein politisches Handeln«, hieß es dort. »Das christlich-jüdische Menschenbild begründet die Würde eines Menschen damit, dass er Ebenbild Gottes ist.« Die Aussage Cäsars ist – natürlich! – Unsinn, überlegte Leibgeber. Nicht Gott schuf den Menschen, sondern – umgekehrt! – der Mensch schuf Gott. Um seine Mitmenschen zu bevormunden. Um seine Zeitgenossen zu beherrschen. Wie bitte kann man die historischen Ungereimtheiten und logischen Unwahrscheinlichkeiten der beiden christlichen Religionen zum Maßstab seines politischen Handelns erklären? fragte Leibgeber. Das ist kein Ausdruck verantwortlichen Handelns, sondern grenzt an geistige Unzurechnungsfähigkeit! Cäsar fasste sich an den Kopf und richtete seinen Lorbeerkranz. »Ich bin dankbar, dass zur heutigen Landesfeier, die traditionell vom hiesigen Landesverband im Kriegsgräberverein und der Staatskanzlei ausgerichtet wird, so viele gekommen sind. Sie alle sind uns willkommen!«, versicherte Cäsar. Von den Ehrengästen begrüßte er besonders die Präsidentin des Landtags und einige Landtagsabgeordnete. Die Landesregierung wurde durch den Staatsminister für Justiz, die Stadt Köln durch den Oberbürgermeister vertreten. Die Bundeswehr wurde durch die Amtschefs von Heeresamt und Luftwaffenamt und dem Standortältesten Köln verkörpert. Redner und Ehrengäste waren für Lena und Leibgeber nur schwer zu erkennen. Leibgeber und seine Frau hatten hinter einer Säule Platz nehmen müssen. Die vorderen Plätze waren für die Hautevolee reserviert. Die Veranstaltung wurde von der Geschäftsleitung des Landesverbandes organisiert.
Lena hatte recht, wenn sie behauptete, dass ihr Mann Peter dem Landesverband zwar gut genug sei, dessen Kriegskasse zu füllen, aber nicht gut genug, ihm einen Platz zu reservieren. Am Mikrofon gab Cäsar seiner besonderen Freude darüber Ausdruck, dass der Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats im Kriegsgräberverein die Gedenkrede halten werde. Der Chefideologe des Kriegsgräbervereins hatte viele Jahre als Abgeordneter im Landtag gesessen. Er wirkte als bildungspolitischer Sprecher, fungierte als stellvertretender Fraktionsvorsitzender und amtierte als Landesminister. Seit Ablauf der Legislatur lehrte er als Honorarprofessor. »Wir denken zunächst an den Zweiten Weltkrieg, dessen Folgen bis heute spürbar sind«, wendete sich der Professor an die Veranstaltungsteilnehmer. »Fünfundfünfzig Millionen Menschen fanden einen gewaltsamen Tod, darunter sieben Millionen Deutsche, fünfundzwanzig Millionen Russen, sechs Millionen Juden, sechs Millionen Polen. Wir gedenken aller, weil es im Tod nach den Überlieferungen unserer Kultur und des christlichen Glaubens keine Unterschiede gibt.« Der Kriegsgräberverein betrauert die Kriegstoten unisono als Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, kritisierte Leibgeber. Die Täter werden weggelogen. Das Opfernarrativ ist wesentlicher Bestandteil der Gedenk- und Erinnerungskultur dieses Vereins. Man müsse gedanklich und praktisch unterscheiden zwischen denen, die sich eindeutig verbrecherisch und völkerrechtswidrig verhalten hätten, und denen, deren kriegerisches Verhalten eine eindeutige Unterscheidung zwischen Täter und Opfer nicht zuließen oder denen man individuell nichts vorwerfen könne, erklärte der Professor. Jedenfalls sei es völlig unbefriedigend, hier flächendeckend mit einem Täterbegriff zu operieren, wenn keine individuelle Schuld nachgewiesen werden könne. Wie bitte, was? Was sagt der Professor da? Es sei völlig unbefriedigend, flächendeckend mit einem Täterbegriff zu operieren? Leibgebers Gedanken bewegten sich wie bei einer Achterbahnfahrt aus dem Tal der Ahnungslosigkeit aufwärts zu der Erkenntnis: Was gibt den heute Lebenden das Recht, den Unterschied zwischen Verfolgern und Verfolgten, zwischen Nazis und Nazi-Gegnern, zwischen Mördern und Ermordeten zu ignorieren – und wem ist damit gedient?
Warum haben die vielen Millionen von Wilhelm und seinen Generälen, von Hitler und seinen Feldherren in den Krieg geführten Soldaten ein »ehrendes Gedenken« verdient? Die deutschen Hitlersoldaten waren als Akteure an Angriffs-, Raub- und Vernichtungskriegen in ganz Europa beteiligt. Durch ihren Kampfeinsatz haben sie sowohl die Grubenerschießungen von anderthalb Millionen Juden, Männer, Frauen und Kinder in den rückwärtigen Armee- und Heeresgebieten, die Vernichtung von drei Millionen sowjetischer Kriegsgefangener in den Dulags und Stalags, die Vernichtung von sechs Millionen Juden (davon 1,7 Millionen in den Vernichtungslagern der Aktion Reinhardt und weitere 1,1 Millionen allein in Auschwitz) die Vernichtung von fünfhunderttausend Sinti und Roma und die Ermordung der sowjetischen Politkommissare an der Ostfront ermöglicht. Wehrmachtssoldaten und SS-Angehörige, die an Angriffs-, Raub- und Vernichtungskriegen teilnahmen, sind als historische Mittäter zu bezeichnen, schlussfolgerte Leibgeber. Ohne Ausnahme!
Unabhängig davon, ob sie individuelle Schuld auf sich geladen haben, oder nicht. Unabhängig davon, ob sie auf Befehl handelten oder nicht. Unabhängig davon, ob sie propagandistisch indoktriniert waren, oder nicht. Auch wenn man ihnen individuell nichts vorwerfen kann: Jeder Deutsche, der als Teil der Exekutive des NS-Staats an der Durchsetzung der verbrecherischen Politik des Nationalsozialismus unter seinem »Führer« und obersten Kriegsherrn beteiligt war, hat sich mitschuldig gemacht. Jeder! Wenn es nicht gelang, das gesamte jüdische Volk auszurotten, die Völker Europas auf Dauer zu unterjochen und den Generalplan Ost durchzuführen, so nur deshalb, weil die Rote Armee und ihre Verbündeten genügend Hitlersoldaten getötet hatten, um die Durchsetzung der nazistischen Kriegszielpolitik zu verhindern. Die Gaskammern der Vernichtungslager haben erst dann ihren Betrieb eingestellt, als nicht mehr genügend Hitlersoldaten am Leben waren, um die Morde in den Konzentrationsund Vernichtungslagern durch ihren Kampfeinsatz zu ermöglichen. »In den deutschen Kriegsgräberstätten, von denen der Kriegsgräberverein im Auftrag der Bundesrepublik Deutschland im Ausland achthundertsiebenundzwanzig pflegt und betreibt, liegen Millionen Soldaten«, sagte der Professor. »Der Kerngedanke ist: Ein toter Mensch muss ordentlich begraben werden. Grabschändung oder gar Leichenschändung ist ein ethisch schweres Vergehen und bis heute mit Strafe belegt. Jemandem ein Grab vorzuenthalten gilt als eine besonders schändliche Entwürdigung. Das Reden über die Toten kennt in unserer Kultur die Milde: ›De mortuis nihil nisi bene’ – ›Über Tote nichts außer Gutes’ zu reden –, oder – christlich gewendet –, dass ein Toter, was immer er getan haben mag, bereits vor seinem Richter gestanden hat. Die Schlussfolgerung daraus ist dann, dass man nicht nur die Gräber nicht anrührt, sondern die Toten ruhen lässt. Aus diesen Grundvorstellungen speist sich die moralische Rechtfertigung der Kriegsgräberarbeit. Sie ist ein humaner Dienst. Wer dies nicht zu akzeptieren bereit ist, hat einen wesentlichen Teil unserer kulturellen Substanz nicht verstanden.« Wie bitte, was? Was sagt der Professor da? überlegte Leibgeber auf seinem Sitzplatz hinterm Pfeiler. De mortius nihil nisi bene?
