Der Winter des Propheten - Håkan Östlundh - E-Book
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Der Winter des Propheten E-Book

Håkan Östlundh

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Beschreibung

Die neue, großartige Thriller-Trilogie aus Schweden – rasant, clever geplottet und brandaktuell!

In einem Hotel in Sarajevo verbringt die schwedische Diplomatin Ylva Grey ein Schäferstündchen mit ihrem Kollegen Anders Krantz. Kurz darauf trennen sich die beiden, sodass Anders allein in der Lobby ist, als dort eine Bombe explodiert. Unterdessen versucht im winterlichen Uppsala der Student Elias Krantz verzweifelt, seinen Vater zu erreichen – und muss von dessen Tod erfahren. Ylva, die mit dem Leben davongekommen ist, nimmt Kontakt zu Elias auf. Gemeinsam wollen sie herausfinden, was hinter dem heimtückischen Anschlag steckt. Und müssen im Kreuzfeuer von Geheimdiensten, Regierungen und mächtigen Unternehmern sehr bald um ihr Leben laufen …

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Buch

Uppsala: Der Student Elias Krantz geht durch die verschneite Universitätsstadt, nachdem er im Krankenhaus eine beunruhigende Diagnose erhalten hat. Verzweifelt versucht er, seinen Vater Anders zu erreichen – vergeblich.

Sarajevo: Die schwedische Diplomatin Ylva Grey verbringt mit ihrem verheirateten Kollegen Anders Krantz ein Schäferstündchen in ihrem Hotelzimmer. Kurz darauf trennen sich die beiden, und Anders geht in die Hotellobby. In diesem Moment explodiert dort eine Bombe.

Stockholm: In der verschneiten schwedischen Hauptstadt trifft Elias auf Ylva. Sie hat den heimtückischen Anschlag überlebt, bei dem sein Vater getötet wurde. Worin war Anders verstrickt? Gemeinsam wollen Elias und Ylva die Wahrheit herausfinden – und müssen schon bald im Kreuzfeuer von Geheimdiensten, Regierungen und mächtigen Unternehmern um ihr Leben laufen …

Weitere Informationen zu Håkan Östlundh sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

HÅKAN ÖSTLUNDH

DERWINTER

DES

PROPHETEN

DIE ELIAS-KRANTZ-TRILOGIE 1

Thriller

Aus dem Schwedischen von Katrin Frey

Die schwedische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Profetens vinter« bei Bokförlaget Polaris, Stockholm.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Abdruck des Zitats erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags Kiepenheuer & Witsch: Zadie Smith, Swing Time. In der Übersetzung von Tanja Handels. © 2017, Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Köln.

Deutsche Erstveröffentlichung April 2021

Copyright © Håkan Östlundh 2018

by Agreement with Grand Agency

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: Arcangel/Alexandre Cappellari, Des Panteva; FinePic®, München; GettyImages/Johner Images

Redaktion: Maike Dörries

KS · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-24957-1V001

www.goldmann-verlag.de

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Der Arzt im weißen Kittel über der blauen OP-Kleidung sitzt leicht zurückgelehnt auf seinem Bürostuhl, die Ellbogen auf den schwarzen Armlehnen, die Hände ineinander verschränkt. Er lächelt wohlwollend und strahlt Ruhe und Zufriedenheit aus, als ob das mit dem Hirntumor nun wirklich kein Grund zur Sorge wäre.

Elias betrachtet die wurstigen Finger des Arztes und versucht, sich selbst davon zu überzeugen, dass chirurgisches Können mehr mit Geschicklichkeit und Erfahrung als mit der Größe der Hände zu tun hat. Wahrscheinlich würden nicht diese dicken Finger, sondern Instrumente in seinem Gehirn herumstochern. Trotzdem.

