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Während einer trüben Oktobernacht wird Ina Speckhardt von einem Auto erfasst und schwer verletzt. Sie überlebt knapp, dank des Chirurgen Arnold Kortmann. In der Folge ereignen sich seltsame Unfälle; immer wieder kommt es zu rätselhaften Todesfällen, in die ein mysteriöser Mann und ein schwarzer Oldtimer verwickelt sind. Die Kommissare Teschke und Sikorski stellen fest, daß Ina Speckhardt zu den Toten in mehr oder weniger offenkundiger Verbindung steht.....
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Gesenkten Kopfes überquerte sie die Straße im Bereich des Alten Bahnhofes – genau gegenüber der Bernsrieder Ortssparkasse – und schaute auf ihre Füße hinunter, schlanke Füße in abgetragenen Rikiedajas, sorgsam darauf bedacht, nicht auf dem regenfeuchten Kopfsteinpflaster auszurutschen. Seit Tagen regnete es, und das Pflaster war in Verbindung mit dem Schmutz und den Blättern der Platanen an den Gehsteigrändern – ein verzweifelter Versuch der Stadtverwaltung, den Bezirk um den Alten Bahnhof herum wie eine Alleenstraße wirken zu lassen – so glatt wie Schmierseife, und die junge Frau setzte ihre Füße sorgfältig auf die Pflastersteine. Im orangefarbenen Schein der Straßenlaternen hatte ihr glattes, rotblondes Haar einen matten Glanz, und sie umklammerte mit einer zierlichen Hand den Schulterriemen ihrer Handtasche.
Den auf hohen Touren heulenden Motor der mit überhöhter Geschwindigkeit heranpreschenden Limousine registrierte sie nur am Rande.
Doch das gleißend grelle Licht der Xenon-Scheinwerfer, das nur wenige Sekundenbruchteile später ihre Gestalt überflutete, blendete sie für den Moment vollständig, und kurz darauf folgte ein schwerer harter Anprall.
Krachend landete der Körper der jungen Frau auf der Motorhaube der dunklen Audi-Limousine, ihr Kopf schlug mit Wucht auf der Frontscheibe auf und hinterließ ein Spinnennetz aus gerissenem Verbundglas. Der Wagen rutschte mit blockierenden Rädern ein Stück, und der Körper der Frau glitt von dem Metall herunter, um auf der Straße aufzuschlagen und in merkwürdig verdrehter Haltung liegen zu bleiben.
Ein dünner Blutfaden rann aus dem rechten Ohr der Frau.
Die Audi-Limousine kam zum Stehen und verblieb, im Leerlauf tuckernd. Sehr still war es. Nieselregen ging hernieder. Ein Windstoß erfasste das um die Platanen am Straßenrand liegende Laub, und die feuchten Blätter kullerten umher, kratzende Geräusche verursachend.
Plötzlich röhrte der Motor des Audi auf, die Abgasrohre sprühten heißen Qualm in die Luft. Die Antriebsräder scharrten mit hoher Drehzahl, verzweifelt Halt auf dem rutschigen Untergrund suchend. Auf einem Gullydeckel fand der linke Reifen schließlich Grip und katapultierte den Audi vorwärts, der brüllend beschleunigte und sich vom Ort des Geschehens entfernte, noch ehe jemand in den umliegenden Häusern durch den Lärm wach geworden war.
Die junge Frau indessen lag bewusstlos auf dem Kopfsteinpflaster. Sie änderte nicht ihre Haltung, und der Regen durchnässte ihr cremefarbenes Kleid.
Eine ihrer Sandalen war vom Fuß gerissen und fortgeschleudert worden, der Inhalt ihrer Handtasche verstreut über die Straße, die normalen Dinge des Alltags – Brieftasche, ein Smartphone, ein Reisenecessaire und ein Deospray.
Niemand erschien, niemand rief die Polizei, oder einen Rettungswagen. Die junge Frau lag wie tot auf dem Pflaster, und die Blutlache unter ihrem Kopf wurde beständig größer.
Gut neunzig Minuten nach dem Vorfall geisterten Scheinwerfer-Lichtkegel über den Körper der Frau hinweg, die für einen neuen Wagen zu breit ausleuchteten.
Altmodische Rechteckscheinwerfer schickten gelbliches Licht über den verdreht auf der Straße liegenden Körper der jungen Frau, und der Fahrer des zu den Rechteckscheinwerfern gehörenden Wagens vollführte ein gewagtes Manöver: den Pendeleffekt ausnutzend riss er das Steuer erst in die eine, dann in die andere Richtung herum, so daß der Wagen erst auf einer Seite in die Federn tauchte und kurz darauf mit einem Ruck in die andere Richtung geworfen wurde. Mit scharrenden Geräuschen verloren die Reifen die Bodenhaftung, und der Wagen stellte sich mitten auf der Straße quer. Im Licht der Straßenlaternen wirkte die Farbe der für einen modernen Wagen zu kantigen Karosserie wie gestocktes Blut.
Ein Kenner hätte den Pkw als „Talbot-SIMCA Solara“ erkannt, Baujahr 1982.
„Oh verdammt!“
Der Fahrer sprang aus dem Auto, rutschte auf dem nassen Kopfsteinpflaster aus und schlug sich nicht nur die Knie auf, sondern verdrehte sich das linke Hüftgelenk, was ziemlich schmerzhaft war, doch er biß die Zähne zusammen und näherte sich humpelnd und hinkend dem leblos auf der Straße liegenden Körper.
„Du liebes Bißchen“, seufzte er, und kniete sich neben den Körper der jungen Frau, beugte sich über sie und lauschte angestrengt auf Atemgeräusche. Ganz schwach konnte er etwas hören: sie atmete. Aber flach und kaum hörbar.
„Können Sie mich hören?“
Er wollte ihr eben sachte an die Wange tätscheln, als er das Blut unter ihrem Kopf sah.
„Scheiße, das könnt ein Schädelbruch sein“, seufzte er und zückte sein Smartphone, hieb die 112 aufs Display und bellte sofort los, als sich jemand von der Rettungsleitstelle meldete: „Mein Name ist Kortmann. Bitte schicken Sie einen Rettungswagen zum alten Bahnhof nach Bernsried-Neustadt, wo das Rathaus untergebracht ist, und die Verbandsgemeindeverwaltung. Hier liegt eine Dame auf der Straße, schätzungsweise zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig Jahren. Ich habe keine Ahnung, was genau passiert ist, aber sie blutet aus dem rechten Ohr, und sie ist klatschenass. Sie liegt hier wohl schon länger!“
„Langsam“, schnarrte die Stimme des Mitarbeiters von der Leitstelle aus der Hörmuschel, „erst mal: wer sind Sie, und worum geht es?“
„Es geht um einen Unfall, Herrgottnochmal“, bellte der Mann, „wenn Sie nicht gleich einen Wagen schicken, stirbt hier jemand!“
„Ich brauch...“
„Mein Name ist Kortmann, Arnold Richard Kortmann. Ich bin Chirurg am Klinikum Auethal, und ich habe hier in Bernsried-Neustadt eine offenbar schwer verletzte Frau aufgefunden. Sie liegt vor dem Rathaus auf der Straße. Ich habe mit meinem Auto den Auffindeort gesichert. Schicken Sie bitte einen Rettungswagen, und zwar so schnell es geht!“
„Es tut mir leid, aber aktuell sind keine Wagen in der Nähe verfügbar. Es wird sicher noch fünfundvierzig Minuten dauern, ehe ein Notarzt vor Ort sein kann.“
„Was? Seid ihr noch zu retten? Die Frau kann so lang nicht mehr warten, sie verliert Blut, sie kühlt aus!“
„Ich kann leider nichts anderes sagen.“
„Ach, vergesst es einfach! Ich übernehme ab hier! Wenn ihr nicht wollt – ich will und ich werde!“
Frustriert hieb er auf das rote Feld auf dem Display, in dem ein auf der Gabel liegender Telefonhörer abgebildet war, und steckte das Telefon in die Brusttasche seines Hemds.
Er musterte das totenbleiche, rundliche Gesicht der Frau.
Ein sehr harmonisches und feingeschnittenes Gesicht, in seinen Augen wäre die Frau sogar sehr hübsch gewesen, doch die Blässe und das Blut unter ihrem Kopf erschreckten ihn.
„Nur die Ruhe“, murmelte er, „ich bring dich von hier weg, Mädchen, keine Sorge. Wir kriegen dich wieder in die Reihe.“
Er hastete zu seinem Wagen, öffnete die hintere Tür und zog die Rückbank heraus, flog mehr, als daß er ging zurück zu der jungen Frau auf der Straße, und machte sich daran, sie behutsam auf die Rückbank zu verbringen. Mit seiner Jacke stabilisierte er ihren Nacken, Selbstgespräche führend. Und je länger er arbeitete, desto mehr engagierte er sich emotional.
Er lupfte die Rückbank mit der mit zwei Abschleppseilen verzurrten Frau an und keuchte. Sein Rücken machte ihm zu schaffen, und die junge Dame war erstaunlich schwer, was ganz sicher der Bewusstlosigkeit zugeschrieben werden konnte. Doch mit Hilfe einer Sackkarre (ewig im Kofferraum spazierengefahren) bugsierte er die Rücksitzbank zum Wagen, lud sie ein und schloss die Fondtür, nahm hinterm Steuer Platz und startete den Motor, der bei dem Manöver abgestorben war.
Der Anlasser spurte ein und weckte mit mechanischem Hechelschnarren den Verbrenner, der auf Anhieb packte und ansprang, gespeist von hochoktanigem Superbenzin. Ein kurzes Tuckern im Leerlauf, doch der Mann wollte keine Zeit verlieren. Also gab er dem Wagen die Sporen. Heiser röhrte der Motor auf, und die Vorderräder scharrten auf dem nassen Kopfsteinpflaster. Als der Gummi sich erwärmte, bekamen die Reifen Traktion und zogen den Talbot mit. Aggressiv röhrend beschleunigte die französische Limousine auf der Straße. Aus dem Auspuffrohr schoss eine blaue Qualmwolke, und der Talbot kam lärmend auf Tempo.