Über Tote nichts außer Gutes? Über Roland Freisler, Scharfrichter Hitlers auf dem Präsidententhron des Volksgerichtshofs, Teilnehmer an der Wannsee-Konferenz über die so genannte Endlösung der Judenfrage und Schlächter der Angehörigen des militärischen Widerstandes und der Beteiligten am Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944, der den Kriegstod als Bombentoter erlitt, nichts außer Gutes? Über den Massenmörder Christian Wirth, den Kommandanten von Belzec und späteren Inspekteur der Vernichtungslager der Aktion Reinhardt, in denen 1,7 Millionen Juden mit Dieselabgasen ermordet wurden, der den Kriegstod durch Partisanen erlitt und auf dem Soldatenfriedhof Costermano oberhalb vom Gardasee begraben liegt, nichts außer Gutes? Über den Kriegsverbrecher Adolf Diekmann, der als SS-Sturmbannführer der SS-Panzerdivision Das Reich die Ermordung der Bewohner des Dorfes Oradour-sur-Glane bei Limoges befahl, den Kriegstod erlitt und auf dem Soldatenfriedhof La Cambe in der Normandie beigesetzt wurde, nichts außer Gutes? Sind Sie noch ganz bei Trost, Herr Professor? Die Soldaten von Wehrmacht und Waffen-SS haben Angriffs-, Raub- und Vernichtungskriege in ganz Europa geführt! Die Zivilbevölkerung, Männer wie Frauen, haben ihrem Führer zugejubelt und die deutsche Schreckensherrschaft über andere Völker, Staaten und Nationen gebilligt. Die Gemeinde der Nazi-Gläubigen hat die Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung von Juden, Minderheiten und Widerständlern geduldet. Hitler hat seinen Krieg nicht allein geführt! 1963 begann im Frankfurter Römer der große Auschwitz-Prozess. Vertreter der Anklage war der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Bauers Überzeugung, dass jeder, der in den Vernichtungslagern eingesetzt war, zugleich auch Teil der Mordmaschinerie war, hat sich durchgesetzt – siebzig Jahre nach Kriegsende. Folgt man dieser Lesart ist es keineswegs abwegig, die bloße Zugehörigkeit von Soldaten zur Wehrmacht und SS als historische Mittäterschaft an den Angriffs-, Raub- und Vernichtungskrieg des nationalsozialistischen Deutschlands zu interpretieren, schlussfolgerte Leibgeber. Sämtliche auf Hitler als »Führer« und obersten Befehlshaber des Deutschen Reiches vereidigte Soldaten waren Teil der Exekutive des nationalsozialistischen Unrechtsstaates. Damit sind sie historische Mittäter. Selbst dann, wenn sie auf Befehl handelten. Selbst dann, wenn ihnen keine individuelle Schuld nachgewiesen werden kann. Selbst dann, wenn sie propagandistisch manipuliert wurden. Das Umlügen von historischen Mittätern, hirnlosen Mitläufern, brutalen Kriegsverbrechern und bestialischen Massenmördern in Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft bedeutet ein Attentat auf die historische Wahrheit und einen Anschlag auf die intellektuelle Klarheit! Wer wie der Professor behauptet, ein Toter habe, was immer er getan haben mag, bereits vor seinem Richter gestanden, kennt keine Täter mehr. De mortius nihil nisi bene? Von wegen! Flucht und Vertreibung der Zivilbevölkerung aus den deutschen Ostgebieten, Bombenangriffe der Alliierten auf deutsche Städte und jahrlange Kriegsgefangenschaft deutscher Soldaten in der eisigen Sowjetunion dienen der Vereinsgemeinde als Deckerinnerungen, um sich nicht mit den ursächlichen Untaten der Deutschen auseinandersetzen zu müssen: die Angriffs-, Raub- und Vernichtungskriege von Wehrmacht und Waffen-SS, die Verfolgung, Vertreibung, Verschleppung, Vergasung und Verbrennung von Juden, Sinti und Roma, Politkommissaren und Partisanen, Behinderten, Widerstandkämpfern und Deserteuren, Männern, Frauen und Kindern. Wehrmachtsoldaten und SS-Angehörige haben die Verbrechen an den Juden und allen anderen Verfolgten erst ermöglicht! Die Stiefel der SS-Einsatzkommandos reichten nie weiter als bis zu den Deckungslöchern der Landser an vorderster Front. Wehrmacht und Waffen-SS, SS-Einsatzgruppen, Polizeibataillone und Totenkopfverbände haben nicht zwei verschiedene Kriege geführt! Der oberste Befehlshaber von Wehrmacht und SS war zugleich auch Baumeister der Konzentrations- und Vernichtungslager. Der Kriegsgräberverein lässt die objektive Rolle der deutschen Soldaten im Dunkeln. Stattdessen beleuchtet er die subjektiven Leiden der Gefallenen und ihrer Hinterbliebenen und kommuniziert die Kriegstoten als Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Leibgeber war nicht bereit, die Deutungshoheit des vom Bundesvorstand zum Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Beirats bestellten Chefideologen über die gefallenen Wehrmachtsoldaten und getöteten SS-Angehörigen zu akzeptieren. Der Kriegsgräberverein wirft Täter und Opfer in ein großes Massengrab und gießt – getreu seinem Leitwort »Versöhnung über den Kriegsgräbern«, die er als »Friedenseinsatz« ausgibt – die süße Soße der Versöhnung darüber, urteilte Leibgeber. Wer wie der Kriegsgräberverein Versöhnung als Chiffre für das Verschweigen der Täter verwendet, verhindert Aufklärung und verantwortet Volksverdummung anstatt Friedenseinsätze.
Auf der schrägen Ablagefläche vom Rednerpult wendete der Professor das Blatt, um persönliche Betroffenheit zu kommunizieren: »Ich habe fast alle männlichen Verwandten im Zweiten Weltkrieg verloren, bei Woronesh, Stalingrad, Kursk und Weißrussland, und weiß, welch überraschendes Gefühl es auch heute noch sein kann, plötzlich die Nachricht von der Lage eines Grabes zu erhalten.« Die Frage, WARUM Wehrmachtsoldaten und SS-Angehörige auf Soldatenfriedhöfen liegen, wurde von dem Professor nicht mit der Beteiligung der Kriegstoten an einem Angriffs-, Raub- und Vernichtungskrieg, sondern mit dem Hinweis darauf beantwortet, dass deren Angehörige einen Ort der Trauer wünschen. Der Kriegsgräberverein sei die einzige Organisation, die durch ihre Arbeit sehr nahe an diese innersten Gefühle der Menschen heranreiche, versicherte der Professor. An die Gefühle der Nachfahren historischer Mittäter in Wehrmacht und Waffen-SS, ergänzte Leibgeber in Gedanken. Nicht an die Gefühle der Hinterbliebenen und Nachgeborenen von ermordeten Juden, Rotarmisten, Gestapo- und Euthanasieopfern, Partisanen, Widerstandskämpfern und Deserteuren. Die Toten sind nicht gleich! Sie kamen weder aus denselben Gründen ums Leben noch liegen sie in denselben Gräbern. Sofern Gräber existieren, beklagte Leibgeber. Die in den Vernichtungslagern vergasten und in den Krematorien verbrannten Juden, Sinti und Roma, Männer, Frauen und Kinder besitzen kein Kriegsgrab! Die von den Mördern in den Einsatzkommandos der Einsatzgruppen hinter der Front ermordeten Menschen liegen im Massengrab!
Sofern sie nicht von ihren Mördern exhumiert und ihre Leichen auf benzingetränkten Eisenbahnschwellen verbrannt wurden. Individualisierte Kriegsgräber besitzen außer Bombentoten, Euthanasie- und Gestapo-Opfer nur Soldaten der Wehrmacht und SS-Angehörige. Der Bariton vom Staatsschauspiel sang:
In diesen heil’gen Mau-hauern, Wo Mensch den Me-henschen lie-hiebt Kann kein Verrä-hähä!-ter lau-au-ern Weil ma-han dem Fei-heind vergibt Wen solche Lehren ni-hihi!-cht erfreu’n Verdienet nicht, ein Me-hehe!-nsch zu sei-hein Wen solche Lehren nicht erfreu’n Verdienet nicht, ei-heihein Mensch zu sei-hein Wen solche Lehren nicht erfreu’n Verdienet nicht, ein Mensch zu sein Ein Me-hensch, ein Me-hensch zu sein
Dreimal hintereinander: Damit es auch jeder mitbekam. Damit auch jeder kapierte, was der Gedenkredner da sagte. Erstens: Kriegstote sind Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft und müssen ordentlich begraben werden. Zweitens: Was immer ein Toter getan haben mag; er hat bereits vor seinem göttlichen Richter gestanden, (dessen Sohn Mittäterschaft, Kriegsverbrechen und Massenmorde des Kriegstoten am Kreuz büßte). Drittens und vor allem: Die Kriegsgräberarbeit ist ein humaner Dienst. Wer dies nicht zu akzeptieren bereit sei, habe einen wesentlichen Teil unserer kulturellen Substanz nicht verstanden, so der Professor. Humaner Dienst? Für wen? überlegte Leibgeber: Für Juden, Minderheiten und Widerständler? Nein! Sondern für die Angehörigen der Exekutive Adolf Hitlers! Der Kriegsgräberverein kümmert sich ganz überwiegend um die Kriegsgrablagen derjenigen, die den nationalsozialistischen Terror durch ihren Kampfeinsatz an den Fronten erst ermöglichten. Der Papst arbeitet im Weinberg des Herrn. Du dagegen arbeitest im Klärwerk der Geschichte, überlegte Leibgeber. Dem Kriegsgräberverein geht es weder um historische Wahrheit noch um intellektuelle Klarheit. Statt einer zwischen Tätern und Opfern differenzierenden Geschichtsbetrachtung favorisiert er ein vereintes Opfergedenken.
Mit der Gleichmacherei von Tätern und Opfern geht die Transformation des Gedenkens in einen einheitlichen Totenkult einher. Täter und Opfer marschieren im Gleichschritt! Wie vorteilhaft, dass man dir als Mitarbeiter des Kriegsgräbervereins nur bis vor die Stirn gucken kann, grübelte Leibgeber in der Kirchenbank. Aber: Oppjepasst! Der Weg zu deinen Gedanken führt über deinen Mund. Was dort herauskommt, lässt auf das, was in deinem Kopf stattfindet, schließen. Deswegen musst du den Mund halten. Deine Situation gleicht der Papagenos mit dem Schlosse vor dem Maule. »Hm! Hm! Hm! Hm! Hm!
Hm! Hm! Hm! Hm! Hm! Hm! Hm! Hm! Hm! Hm!«, hmmt Papageno im 7. Auftritt des 1. Aufzugs in der Arie Nr. 5 von Mozarts »Zauberflöte«. Darauf Tamino: »Der Arme kann von Strafe sagen / Denn seine Sprache ist dahin!« Papageno: »Hm! Hm! Hm! Hm! Hm! Hm! Hm! Hm! Hm! Hm! Hm! Hm! Hm! Hm! Hm!« Tamino: »Ich kann nichts tun, als dich beklagen / Weil ich zu schwach zu helfen bin!« Papageno: »Hm! Hm! Hm! Hm! Hm! Hm! Hm! Hm! Hm! Hm! Hm! Hm! Hm! Hm! Hm!« Du würdest gern den Märtyrer geben, überlegte Leibgeber. Stattdessen musst du als Mitarbeiter des Kriegsgräbervereins den Repräsentanten spielen. Leibgeber räusperte sich in seine geballte Faust (»Hmhmt!«) und dachte an Hans Mayer, den hannoverschen Germanisten und akademischen Lehrer seines akademischen Lehrers: »Das Märtyrertum erwies sich in den meisten Fällen als ärmliches Leben«, mahnt Mayer in seinem 1993 im Suhrkamp-Verlag publizierten Buch »Wendezeiten«. »Die schreibenden Deutschen, die nicht jubeln mochten über das neue bürgerliche Heldenleben, mussten bescheiden leben« (Hans Mayer: Wendezeiten. Über Deutsche und Deutschland. – Frankfurt am Main 21993, S. 305).