»Ich möchte betonen, dass Sie keinen Krebs haben«, sagt Göran Gilbert. »Streng genommen handelt es sich nicht einmal um einen Tumor, auch wenn wir diesen Begriff verwenden. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«

Elias hat ihn mühelos verstanden, kann aber nicht behaupten, dass ihn das beruhigen würde. Er hat einen Knoten im Gehirn, der da nicht hingehört, aber wächst. Das ist überhaupt kein gutes Gefühl, und wie die Ärzte das Ding nennen, findet er eher zweitrangig. Momentan fällt ihm das Denken generell schwer. Es ist, als hätte der Tumor bereits das Kommando über sein Gehirn übernommen und ihn gelähmt. Er schafft es nur mit äußerster Anstrengung, knappe Antworten auf die Fragen seines Arztes zu geben.

»So ein Meningeom …«

Da war er, der Name der Krankheit. Noch so ein Fachbegriff. MENINGEOM blinkt in Neonbuchstaben in seinem Kopf auf. Ein Wort, das er so schnell nicht vergessen wird. Es klingt nicht gut, es klingt wie maligner Tumor, auch wenn er genau das laut Göran Gilbert nicht ist: bösartig.

»Er ist vom umliegenden Gewebe klar abgegrenzt und bildet keine Metastasen«, fährt der Arzt fort. »Da brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Wir müssen diesen kleinen Knoten nur im Auge behalten.«

Elias war zum Arzt gegangen, nachdem eine überstandene Grippe hartnäckige Kopfschmerzen und eine merkwürdige akustische Veränderung auf dem rechten Ohr hinterlassen hatte. Er hörte nicht unbedingt schlechter, aber manchmal klang alles blechern, als hätte jemand die hohen Töne leiser gestellt, und manchmal deutlicher und detaillierter als sonst.

Die Symptome hatten ihn weniger beunruhigt als genervt, und er hatte angenommen, sie wären mit einer Ohrspülung oder schlimmstenfalls einer Antibiotikabehandlung zu beheben. Als er aber die Alltagsverdrossenheit im Gesicht des Medizinstudenten im Praktischen Jahr einer nachdenklichen Betroffenheit weichen sah, war ihm der Verdacht gekommen, dass vielleicht doch nicht alles so einfach war.

Eine Überweisung und eine Computertomografie später sitzt er nun vor dem Neurochirurgen der Uniklinik in Uppsala.

Elias ist vierundzwanzig Jahre alt, bald fertig mit seinem Master, und die Ärzte wollen seinen Schädel aufbohren, um einen Tumor zu entfernen, der nicht bösartig und streng genommen auch kein Tumor ist. Die fehlende Eindeutigkeit gefällt ihm gar nicht. Als was würde denn jemand, der zu drastischer Ausdrucksweise neigt, das Ding in seinem Kopf bezeichnen?

»Der Tumor ist eigentlich nicht das Problem, sondern die Lage«, sagt Göran Gilbert.

»Ist die Lage ungünstig?«, fragt Elias angestrengt.

»Er befindet sich im Kopf, das meine ich.« Der Arzt bessert sein Lächeln nach.

»Aha.«

»Am Bein könnten die Kollegen aus der Poliklinik ihn innerhalb von zehn Minuten entfernen.«

»Aber Gehirntumore hat man selten am Bein, oder?«

Göran Gilbert lacht laut, löst die Hände voneinander und zeigt mit einem dicken Finger auf Elias.

»Eher selten, gebe ich zu.« Er sammelt sich wieder und angelt einen Kugelschreiber vom Tisch. »Nach den Untersuchungen heute wissen wir hoffentlich mehr. Normalerweise unternimmt man bei dieser Art von Meningeom erst etwas, wenn unbedingt nötig. Man beobachtet den Tumor und mögliche Symptome, aber solange es Ihnen gut geht, besteht kein Grund zu operieren. Nun sind zwar bei Ihnen bereits Symptome aufgetreten, aber es könnte sein, dass die nur vorübergehend sind.«

»Und was passiert jetzt?«

»Wir machen heute eine Kernspintomografie, und sobald ich die Ergebnisse habe, melde ich mich. Falls Sie weitere oder aber eine Verschlimmerung Ihrer Symptome wahrnehmen, müssen Sie sich melden. Gut?«

Nein, gar nicht gut.

»Ich glaube schon«, sagt er.

Göran Gilbert steht auf und gibt ihm die Hand. Sie ist weich und warm. Und letzten Endes vielleicht gar nicht so groß, jedenfalls nicht viel größer als die von Elias.