Die steigende Windgeschwindigkeit auf der Frontscheibe erfasste die Regentropfen und trieb sie die Frontscheibe hinauf.
Auf dem Zubringer nach Lahmetal trat Arnold Kortmann das Gaspedal auf den Boden durch und trieb den kantigen Wagen unbarmherzig vorwärts. Er erreichte die Hauptstraße des Ortsteils Lahmetal, eine breite und gut ausgebaute Straße. Wuchtig rastete der vierte Gang ein, und der Talbot schoss mit knapp siebzig Stundenkilometer in eine Radarfalle. Was Arnold Kortmann nicht ahnte: der Blitzer war an dem Abend nicht bestückt. Und selbst wenn er es gewesen wäre: für den Moment war es ihm egal.
Auf der Überlandstrecke in Richtung des Klinikums Auethal kam der Motor des Wagens in die Drehzahlbereiche, die ihm behagten und wo er seine ganze Kraft auf den Antrieb übertrug. Dröhnend jagte der Wagen die Landstraße hinunter, stampfte und polterte durch schadhafte Stellen im Asphalt, raste über Schlaglöcher hinweg, während Motor und Antrieb und Radaufhängungen aufs Äußerste strapaziert wurden. Das Herz der jungen Frau auf der Rückbank presste mit stoischem Gleichmut Blut aus einigen Verletzungen in die Bauchhöhle und verlor dabei zunehmend an Kraft...
Durch eine Fensterscheibe betrachtete Arnold Kortmann, von seinen Freunden und Kollegen meist nur „Arnie“ genannt, das blasse rundliche Gesicht der jungen Frau, die er vor einigen Tagen ins Klinikum Auethal verbracht hatte. Wofür er freilich auch entsprechend gerügt worden war. Kortmann war Unfallchirurg am Klinikum Auethal, und sein unorthodoxes Vorgehen hatte ihm eine Vorladung vor die Ethikkommission der Klinik eingehandelt. Eine schwer verletzte Person auf der Rückbank eines Pkw verzurren und mit Brachialtempo durch die Nacht rasen, über ein Teilstück der B275, das dringend sanierungsbedürftig war, war keine Heldentat, zumindest laut dem Leiter der Notaufnahme des Klinikums.
„Aber hätt ich‘s nicht gemacht, wär sie dort draußen verblutet“, knurrte Arnie Kortmann grimmig. Schritte hinter ihm signalisierten, daß jemand an ihn herantrat.
„Arnie“, sagte sein Kollege Robert Stanger, „was tust du hier? Du bist im Moment suspendiert, und du weißt auch, weshalb.“
„Ich würde gern wissen, wer sie ist“, sagte Kortmann, wies durch die Fensterscheibe auf das Bett, in dem die junge Frau lag, angeschlossen an einen Herzmonitor und ein Beatmungsgerät, und seufzte.
„In ihren Sachen war ein Ausweis“, schmunzelte Stanger, „ihr Name ist Speckhardt. Ihre Vornamen sind recht hübsch, muss ich sagen: im Ausweis steht, sie heißt „Ina Corinna“, und sie wurde geboren am neunzehnten August neunzehnhunderteinundneunzig in Friedberg, ihr Wohnsitz ist „Wiesengrund“, Hausnummer sieben in Bernsried, Ortsteil Lahmetal-Oberdorf.“
„Weißt du, ob sie vermisst wurde?“ erkundigte sich Arnie Kortmann.
Stanger schüttelte bedächtig das große Haupt und schob seine Brille zurück auf die Nase.
„Keine Informationen zu der jungen Dame“, sagte er, „ich habe die Kripo informiert, und die haken nach. Bisher allerdings – keine Resonanz.“
„Hm“, brummte Kortmann, sichtlich nicht zufrieden mit den dürftigen Hinweisen, „irgendjemand muss die Frau doch vermissen. Familie, Freunde, ein Lebenspartner, eine Lebenspartnerin, oder Ehemann – Kinder eventuell.“
„Keine Hinweise auf eine Schwangerschaft, kein Trauring“, erwiderte Stanger mit Bedauern im Tonfall, „sie trug eine Halskette aus fünffünfundachtziger Gold, und ein Anhänger ist daran. Sieht aus wie der Buchstabe „I“ in Schreibschrift.“
So gern Arnie Kortmann Robert Stanger mochte – dessen dürrer Tonfall im Angesicht eines menschlichen Schicksals nervte ihn in diesem Moment ein wenig. Stanger war durchaus empathisch, doch in diesem Augenblick war seine Emotionslosigkeit für Arnies Begriffe etwas zu viel der nüchternen Sachlichkeit. Ihn selbst rührte die Frau. Sie wirkte zart und zerbrechlich in dem Krankenhausbett, und die Apparaturen, die ihre Vitalfunktionen überwachten, verstärkten den Eindruck noch. Arnie fand, sie sollte hier nicht liegen. Sie sollte mit Freunden und einem Café sitzen, „dumm Tüch“ erzählen, lachen, ein Stück Torte essen und ihr Leben genießen. Und nicht bewusstlos im Krankenhaus liegen.
„Kannst du mir wenigstens sagen, wie es ihr geht?“
„Natürlich. Frau Speckhardt ist außer Lebensgefahr“, sagte Stanger, und er klang etwas heiterer. Wahrscheinlich war er froh, endlich fachlich reden zu dürfen. Auf dem Gebiete war er sicher. Patienten reduzierte er gern auf die medizinischen Fakten; ihre persönlichen Umstände ließ er lieber außen vor. Die verkomplizierten seiner Meinung zufolge alles nur.
Kortmann war in der Hinsicht etwas anders, vielleicht abseitiger, vielleicht tiefgründiger: für ihn waren Menschen wie Ina Speckhardt nicht nur Fallakten. Gerade weil er sie gefunden hatte, griff sie ihm besonders ans Herz.
Wer tat so etwas?
Ina Speckhardts Körper hatte eindeutige Spuren von einem harten Aufprall gezeigt, und wenn auch „nur“ drei Rippen, Ober- und Unterschenkel rechts, sowie ein Mittelfußknochen gebrochen und einige Quetschungen und Abschürfungen zu beklagen waren – eine Haarfraktur des Schädels machte die übrigen Verletzungen zu Streuseln auf dem Kuchen. Ina Speckhardt war um Haaresbreite am Schädelbasisbruch vorbei gekommen.
„Ich sage allerdings mal wie folgt“, ergänzte Stanger und räusperte sich, „sie hätte nicht mehr länger dort liegen dürfen; sie hat sehr viel Blut verloren.“
„Innere Verletzungen?“
„Ja. Ruptur der Leber. Ich glaube, es war richtig, daß nicht du die OP gemacht hast.“
„Allerdings“, seufzte Kortmann, „ich hatte nasse Augen. Die ganze Zeit schon, als ich sie hergefahren habe.“
„Glaube ich dir“, sagte Stanger trocken, „meines Erachtens, und das habe ich auch der Polizei gesagt, ist die Frau von einem Auto erfasst worden.“
„Denkst du an Fahrerflucht?“
„Spricht doch alles dafür, oder nicht?“
„Mann, ich verstehe solche Leute nicht“, knurrte Kortmann, „man kann die Kontrolle verlieren, ja. Und dabei kann jemand verletzt werden. Aber jemanden anfahren und sich einfach zu verpissen – entschuldige mein Französisch…!“
„Nur die Ruhe, ich verstehe Deutsch“, schmunzelte Stanger, „und ich verstehe dich, mein Lieber. Dir geht gegen den Strich, daß da jemand nicht zu seinem Fehler stand und nicht die Polizei sowie einen RTW geholt hat.“
„So eine verkorkste Kreatur“, knurrte Kortmann.
„Mit deinem Zorn bewirkst du nur nichts, mein Lieber“, erwiderte Stanger und klopfte dem Kollegen begütigend auf den Rücken, „genieße die freie Zeit. Und kümmere dich mal um dich selbst. Deine Hüfte wird anscheinend nicht besser.“
„Ist‘n Argument“, brummte Kortmann und seufzte, „am folgenden Tag, nachdem der olle Teuschner mich rundgemacht hat, bin ich am Alten Bahnhof vorbei gefahren und hab den zweiten Schuh der jungen Dame gefunden.“
Er erinnerte sich an die aus Leder gefertigte, minimalistische Sandale mit dem Abdruck eines kleinen, schmalen Fußes auf der Sohle, die im Rinnstein gelegen hatte. Der letzte Hinweis auf die Ereignisse der vorangegangenen Nacht. Natürlich hatte der Regen das Blut aus Ina Corinna Speckhardts Kopfverletzung längst weggewaschen gehabt.
„Oh, da wird sie sich freuen“, grinste Stanger, „laß sie nur erst mal wach werden.“
„Haltet ihr sie in einem künstlichen Koma?“
„Nein. Sie schläft eine Art Rausch aus. Ihre Verletzungen waren schwer genug, um sie außer Gefecht zu setzen. Ich geh davon aus, daß sie in einigen Tagen erwachen und nach ihrem Retter fragen wird.“
„Sie soll gesund werden“, seufzte Kortmann, „irgendjemand da draußen vermisst sie. Ich bin überzeugt davon.“
„Kann ich dich davon abhalten, nach ihrer Familie zu suchen?“
„Schwerlich“, grinste Kortmann.
Stanger machte eine einladende Geste.
„Dann tu, was du nicht lassen kannst. Es muß jemand über ihr Schicksal und ihren Aufenthalt bei uns informiert werden.“
In einiger Entfernung zu dem Raum, in dem Ina Corinna Speckhardt lag, unweit der beiden Ärzte, stand eine hochgewachsene Gestalt und beobachtete die beiden Ärzte aufmerksam. Ihr Gesicht lag im Schatten der breiten Krempe eines Hutes verborgen, und der Körper war in einen dunklen, altmodisch geschnittenen Staubmantel gehüllt. Hätten die beiden Männer im gleichen Moment aufgesehen, wäre ihnen der große Mensch todsicher aufgefallen, und sie hätten ihn anhand seines Körperbaus als „Mann“ identifiziert. Doch sie bemerkten ihn nicht, und als der hochgewachsene Mann ins Licht einer Leuchtstoffröhre trat, warf er keinen Schatten...