»Totengedenken!« Die Veranstaltungsteilnehmer in St. Mariae Himmelfahrt erhoben sich von ihren Plätzen. Der Text wurde von einer Schauspielerin vom Staatsschauspiel gesprochen. Das Totengedenken beanspruchte, der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft zu gedenken. In seiner letzten Briefaussendung gedachte der Kriegsgräberverein 233.178 Kinder der Jahrgänge 1926 und jünger, die im Zweiten Weltkrieg zu Tode kamen oder vermisst wurden. Sie seien Flakhelfer, Volkssturm-»Männer« oder minderjährige Angehörige einer SS-Division gewesen, stand dort zu lesen. In seinem Standardwerk »Das Dritte Reich und die Juden« erwähnt der Verfasser, Professor Dr. Saul Friedländer, dass 1,5 der sechs Millionen ermordeten Juden jünger als vierzehn Jahre gewesen seien. Die von den Deutschen ermordeten Juden unter vierzehn Jahren wurden in der Briefaussendung des Kriegsgräbervereins mit keinem Sterbenswort erwähnt.
»Vitam impendere vero! – Sein Leben für die Wahrheit geben!« lautete der Wahlspruch von Leibgebers Alma Mater. Leibgeber hing seinen Aufklärungsanspruch vor Arbeitsantritt zusammen mit seiner Jacke am Garderobenhaken auf. Aus Angst davor, seinen geistigen Standpunkt zu verraten, entzündete er in der Finsternis der Dummheit kein Licht der Aufklärung. Nach der Verlesung des »Totengedenkens« blies ein Trompeter vom Landespolizeiorchester das Lied vom guten Kameraden. Träger und Exekutivorgan der Angriffs-, Raub- und Vernichtungskriege Hitlers und seiner Nazi-Generäle waren die Soldaten der Wehrmacht und der Waffen-SS. Eben diesen Wehrmachtsoldaten und SS-Angehörigen wurde mit dem Lied vom guten Kameraden gedacht. Die über fünf Millionen Gefallenen und Vermissten aus Wehrmacht und SS der insgesamt achtzehn Millionen Hitlersoldaten waren vielleicht in den Augen ihrer Mitkämpfer gute Kameraden gewesen. Historisch betrachtet waren sie als historische Mittäter, Kriegsverbrecher und sogar Massenmörder an Angriffs-, Raubund Vernichtungskriegen Nazi-Deutschlands in ganz Europa beteiligt.
Deine Tätigkeit als Bezirksorganisationsleiter dient nicht der beruflichen Selbstverwirklichung, sondern bedarf der täglichen Selbstverleugnung, überlegte Leibgeber. Nahrung, Kleidung und Obdach gegen die totale Selbstverleugnung: das ist dein faustischer Pakt mit dem Kriegsgräberverein. Manch ein Arbeitnehmer handhabt seine beruflichen Möglichkeiten wie Krone, Zepter und Reichsapfel. Du dagegen schleppst dich mit Kreuz und Dornenkrone ab. Wenn du deine Kritik an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg annageln oder sonstwo öffentlich machst, würde der Kriegsgräberverein dir als Reaktion darauf Zimmermannsnägel durch Hände und Füße treiben. Du gleichst einem Nichtraucher in der Zigarettenindustrie, einem Abstinenzler in der Spirituosenproduktion, einem Pazifisten in der Rüstungsindustrie, einem Atheisten beim Domkapitel. Du tust das Falsche und strengst dich auch noch richtig dabei an. Das ist dein »unglückliches Bewusstsein« (HEGEL – zitiert nach Hans Mayer). Hans Mayer verstand »unglückliches Bewusstsein« als Auseinanderstreben, wenn nicht als Konfrontation von Geist und Macht (Hans Mayer: Wendezeiten. Über Deutsche und Deutschland. – Frankfurt am Main 21993, S. 52). Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer hat die Begrifflichkeit Hegels auf die Schriftsteller übertragen. In seinen 1987 unter dem Titel »Gelebte Literatur« im Suhrkamp-Verlag erschienenen Frankfurter Vorlesungen heißt es: Heute weiß ich es. Aber ich habe mehr als fünfundzwanzig Jahre gebraucht, um diese Erkenntnis fruchtbar zu machen für meine Arbeit, was heißen soll: für meine Literatur. Die Erkenntnis nämlich, dass alle meine Beschäftigung mit deutscher Literaturgeschichte, von den frühen Aufklärern des 17. und 18. Jahrhunderts bis zum dichterischen Schaffen meiner eigenen Zeitgenossen, immer wieder ein einziges Thema behandelt hat: den Kontrast zwischen geistiger Ohnmacht der politischen und militärischen und ökonomischen Macht unter den Deutschen auf der einen Seite, der geistigen Macht und gesellschaftlichen Wehrlosigkeit aller großen deutschen Literatur auf der anderen (Hans Mayer: Gelebte Literatur. Frankfurter Vorlesungen [= es 1427, NF 424]. – Frankfurt am Main 1987, S. 72). Leibgeber war Mayer einmal begegnet. Und zwar im Funkhaus Hannover am Rudolfvon-Bennigsen=Ufer. Mayer sprach zum Thema »Nachdenken über Kultur im heutigen Deutschland«. Grauer, gemusterter Anzug, rote Krawatte, weißes Oberhemd, blätterte er in seinen Notizen. Mayer sprach frei, der Augen wegen, die dem 84-jährigen den Dienst versagten. Die Brille im schmalen, vogelartigen Gesicht, wie eh und je kahlköpfig, aber mit Altersflecken in der Schläfengegend, versicherte Mayer, dass die Literatur entweder ignoriert oder unterdrückt werde.
Was heißen solle: deutsche Literatur bleibe zumeist einsam und verinnerlicht. Immer wieder ausgesetzt der Indifferenz und der Repression. Der Schriftsteller, der wirkliche nämlich, spreche aus, was er sehe, fühle, hasse, auch liebe. Literatur sei Freiheit und Wahrheit zugleich. Beides sei sehr zu fürchten. Mayer galt als Nestor der deutschen Literaturwissenschaft in Deutschland. In den Jahren 1965 bis 1973 lehrte er als Literaturprofessor in Hannover. Leibgebers Magisterarbeit wurde vom Schüler und Nachfolger Mayers auf dessen Lehrstuhl betreut. Hans Mayer bescheinigte den Deutschen nach der Julirevolution von 1830 in seinem Vortrag Untertanengesinnung, selbstgefällige Arroganz und eine Radfahrermentalität. Dieses sei für Heine wie für Georg Büchner zur tiefen Lebensenttäuschung geworden. Kein geringerer als Thomas Mann habe während des Zweiten Weltkrieges dafür die richtige Formel gefunden: »Leiden an Deutschland«. Daran habe sich nichts geändert. Nach der Veranstaltung reihte Leibgeber sich in die Warteschlange vor dem wackeligen Tischchen ein, an dem Mayer seine Bücher signierte. Als Leibgeber an der Reihe war, streckte er Mayer den zweiten Band der Taschenbuchausgabe von dessen Erinnerungen entgegen.
Die gebundene Ausgabe konnte er sich als Student nicht leisten. Es ist der Band, in dem Hans Mayer seine Zeit am Institut für deutsche Literatur und Sprache an der Universität Hannover abhandelt. Als Leibgeber ihn bat, sein Exemplar des zweiten Erinnerungsbandes zu signieren, klappte Mayer den vorderen Buchdeckel auf und bat ihn, ihm die Daumen zu drücken, damit er übermorgen in guter Verfassung sei. Übermorgen? Wieso das? Da halte er die Laudatio auf Richard v. Weizsäcker, dem in Düsseldorf der Heinrich-Heine=Preis verliehen werde. In der Rede Richard von Weizsäckers vom 8. Mai 1985 sei etwas in vollendeter Form zur Sprache gekommen, was er in den Tagen des Exils oft erhofft hatte, meinte Mayer. Mit Richard von Weizsäcker habe gesprochen, was es nach wie vor gebe, und zwar als Mehrheit der Deutschen: das andere Deutschland.
Schreiben in dieser bürgerlichen Gesellschaft, die nach oben blickt, auf Thron, Offizier und adeligen Verwaltungsmann (vom Landrat bis zum Operndirektor), so Mayer wörtlich, verlangt in jedem Falle die Entscheidung, die Thomas Mann, in Erinnerung an seine eigene Jugend, als Alternative des Repräsentanten und des Märtyrers gedeutet hatte. […] Das Märtyrertum erwies sich in den meisten Fällen als ein ärmliches Leben. Die schreibenden Deutschen, die nicht jubeln mochten über das neue bürgerliche Heldenleben, mussten bescheiden leben (Hans Mayer: Wendezeiten, a.a.O., S. 304 f ). In seiner Jugend habe man jene, die nicht Hurra schreien und auf Kommando markig mitsingen wollten, Nörgler genannt. Im »Dritten Reich« verhöhnte man die Meckerer und Kritikaster. Noch später, so Mayer, sei von Pinschern die Rede gewesen, von Ratten und Schmeißfliegen. Die Bezeichnung Pinscher stammte übrigens von Ludwig Erhard, die Beschimpfung der Schriftsteller als Ratten und Schmeißfliegen vom damaligen Bundesaußenminister Heinrich von Brentano. Zwischen der Macht und der Literatur in Deutschland habe seit der Reformation Martin Luthers stets die äußerste Entfremdung geherrscht, erklärte Mayer. Die Literatur sei entweder ignoriert oder unterdrückt worden. Deutsche Literatur sei zumeist einsam und verinnerlicht geblieben. Alle wirklich aus Notwendigkeit entstandene Literatur sei immer gelebte und erfahrene Literatur gewesen. Nur dann entstehe haltbare Literatur, wenn sie der innere Ausdruckszwang, aller Bedenken und Sorgen und Verinnerlichungen ungeachtet, entstehen mache. Der »Gratismut«, um einen spöttischen Ausdruck von Hans Magnus Enzensberger zu zitieren, pflege billige Ware zu liefern. Der Zorn der Dichter habe stets recht behalten, so Mayer weiter. Hölderlin wie Heine hätten es gewusst und verkündet. Platon habe in dem konservativ-utopischen Entwurf seiner »Politeia« die Dichter mit gutem Grund aus seinem idealen Staat verbannt. Eine Ausnahme habe er nur bei den Dithyrambikern, also Jublern und Schönfärbern zulassen wollen.