Eine knappe Stunde später schließt Elias vor der Klinik sein Fahrrad auf. Es ist kalt, und unter seinen Schuhen knirscht der Schnee, als er sein Rad zum Dag Hammarskjölds väg schiebt. Befreit aus der engen Magnetröhre und mit der Klinik im Rücken kann er kaum glauben, was der Arzt gesagt hat. Vom Ohrenschmalz zum Hirntumor, wie konnte es nur dazu kommen?

Vielleicht stellt sich ja heraus, dass bei der vorangegangenen Untersuchung ein technischer Fehler aufgetreten ist, irgendeine Störung, die einen Schatten auf dem Röntgenbild verursacht hat. Und selbst wenn es sich nicht um einen gutartigen Tumor, sondern um Krebszellen handelt, kann er bestimmt mit denen weiterleben, bis er ungefähr mit achtundsiebzig Jahren oder so stirbt.

Er wischt eine dünne Eisschicht vom Sattel und fährt zurück in seine Studenten-WG in Luthagen. Seine Beine fühlen sich fremd und kraftlos an und scheinen ohne sein Zutun in die Pedale zu treten.

In der Wohnung in der Tiundagata ist niemand da. Das Wohnzimmer ist ein Sammelsurium ausrangierter Möbel aus ihren Elternhäusern und von Ikea, überall stapeln sich Fachbücher und kopierte Reader. Elias lässt die Schuhe an und setzt sich in den wenig anschmiegsamen Ohrensessel. Er klickt sich durch seine Kontakte und bleibt mit dem Daumen über Papa hängen. Was soll er sagen? Hallo, ich habe einen Hirntumor, aber mach dir keine Sorgen, es ist kein Krebs.

Bei dem Gedanken beginnt der Boden unter ihm zu schwanken. Wenn er seinem Vater davon erzählt, kann er sich nicht länger verstecken. Dann wird es real. Elias hat einen Hirntumor.

Eine dunkle Welle türmt sich vor ihm auf. Die Knöchel der Hand, die das Handy umklammert, treten weiß hervor.

Er hat einen Tumor im Kopf.

Er wird in der Neurochirurgie operiert werden.

Sie werden seinen Schädel aufbohren.

Jetzt tut er es. Er tippt auf den Bildschirm. Er weiß genau, wie sein Vater klingen wird. Gefasst, aber besorgt wird er präzise und irgendwie auch fordernde Fragen stellen. Hat er wirklich alle Informationen eingeholt, die ihm die Ärzte geben können? Kann er sein Studium fortsetzen? Elias wartet, aber es springt nur der Anrufbeantworter an.

Januar in Sarajevo. Bräunlicher Dunst über der Stadt. Unter der kalten Luftschicht zwischen den Bergen riecht es nach Brennholz und Braunkohle, Dieselabgasen und alten Autoreifen. Im besten Fall erinnert der beißende Geruch an Weihrauch, im schlimmsten verschlägt er einem den Atem.

Ylva nimmt die winterliche Atmosphäre in der Stadt nur am Rande wahr, so erfüllt ist sie von sich selbst und dem Mann unter ihr. Mit jedem Hinabsinken, jedem keuchenden Atemzug lässt sie sich tiefer in etwas hineinfallen, das schon jetzt zu gleichen Teilen Schmerz und Genuss ist. Es strahlt von innen aus, setzt sich zitternd in Arme und Beine fort, erfrischend sanft und brennend hart, bis in die Fußsohlen und Fingerspitzen.

Anders’ Hände auf ihren Hüften ziehen sie nach unten. Sie stemmt sich hoch, weg von ihm, und er zieht sie immer fester und schneller wieder hinunter, bis es sie zerreißt und sie wimmernd auf ihm zusammenbricht.

Langsam macht sich der Alltag wieder bemerkbar: Rauchgeruch, vermischt mit den Ausdünstungen von Haut und Geschlechtsteilen. Die Klimaanlage bläst lauwarme Luft auf ihre nackten Körper. Sie verstummt nie, aber nach vier Nächten hat sich Ylva an das Geräusch gewöhnt. Sie streicht über Anders’ Brust, findet die Vertiefungen zwischen den Rippen und lässt ihre Hand dort liegen.