In der Abgeschiedenheit des Wohnzimmers seines vor einigen Jahren frisch renovierten Eigenheims in Bernsried-Neustadt setzte sich Kortmann an seinen Schreibtisch und schaltete den PC ein. Er loggte sich in den Internetbrowser ein und zog die Online-Ausgabe des Bernsrieder Telefonbuches zu Rate und googelte im Telefonbuch nach „Speckhardt“.
Er fand sechs Einträge.
„Speckhardt, Heinrich“, einen Privatanschluss und den Anschluss einer Firma namens „Schreinerei Speckhardt KG“, deren Inhaber ein gewisser Heinrich Gotthold Speckhardt war, es gab eine „Speckhardt, Ina“…
„Treffer“, sagte er leise und griff nach dem Smartphone, das er sich griffbereit hingelegt hatte.
Er wählte die Nummer neben Ina Speckhardts Name und hielt sich das Smartphone ans Ohr.
Das Rufzeichen erklang.
Dann ein Knacken in der Leitung.
„Hallo. Ihr habt die richtige Nummer, nur die falsche Zeit gewählt. Ich bin nicht zu Hause. Hinterlasst mir bitte eine Nachricht mit eurer Telefonnummer – ich rufe zurück, sobald ich kann.“
Die Stimme einer jungen Frau, und Kortmann sah ein rundliches, leichenblasses Gesicht vor seinem geistigen Auge. Die Stimme war fein, weiblich-hell und klar und klang leicht kehlig. Ihre Besitzerin hatte augenscheinlich eine gute Schulbildung genossen und war recht wortgewandt, was durch die Ausdrucksweise der Frau auf dem Anrufbeantworter belegt wurde.
Die letzten drei Einträge betrafen einen „Speckhardt, Hermann“, eine Firma mit Namen „Reisebüro Speckhardt oHG“ und eine „Speckhardt, Isabel“.
Kortmann parkte seinen dunkelroten Talbot Solara auf der der Firma „Schreinerei Speckhardt KG“ gegenüber liegenden Straßenseite, scherte sich nicht um das Halteverbot, sondern stieg aus und ging festen Schrittes auf das offen stehende Tor des Handwerksbetriebes zu.
Ein schon auf den ersten Blick unappetitlich aussehender Mann vermutlich Mitte-Ende Sechzig stapfte gewichtig und träge in ausgetretenen Sicherheitsschuhen über den Hof, seine Latzhose staubig. Schwer zu schätzen, wie alt er wirklich war. Er wirkte jedenfalls älter, als er vermutlich war, was man einer nicht gerade gesunden Lebensführung zuschreiben konnte.
Grotesk fettleibig sah er aus. Die Latz-Arbeitshose spannte über einem mächtigen Wanst.
„Guten Tag“, sprach Kortmann den unappetitlichen Menschen an.
Dieser drehte sich um, einen Zigarettenstummel zwischen den bläulichen Lippen. Unter vorspringenden Augenbrauenwülsten glommen kalte kleine Augen, wasserhell und abschätzend.
„Sind Sie Heinrich Speckhardt?“ erkundigte sich Arnie Kortmann und musterte den fettleibigen Kerl.
„Ja“, erwiderte der unappetitliche Dicke missmutig und unwillig, „der bin ich. Was wollen Sie? Wer sind Sie?“
„Mein Name ist Kortmann“, antwortete der suspendierte Unfallchirurg, „Arnold Kortmann. Ich bin Notfallmediziner am Klinikum Auethal. Haben Sie eine Tochter oder eine Enkelin namens Ina?“
„Ich habe eine Tochter, ja. Die heißt aber anders“, brummte der Dicke und hustete, wobei ein beeindruckender Herrenbusen in wabbelnde Bewegung geriet.
Kortmann bemühte sich nach Kräften, sich nichts anmerken zu lassen. Doch der zigarettenstummelkauende Typ ekelte ihn an.
„Und der Name der Tochter ist Ina?“ bohrte Kortmann weiter, obschon der Dicke dies bereits verneint hatte.
„Nein, hab ich doch schon gesagt“, erwiderte der Zigarettenstummelkauer in der Dialektfärbung der Gegend, und reichlich ungnädig, „Sie meinen die Tochter von mei‘m Bruder, die heißt Ina. Der hat ein Reisebüro in Neustadt, in der Fußgängerzone.“
„Besten Dank“, sagte Kortmann, „vielleicht interessiert es Sie ja auch, weshalb ich nach Ihrer Nichte frage.“
Der Fettsack winkte ab.
„Interessiert mich einen Scheiß“, sagte er, „für mich ist die ganze Bande gestorben, schon lang!“
„Gut“, nickte Kortmann, „Ihre Angelegenheiten. Nur so viel: Ihre Nichte liegt im Klinikum Auethal. Sie wurde von einem Auto erfasst und dabei schwer verletzt.“
„Na und? Dann hat sie vielleicht jetzt weniger Flausen im Kopf.“
Der Dicke schien null Fähigkeit zur Empathie zu besitzen, was Kortmann unerträglich fand. Wieder sah er das rundliche Gesicht der verunfallten Frau mit den ebenmäßigen Zügen und den zarten, empfindsamen Lippen vor seinem geistigen Auge.
Diese jadegrünen Iriden mit den großen Pupillen, die zwar träge, aber doch merklich auf den Lichtreiz der Taschenlampe reagiert hatten.
„Meinen Sie, ich kümmer mich groß um des Balch von mei‘m Bruder? Die kann von mir aus an ihrer eigenen Scheiße ersticken, und es würd mich einen Dreck kümmern“, bellte der Mann, „sehen Sie zu, daß Sie Land gewinnen. Sie ham hier nix verloren.“
Ein dicker, erstaunlich rosiger Zeigefinger wies zum Tor des Betriebsgeländes.
Warum keilte der Dicke nur so gegen die junge Frau aus?
„Liebend gern“, nickte Arnie Kortmann. Er hatte verstanden. Offenbar war er an eine Familie geraten, die sich untereinander nicht grün und in Streitigkeiten verstrickt war, was denn auch vor den Kindern nicht Halt machte.
„Dann verschwinden Sie, bevor ich grob werde“, bellte der Dicke, und Arnie Kortmann fragte sich im Stillen, was der Dicke mit „grob werden“ meinte. Selbst wenn es zu einer körperlichen Konfrontation kommen und der Fettwanst auf Arnie losgehen würde – Arnie Kortmann würde den Dicken mit einem energischen Fausthieb zu Boden strecken können, ohne sich groß anzustrengen. Er war zwar körperlich nicht so fit wie sein Bruder Tim, doch das jahrelange Herumwuchten teils schwerer Menschen von RTW-Rollbahren auf OP-Tische hatte seine Arme gekräftigt, und auch seine Schultern waren heute noch in gutem Zustand. Er war – trotz des Genußbäuchleins, das sich seit einigen Jahren entwickelte – körperlich besser beieinander als der fette, latzhosensprengende Zigarettenstummelkauer Heinrich Speckhardt.
„Dickerchen, eins geb ich dir mit auf deinen sicher nicht mehr sehr langen Lebensweg“, grinste er, „wenn dich der Schlag trifft, landest du todsicher auf meinem Tisch, und ich werd dir bestimmt fünf Stents legen müssen, damit das Motoröl, was in deinen Adern zirkuliert, wieder alle Bereiche deines unegalen Leibs erreicht. Also pass gut auf, was du als nächstes tust. Auch eine Notaufnahme kann Patienten ablehnen, und ich werde dich dafür vormerken.“
Das war freilich nicht wahr, doch die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht.
Der Mann stutzte kurz.
„Habe die Ehre“, sagte Arnie Kortmann, tippte an den Schirm seiner karierten Schiebermütze und machte sich auf den Weg zurück zu seinem Auto.
Die Velourspolster des Talbot schmiegten sich an seinen Rücken und Hintern, als er es sich hinterm Steuer bequem machte und den Motor startete. Leben kam in die französische Limousine, und Kortmann machte sich auf den Weg nach Neustadt.
Ihm entging allerdings völlig, daß neben einer Straßenlaterne ein Mann stand, und hätte man Arnie Kortmann gefragt, hätte er gesagt, daß er niemanden bemerkt hatte. Ein hochgewachsener Mann, dessen physische Beschaffenheit vollkommen von einem tief ins Gesicht gezogenen, breitkrempigen Hut und einem altmodisch geschnittenen dunklen Staubmantel verhüllt wurde. Unter dem Mantel schauten klobige Stiefel hervor. Seelenruhig stand der Mann an den Pfahl der Laterne gelehnt da und rauchte eine Zigarette, während er den Betriebshof der Schreinerei Speckhardt beobachtete. Wäre in diesem Augenblick jemand an dem Mann vorbei gekommen, hätte er eine leise, gepresst klingende Stimme auf Englisch sagen hören: „Komm nach Hause.“ Metall klimperte in einer behandschuhten Hand, und ein Kenner hätte einen Schlüsselanhänger mit dem fünfzackigen Stern eines Autoherstellers erkannt. Wenn nur just in diesem Moment jemand den hochgewachsenen Mann in dem Staubmantel und dem breitkrempigen Hut gesehen hätte.
In einer langgezogenen Fahne er eine blaugraue Rauchwolke aus, schnippte den Zigarettenstummel in den Rinnstein und verschränkte die Arme vor der breiten Brust. Er schien zu warten.
Es begann zu regnen.
Ein leichter Nieselregen fiel hernieder...
In einer Seitenstraße parkte Arnie Kortmann seinen Talbot, stieg aus und lief schaudernd durch den kalten Nieselregen. Im gleichen Moment, als er auf die Fußgängerzone einschwenkte, machte sich sein Mobiltelefon bemerkbar. Er blieb stehen und holte das Gerät aus der Brusttasche seines Hemds.
„Robbo The Yobbo“ stand auf dem Display als Anruferkennung. Kortmann grinste und strich das grüne Hörnchen nach rechts, um den Anruf entgegen zu nehmen.