Im »Vierergespräch über Thomas Mann, Deutschland und die Deutschen« mit NDR-Redakteur Hanjo Kesting, Inge und Walter Jens resümierte Mayer: was heute in Deutschland unter den Deutschen am wichtigsten ist: eine Kritik der Sprache, eine Kritik der Klischees, eine Kritik an dem unklaren Denken. Und ich glaube, es gibt eben dieses andere Deutschland, dessen große Aufgabe es sein wird, hier gegen die Lüge, gegen die Meinungsdiktatur, gegen die Verfälschung des wirklich freien Wortes, Stellung zu nehmen. Und die große Aufgabe, da für das andere Deutschland Sprecher zu sein, ist auch das Beispiel Thomas Manns und das Beispiel der deutschen Schriftsteller. Denn das ist das Hölderlin-Wort: »Was bleibet aber, stiften die Dichter« (Hans Mayer: Wendezeiten, a.a.O., S. 393).
An Leibgebers letzten Schultag krabbelten müde SchülernoMaden aus dem bleichen Gebäudeschädel der Schule, um, der geistigen Nahrung überdrüssig, den Heimweg anzutreten. In seinem Zimmer warf er die Tasche mitsamt dem Abschlusszeugnis auf den Schreibtisch. Nie wieder Schule! Vor die Frage gestellt, was stattdessen werden solle, entschied er sich für »irgendwas mit Büchern«. Schließlich konsumierte er Bücher wie Lebensmittel und fraß sich wie ein Wurm durch die Buchseiten. Seit fünf Jahren war er regelmäßiger Leser der Stadtbücherei. Was lag näher, als sich nach einer Ausbildung zu erkundigen, deren Ziel das Verleihen von Büchern vorsah. Für die Absolventen einer Realschule kam dafür eine Ausbildung für den mittleren Dienst an wissenschaftlichen Bibliotheken des Landes in Frage. Ausbildungsbehörde war die Niedersächsische Landesbibliothek. Seine Bewerbung gab er persönlich in Hannover ab. Beim Sichten des Zeugnisses schüttelte der verantwortliche Ausbildungsleiter seinen Pfeifenkopf (im Mundwinkel). Das sähe eher durchschnittlich aus, formulierte er. Ob Leibgeber schon einmal über eine betriebliche Ausbildung nachgedacht habe. Natürlich könne er sich trotzdem bewerben. Ob das denn Sinn mache, fragte Leibgeber. Das könne er nicht sagen, japste der Ausbildungsleiter zwischen zwei Zügen. Im letzten Jahr hätten sich fast ausschließlich Abiturienten beworben. Von dreißig Bewerbern seien ganze vier in den Vorbereitungsdienst eingestellt worden. Davon hätten alle die Hochschulzugangsberechtigung gehabt. Seines Wissens würde der Trend, überwiegend Abiturienten auszubilden, sich auch im Buchhandel fortsetzen, meinte der Ausbildungsleiter. Er könne aber trotzdem Glück haben (trotz Realschulzeugnis). Gleich gegenüber sei die Luther-Buchhandlung. Die würden Buchhändler ausbilden – wenn auch nicht viele. Leibgeber griff seine Unterlagen und wechselte die Straßenseite. Die Landesbibliothek Am Archive lag vis á vis der Luther-Buchhandlung an der Calenberger Straße. In einem Nebenraum abseits der Verkaufsfläche fragte ihn ein dürrer Hering namens Bismarck, ob er der Evangelischen Kirche angehöre. Das sei der Fall, versicherte Leibgeber.
»Na, dann ist es ja gut!« erklärte Bismarck und behielt seine Unterlagen. Einige Wochen später bekam Leibgeber Post von der Hauptverwaltung der Luther-Buchhandlungen im Knochenhauer-Amtshaus. Das Anschreiben der Hauptverwaltung enthielt eine Zusage für einen Ausbildungsplatz zum Sortimentsbuchhändler in der Filiale in Celle. Wochen nach der schriftlichen Zusage über seinen Ausbildungsplatz zum Buchhändler in der Filiale Celle erhielt Leibgeber ein Schreiben der Hauptgeschäftsleitung in Hannover aus dem hervorging, dass er seine Ausbildung nicht wie vorgesehen in Celle antreten könne, da die Leiterin der dortigen Filiale keine Ausbildungsberechtigung besitze. Als ob die das nicht vorher wussten, wunderte sich Leibgeber. Da er in Bergen wohnte, rechnete der Hauptgeschäftsführer nicht damit, dass er seine Ausbildung in dem achtzig Kilometer entfernten Hannover antreten würde. Leibgeber trat seine Ausbildung trotzdem an. Durch den unterschriebenen Ausbildungsvertrag behielt er bei seinem Ausbildungsbetrieb den Fuß in der Tür. Leibgeber konnte die Botschaft des Geschäftsführers ignorieren. Sie lautete: WIR KOMMEN HIER PRIMA OHNE SIE ZURECHT!
Am ersten September fuhr Leibgeber ab 06:30 Uhr von der Haltestelle Realschule nach Celle zum Bahnhof, um dort 07:40 Uhr in den Nahverkehrszug nach Hannover umzusteigen. Ankunft: 08:45 Uhr. Die Buchhandlung öffnete um 09:00 Uhr. Nach der Ankunft des Zuges im Hauptbahnhof stürzte Leibgeber in einer Menschenwoge die Treppe vom Bahnsteig hinunter in die Bahnhofshalle. Vom Ernst-August=Platz, mit dem grünspanigen Bahnhofsvorsteher auf seinem Sandsteinsockel, marschierte er die Bahnhofstraße hinauf und weiter zur Marktkirche. Am Leinekreml bahnten zwei Ampelanlagen dem Fußgänger den Weg über die sechsspurige Leibniz(keks)=Allee. Die Luther-Buchhandlung lag hinter dem Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv gegenüber der Johanneskirche. Die Johanneskirche lag an der Roten Reihe. Dort, unter der Hausnummer 6, residierte das Landeskirchenamt. In den zwanziger Jahren hatte der Massenmörder Haarmann hier ein Fleischereifachgeschäft betrieben. Aus den Augen machte er Sülze, aus dem Gesäß Speck – und den Rest, den schmiss er weg. Der schlauchartige Verkaufsraum der Luther-Buchhandlung wurde von fünf großen Schaufenstern mit Blick auf die Johanneskirche belichtet. Links und rechts der Tür steckten Ansichtskarten der das Stadtbild prägenden Gebäude und Gärten: Bahnhof mit Reiterstandbild, Marktkirche mit Altstadt, Universität mit Welfengarten, Herrenhausener Barockgarten mit Fontänen, Maschsee mit Breker-Löwen, Sprengel-Museum mit Nana-Skulpturen. Gegenüber dem Eingang stand der Kassentisch. Links vom Kassentisch zogen sich Regale voller theologischer Fachliteratur die Wand entlang: Hans Küng, Heinz Zahrnt, Jörg Zink. Daneben dickleibige Bände zur Bibelexegese – auf Dünndruckpapier. Davor standen Auslagentische, auf denen theologische Neuerscheinungen den christlichen Glauben verbreiten halfen – im Namen der Gesellschafter der Luther-Buchhandlung, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Die Regale rechts vom Kassentisch waren bis unter die Decke mit Belletristik bestückt. Auf den Auslagentischen gegenüber den Schaufenstern wurden Romane präsentiert; in der Mehrzahl Grass, Lenz und Walser. Dazwischen Brückner, Kempowski und Handke. Die meisten Titel lagen zu Stapeln aufeinandergetürmt, einzelne Ausgaben standen auf dem Schnitt. Manche Bände waren eingeschweißt, andere verführten zum Blättern. Zwischen den Fenstern standen drehbare Taschenbuchsäulen, quer zur Laufrichtung bogen sich Wandregale unter Kinder- und Bilderbüchern. Von Janosch bis Lindgren, von der »Unendlichen Geschichte« bis zur »Raupe Nimmersatt«. Die zarten Pflänzchen kindlicher Gehirne bedurften nach Meinung der Gesellschafter – Bischöfe und Pastoren der Evangelischen Landeskirche – christlicher Wässerung. Staubtrockene Oblaten zur Verabreichung des Fleisches der Leiche Jesu wurden im Keller gelagert – mit und ohne Kruzifix. Beim Abendmahl wurden sie mit deren Blut kredenzt. Hinter der Kinderbuchabteilung lag ein Büroraum.