»Keine gute Idee, das hier«, sagt sie, obwohl sie das Gegenteil sagen will.

Anders lächelt und sagt, was sie für sich behält. »Trotzdem sind wir hier. Es muss also etwas bedeuten.«

Wie gerne würde sie ihm sagen, dass ihr schon lange nichts mehr so viel bedeutet hat. Aber da sie in der schwächeren Position ist, schweigt sie. Nicht nur wegen der Machtbalance. Sie darf ihren Gefühlen keinen freien Lauf lassen, weil diese Geschichte aller Wahrscheinlichkeit nur schlecht für sie ausgehen kann.

Sie begnügt sich damit zurückzulächeln.

Er ist verheiratet, sie ist seine Chefin.

Nicht gut.

Das geht jetzt schon bald vier Monate, aber dies ist das erste Mal, dass sie auf einer Dienstreise miteinander schlafen. Das verschwitzte Laken liegt zusammengerollt am Fußende, noch eine Stunde bis zum Abendessen im Dachgeschoss des Hotels.

»Du solltest dich langsam fertig machen«, sagt sie.

Anders wälzt sich scherzhaft auf sie und berührt ihre Nasenspitze mit seiner. »Spricht da meine Chefin oder meine …«

»Deine Chefin«, fällt sie ihm ins Wort. Sie will das Wort Geliebte nicht hören, schubst ihn weg und setzt sich auf.

»Du bist so hart«, sagt er. »Ich denke praktisch und will nicht, dass dich jemand drei Minuten vorm Abendessen schlampig angezogen aus meinem Zimmer kommen sieht.«

»Schlampig angezogen?« Er lacht. »Das klingt ein wenig …«

»Ist mir egal, wie es klingt. Los jetzt, damit du noch duschen und dich umziehen kannst.«

Anders rutscht an die Bettkante und sammelt seine Kleidungsstücke vom Boden auf.

»Hoffentlich beobachtet Kjell uns nicht durch den Türspion«, grinst er, während er sich die Unterhose anzieht.

Das würde Kjell nicht tun. Ylva ist die Einzige, die ein Zimmer hier auf diesem Gang hat. Ansonsten wäre sie das Risiko nicht eingegangen.

Anders zieht sich an, steckt sein Hemd in die Hose und klopft sein Jackett ab. Er bindet sich sogar die Krawatte um, zieht einen Kamm aus der Tasche und fährt sich damit einige Male durchs Haar, ehe er, Beifall heischend, die Arme ausbreitet und sie mit diesem intensiv dunklen Blick ansieht, der direkt in ihr Innerstes hineinzuschauen vermag.

»Na?«

»In Ordnung.«

»Mehr nicht?«

»Raus jetzt.«

»Okay, wir sehen uns oben.«

Er schaut durch den Türspion, wie er es ihrem Kollegen unterstellt hat. Sein dunkelblauer Anzug spannt an den Schultern, das frisch gekämmte Haar reicht genau bis an den Kragen. In diesem Moment würde sie ihn am liebsten zurückrufen, aber dafür ist sie zu klug und zu pragmatisch, und bevor sie sich verabschieden kann, ist die Tür auch schon hinter ihm ins Schloss gefallen.

Da sieht Ylva seine Aktentasche aus rotbraunem Leder auf dem Schreibtischstuhl. Rasch ist sie auf den Beinen, schnappt sie sich, aber vor der Tür hält sie inne, sie kann schließlich nicht nackt durch den Gang laufen. Dunkelheit hat sich über Sarajevo gesenkt. Der Schnee auf den Bergen, von denen die Stadt während des Krieges mit Granaten beschossen worden war, leuchtet hell im Mondlicht. Entlang der gewundenen Straßen bewegen sich kleine Lichtpunkte.

Ylva stellt die Aktentasche in den Kleiderschrank und macht die Tür zu. Sie soll nicht verräterisch dastehen, falls ein Mitarbeiter bei ihr an die Tür klopft.