„Kortmann?“
„Arnie, grüße dich“, drang Stangers Stimme dünn aus dem Lautsprecher des Smartphones, „ich darf dir die frohe Kunde überbringen: Dornröschen ist erwacht. Und sie ist ansprechbar, aber noch ziemlich schwach.“
„Robbo, ich bin entzückt, berückt und bestrickt“, erwiderte Kortmann und grinste, „ich bin auf dem Weg zum Vater der jungen Dame.“
„Ich dachte mir schon, daß dir die Sache keine Ruhe lassen würde, Arnie.“
„Jetzt erst recht nicht“, knurrte Kortmann grimmig, „ich durfte eben den Onkel kennenlernen. Achtung, den kriegen wir sicherlich rein: Hypertoniker, raucht vermutlich wie ein Fabrikschlot und dürfte auch alkoholisch ganz gut unterwegs sein, vom Übergewicht nicht zu reden. Ich rieche einen oder gar mehrere Bypässe, vermutlich vor Ablauf des kommenden Jahres.“
Blechern schepperte meckerndes Gelächter aus dem Lautsprecher.
„Dich bricht auch so leicht nichts, du alter Sarkastiker.“
„Und brillanter Diagnostiker“, grinste Kortmann.
„Wenn ich das noch nicht erwähnt hatte, wollte ich es in just dieser Sekunde tun.“
„Ja, genau, du alter Schmeichler“, grinste Kortmann. Ihn stimmte heiter, daß die junge Frau erwacht war, und er ging beflügelten Schrittes zu dem Reisebüro in der Fußgängerzone des Bernsrieder Ortsteils Neustadt.
Ina Speckhardt indessen empfand Höllenqualen. Infolge der Beatmung und des fehlenden Abhustens hatte sich in ihrer Lunge Sekret gebildet, und einige energische Hustenstöße hätten es entfernt. Jedoch waren rechtsseitig drei Rippen gebrochen, und wann immer Ina zu husten versuchte, schossen Bolzen aus reinstem Schmerz durch ihre Brust, und sie sank erschöpft ins Kissen zurück. Sie versuchte, das Sekret per sachterem aber energischem Ausatmen loszuwerden – immerhin ein Teilerfolg. Ein großer Klumpen von dem Klitter löste sich und landete in dem Taschentuch, das Ina sich vor den Mund hielt.
Sie bemerkte die Schiene am rechten Bein und stellte fest, auch hier war etwas gebrochen. Sie seufzte und faltete die Hände im Schoß. Erinnerungsfetzen drangen an die Oberfläche.
Grellweiß leuchtende Scheinwerfer.
Ein großer Kühlergrill, geformt wie das aufgesperrte Maul eines Hai.
Ein Nummernschild mit einer Zulassung aus dem Hochtaunuskreis (was will der Hochtaunusbonze denn hier?).
Und dann der Aufschlag.
Scharfer Schmerz.
Dunkelheit.
Inas Augen füllten sich mit Tränen. Sie erinnerte sich nicht mal daran, wie sie in dieses Bett und in dieses sterile, weiß gestrichene Zimmer gekommen war.
Sie fühlte sich allein.
Mehr noch: sie fühlte sich einsam. Sicher nicht zum ersten Mal in ihrem Leben, doch erst jetzt wurde diese Einsamkeit zu einer traurigen Gewissheit.
Wem sollte sie denn sagen, daß sie in einem Krankenhaus lag? Interessierte es denn überhaupt jemanden? Was sie an Bekannten auf sozialen Netzwerken hatte, würde keinen blassen Schimmer davon haben, was mit ihr passiert war – Ina hatte ja keine Chance gehabt, es der Plattform via Statusmeldung mitzuteilen.
Die Sonne versank über dem Industriegebiet der Pallaswiesenstraße in Darmstadt. Auf einem der vielen kiesbelegten Plätze, wo Gebrauchtwagenhändler ihre Wagen anboten, parkte ein staubiger schwarzer Wagen, und dieser Wagen war anders als die anderen Wagen auf dem Platz. Zum einen war er uralt, die Formensprache war eindeutig die der fünfziger Jahre. An der Wagenfront war ein geflügeltes Emblem angebracht, aufgenommen wurde das Markenemblem von einem kleinen, goldenen V-Symbol auf dem Kühlergrill. Der Wagen erfreute sich nicht des besten Zustands. Rost nistete an der Unterkante der Karosserie und blühte an den Türunterkanten.
Die Weißwandreifen schienen gleichfalls ihre besten Tage hinter sich gebracht zu haben, der Zierring war gelblich, und die Reifen hielten kaum noch Luft.
Risse zogen sich über die Reifenflanken hin.
Das Glas der Fenster war blind und schlierig, an den Scheibendichtungen saßen grünbraune Kissen aus Moos.
Im Innern des Wagens lag eine dicke Staubschicht auf Armaturenbrett und Sitzpolster, auf der Fahrerseite war der Bezug der Sitzbank aufgeplatzt und uralter Polsterschaum quoll aus dem Sitz. Das Lenkrad war schwarz und weiß, der Chrom des Hupenrings war blind. Links neben dem Lenkrad befand sich das Bedienfeld des automatischen Getriebes, fünf Drucktasten. Eine der Tasten, die mit dem P, war eingedrückt. Festgenagelt in Parkstellung, bis sich jemand des Wagens erbarmen würde. Im Zündschloss steckte ein uralter Schlüssel im Pentastar-Design der Chrysler Motor Corporation.
Es war eins dieser riesigen, geduckt aussehenden Automobile, die von der Autoherstellerfirma Chrysler unter dem griffigen Label „The Forward Look“ zu Tausenden produziert war, ein 1958er Plymouth Savoy. Die Seitenlinie lief schnurgerade nach hinten durch, nur durchbrochen von den steil aufragenden und geschickt in die Karosserie einmodellierten Heckflossen. In die Heckflossen eingelassen war ein schmaler Leuchtenstab aus rotem Glas, an seiner Basis schloss sich eine rhombenförmige Rückleuchte an. Der Rückfahrscheinwerfer saß in der Mitte der einstmals chromblitzenden, heute erblindeten und mit zahllosen Rostpickeln übersähten Heckstoßstange.
Plötzlich passierte im Inneren des Wagens etwas Seltsames: Im Zündschloss drehte sich der Schlüssel klickend nach rechts, am Armaturenbrett glommen die roten Warnlichter für Öldruck und Generator. An den Polen der uralten Batterie, und auch das war merkwürdig, knisterten Funken zwischen den Polpfosten und den Klemmen der Anschlusskabel für Plusleitung und Masse und Strom floss. Die gleiche Batterie war vom Besitzer des Handelsbetriebes durchgemessen und für „tiefentladen“ erklärt worden.
Der Zündschlüssel drehte sich von selbst eine Raste weiter, und unter der Haube nahm der Anlasser seine Arbeit auf, das Antriebsritzel schoss aus dem Gehäuse des Starters und griff in den der Schwungscheibe, und kreischend drehte sich der Elektromotor. Das Gaspedal sank einige Male in rascher Folge auf den Wagenboden ab. Im Vergaser bewegten sich Hebelstangen, die mit der Beschleunigerpumpe im Verbund standen, und Benzin wurde in die dunklen Schächte der Luftansaugtrichter gespritzt. Gleichzeitig erzeugten steinalte Zündkerzen erstaunlich starke Funken, und als einer der Kolben in den Zylindern brisantes Gemisch aus Luft und Benzinnebel zusammenpresste, zündete ein Funke das Gemisch. Der Achtzylindermotor bekam einen Drehimpuls, beschleunigte kurzzeitig und starb ab.
Stille.
Aus dem rechten der beiden Auspuffrohre quoll eine ölig-blaue Rauchfahne empor und waberte träge gen Himmel.
Erneut wurde der Zündschlüssel in die Anlassposition gedreht, erneut kreischte der Anlasser, und diesmal zündeten mehrere der acht Zylinder nacheinander – der Motor sprang an und lief, unrund tuckernd, stolpernd und schaurig. als hätten sich vier von den acht Zylindern einen freien Tag genommen. Im Innern des Plymouth sank das Gaspedal herab, die Drosselklappen im Vergaser öffneten sich vollständig und der Motor röhrte auf, der heisere Donner einer längst vergangenen Zeit, und das abgehackte, unrunde Tuckern glättete sich, als das Gaspedal in Ruhestellung zurückglitt. An den rostigen Auspuffrohren wurde das typische Brabbeln hörbar, das amerikanische Achtzylindermotoren auszeichnete.
Auf dem Bedienpaneel des automatischen Getriebes wurde die Taste mit dem aufgedruckten „D“ eingedrückt, die mit „P“ markierte Taste sprang heraus, ein trockenes Knacken ertönte, als die Bremsbacken sich von den Trommelinnenflächen lösten, und mit einem Ruck setzte sich der Plymouth in Bewegung. Der Motor wurde nun mit mit dem Gewicht des Wagens belastet, seine Drehzahl sackte bedrohlich ab, und beinahe wäre er abgestorben, doch das Gaspedal sank einige Male in rascher Folge herab, und der Motor beschleunigte wieder.
Der Antrieb packte.
Die Kardanwelle drehte sich langsam.
Staub rieselte von der mächtigen Karosserie herunter, während das Auto von seinem Stellplatz rollte und auf dem breiten Mittelgang zwischen den rechts und links geparkten Autos in Stellung ging. Einige Male brüllte der Motor auf, als überlegte der Wagen, was als nächstes zu tun wäre.
Er setzte machtvoll wummernd einige Meter zurück und stoppte mit dem metallischen Quietschen der alten Bremsen, der Achtzylindermotor blubberte im Leerlauf.
Das Getriebe wechselte vom Rückwärtsgang auf Neutral.
Plötzlich sank im Innern das Gaspedal auf den Boden herab.
Der Achtzylinder durchlief sein Drehzahlband, das Leerlaufgrummeln wurde zum nachdrücklichen Blubbern, steigerte sich auf scharfen Donner und erreichte schließlich die Ebene des ohrenbetäubenden, machtvollen Dröhnens. Das Getriebe schaltete in die Fahrtstufe. Die Kardanwelle bekam beinahe augenblicklich die gesamte Kraft des auf vollen Touren dröhnenden Motors, die Hinterräder drehten auf dem Kiesboden durch und feuerten kleine Steine meterweit nach hinten. Mehrere Autos wurden von dem Kiesregen getroffen.