Der Raum beherbergte drei Schreibtische: einen für Bestellungen, einen für die Postabfertigung, einen für den Chef. Bismarck, ein schlanker Hering mit hohen Wangenknochen und platter Boxernase ruderte mit seinen Handflossen durch die Gänge. Jede Tischkante, jede überstehende Buchecke, jede Fußmatte und jede Läuferkante liefen Gefahr, von ihm umgestoßen, umgerempelt oder untergehakt zu werden – so eilig hatte er es. In den zwei Jahren seiner Ausbildung hatte Leibgeber jede Woche eine Seite in seinem Berichtsheft zu füllen. Die Ausbildungsinhalte reichten vom Auswischen der Regale über die Beratung im Verkauf bis hin zur Ausstellung von Rechnungen. Die Zusammenstellung von »Büchertischen« diente als Literaturangebot bei Veranstaltungen in den Pfarrgemeinden. Im März bewarb Bismarck »drei literarische Ostereier«: Dschingis Aitmatow »Dshamilja« (»die schönste Liebesgeschichte der Welt«), »Die Geliebte der großen Bärin« von Sergiuz Piasecki (»die Geschichte eines wilden und berüchtigten polnischen Schmugglers«) und Henry Millers »Lächeln am Fuße der Leiter« (»ein gleichsam zur Sprache gewordenes Chagall-Bild«). Zwei der literarischen Ostereier sollten sich als faul erweisen. Die Liebesgeschichte »Dshalmilja« war nicht nur bei den Großhändlern, sondern auch beim Verlag vergriffen, ebenso »Das Lächeln am Fuße der Leiter«. Neuauflage unbestimmt.
Bismarck hatte versäumt, sich vor dem Versenden der Werbeschreiben nach den vorhandenen Lagerbeständen zu erkundigen. Die literarischen Ostereier waren jedoch bereits in aller Munde. Jeden Tag gingen Vorbestellungen ein, jedes Mal folgte der Offenbarungseid: Die Bücher seien bis auf weiteres vergriffen, Neuauflage unbestimmt. Am Donnerstag vor Karfreitag kletterte Leibgeber in der steilen Romanwand herum, um – vorsichtig balancierend – »Jauche und Levkojen« von Christine Brückner unter das Gipfelkreuz zu stellen. Plötzlich betrat der Landesbischof den Verkaufsraum. Wo denn das »Lächeln« bleibe, fragte er am Fuße der Leiter. Das sei vergriffen, jodelte Leibgeber in der Romanwand.
Neuauflage unbestimmt. Der Bischof fand das gar nicht lustig. Bei seinem Eintreten hatte die Türglocke geklingelt gehabt, bei seinem Abgang zitterten die Schaufenster im Rahmen. Der Landesbischof war aus der Tür gestürmt. Von dem Einschlag an der Schaufensterfront wachgerüttelt, startete Bismarck einen Hindernislauf in den Verkaufsraum. Die Unversehrtheit jeder Läuferkante mit seinen Füßen, jeder Tischecke mit seinen Hüften und jedes Buchstapels mit seinen Ellenbogen gefährdend, stürzte er an den Fuß der Leiter. Das sei doch eben der Landesbischof gewesen, keuchte er vorwurfsvoll. Warum Leibgeber ihn nicht beizeiten verständigt und auf dessen Besuch vorbereitet habe, fragte Bismarck. Der Bischof sei wieder weg gewesen, noch bevor er den Abstieg aus der Romanwand habe bewerkstelligen können, antwortete Leibgeber. Bismarck könne sich darauf verlassen, dass er ihn künftig vom Besuch jedes Kunden, der sich nach seinen faulen Ostereiern erkundige, verständigen werde. Bismarck solle sich deswegen nicht belästigt fühlen: Das würde sicher häufiger vorkommen. Leibgeber beschloss, seine Abhängigkeit als Auszubildender unter den Flossen Bismarcks so schnell wie möglich zu beenden und beantragte die vorzeitige Abschlussprüfung bei der Industrie- und Handelskammer. Der Hauptgeschäftsführer der Luther-Buchhandlungen machte gegen die Verkürzung seiner Ausbildungszeit keine Einwände geltend. Realschüler konnten die insgesamt dreijährige Ausbildung um ein halbes Jahr verkürzen und um ein weiteres halbes Jahr, sofern ihre Noten im Berufsschulzeugnis den Notendurchschnitt befriedigend aufwiesen. In der Buchhandelsfachklasse seiner Lindener Berufsschule saßen insgesamt fünfundzwanzig Schülerinnen und Schüler. Zwei davon hatten einen Realschulabschluss erworben. Alle anderen konnten die allgemeine Hochschulreife nachweisen. Die Betriebe bildeten sich ein, durch die Aufnahme von Abiturienten geeignetes Personal für den Buchhandel zu rekrutieren. Stattdessen blieben von den Auszubildenden mit allgemeiner Hochschulreife nur wenige im Buchhandel tätig. Sie hatten begriffen: sie wurden schlecht bezahlt, sie hatten miserable Arbeitszeiten, sie erhielten kaum Aufstiegschancen. Die meisten Auszubildenden nutzten ihren Schulabschluss nach Abschluss ihrer Lehre zur Aufnahme eines Studiums. Ganz Gewiefte nutzten Wartesemester vor dem Studienbeginn für ihre Ausbildung.
Nach Abschluss seiner Ausbildung zum Buchhändler leistete Leibgeber Zivildienst. Danach besuchte er die zwölfte Klasse der Fachoberschule am Celler Berufskolleg. Der zweite Versuch, die Tür der Niedersächsischen Landesbibliothek aufzustoßen, sollte darin bestehen, ein Studium zur Qualifizierung zum Diplom-Bibliothekar aufzunehmen. Bei der Immatrikulation am Fachbereich Bibliothekswesen, Information und Dokumentation der Fachhochschule Hannover erfuhr er, dass die Ausbildung für den gehobenen Dienst an wissenschaftlichen Bibliotheken des Landes Niedersachsen zwar an die Fachhochschule verlagert worden sei, für die Immatrikulation im Studiengang Bibliothekswesen allerdings die allgemeine Hochschulreife verlangt werde. Um die Tür zur Bibliothek dennoch aufzustoßen, wich er auf den Studiengang Allgemeine Dokumentation aus. Im Studentenwohnheim ließen die Erstsemester die Sau raus. Ein Telefonat mit dem Heimsprecher verlief ergebnislos. Leibgeber solle sich nicht so anstellen. Das sei ein Studentenwohnheim, kein Altersheim, lallte der Heimsprecher durch die Leitung. Um in den Augen anderer nicht anstößig zu wirken, ver(sch)wenden die Menschen viel Fantasie darauf, sich nach der geltenden Mode zu kleiden. Um gut zu riechen, werden feinste Duftwässerchen gebraut, für viel Geld gekauft und die Gebeine damit gesalbt. Um des guten Geschmacks wegen müssen sich Flora & Fauna allerhand gefallen lassen. Trotzdem nimmt man nicht alles in den Mund. Nur das Ohr, in das jeder Arsch seine akustische Scheiße stopft, ist Freiwild, das durch die Mitmenschen keinerlei Schonung unterliegt. Der Architekt musste die Studenten glatt gehasst haben. Andernfalls hätte er die Wände des Wohnheims nicht so hauchdünn wie bei einer Hutschachtel geplant. Die Bewohner über Leibgebers Studentenbude feierten jeden zweiten Abend eine Flurfete. Die Boxen wummerten im Gang und der Barkeeper rollte ein Bierfass über den Boden. Das Geklapper der studentischen Pumpsträgerinnen auf dem Plattenweg vor seinem Parterrefenster potenzierte zur Geräuschkulisse der Celler Hengstparade. An warmen Nachmittagen wurde zudem mit Kaffeegeschirr geklappert. Dazu schlug taktloserweise die stählerne Feuertür zum Treppenhaus vor seiner Zimmertür ins Schloss. Die Schläge klangen wie eine Kesselpauke. Leibgebers Mitbewohner tobten sich nicht nur auf dem Gang, sondern auch in seinen Gehörgängen aus. Nach einer kurzen Nacht kaute er bei Bohnenkaffee, Butter, Weißbrot und Erdbeermarmelade als Belag die Gründe durch, die ihn zum Aufstehen bewogen hatten. Leibgeber schluckte schwer an dem Vorsatz, zur Vorlesung gehen zu wollen. Verdaut hatte er ihn noch lange nicht. Plötzlich war es spät geworden: zu spät zum Abräumen und zu spät zum Abführen. Mit vollen Backen stürzte er die Betontreppe hinunter ins Fahrradverlies. Er schloss seinen Drahtesel von der Kette, balancierte damit durch die Kettenfahrzeuge seiner Kommilitonen, saß auf und trat seinen Weg an. Das vierstöckige Gebäude, in dem der Fachbereich Bibliothekswesen, Information und Dokumentation (BID) der Fachhochschule logierte, zeichnete sich durch die schlichte Eleganz eines industriellen Zweckbaus aus. Die Lehr- und Studienfächer im Grundstudium umfassten die Pflichtfächer »Betriebslehre der Informations- und Dokumentationseinrichtung und der wissenschaftlichen Bibliothek«, »Formale Erfassung und inhaltliche Erschließung von Dokumenten und Büchern« sowie »Grundlagen der Informationsvermittlung«. Im Hauptstudium wurden Informationssysteme, Informationsvermittlung, Informationsverarbeitung, Daten- und Faktendokumentation gelehrt. Der Fachbereich hatte einen Bock zum Gärtner bestellt, der jegliches literarische Pflänzchen mitsamt den Wurzeln aus dem Curriculum ausgejätete. Sein Amtsnachfolger erklärte anlässlich eines Festvortrags zum 10-jährigen Bestehen des Fachbereichs, das BID-Boot auch weiterhin auf Kurs in Richtung des literarischen Ausverkaufs halten zu wollen. Zwar war es an der Zeit, bibliographische Angaben mit Hilfe moderner Datenverarbeitungsmethoden zu erfassen, abzuspeichern und zu recherchieren. Aber konnte es richtig sein, wenn dort jahrelang Bibliothekare ausgebildet wurden, die Goethes »Faust«, den Angaben des Benutzers vertrauernd, im A(lphabetischen) K(atalog) unter Schiller, Friedrich aufsuchten? Das war der Tragödie Dritter Teil! Am Ende des Studiums zitierte Leibgeber am allerliebsten einen Satz aus dem Lesedrama »Die letzten Tage der Menschheit« von Karl Kraus. Der Satz lautet: DAS habe ich NICHT gewollt!