Im Spiegel erhascht sie einen kurzen Blick auf ihren januarbleichen Körper, bevor sie sich in die Dusche rettet und das Wasser aufdreht. Während sie sich einseift und ihr Haar schamponiert, geht sie die Ortsbesichtigung und die Termine der vergangenen Tage noch einmal durch. Als sie sich einige Minuten später ein Handtuch um den Kopf wickelt und ihren Körper in ein großes Badelaken hüllt, hat sie die inoffizielle Tagesordnung für das abendliche Arbeitsessen im Kopf.

Sie schminkt sich und holt etwas zum Anziehen aus dem Schrank, in den Augenwinkeln Anders’ Aktentasche, die sie darin versteckt hat.

Du siehst blass aus. Habt ihr gestern bei Snerkes hart gefeiert?«

Amanda steigt im Wohnzimmer aus ihren Wüstenstiefeln und legt ihre Jacke auf einen der alten Omasessel. Jeder Raum der Wohnung dient Amanda als Garderobe.

»Geht so«, antwortet er.

Elias wohnt seit zweieinhalb Jahren mit Amanda und Holger zusammen. Amanda kennt er vom Gymnasium. In der Elften waren sie kurz zusammen, aber es sollte irgendwie nicht sein. Stattdessen wurden sie Freunde.

»Ich mache Puttanesca. Willst du auch was?«, fragt sie.

»Nein danke.«

»Okay.«

Sie geht in die Küche. Das schulterlange, gefärbte und geföhnte Haar schimmert schwarz und kastanienfarben. Amanda gibt nicht viel Geld für Kleidung aus, aber auf die Haare legt sie Wert. »Ich mache genug für uns beide. Wenn du nichts möchtest, kann ich den Rest morgen Mittag essen«, ruft sie.

»Danke.«

Elias glaubt Göran Gilberts Versicherung nicht, dass alles gut wird. Genau das haben sie ihm gesagt, als seine Mutter krank wurde. Kein Grund zur Sorge, sie wollten nur ein paar Untersuchungen machen, um ernsthafte Krankheiten auszuschließen. Als sich nicht länger leugnen ließ, dass etwas nicht stimmte, hieß es, das käme schon wieder in Ordnung. Krebs sei kein Todesurteil mehr, die Mehrheit der Erkrankten werde wieder gesund, die Behandlungsmethoden würden immer besser und effektiver. Das sagten sie, bis seine Mutter an den Morphiumtropf gehängt wurde, der in den letzten Wochen nur noch die Schmerzen lindern konnte.

»Worauf läuft es hinaus?«, hatte er Gilbert gefragt.

»Wie meinen Sie das?«

»Falls das Ding größer wird.«

»Dann könnte es irgendwann problematisch werden«, hatte der Arzt sich gewunden.

»In welcher Hinsicht?«

»Wenn der Tumor kontinuierlich weiterwächst, was nicht gesagt ist, und man ihn nicht behandelt, läuft es auf den Tod hinaus«, gab er schließlich zu und fügte rasch hinzu: »Aber dazu wird es in Ihrem Fall nicht kommen. Wenn es nötig ist, nehmen wir ihn raus. Ganz einfach.«

Elias hat die vergangenen Stunden damit verbracht, Gehirntumore zu googeln, alle möglichen Arten von Gehirntumoren. Er hat einen primären Hirntumor, der in der Hirnhaut wächst, ein Meningeom. Es stimmt, dass er gutartig ist, das hätte Gilbert sonst auch nicht einfach behaupten können, nur um ihn zu beruhigen. Elias zeigt zwei von vielen möglichen Symptomen: Kopfschmerzen und Veränderungen des Gehörs. Kopfschmerzen sind natürlich nicht sonderlich spezifisch, dafür kann es Hunderte von Gründen geben. Er vermutet, dass der Arzt in der Poliklinik Verdacht geschöpft hat, als er das mit dem Hören erwähnte.

Schwindel, Doppelbilder, Lähmungen, epileptische Anfälle, Persönlichkeitsveränderungen, vermindertes Reaktionsvermögen und eingeschränktes Erinnerungsvermögen sind typischere Symptome. Anders ausgedrückt: Man verliert Stück für Stück die Fähigkeit, zu denken und sich zu bewegen, bis man nur noch ein lallender Klumpen ist.