Der Plymouth setzte sich dröhnend in Bewegung und nahm Fahrt auf. Er jagte auf das mit einer Kette verschlossene Tor aus Maschendrahtzaun zu, auf der Skala des Tachometers schob sich die Nadel auf die 30 zu, erreichte die 40, und mit mehr als vierzig Meilen in der Stunde durchbrach der Plymouth das Tor, die Kette gab sofort nach und brach an mehreren Stellen, der rechte Flügel des Tores wurde aus seinen Scharnieren gerissen und vom eigenen Schwung einige Meter weggeschleudert. Das Auto schoss über den Gehsteig vor dem Betriebsgelände, hob einige Zentimeter vom Boden ab, wobei der Motor – plötzlich nicht mehr mit dem Gewicht des Wagens belastet – einige Sekunden frei drehte und wütend aufkreischte, wobei die Ventile kurzzeitig nicht mehr richtig schlossen, und eine Serie von Fehlzündungen knatterte durch die Abgasrohre, Maschinengewehrfeuer gleich.
Krachend setzte der Wagen auf der breiten Straße auf, einige unvorbereitete Verkehrsteilnehmer schafften es gerade noch, dem schwarzen Wagen auszuweichen, und der Plymouth raste aggressiv hämmernd die Straße hinunter, die Antriebsräder drehten sich rasend und Qualm von verbranntem Gummi quoll aus den Radkästen, das Heck drehte sich ein, während die Vorderräder in die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen wurden, und in einem langgezogenen Drift röhrte der Plymouth nach rechts und schwenkte auf die Pallaswiesenstraße ein.
Aus den beiden Rohren der Doppelauspuffanlage schoss beißender, blaugelber Rauch.
Während der Wagen mit beinahe irrwitzigen Werten beschleunigte, wurden Staub und Schmutz vom Blech geblasen, und es geschah etwas sehr Merkwürdiges: der Knick in der Vorderkante der Motorhaube, wo der Plymouth das Schloss des Tores getroffen hatte, sprang mit einem hohlen „Ponk!“ aus dem Metall und hinterließ keine Spur, keine noch so kleine Welle. Die halb platten Reifen füllten sich wie durch Zauberei mit Luft, die Weißwandzierringe verloren den Gelbstich und glänzten plötzlich wieder. Die Risse in den Reifenflanken schlossen sich wie von Geisterhand. Am Armaturenbrett des Plymouth sprang der Zugschalter des Lichtknopfes heraus, und die Scheinwerfer flammten auf, grellweiß leuchtende, altmodische Zwillingslampen. Mit unvermindertem Tempo schoss der Plymouth auf die Autobahnauffahrt der A643, hielt auf den Beschleunigungsstreifen zu und reihte sich rücksichtsfrei in den dichten Verkehr. Tiefschwarz glänzte der Lack, von Dreck und Staub und dem Odium der Verwahrlosung war nichts mehr zu sehen. Und der Wagen beschleunigte weiter. Raste lärmend in die hereinbrechende Nacht…
Etliche Stunden vor dem – erstaunlicherweise wenig beachteten – Vorfall in Darmstadt ging Arnie Kortmann in die Fußgängerzone der Bernsrieder Siedlung Neustadt, die einst als Reißbrettsiedlung errichtet worden war, um den Arbeitern und Angestellten der Ziegelei ZWB ein Zuhause nahe der Firma zu geben. Neustadt hatte in jenen Tagen noch einen eigenen Bahnhof bekommen, der jedoch inzwischen stillgelegt und komplett umgebaut worden war, und nur ein totes, allmählich dem Verfall entgegen dämmerndes Gleispaar wies noch darauf hin, daß die Frachtzüge der Deutschen Bundesbahn einst die ZWB angesteuert hatten, um zehntausende Tonnen von Klinkersteinen, Backsteinen, Ziegelsteinen und Dachpfannen aus dem Ziegelwerk aufzuladen und in ganz Deutschland auszuliefern. Bis weit in die achtziger Jahre hinein war das Geschäft mit Ziegeln aus der Wetterau gut gegangen. Inzwischen jedoch gab es die Ziegelei nicht mehr, und das Begehren einer Bürgerbewegung, die einstigen Fabrikationsgebäude und die hohen Schornsteine der Ziegelei zum Industriedenkmal erklären zu lassen, scheiterte krachend an der Baufälligkeit der Gebäude.
Neustadt beherbergte inzwischen einen Querschnitt der Gesellschaft – von arm nach wohlhabend war alles vertreten. Untere Einkommensschichten lebten in den Mietskasernen der Sonnenbornstraße, die finanziell besser gestellten Bürger konnten sich die schmucken Einfamilienhäuser der einstigen Führungsebene der Ziegelei leisten, die vor etlichen Jahren auf den Markt geworfen worden waren.
Das Reisebüro der Familie Speckhardt fand sich schräg gegenüber dem Optikgeschäft „Brille & Linse“, wo Kortmanns Bekannte Cosima Ivaniuk in Teilzeit arbeitete. Arnie Kortmann warf kurz einen Blick in den Optikerladen, jedoch schien Cosima heute nicht da zu sein. Er entdeckte nur den jungen Gesellen Eric Cartman, zweiter Vorname Luther, einen jungen Amerikaner, der seine Ausbildung in dem Geschäft absolviert hatte und im Sommer des vergangenen Jahres übernommen worden war.
Er senkte den Kopf und betrat das Reisebüro. Die sommerlich anmutenden Werbeplakate für Urlaub in der Ferne an weißen Sandstränden stimmten ihn verdrießlich.
Hinter einem Flachbildschirm von HP saß ein ältlicher Mann mit eisengrauem Wuschelkopf, drahtige Haare, die sich offenbar nur schwer in einer Frisur bändigen ließen.
Ein nicht minder ältliches „Frollein“ mit platinblondem Haarschopf, kam eben mit einigen Ordnern bewaffnet aus einem Hinterzimmer und gesellte sich zu dem Mann mit dem Wuschelkopf.
„Guten Tag“, sagte Kortmann, und erst da nahm man von ihm Notiz. Sofort verfinsterte sich seine Stimmung. Mit dem Dienstleistungsgedanken nahm man es offenbar nicht wirklich genau in diesem Innungszweig der Reisebranche.
Er musterte das Frollein.
Und den Mann.
In gewissen Details des Gesichtes ähnelten die beiden Herrschaften Ina Speckhardt, im Schnitt des Unterkiefers, der Augenbrauen. Nur wirkte Ina Speckhardt ... gütig.
... und freundlich.
Ihre Züge waren ebenmäßig und sanft und ließen vermuten, daß sie eine sensible Person war. Die beiden Herrschaften hier in dem Reisebüro wirkten verhärmt und schmallippig.
„Was kann man für Sie tun?“ fragte der grauhaarige Mann und stand auf. Der typische Klischee-Best-Ager: dunkelgrüner Wollpullover mit dem „Gant“-Logo linksseitig auf der Brust, Cordhose in einem helleren Rot, hellblaues Hemd, offenbar „gute Qualität“ und eine etwas altmodisch aussehende Brille mit einem in verschiedenen Gelb- und Brauntönen gescheckten Hornrand über den Augen.
„Mein Name ist Kortmann“, sagte Arnie Kortmann und räusperte sich, „haben Sie eine Tochter namens Ina?“
Da erst zuckte das „Frollein“ zusammen, und schaute Kortmann mit großen Augen an. Er musterte sie unverhohlen. Unspektakulär aussehendes Menschlein, die Brust war im Laufe der Jahre abgesackt, die Frau wirkte sehnig und hatte so wenig auf den Rippen, daß sie vermutlich nur dann einen Zentner wog, wenn man sie in voller Montur im nächsten Feuerlöschteich eintunkte und klatschnass auf die Waage stellte.
„Ja“, sagte der grauhaarige Mann zögernd und verschränkte die Arme vor einer ebenfalls eingesunkenen, dennoch präsenten Brust. Markante, sichtbare Spitzen, die sich unter dem Pullover abzeichneten, wiesen darauf hin, daß der Mann unter der Kleidung einen Männerbusen verbarg, und ein Stockwerk tiefer wölbte sich ein durchaus ansehnlicher Schmerbauch, was im Widerspruch zu seinen eher schmalen Schultern stand. Einst mochte der Mann wohl das gewesen sein, was Arnies Bruder Tim als „leptosomer Schwächling“ bezeichnete, ein recht schmaler Mensch mit langem Brustkorb, wovon heute allerdings dank des Fetts der späten Jahre nicht viel zu sehen war.
„Was hat sie angestellt?“ fragte er argwöhnisch.
Kortmann seufzte.
„Und Sie haben einen Bruder namens Heinrich“, stellte er fest, „korrekt?“
„Ja, korrekt.“
„Gut. Dann darf ich annehmen, Ihr Name ist Hermann Speckhardt“, polterte Kortmann.
„Ja“, antwortete der Grauhaarige einsilbig.
Abschätzend.
„Was ist mit Ina?“ fragte die Frau besorgt und kam um den modern geschwungenen Schreibtisch herum, „mein Name ist Ricarda Speckhardt, ich bin Inas Mutter.“
Kortmann wandte sich dem „Frollein“ zu, die ihm – vage furchtsam - eine knochige Rechte entgegenstreckte, und Arnie Kortmann ahnte im gleichen Augenblick, daß er mit seinen dunklen Augenringen und der blassen Gesichtsfarbe keinen besonders vertrauenerweckenden Anblick bot.
„Ihre Tochter hatte vor einigen Tagen einen Unfall“, sagte Kortmann, „sie wurde von einem Auto erfasst und schwer verletzt. Wie es aussieht, hat der Fahrer des Autos sie liegen gelassen. Wäre ich nicht zufällig des Wegs gekommen, wäre sie vermutlich an Ort und Stelle verstorben.“
„Mein Gott!“
Das Frollein schien entsetzt.