Am Ende seines Fachhochschulstudiums zum Dokumentar war ein sechsmonatiges Praktikum zu absolvieren. Leibgeber praktizierte in der Universitätsbibliothek und Technischen Informationsbibliothek (UB/TIB). Die UB/TIB war eine Bibliothek, die damit reüssierte, einem Atomkraftwerksbetreiber in kürzester Zeit eine Anleitung über das Krisenmanagement beim Supergau in Baden-Württemberg zufaxen zu können. Dabei wartete in ganz Hannover niemand länger auf die von ihm bestellten Bücher als ein Benutzer der UB/TIB. Die Bibliothek schien mehr dazu zu dienen, die Bücher in den Katakomben ihrer Magazine zu verbergen als diese zu verleihen. Viele Benutzer fühlten sich beim Verlassen der Bibliothek besser als bei deren Betreten. Dem verbeamteten und angestellten Bibliothekspersonal ging es – wenn auch aus anderen Gründen – nicht anders. Über das Bibliothekspersonal heißt es, dass es als Kellner serviere, was die Wissenschaft abspeise. Die UB/TIB degradierte ihr Personal darüber hinaus zu administrativen Erfüllungsgehilfen einiger Industriemultis, die die dort zugänglichen Informationen zur Profitmaximierung nutzten – oder zum Herrschaftserhalt. Ein Leihschein der Südafrikanischen Botschaft wurde von Leibgeber mit der Bemerkung signiert, dass ein demokratisches Gemeinwesen keine Leihscheine eines Rassistenregimes bearbeiten sollte, welches in den letzten drei Jahren achttausend Kinder ins Gefängnis gesteckt habe – sofern diese nicht zuvor getötet worden seien. Tags darauf wurde er zum Personalchef zitiert.
Zur Rede gestellt begründete er sein Verhalten mit dem Hinweis, es sei Unrecht, ein rassistisches Regime mittelbar dadurch zu unterstützen, dass man diesem wertvolle Informationen zum Ausbau seiner technologischen Leistungsfähigkeit zukommen lasse. Der Personalchef erwiderte, was Recht oder Unrecht sei solle er gefälligst den Gerichten überlassen. Leibgeber habe sich um seine Arbeit zu kümmern – und um sonst gar nichts. Ein Bibliothekar könne beim Signieren der Leihscheine doch nicht danach gehen, ob der bestellende Benutzer sich entsprechend seiner eigenen politischen Einstellung opportun verhalte. Das sei ganz unmöglich! Da hätte man ja auch nichts in die Warschauer-Pakt=Staaten verleihen dürfen. Hinter dem Personalchef hing ein gerahmtes Farbfoto an der Wand, welches ihn mit Herrn Hippenstiel-Immhausen an Bord einer Luxusjagd zeigte. Im Hintergrund lächelte Lothar Späth. Die UB/TIB hatte mit den sie verpflichtenden Aufgaben der Beschaffung, Bewahrung und Bereitstellung von ingenieurwissenschaftlicher und technischer Fachliteratur in der Vergangenheit nicht ausschließlich aufgeklärt, um zu nützen, sondern durch die Beschaffung und Bereitstellung von Informationen zur Herstellung ebenso überflüssiger wie umweltschädlicher Produkte der Menschheit keineswegs immer zum Vorteil gedient. Längst schon erfuhr der Mensch ingenieurwissenschaftlich-technischen Fortschritt als Motor einer Entwicklung, die mit zunehmend verpesteter Luft, verseuchtem Boden und verschmutztem Wasser und einer fortgesetzten Minderung der Lebensqualität bis hin zur Zerstörung der Lebensgrundlagen einherging. Da sich in der freien Marktwirtschaft alles, jeder, jede und jedes dem Ziel der Profitmaximierung unterzuordnen hatte, überstiegen die ökologischen Folgekosten den wirtschaftlichen Nutzen zulasten kommender Generationen. Seiner Erkenntnis zum Hohn war Leibgeber gezwungen, Immhausen-Chemie für die Dauer seines Praktikums mittels TIB-Informationen eine Giftgasfabrik in Libyen errichten zu helfen oder der Südafrikanischen Botschaft als Vertretung des Apartheid-Regimes am Kap technische Fachliteratur zum Bau von U-Booten zu beschaffen. Die Bibliothekare schienen eingedenk der Pervertierung ihres Berufes durch die Ziele, die manche Benutzer mit der Literaturausleihe verfolgten, resigniert zu haben. Murren? Aufmucken? Protestieren? – Da hatte Leibgeber sich aber geschnitten! Seine Wunden verpflasterte er auf der Herrentoilette. Blutspuren in den Büchern hätten bei den Benutzern auf ein angespanntes Betriebsklima schließen lassen. In der Mittagspause traf er den Personalchef vor einem Urinal der Herrentoilette. »Das ist wahrscheinlich der einzige Ort, wo ich mir Ihnen gegenüber etwas herausnehmen darf!«
Der Personalchef betrachtete Leibgeber wortlos von der Seite.
»Da habe ich wohl wieder mal den Kürzeren gezogen!«
Der Personalchef fühlte sich von ihm angemacht. Leibgeber wurde von der Leihstelle in die Zugangsstelle versetzt. Die Zugangsstelle diente als Bühne für ein Drama, das als Akzession bezeichnet wurde. In der Akzession hatte das Bibliothekswesen weit mehr mit dem Sortieren von Schrauben als mit dem Lesen von Büchern zu tun. Es gibt lange oder kurze, dicke und dünne, Holz-, Metall-, Schlitz- und Kreuzschlitzschrauben. Und es gibt Monografien, mehrbändige Werke, gezählte und ungezählte Reihenstücke, dazu Zeitschriften. Jeder Mitarbeiter hatte ein Streckennetz von Verwaltungsabläufen im Kopf, das seine Gedanken über zuvor definierte Weichen auf genau festgelegte Gedankenschienen lenkte. Wer eigene Wege ging, entgleiste. Ein kreativer Mensch war auf diese Weise zum bloßen Materialverschleiß verurteilt, ohne jemals Einfluss auf seine Arbeit nehmen und andere Wege als die ihm zugewiesenen geistigen Trampelpfade beschreiten zu können. Der ideale Mitarbeiter war ein Bibliotheksautomat, der zu funktionieren und dessen Kreativität sich als Ausdruck des Menschlichen nach Feierabend auszutoben hatte.
Lena war damals stellvertretende Leiterin der Akzession und für die Betreuung der Praktikanten zuständig. Zum Ausgleich für ihre sitzende Tätigkeit wollte sie einen Tanzkurs belegen. Dazu fehlte ihr der Tanzpartner. Sie fragte Leibgeber, ob er nicht vielleicht Lust habe mit ihr … Und ob er Lust hatte! Blond, hohe Wangenknochen, betonte Figur: Lena entsprach seinem Beuteschema. Die Standardtänze Foxtrott, Langsamer Walzer, Tango, Rumba, Jive und Cha-Cha-Cha stellten beide nach einigen Wochen vor das Problem, anderen Paaren auf Tanzflächen außerhalb der Tanzschule nicht ausweichen zu können. Um ihre Flexibilität zu erhöhen, überredete Lena Leibgeber zu einem Aufbaukurs unter dem Motto »Jetzt geht’s linxrum«.
Am Ende des Praktikums besuchte er eine Buchhandlung, um sich den Borges-Text »Die Bibliothek von Babel« zu besorgen. Auf dem Weg zur Kasse entdeckte Leibgeber Schillers Briefe »Ueber die aesthetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«. Er blätterte im Buchblock: … der Genuss wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden, stand dort zu lesen. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das ihn umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäftes, seiner Wissenschaft. An der Kasse erklärte ein älterer Kunde der Buchhändlerin, dass er »Das Kapital« von Karl May erwerben wolle. Sein Sohn lese so gern Geschichten übern Wilden Westen. Leibgeber las: Der tote Buchstabe vertritt den lebendigen Verstand, und ein geübtes Gedächtnis leitet sicherer als Genie und Empfindung. Wenn das gemeine Wesen das Amt zum Maßstab des Mannes macht, wenn es an dem einen seiner Bürger nur die Memoire, an einem andern den tabellarischen Verstand, an einem dritten nur die mechanische Fertigkeit ehrt, wenn es hier, gleichgültig gegen den Charakter, nur auf Kenntnisse dringt, dort hingegen einem Geiste der Ordnung und einem gesetzlichen Verhalten die größte Verfinsterung des Verstandes zugutehält – so wie in der Bibliothek, dachte Leibgeber, ganz genau so –, darf es uns da wundern, dass die übrigen Anlagen des Gemüts vernachlässigt werden, um der einzigen, welche ehrt und lohnt, alle Pflege zuzuwenden? fragt Schiller im Text. Zwar wissen wir, dass das kraftvolle Genie die Grenzen seines Geschäfts nicht zu Grenzen seiner Tätigkeit macht, aber das mittelmäßige Talent verzehrt in dem Geschäfte, das ihm zum Anteil fiel, die ganze karge Summe seiner Kraft, und es muss schon kein gemeiner Kopf sein, um, unbeschadet seines Berufs, für Liebhabereien etwas übrig zu behalten. Die Buchhändlerin schaute zu ihm herüber.
Sie wollte Feierabend machen. Wie viel also auch für das Ganze der Welt durch diese getrennte Ausbildung der menschlichen Kräfte gewonnen werden mag, so ist nicht zu leugnen, dass die Individuen, welche sie trifft, unter dem Fluch dieses Weltzweckes leiden. Was Schiller im sechsten Brief »Ueber die aesthetische Erziehung des Menschen« mit Blick auf die Entfremdung von Individuum und Gemeinschaft, was er zur Hinnahme beruflicher Spezialisierung unter Verzicht einer allseitigen Persönlichkeitsbildung zugunsten einer zunehmend arbeitsteiligen Gesellschaft und zulasten des Individuums, was Wieland in seinem »Aristipp« über den Hochleistungssport, was Goethe in »Wilhelm Meisters Wanderjahre« zur Rationalisierung durch Automation, was er im »Faust II« am Beispiel von Philemon & Baucis zur Umweltzerstörung oder zum Klonen von Menschen in Wagners Labor sagt – das alles war für Leibgeber von dramatischer Aktualität. Die Ausübung einer nützlichen Tätigkeit zugunsten eines ökonomischen Ganzen geht mit persönlicher Beschränkung einher, lernte Leibgeber. Die Leistungssteigerung der Gesellschaft erfolgt auf Kosten der Individuen!