Nein, er hat keinen Hunger. Ihm ist schlecht. Das ist übrigens auch ein Symptom. Schwer zu sagen, was er schlimmer findet: sich in der Uniklinik auf einen Operationstisch zu legen und den Schädel aufbohren zu lassen oder abzuwarten und verschiedene Symptome zu beobachten, bis die Operation notwendig wird. Auch wenn sie das niemals wird. Ewig falscher Alarm. Fühlt sich das Bein taub an? Sieht er verschwommen? Ist das der Tumor, oder braucht er eine Brille? Jetzt hat er schon wieder seine Notizen für das Seminar vergessen – liegt das am Tumor, oder ist er nur zerstreut?

Die meisten Meningeome lassen sich leicht entfernen. Wenn sie nicht vollständig entfernt werden können, ohne das umliegende Hirngewebe zu beschädigen, gibt es andere Behandlungsmöglichkeiten wie zum Beispiel Bestrahlung oder Chemotherapie.

Aber es gibt auch einige, die eine sehr ungünstige Lage haben. In extrem seltenen Fällen kommt man nur an den Tumor heran, in dem man die Gesichtshaut vom Schädel löst und an den Augenhöhlen ein Loch bohrt.

An der Stelle hat er aufgehört zu lesen.

Als Ylva mit dem Aufzug nach oben fährt, singt ihr Körper noch immer von der Begegnung mit Anders. Sie weiß, dass sie sich zügeln muss, um ihn nicht zu verliebt anzusehen oder jedes Mal zu strahlen, wenn ihr Blick auf ihn fällt.

Die Fahrstuhltüren öffnen sich, sie ist im Dachgeschoss des Hotels angekommen. Die Kollegen sind bereits an der Bar versammelt. Alle außer Anders. Kjell aus der Balkanabteilung gestikuliert mit seiner Hornbrille in der Hand und erzählt den Botschaftsmitarbeitern vermutlich eine Anekdote aus Georgien. Von seinem Kopf steht ein Haarbüschel ab.

Außer Kjell ist Kristian Wigg da, ergrauter Referent für wirtschaftliche Zusammenarbeit, groß und schlank mit leichtem Bauchansatz. Anna Kroon, ihre schwedische Mitarbeiterin mit dem möwenartigen Lachen, die sich über jedes diplomatische Protokoll hinwegsetzt. Und schließlich Annas Kollegin vor Ort, Vesna Butoviç, die Ylva erst auf dieser Reise kennengelernt hat.

Im Speisesaal stehen altrosa Servietten in Zylinderform auf der Tischdecke im selben Farbton. Seelenloser internationaler Hotelstandard, weit entfernt von dem informellen Fest, zu dem sie gestern Abend im Rahmen der Ortsbesichtigung in Mostar eingeladen waren. Als sie auf die Kollegen zugeht, fällt ihr Blick auf die Oberkellnerin, eine Frau in weißer Bluse, der das schwarze Haar in einem schnurgeraden Zopf den Rücken hinunterfällt.

Auf ungefähr halber Strecke hebt eine unsichtbare Kraft Ylva hoch und schleudert sie haltlos durch den Raum.

Erst Sekunden später, als sie auf allen vieren herumkriecht, werden ihr der laute Knall und das Zittern des Gebäudes bewusst. Eher wie eine Erinnerung, als dass sie es tatsächlich spürt. Sie hebt den Kopf und sieht in verängstigte Augen. Warum liegt sie als Einzige auf dem Boden?

Ylva richtet ihren Blick auf die Oberkellnerin, die zu Bar und Küche hinüberschaut, als hoffe sie von dort auf ein Zeichen oder eine Anweisung. Der Barmann hat mitten in einer Bewegung innegehalten, in den Händen ein Geschirrtuch und ein Whiskyglas, das er gerade von Kalkflecken befreien wollte.