Kortmann fand es spannend zu erleben, daß mal wieder nur die Mutter Anteil am Schicksal des Kindes nahm, wie so oft in seiner Karriere. Der Vater – Hermann Speckhardt – hingegen verzog keine Miene.
„Ich bedaure dies sehr“, sagte er, „aber Ina hat es schon vor einiger Zeit vorgezogen, mich und meine Frau aus ihrem Leben auszuklammern, daher bin nicht informiert, was sie zur Zeit macht und mit wem sie zu tun hat.“
„Hermann, ein Unfall, ich bitte dich!“ hauchte Frau Speckhardt, „dafür kann Ina nichts.“
„Wie gesagt, sie wäre fast verblutet“, sagte Kortmann, „ich weiß das auch nur, weil ich Unfallchirurg am Klinikum Auethal bin und Ihre Tochter ins Krankenhaus gefahren habe.“
„Wie geht es Ina jetzt?“ fragte die Mutter nervös.
„Ihr Zustand ist durchaus ernst“, antwortete Kortmann, „ihr Kreislauf hat den Blutverlust noch nicht verkraftet, geschweige denn ausgeglichen. Ich möchte sie bitten, sich zeitnahe ins Klinikum Auethal zu begeben.“
„Herr Kortmann“, wandte Speckhardt ein, „meine Tochter ist … nun ja, widerspenstig. Sie fügt sich nicht gut in Gemeinschaften ein...“
„Was davon hat mit der Tatsache zu tun, daß Ihre Tochter im Klinikum Auethal um ihr Leben ringt?“ blaffte Arnie Kortmann, binnen weniger Sekundenbruchteile stocksauer, „noch mal zum Mitschreiben: Ihre Tochter, Herr Speckhardt, wurde von einem Auto erfasst und schwer verletzt. Als ich sie fand, lief Ihrer Tochter Blut aus dem Ohr, und jeder halbwegs gebildete Mensch weiß um den Terminus „Schädelbasisbruch“, und wie akut lebensbedrohlich diese Situation ist.“
„Mir sind die Hände gebunden“, wehrte Speckhardt ab, „Ina will mit uns nichts mehr zu tun haben.“
„Stimmt doch gar nicht, Hermann, so etwas hat sie nie gesagt“, rief Frau Speckhardt entrüstet.
„Sie hat mir zu verstehen gegeben, daß ich bei ihr Hausverbot habe“, widersprach Speckhardt, „daran gedenke ich mich zu halten, auch wenn mir unklar ist, womit ich Hausverbot verdient habe.“
„Oh doch, das weißt du ganz genau!“ rief die Mutter vorwurfsvoll, und Kortmann bekam den Eindruck, in ein Wespennest gestochen zu haben.
„Dafür wird es sicherlich Gründe geben“, knurrte er und fand insgeheim die Art und Weise des grauhaarigen Mannes ziemlich kaltschnäuzig. Der Bruder Heinrich war aggressiv der jungen Frau gegenüber, ihr eigener Vater ignorant.
Das ließ tief blicken.
„Ich vermute einen Streit in der Familie. Kann sicher mal vorkommen. Nur – wollen Sie die Chance ungenutzt lassen, sich mit Ihrer Tochter zu versöhnen? Sehen Sie, ich werde Ihre Tochter gleich besuchen und mit ihr sprechen“, sagte er und erwartete, daß wenigstens die Mutter von Ina Corinna Speckhardt sich ihm anschließen und mit ihm ins Krankenhaus fahren würde, um nach ihrer Tochter zu sehen. Doch die Frau reagierte gänzlich anders, als Arnie Kortmann gehofft hatte.
„Tun Sie das bitte“, sagte Frau Speckhardt, „ich werde, sobald ich kann, nach Auethal ins Klinikum kommen.“
„Gut“, nickte Arnie Kortmann reserviert, „ich habe meinen Kollegen gebeten, mich auf dem Laufenden zu halten, was Ihre Tochter angeht. Ihnen einen schönen Tag.“
Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, wandte sich Kortmann um und verließ das Reisebüro.
„Dunnerkeil“, knurrte er und warf einen scheel anmutenden Blick gen Himmel, über den Regenwolken dahinjagten, „wie kann man nur so verbohrt sein? Vor allem als Eltern?“
„Jetzt hab ich mit den Eltern geplaudert, und bin noch keinen Schritt weiter“, seufzte Kortmann leicht frustriert und stellte seinen Kaffeepott auf die verschrammte Resopalplatte des Tisches, auf der sich auch etliche Brandmale von Zigarettenkippen befanden, die auf ihm ausgedrückt worden waren, als man im Ärztezimmer noch hatte rauchen dürfen. Aschenbecher waren in jenen seligen Tagen allerdings Mangelware gewesen, und so hatte der Tisch öfter herhalten müssen.
„Allem Anschein nach ist die ganze Familie zerstritten und zerrissen.“
„In solche Dinge mischen wir uns nicht ein, Arnie“, erwiderte Robert Stanger, „wir flicken das arme Mädchen zusammen und entlassen sie, sobald sie wieder laufen kann. Punktum.“
„Ich weiß. Dennoch fuchst mich die Reaktion der Eltern“, knurrte Arnie Kortmann, „du hättest mal den Alten erleben müssen, sowas von kalt und herzlos. Ich an seiner Stelle hätte das Reisebüro sofort geschlossen und wäre mit ins Krankenhaus gefahren. Die Mutter von der jungen Dame hat zwar Entsetzen vorgeschützt, aber mitgekommen ist sie auch nicht.“
„Wenn du persönliches Interesse an der jungen Frau hast, sag es ruhig“, grinste Stanger, „ich merke, daß du dich ziemlich für sie einsetzt.“
„Optisch ist sie durchaus ein Leckerchen, finde ich“, erwiderte Kortmann und hüstelte, „und anhand des Textes auf dem Anrufbeantworter hätte ich auch drauf getippt, daß sie nicht gerade einfältig ist.“
„Nun, dich wird sicher hoch erfreuen, daß du frei bist, dich ihr zu nähern“, schmunzelte Stanger, „du bist nicht mit ihrer Behandlung befasst, und ich bin nicht sonderlich scharf auf pummelige Landpomeranzen.“
Auf dem Parkplatz des Krankenhauses indessen bog ein nachtschwarzer, altmodisch aussehender Wagen auf einen Stellplatz ein und stoppte mit einem leisen, metallischen Quietschlaut. Der Motor rumorte kurz im Leerlauf und erstarb.
Ein dunkler Tropfen löste sich vom Motor des Wagens und zerplatzte auf dem Boden unter der Ölwanne.
Leises Ticken von abkühlendem Metall.
Klackend sprang die Fahrertür auf und ein Stiefel wurde auf dem Verbundpflaster des Parkplatzes aufgesetzt, dem ein zweiter folgte. Dem nachtschwarzen Wagen entstieg ein hochgewachsener Mann, und die Tür des Autos schloss sich, rastete mit einem metallischen Laut ein. Der Mann hob eine behandschuhte Hand und rückte den breitkrempigen Hut zurecht und setzte sich in Bewegung. Stiefelnägel erzeugten klackende Laute auf dem Pflaster, und er ging gemessenen Schrittes auf den Haupteingang des Klinikums Auethal zu.
Der Himmel war bedeckt von grauem Gewölk, ein Windstoß fegte über den Parkplatz und erfasste den altmodisch geschnittenen Staubmantel der Gestalt. Eine graue Wolke Zigarettenrauch wurde vom Wind mitgerissen und löste sich binnen Sekunden auf. Zwei Krankenschwestern verließen zeitgleich das Gebäude, als die Gestalt in die Lobby trat. Doch hätte man sie gefragt, ob sie jemanden zu dieser Zeit das Krankenhaus hatten betreten gesehen, hätten sie gesagt, daß ihnen niemand begegnet war...
Es klopfte an der Tür.
Ina Speckhardt ließ das Buch sinken, in das sie gerade erfolglos einzutauchen versucht hatte.
„Ja, bitte?“ rief sie, wobei es eher ein schwaches Quieken war.
Die Tür öffnete sich und ein kräftig gebauter Mann trat ein. Er trug eine recht modische Brille, hatte lockiges Haar, das dringend einen Schnitt vertragen konnte und wirkte sterbensmüde, fertig und und urlaubsreif.
Ina sah den Mann neugierig an. Was konnte er von ihr wollen? Sie hatte keine Angst vor ihm, doch sie fand, er sah ziemlich abgerissen aus. Auch wenn die Kleidung keinen abgetragenen Eindruck machte und fleckenfrei war, doch schienen Hemd und Hose ein wenig mürbe im Stoff zu sein.
„Guten Tag“, sagte er mit einer angenehmen Baritonstimme, und er zeigte ein Lächeln dabei.
„Wie geht es Ihnen, Frau Speckhardt?“
Ina bemühte sich darum, die Schmerzen in ihrer Brust so weit zu ignorieren, damit sie das Lächeln erwidern konnte, doch wenn jeder Atemzug schmerzte, war das nicht so leicht.
„Mir geht‘s so leidlich“, erwiderte sie, „danke der Nachfrage.“
„Glaube ich Ihnen sofort“, brummte der Mann und trat an ihr Bett heran. Ina nahm den Duft eines Deodorants wahr. Kein Rasierwasser, kein Eau de Toilette. Sein Hemd war schwarz und aus einem seidig schillernden Stoff gefertigt, mit einem kaum sichtbaren Paisley-Muster, sowie eine schwarze, ausgewaschene Jeans. An den Füßen trug er ältere Lederschuhe mit verschrammten Schuhkappen.
Sie ließ ihn auf sich wirken.
Trotz des vernachlässigt erscheinenden Äußeren, dem verknuddelten Haar und den dunklen Augenringen wirkte der Mann irgendwie …. beruhigend auf sie. Er sah angegriffen, aber dennoch gütig und freundlich aus. Ja, sie empfand seine Züge sogar als attraktiv und interessant. Seine Hände – groß und schwer – gefielen ihr besonders gut. Auf Anhieb fand sie den Mann sympathisch. Und er musterte sie mindestens so aufmerksam, wie sie ihn musterte.
Er seufzte.