Nach dem Verkaufen und Verleihen von Büchern wollte Leibgeber deren Inhalte verstehen lernen. Sein Germanistik-Studium verwirrte ihn. Formal war zwar alles geregelt. Bis zur Zwischenprüfung waren zwei Einführungsveranstaltungen, eine im Fach Literaturwissenschaft, die andere in die Sprachwissenschaft und ein so genanntes »Forschungslernseminar« zu belegen. Im Hauptstudium waren vier Hauptseminarscheine als Zulassungsvoraussetzung für die Magisterprüfung zu erwerben. Die Situation war ärgerlich und für die Studierenden ver2felt. Anstatt Einführungen in die literarischen Gattungen, Grundbegriffe der Textgestaltung oder Verfahren der Textanalyse anzubieten, ritt jeder Lehrstuhlinhaber sein eigenes Steckenpferd. Da wurden Lehrveranstaltungen angeboten, die alles andere als die Grundlagen des Faches vermittelten. Die Studierenden wurden weder dazu befähigt, ein sprachliches Kunstwerk zu analysieren, noch zu interpretieren, noch in die Literaturgeschichte eingeführt. Viel weniger existierte bei den Studierenden eine Vorstellung davon, was eine Wissenschaft von der Literatur zu leisten vermag. Stattdessen führte die Ausbildung am Seminar für deutsche Literatur und Sprache dazu, dass die Studierenden schon im Grundstudium zu bloßen Zulieferern für die projektierten Bücher ihrer Dozenten heranreiften: […] wodurch Studierende sehr bedrängt sind, hatte Goethe bemerkt. Professoren, so gut wie andere in Ämtern angestellte Männer, können nicht alle von einem Alter sein; da aber die Jüngeren eigentlich nur lehren, um zu lernen, und noch dazu, wenn sie gute Köpfe sind, dem Zeitalter voreilen, so erwerben sie ihre Bildung durchaus auf Unkosten der Zuhörer, weil diese nicht in dem unterrichtet werden, was sie eigentlich brauchen, sondern in dem, was der Lehrer für sich zu bearbeiten nötig findet. Steht in »Dichtung und Wahrheit«, entspricht aber wohl eher der Wahrheit.
Der Pfad zum Fachbereich verlief entlang der Leine durch Georgs Gassigarten. Weil er kein Ritter vom Integral war, nahm Leibgeber seinen Drahtesel an die Kandare und galoppierte damit über den Zebrastreifen. Daraufhin rüttelte ein Blechmandrill mit rotglühendem Affensteiß laut kreischend an seinem Panoramakäfig. Das Niedersachsenroß vor der Universität stieg vor Schreck auf die Hinterhand, bis es beinahe vom Sockel stürzte. Leibgeber griff dem Schicksal ins Zaumzeug und rettete sich zwischen Zähne fletschenden Grünspanlöwen hindurch unter die bröckelnden Sandsteintalare einer betagten Welfengalerie, um, dem Motto der Universität getreu, sein Leben für die Wahrheit zu geben. Der Dozent war bereits ct durch die Tür. Vom Weimarer Goethe-Kongress zurück, war er wieder in Hannover angeleint; eingebunden in die Disziplin des Wochenprogramms, mit Vorlesungen und Seminaren, Fakultätssitzungen und Sprechstunden, Beratungs- und Verwaltungsarbeit. Mit seiner löwenartigen Mähne, welche der Frisur des welfischen Wappentiers vor dem Eingang des Hauptgebäudes nachempfunden schien, turnte er eine Wortkür an den Lippenbarren. Währenddessen er um die richtigen Formulierungen rang, schwang er ein Wortlasso über seinem Kopf und fing, heftig gestikulierend, seinen Vortrag ein. »Also«, sagte er, »also man denkt als Erstes an Brecht. ›Ich habe ein laxes Verhältnis zum geistigen Eigentum!’, hat er … als … als man ihm Plagiat … das Klauen bei Villon vorgeworfen … Und ich denke, dass man so regieren darf als Autor. – Also wenn ich die Sache zu untersuchen hätte, würde ich fragen: Hat der Mann sich das angeeignet, oder … oder handelt es sich um einen Fall von … wo … wo jemand nun wirklich nix im Kopp hat und plündert.
Also ich würde mit der Arbeitshypothese an eine eigene Recherche – die ich nicht vorhabe – herangehen, dass es sich um Plündern handelt. Dass es sich um die Verlegenheit eines Vielschreibers handelt, wo das kein ästhetisches Prinzip ist. Also die Beispiele, die man zu lesen bekommen hat, weisen vorläufig für mich … also ich müsste … ich hab das nicht überprüft … weisen darauf … also … das … das sieht nicht so aus, als handele es sich um Montage. – Also ich sehe da weder ein ästhetisches Prinzip drin noch irgendeine besondere … also die … die wirken auf mich wie … wirklich wie … wie Seiten füllen. Sätze nehmen, damit man s’e schon mal nich’ … damit man selber keine schreiben muss. Also das wäre … das ist meine nicht überprüfte Wahrnehmung dessen, was ich … was man so lesen konnte. – Also ich sehe da keine … ich sehe da vorläufig kein … weder ein ästhetisches Prinzip noch irgendeine Art von … naja … von inhaltlichem Gewicht, ja? In diesem Sinn! Ich fand die … die Beispiele fand ich ganz läppisch. Ich frage mich: Warum … warum übernimmt man so etwas in ein Buch?« Jedes Buch bringe vieles aufs Neue durcheinander, behauptete Leibgebers akademischer Lehrer. Statt sich der Gesellschaft nützlich zu erweisen, indem sie diese gegen alles nicht Systemkonforme abzudichten versuche, lege die Literatur es umgekehrt darauf an, ihm eine Heimstatt zu bieten. Sie verteidige ihre Souveränität, um auf ihrem – freilich imaginären – Territorium all denen Asyl zu gewähren, die als Vertriebene zu ihr kommen: Allen, die sich nicht zurechtfinden, weil sie sich zu viele Gedanken machen oder nicht vernünftig genug sind, weil sie von der Ahnung eines anderen Zustandes nicht ablassen wollen, weil sie sich nicht recht nützlich zu machen verstehen. Ein Asyl für alle unterdrückten Träume, Talente, Ängste, Erinnerungen, Erfahrungen, eines neuen Verhaltens, für das Zusammenführen von falsch Getrenntem, für das Trennen von falsch Zusammengeführtem. Wie viel nicht hinnehmbare Realität, so frage und untersuche die Literatur, stecke in dem, was in und um uns der Fall sei; wie viel mögliche Realität, so Leibgebers akademischer Lehrer, sei in uns und um uns nicht der Fall?
Leibgeber und Lena unternahmen eine Reise nach Weimar. Sie besuchten das Schiller-Haus, besichtigten das Schiller-Museum, betraten die Herder-Kirche, betrachteten dessen Denkmal und flanierten zum Denkmal des Dichterpaares Goethe & Schiller vor dem Nationaltheater. Lena gruselte sich in der Fürstengruft auf dem Friedhof und Leibgeber bewunderte Goethes Gartenhaus im Park an der Ilm. »Der alte Goethe hatte übrigens ein Gummibärchen namens Jacob zum Hausgenossen, welches ›Wanderers Nachtlied’ mimisch ganz allerliebst darzustellen wusste«, erläuterte Leibgeber. »Eine weithin unbekannte Tatsache aus dem Privatleben Goethes. Überliefert wurde sie durch seinen Privatsekretär Johann Peter Neckermann, welcher später durch die Herausgabe des gleichnamigen Katalogs einen Bekanntheitsgrad erreichte, der den seines Arbeitsgebers um circa fünfhundert Prozent überstieg.« Das Highlight ihres Weimar-Aufenthaltes bildete der Besuch des Goethehauses am Weimarer Frauenplan. Ein Höhepunkt, der nur durch die gemeinsamen Nächte in ihrem Privatquartier in der Nähe vom Goethe- & Schillerarchiv getoppt wurde. Dort müsste man arbeiten – nicht in dieser grässlichen Technischen Informationsbibliothek in Hannover, meinte Lena beim Blick aus dem Fenster. Nach dem Besuch von Buchenwald streikte der Anlasser. Lena und Leibgeber schoben den Wagen vom Parkplatz auf die abschüssige Straße und ließen ihn mit eingeschalteter Zündung im Leerlauf den Ettersberg herunterrollen. Leibgeber ließ die Kupplung kommen, bis der Zündfunke sprang und sie in ihr Quartier fuhrwerkten. Der Werkstattbetrieb im bayerischen Hof erwies sich am Mittag des Folgetages als Wegelagerer, der ihre Urlaubskasse ausraubte. Für Lena endete die Reise in ihrer Lindener Wohnung und für Leibgeber im Studentenwohnheim. Das schien Lena nach Leibgebers Wahrnehmung nicht zu gefallen, so dass er aus der Klosterzelle seiner Studentenbude aus- und ins Paradies von Lenas Zwei-Zimmer=Wohnung einzog. Mit seinem empfindlichen Gehör geriet Leibgeber damit vom Regen an die Traute (hinten mit Tetzlaff, ganz wie der Alfred). Wenn die Kaffeetanten ihrer Nachbarin ihnen nicht bei ihren Bridgerunden in die Ohren keiften, tötete Tetzlaff ihnen den Nerv durch stundenlange Telefonate. Zwischendurch ließ sie ihren Urin gleich den Victoriafällen in die Klosettschüssel rauschen. Zuweilen ließ sie auch die Korken knallen. Leibgeber konnte die Frau nicht riechen. Es reichte ihm, sie hören zu müssen. Nach dem Toilettengang bumste sie mit der Lokustür. Lena und er sind ihr nichts schuldig geblieben … Der Papst vertritt die Ansicht, dass Männlein & Weiblein ins Bett steigen, um zu schlafen oder sich fortzupflanzen. Dass es noch einen weiteren Aspekt gibt, erscheint ihm verdächtig – nicht als Ausdruck des Menschlichen.