„Mein Name ist Arnold Kortmann“, sagte er, zog einen Stuhl heran und ließ sich auf ihm nieder. Dabei nahm Ina wahr, daß sich unter seinem Hemd ein Bäuchlein wölbte, das beredtes Zeugnis davon ablegte, was sein Besitzer von derzeit geltenden Figuridealen hielt.
Diskret beäugte Ina ihre eigene Körpermitte, die auch nicht der geltenden Norm „Size Zero“ entsprach. Sie hatte kurz vor und nach dem Abitur mal in Oberteile der Kleidergröße 34 reingepaßt, wobei sie Hosen der Größe 36 hatte tragen können, und sie erinnerte sich daran, dies mit wechselndem Vergnügen goutiert zu haben.
Denn bei einer Körperhöhe von einem Meter siebzig waren fünfzig Kilo Gewicht nicht eben viel, und Ina fand sich ohnehin eher unscheinbar.
Inzwischen hatte sich an ihrem äußeren Erscheinungsbild einiges verändert.
Ina hatte nach ihrer Ausbildung nie wirklich in einer Firma Fuß fassen können und hatte bereits zehn Arbeitgeberwechsel hinter sich. Resultierend aus der damit verbundenen Frustration war ihr Gewicht ein wenig aus den Fugen geraten, und sie wog heute zwanzig Kilo mehr als vor sechs Jahren noch. Sie nahm sich selbst als „moppelig“ wahr und fühlte sich nicht recht wohl in ihrer Haut, hatte andererseits aber auch jeden Drang verloren, daran etwas zu ändern. Sie hatte es versucht, nachdem sie die 60-Kilo-Marke überschritten hatte.
Ohne Erfolg.
Sie hatte einen Anlauf gestartet, sich mehr zu bewegen, als die 70-Kilo-Marke in Sichtweite geriet.
Ohne Erfolg.
Heute nahm sie ihre siebenundsiebzig Kilo Körpergewicht hin und versuchte, damit zu leben. Allerdings wollte sie es nicht ausufern lassen, denn sie kannte auch den Bereich jenseits der 90-Kilogramm-Marke, und in diesem Bereich war von „Wohlgefühl“ zu keiner Zeit die Rede gewesen.
„Ich bin derjenigewelche, dessentwegen Sie hier im Klinikum sind“, fuhr er fort, „ich habe Sie gefunden. Woran können Sie sich denn erinnern?“
„Sind Sie von der Polizei?“ erkundigte sich Ina matt.
„Nein“, sagte Arnold Kortmann, „ich bin an diesem Klinikbetrieb hier Unfallchirurg.“
„Wow!“
Ina war beeindruckt.
Kortmann schien das in in ihrem Gesicht erkannt zu haben, denn er wehrte ab.
„Bitte“, sagte er ernsthaft, „daran ist nichts glamourös oder großartig. Ich gehöre zur untersten Kaste der Ärzteschaft, und ich wurde aufgrund der unorthodoxen Methode Ihres Abtransportes suspendiert. Zwar belässt man mir meine Bezüge, aber das wohl auch nur, weil ich eh zig Überstunden angesammelt habe und eigentlich bis zum Ende des Jahres Urlaub machen könnte.“
Er grinste müde und schlug ungelenk das linke Bein über das rechte.
„Also haben Sie mich gerettet“, stellte Ina fest und lächelte.
„Gerettet hat Sie mein Kollege Doktor Stanger“, entgegnete Kortmann, „ich habe Sie nur hergebracht.“
„Sie haben mich doch gefunden und ins Krankenhaus gebracht“, beharrte sie und sah ihn aufmerksam an, „also haben Sie mich gerettet.“
Ihm schien es unangenehm zu sein, daß sie im Zusammenhang mit ihm von „gerettet“ sprach.
„Wobei ich glaube, Sie haben sich mit mir ziemlich abgemüht.“
Ein kläglicher Versuch, Eloquenz zu zeigen und einen selbstironischen Witz zu machen. Ina war nicht gut darin, sich nicht allzu ernst zu nehmen. Und das lag daran, daß sie in ihrer Jugend eher stiefmütterlich behandelt worden war und sich in der Folge zurückgezogen hatte. Sie kannte zwar eine Menge Leute über soziale Netzwerke, jedoch waren darunter keine echten Freunde.
Sie war seit einigen Jahren Single, und das letzte Stelldichein mit einem Mann war ein Reinfall sondergleichen gewesen. Seither war sie relativ selbstgenügsam geworden. Ihr gefiel das nicht wirklich, doch eine andere Wahl, fand sie, hatte sie nicht. „Akzeptiere das Unabänderliche“, war das Motto zu diesem Themenbereich.
„Ein bewusstloser Mensch“, sagte Kortmann lächelnd, „ist immer schwierig zu transportieren, unabhängig vom Körpergewicht, vor allem allein. Hat mit dem fehlenden Muskeltonus zu tun. Zu zweit geht es besser.“
„Das haben Sie sehr diplomatisch ausgedrückt“, lächelte Ina. Sie spürte plötzlich eine Wärme im Herzen, die sie sich nicht recht erklären konnte. Es hatte mit dem Mann zu tun, der ihr da seine Aufwartung machte. Sie beobachtete ihn genau. Er ließ jegliches Imponiergehabe vermissen, er saß nicht breitbeinig auf dem Stuhl, er machte keine großspurig-weitschweifigen Gesten, er sah sie an und schien für den Moment ganz auf sie konzentriert zu sein...
„Daß Sie unbeschadet bleiben, war in dem Moment das Wichtigste, mehr nicht“, sagte er und räusperte sich und in seinem Blick standen Neugier und Mitgefühl.
„Kann ich denn irgendwas für Sie tun?“ meinte er, „gibt es jemanden, von Ihrer Familie abgesehen, der wissen muss, daß Sie hier im Krankenhaus sind? Jemand, der Ihnen ein paar Sachen bringen kann?“
„Nein, niemanden“, erwiderte Ina, wie sie hoffte, nüchtern, „und meine Familie dürfte es auch nicht interessieren.“
„Im Zuge Ihres Unfalles, Frau Speckhardt, habe ich Familienangehörige ausfindig gemacht. Und ich hatte das – entschuldigen Sie – zweifelhafte Vergnügen, Ihren Onkel kennenzulernen, und mit Ihrem Vater zu sprechen“, sagte er vorsichtig.
Ina nickte.
„Ich kann mir vorstellen, wie gemischt die Reaktionen waren. Ich stehe nicht auf gutem Fuß mit meiner Familie“, erklärte sie und sah ihn treuherzig an, „mein Onkel ist ein...“, sie räusperte sich, und dumpfer Schmerz breitete sich in ihrem Brustkorb aus, „...nun ja, ein Arschloch. Entschuldigen Sie bitte das böse Wort.“
„Alles gut, Frau Speckhardt“, erwiderte er mit einem Schmunzeln, „deckt sich vollkommen mit meinem Eindruck. Ich wollte es nur so nicht ausdrücken.“
„Und mein Vater ist ein ähnliches Kaliber. Er hat sich nicht nur an meiner Post zu schaffen gemacht, er ist auch in meine Wohnung gegangen, während ich nicht da war – ich...“, sie spürte, daß einiges gesagt werden wollte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Was ihr vor dem fremden Mann peinlich war.
„Ich hab bis vor zwo Jahren in einer Einliegerwohnung im Haus meiner Eltern gelebt“, sagte sie, „und obwohl mein Name am Briefkasten stand, haben meine Eltern regelmäßig meine Post rausgeholt und durchgesehen, beziehungsweise mein Vater hat das getan. Meiner Mutter kann ich es nicht nachweisen.“
Kortmann hob die Augenbrauen.
„Sie wissen, daß Sie Ihre Eltern dafür belangen können“, meinte er, „Verletzung des Postgeheimnisses ist kein Kavaliersdelikt.“
Sie seufzte, wieder mehr ein mausartiges Fiepen, statt eines machtvollen Stöhnens aus großen Lungen.
„Habe ich getan, ich bin zur Polizei gegangen“ meinte sie.
„Ich kenne natürlich die Situation zwischen Ihnen und Ihrer Familie nicht“, entgegnete Kortmann und kratzte sich am Hinterkopf, „ich möchte nur helfen.“
„Das können Sie“, sagte Ina entschlossen, aus einem Impuls heraus, und sie wies auf den Schrank gegenüber dem Fußteil ihres Betts.
„Meine Handtasche“, sagte sie, „ich habe gesehen, daß eine Krankenschwester sie da in den Schrank gehängt hat. Da drin ist ein Schlüsselbund. Wären Sie so freundlich, mir ein paar Sachen aus meiner Wohnung zu holen?“
„Oh je“, seufzte er, „ich bin Ihnen doch völlig fremd.“
„Im Zweifel haben sie mich nackt gesehen“, sagte Ina leise und sah ihn an. Er sah in ihrem Blick keinerlei Heimtücke, nur eine leise Verzweiflung. Rein logistisch war der Krankenhausaufenthalt für die junge Frau ein Albtraum.
„Ich tu, was ich kann“, sagte Kortmann, erhob sich und öffnete die Schranktüre. An einem Bügel hing die große cremefarbene Handtasche aus Leder oder Kunstleder an ihrem Riemen. Kortmann griff nach dem Beutel und holte ihn aus dem Schrank, ging damit zum Bett zurück und stellte die Tasche aufs Bett. Einige Schrammen im Material der Tasche wiesen darauf hin, welche Misshandlungen der Gegenstand hatte erdulden müssen.
Ina beobachtete ihn aufmerksam dabei.
Seine Bewegungen verrieten, daß er beim Gehen Schmerzen litt.
„Sie hinken“, sagte sie, als er die Handtasche vorsichtig auf dem Bett abstellte, immerhin war das rechte Bein der jungen Frau in Gips, und er hielt in der Bewegung inne. Ihre Bestürzung war offenkundig, und Arnie Kortmann fand es rührend, daß dieses – in seinen Augen – bezaubernde, rotblonde Geschöpf ihr eigenes Leid und ihre Schmerzen für den Moment hintenan gestellt und das Hinken bemerkt hatte.
„Sie sind eine gute Beobachterin“, antwortete er und grinste schief, „ist mir etwas unangenehm, muss ich zugeben.“
„Sie müssen sich verletzt haben, als Sie mich herbrachten“, sagte sie, „Sie haben mir geholfen und sich selbst dabei verletzt.“
„Nein, Frau Speckhardt“, grinste der Mann, „die Verletzung ist älter. Und das Stehen bei OPs macht es nicht besser. Früher oder später brauch ich wohl eine neue Hüfte.“
„Oh nein“, hauchte sie.
Er winkte ab.
„Wichtiger ist, daß Sie gesund werden“, sagte er und wies auf ihre Handtasche, „sagen Sie mir, was ich Ihnen besorgen soll, und ich bring es Ihnen.“
„Eigentlich kann ich das nicht von Ihnen verlangen.“
„Tun Sie es ruhig, Frau Speckhardt“, grinste er, „ich verspreche Ihnen hoch und heilig, nichts durcheinander zu bringen oder in Ihren persönlichen Sachen zu schnüffeln.“
Ina lächelte. Am liebsten hätte sie freilich gekichert wie ein Schulmädchen, doch ihr Brustkorb schmerzte zu sehr. Stattdessen zog sie ihre Handtasche zu sich, zog das linke Bein unter ihren Körper und fischte ihren Schlüsselbund heraus.
„Der mit dem roten Ring schließt die Haustür auf, der mit dem blauen Ring die Wohnungstür. Meine Wohnung ist im Erdgeschoss, die linke Tür“, sagte sie und holte ihr Smartphone aus der Tasche, ein älteres Gerät von Samsung.
„Im Schlafzimmer habe ich das Ladegerät hierfür“, sagte sie und hob das Smartphone an. Kortmann nickte.
„Ich bräuchte auch Leibwäsche“, sagte Ina und spürte, daß sie rot anlief.
„Im Schlafzimmer gleich neben der Tür – die Kommode“, erklärte sie, „in der obersten Schublade habe ich Strümpfe und die beiden Schubladen drunter habe ich Unterwäsche, Slips und BHs und so. Davon bräuchte ich was. Und im Kleiderschrank, auf dem Regalbrett über der Kleiderstange, habe ich so Hausklamotten. An der Kleiderstange hängt ein Kimono, und meine Pyjamas liegen dort.“
Ihr Gesicht fühlte sich heiß an.
Sehr heiß.
Und das Reden strengte an! Ihr Brustkorb schmerzte entsetzlich.
„Ich weiß“, keuchte sie, „ich verlang‘ sehr viel von Ihnen.“
„Nein, Frau Speckhardt, alles in bester Ordnung – was ich für Sie tun kann, möchte ich für Sie tun“, sagte er und berührte sie ganz sachte am Arm, und Ina sah ihn überrascht an. Überrascht ob seiner schüchternen Sanftheit. Ihr gefiel die Berührung irgendwie, und sie lächelte leicht.
„Ich hole Ihnen alles, was Sie brauchen. Wie sieht‘s mit Badartikeln aus? Zahnbürste? Zahnseide? Hygieneartikel?“
„Liegt alles im Badezimmer unter dem Spiegel überm Waschbecken, da ist so eine Ablage. Sie würden mir enorm weiterhelfen“, lächelte sie, „auf dem Nachttisch liegt meine Brille. Die würd ich auch brauchen. Ich denke, Sie werden alles finden.“
„Ist Getier zu versorgen, ein Hund oder eine Katze, ein Wellensittich oder ein Hamster?“ erkundigte er sich mit einem leichten Lächeln.
„Nein, ich lebe allein.“
„Okay. Und wo wohnen Sie?“
„In Lahmetal-Oberdorf, Wiesengrund Sieben. Das Haus hat drei Parteien pro Stockwerk, meine Wohnung ist links.“
Kortmann nickte.
„Okay, die Gegend kenne ich“, sagte er.
Wo das Haus stand, wusste er.
Der Wiesengrund war eine ruhige Wohngegend, doch je höher die Hausnummern wurden, desto besser und teurer wurden die Wohnungen.
Die Sieben jedoch war ein schmutziges Mehrfamilienhaus ziemlich am Ende der Straße am Rande eines Wendehammers, eins von drei Sechsparteien-Mietshäusern, schmucklose Bauten aus den sechziger Jahren.
„In Ordnung, ich mach mich auf die Socken“, nickte Kortmann und berührte Ina Speckhardt an der Schulter. Eine erstaunlich zierliche, schmale Schulter, wie er fand.
„Sie halten die Stellung“, ergänzte er, „und die Öhrchen steif. Okay?“
Sie lächelte, und er fand ihr Lächeln wunderschön.
„Ich danke Ihnen“, sagte sie. Ihre Zähne glänzten wie poliertes Elfenbein.
Er stoppte den Talbot vor dem Haus Nummer Sieben im Wiesengrund. Das Haus war hässlich, ein typischer Mietskasernenbau aus den sechziger Jahren mit hölzernen Rollläden vor den Fenstern. Seufzend zog er den Schlüsselbund aus der Tasche und ließ sich ins Haus. Den Briefkasten mit dem Namensschild „I. Speckhardt“ leerte er vorsorglich. Liebesbriefe waren es nicht, die ihm da entgegen gepurzelt kamen. Arnie begriff, daß Ina Speckhardt ihr Leben aus eher mageren Quellen finanzierte. Er sah das martialisch anmutende Logo einer Inkassofirma, gekreuzte Schwerter unter einer Abbildung der Justitia. Was Inkasso mit Gerechtigkeit zu tun hatte, verstand er nicht so recht.
Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte er eine Frau, die auf einer Bank saß und eine Zigarette rauchte. Vage kam sie ihm bekannt vor, nur wohin er sie verorten sollte, fiel ihm gerade nicht ein. Sie sah ihn und hob die Hand, und ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Arnie winkte zurück und lächelte seinerseits.
Er schloss die Haustür auf und trat in das Treppenhaus. Ein feiner Ölgeruch fiel ihm auf. Offenbar waren im Keller Heizöltanks untergebracht, und er stieg die Treppe hinauf.
Die Wohnungstüre zur linken Hand war mit dem Namensschild „Speckhardt“ gekennzeichnet und war zwei Male abgesperrt. Ina Speckhardt hatte die Wohnung verlassen, um etwas zu erledigen, war angefahren, ihrem Schicksal überlassen worden und lag nun im Krankenhaus. Er öffnete die Türe und betrat zögernd die Wohnung.
Als erstes fiel ihm der Geruch der Wohnung auf.
Ein zarter, pudriger Duft lag in der Luft, eine Wohltat angesichts des Ölgeruchs im Stiegenhaus.
Im Eingangsbereich standen etliche Paare Damenschuhe, recht klein und auch teils recht betagt. Er erkannte im Innenleben der Schuhe den Abdruck eines schmalen Fußpaars. Offenbar war Ina Speckhardt ein „Barfußmädchen“ und trug selten Strümpfe.
Er seufzte und ging den langen schmalen Flur entlang. Eine Kommode im Fichtendekor stand rechts, doch dominiert wurde der Korridor von einer Garderobe aus Metall, an der diverse Jacken und Mäntel hingen. Arnie Kortmann entdeckte eine Jeansjacke, einen beigefarbenen Staubmantel, einen Kurzmantel aus dunkler Wolle, eine Winterjacke aus glattem und nicht gestepptem Material, ein königsblauer Blazer mit einem Firmenlogo am Revers, einem stilisierten Auge.
„Vermutlich Firmenkleidung“, murmelte Arnie und sah sich suchend um. Wo war das Badezimmer?
Er sah voraus eine verschlossene Tür, fasste sich ein Herz und klinkte sie auf.
Dominiert wurde der Raum von einem herrlich breit und bequem aussehenden Bett und einem Kleiderschrank aus Fichtenholz, etwa anderthalb Meter breit. An der dem Schrank gegenüber liegenden Wand erblickte er ein Ankleidetischchen, wie man es in Künstlergarderoben sah, mit beleuchtetem Spiegel. Auf dem Tischchen lagen eine Haarbürste, ein Haarreif mit einer kleinen Rose aus Stoff daran, Haarklammern und Haarnadeln, Haarbänder und eine bescheidene Auswahl an typisch weiblichen Verschönerungsartikeln.
Arnie wurde von einem Gefühl der Traurigkeit erfasst.
Auch wenn derlei Ausstattungsdetails generisch anmuteten … vor ihm breitete sich das Leben von Ina Speckhardt aus, und er kam zu dem Schluss, daß die junge Frau nicht sonderlich luxuriös oder auch nur halbwegs komfortabel lebte.
Einige Bilder an den Wänden waren dem „unaufdringlichen Modernismus“ zuzurechnen, lediglich über dem Bett hing eine Aquarellmalerei von Grey aus dem Jahr 1971, die einen Jachthafen mit Booten zeigte, war etwas aufregender, denn das Bild war mit unruhigen Strichen gemalt.
Im Wohnzimmer standen eine Zweisitzercouch und zwei Sessel in einer Sitzgruppe um einen niedrigen Tisch aus Kiefernholz herum, ein Fernseher fehlte.
Dafür besaß Ina Speckhardt eine recht beeindruckende Mehrkomponenten-Stereoanlage von Marantz, bestehend aus Plattenspieler, CD-Player, Verstärkerteil und Kassettendeck und recht wuchtigen Lautsprechertürmen.
Ein älteres Gerät.
Auch stand im Wohnzimmer ihr Schreibtisch, auf dem ein älteres Lenovo-Notebook lag. Er packte das Gerät in eine Tasche, zusammen mit dem Netzteil und einem Gerät, das wie ein Surfstick aussah. Im Schlafzimmer auf dem Nachttisch fand er ein Huawei-Netzteil, angeschlossen an ein USB-Kabel, das einen Samsung-Gerätestecker besaß. Nun, sollte das Netzteil die falsche Spannung abliefern, ließ sich Ina Speckhardts Smartphone auch über den USB-Anschluss des Notebooks laden.
An Klamotten packte er zwei Pyjamas ein, im Kleiderschrank fand er den von ihr erwähnten Kimono mit Paisley-Muster, den er sorgfältig zusammenlegte und ebenfalls einpackte.