Im Magisterstudiengang waren entweder zwei Hauptfächer oder ein Hauptfach und zwei Nebenfächer zu belegen. Hieß ein Fach Geschichte, ging kein Weg am Historischen Seminar vorbei. Leibgebers Studium der Neueren Geschichte sollte ihm zum besseren Verständnis der historischen Ursachen, Zusammenhänge und Folgen insbesondere der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts dienen. Die Taktik militärischen Vorgehens des Ersten Weltkrieges war auf dem seiner Geburtsstadt benachbarten Truppenübungsplatz Munster, Angriffstaktiken des Zweiten Weltkrieges waren auf dem Truppenübungsplatz Bergen vor der Haustür seines Elternhauses eingeübt worden. Auf den Truppenübungsplätzen Munster und Bergen-Hohne wurden zudem riesige Kriegsgefangenenlager eingerichtet, um den gesamten nordwestdeutschen Raum mit Zwangsarbeitern zu versorgen. Im Winter 1941/42 waren dort fünfzigtausend Rotarmisten aufgrund von mangelnder Verpflegung, unzureichender Hygiene und fehlender Unterbringung an Hunger, Kälte und Krankheiten verreckt. Das am Ostrand bei Bergen gelegene Kriegsgefangenenstammlager war 1943 von der SS übernommen und als sogenanntes Aufenthaltslager für Austauschjuden mit Pässen gegnerischer und neutraler Staaten eingerichtet worden. Das Lager wurde vom SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt verwaltet, und zählte nicht nur administrativ zum Konzentrationslagersystem. Es wurde zu einem der schrecklichsten Lager in Hitlers Herrschaftsbereich. Beim Betreten des Seminargebäudes am Schneiderberg überkam Leibgeber regelmäßig das Bedürfnis, sich die Hände waschen zu wollen. Das bis zur Erblindung befingerte Glas der Eingangstüren, die Sprüche von zahlreichen Narrenhänden an Tischen und Wänden sowie der penetrante Spermageruch spät pubertierender Studenten erzeugten einen kaum zu bezwingenden Brechreiz. Die Massenuniversität erzog zum Misanthropen! Mit seinen Kommilitonen presste Leibgeber sich in die Konservendose des Fahrstuhls, um himmelwärts zu fahren. Einige sahen blass aus. Die Mensa hatte eine hohe Durchfallquote. Ein Kommilitone mit einwandfreier Verdauung und – dem Geruch nach – Kondensstreifen in der Unterhose ließ die Hoffnung fahren, dass der Dozent an einer Magen- & Darmverstimmung erkrankt sei und das Seminar ausfallen müsse. Er hatte ein Referat zu halten und war nicht vorbereitet. Beim Aufstoßen erbrach der Sprecher den Fahrstuhl wie eine Fleischkonserve. Am Schwarzen Brett fand sich die Nachricht, dass sich der Dozent zu Studienzwecken am Heiligen Stuhl befände.
Meistens speiste Leibgeber mit Lena, die zur Mittagspause von der Technischen Informationsbibliothek durch den Georgengarten zur Mensa am Schneiderberg herüberkam. In der Mensa stieß ein Student einem ehemaligen Patienten der Veterinärmedizin ein Messer zwischen die Rippen. Ein Professor vom Institut für Werkzeugmaschinen zog seine Schraubzwingen um Messer & Gabel und widmete sich den Brot- & Butter=Fragen des Lebens. Ein langsames Durchkauen – ein entspannter Blick: nicht übel! Das Besteck war jedenfalls sauber wie geleckt. Die Teller ebenfalls. Am Nebentisch transportierte ein Biologe gebleichtes Fischgebein durch sein Gebiss, während sein Kommilitone Knochen kotzte. Lena und Leibgeber verzehrten Backed Beans. Der elektrische Rodeosattel am Eingang war für den Nachgenuss bestimmt. Vor ihrer Wohnung trieben die Freizeitsklaven vom Lindener Ruderklub ihre Galeere die Leine hinunter. »Sollen sie doch«, kommentierte Lena das Geschehen. »Ich verrichte meinen Galeerendienst jedenfalls nicht freiwillig«. Schon hatte Leibgeber ein schlechtes Gewissen. Hoffentlich konnte er sein Studium bald beenden. In der Nebenwohnung hakte Tetzlaff mit lautem Knallen einen Kleiderbügel an die Flurgarderobe. Leibgeber brüllte: »Ich ramm’ dir gleich den Kleiderbügel in den Arsch!« Gleich darauf klingelte es an der Wohnungstür. Draußen stand Tetzlaff. Im Tennisröckchen, einen Kleiderbügel in der Hand haltend. »Sie wollten mir doch den Kleiderbügel in den Hintern rammen …« Darauf Lena: »Ich hatte schon immer vermutet, dass Sie ein ordinäres Frauenzimmer sind!« Türenknallend verschwand Tetzlaff in ihrer Trutzburg. Ihr Testamentsvollstrecker würde sie im Tennisröckchen beisetzen. – Aber wozu aufregen, fragte Lena? Die Steigerung von Tetzlaff sei weder Tetzlaffer noch am Tetzlaffsten, sondern Tetzlaff mit Hund!
Das Zusammenleben von Lena und Leibgeber blieb nicht ohne Folgen. Nachdem sie wochenlang mit dem Gedanken schwanger gegangen war, vielleicht doch nicht schwanger zu sein, besorgte Leibgeber Lena einen Schwangerschaftstest. Lena WAR schwanger. Und Leibgeber – anders als im Falle von Josef und Maria – nicht nur der mutmaßliche Vater. Leibgeber bat Lena, ihn zu heiraten. Die Amniozentese erbrachte einen unauffälligen, weiblichen Chromosomenbefund. Danach verlor Lena fortwährend Fruchtwasser, so dass sie der Frauenarzt ins Krankenhaus einwies. Dort wurde ihr ständige Bettruhe verordnet. Nach vier Wochen ständigen Liegens wurden Lena Wehen fördernde Tabletten gelegt. Als sich die Geburt dennoch verzögerte und sie stattdessen Fieber bekam, wurde ein Kaiserschnitt durchgeführt. Während Lena im Kreißsaal war, wartete Leibgeber auf dem Flur. Nach längerem Warten stürmte eine junge Ärztin mit wehendem Arztkittel aus dem Kreißsaal und fragte Leibgeber, ob er der Vater von der kleinen Birte sei. Als Leibgeber ihre Vermutung bestätigte, wurde er stürmisch umarmt und heftig beglückwünscht. Umarmung und Glückwünsche waren der Erleichterung über das Gelingen der ersten Sectio caesarea der Ärztin geschuldet. Als Leibgeber wieder zu Atem kam, schob eine Krankenschwester einen Inkubator durch die Flügeltüren. Der Säugling darin trug ein Armband mit dem Namen Leibgeber. Nachdem Leibgeber sich als Vater zu erkennen gegeben hatte, schob die Schwester den Inkubator mit seinem kleinen Mädchen mit raschen Schritten in Richtung Stationsausgang. Leibgeber setzte zu einem kurzen Spurt an, überholte den enteilenden Inkubator mitsamt seinem rührigen Heckmotor und riss die Tür zum Flur auf. Beim Durcheilen des Ausgangs fragte er die schiebende Schwester (mit lauter Stimme, um den klappernden Heckmotor zu übertönen), wohin die Reise gehe. Über den Hof in die Kinderklinik hieß es kurz angebunden. Jenseits der Glastüren herrschte heftiges Schneetreiben. »Sie werden ja wohl einen unterirdischen Gang dorthin haben.«
»Keine Sorge! Der wird nicht kalt!«
Die Schwester betätigte den Türdrücker an der Wand, so dass die Außentüren in das Schneetreiben hinausflogen. Leibgeber stieß die Arme in die Ärmelöffnungen seiner Winterjacke und hüllte sich in Schweigen. Neben ihm rüttelte der Inkubator mit der kleinen Birte übers Kopfsteinpflaster. Leibgeber spurtete durch das Schneetreiben und öffnete die Eingangstür zur Kinderklinik, um den Inkubator mit der Schwester einzulassen. Vor dem Fahrstuhl erklärte die Schwester, dass er ruhig nach Hause fahren könne. Als der herbeigerufene Fahrstuhl im Erdgeschoss aufstieß, ergänzte sie, er könne ja am Nachmittag wiederkommen. Sie hätten jetzt einige Untersuchungen vorzunehmen. Die Schwester schob den Inkubator mit der kleinen Birte in den Fahrstuhl, drückte auf einen Knopf und entschwebte mit seinem kleinen Engel in höhere Sphären.
Jetzt fehlte ein Arbeitsplatz. Mit Perspektiven fürs Leben. Nach dem Erhalt seiner Magisterurkunde bewarb Leibgeber sich um ein Referendariat für den höheren Bibliotheksdienst des Landes Niedersachsen. Die Bewerbung wurde abgelehnt. Die Niedersächsische Landesbibliothek schlug ihm das dritte Mal die Tür vor der Nase zu. (Die Botschaft lautete (wieder einmal): WIR KOM-MEN HIER PRIMA OHNE SIE ZURECHT! Das erste Mal hatte er keine Chance gehabt, mit seinem Realschulabschluss eine Ausbildung für den mittleren Dienst im niedersächsischen Bibliothekswesen anzutreten. Deswegen war er auf eine betriebliche Ausbildung zum Sortimentsbuchhändler ausgewichen.