Draußen vor den Fenstern steigt dicker schwarzer Rauch auf, und eine Sirene gibt einen schmerzenden metallischen Ton von sich. Aus dem Aufzug, dessen Türen noch offen stehen, dringt Rauch. Die Druckwelle, die sie umgeworfen hat, muss aus dem Fahrstuhlschacht gekommen sein.

Ylva steht auf. Wenn sonst niemand etwas tut, muss sie die Sache in die Hand nehmen.

»Wir müssen hier raus«, sagt sie auf Englisch.

»Ja«, sagt die Oberkellnerin. »Wir müssen alles räumen.«

Und sofort ist das ganze Restaurant auf den Beinen. Die Oberkellnerin kommt zur Besinnung und erinnert sich an eine jahrelang zurückliegende Brandübung.

»Nicht die Fahrstühle benutzen«, ruft sie. »Nehmen Sie die Treppen. Nicht die Fahrstühle.«

In Anbetracht des Rauchs, der aus dem Schacht dringt, eine überflüssige Anweisung.

Bevor sie weitere erteilen kann, stürzen zwei Sicherheitskräfte herein und brüllen abwechselnd bosnische und englische Kommandos. Einer der beiden Männer trägt ein Maschinengewehr an einem Schulterriemen. Der andere postiert sich am Ausgang und hält die Leute von den Aufzügen, aber auch von den Treppen fern, sie sollen den Gang nach rechts gehen.

Die Gäste rennen schreiend in die Richtung, in die die Wachleute zeigen, eine Frau stolpert auf ihren hohen Absätzen, verschwindet aus dem Blickfeld, wird aber wieder hochgezogen.

Ylva sieht die entsetzten Blicke ihrer Angestellten, es droht Panik.

»Wo ist Anders?«, fragt sie laut.

Niemand antwortet.

Ylva lässt den anderen den Vortritt. Vesna hastet an ihr vorbei, Kristian, Anna … Sie hat das Gefühl, aus großer Höhe zu fallen, einem sicheren Tod entgegen.

Als Kjell an ihr vorbeikommt, packt er sie am Oberarm und zieht sie mit sich.

»Wo ist Anders?«, fragt sie erneut.

»Er hat gesimst, er müsse noch mal runter an die Rezeption.«

»Warum das?«

»Ich weiß nicht. Komm jetzt.«

Er zerrt sie weiter. In der Hoffnung, Anders könnte plötzlich auftauchen, sieht sie sich unablässig um.

Mit dem schrillen Feueralarm im Ohr werden sie durch den langen Gang geschleust. Als sie durch den beißenden Rauchgeruch eine scharfe Chemikalie wahrnimmt, wölbt sie eine Hand über Mund und Nase. Fünf, sechs Restaurantgäste, die Oberkellnerin und der bewaffnete Sicherheitsmann sind dicht hinter ihr.

Sie laufen eine schmale, schmutzige Treppe hinunter, in ihrem Rücken unverständliche Sprachfetzen und Körper, die sich an sie drängen. Sie stolpert, verliert das Gleichgewicht und bekommt im letzten Augenblick das Geländer zu fassen. Keine Zeit, stehen zu bleiben, sie muss weiter, wenn sie nicht noch einmal geschubst werden will. Irgendwie schafft sie es, die Schuhe auszuziehen und auf Strümpfen weiterzulaufen.

Sie erreichen das Erdgeschoss und eine Tür, die in das große Wiener Café des Hotels führt. Stühle und Tische liegen kreuz und quer durcheinander, dazwischen zerschmetterte Kronleuchter. Der Rauch ist noch dichter, er brennt in der Lunge, das Atmen fällt schwer. Licht spenden nur die Straßenlaternen draußen und ein greller Scheinwerfer über die Tür, durch die sie gerade hereingekommen sind. Ylva sieht zur Rezeption: noch mehr Rauch, Asche, zersplittertes Holz, und aus der Decke hängen Kunststoffummantelungen von Stromkabeln. Was von der Sprinkleranlage noch übrig ist, hält das Feuer in Schach, vermag es aber nicht zu löschen.

Er musste noch mal an die Rezeption.

Anders. Wo ist Anders?

Stimmen hinter und vor ihr treiben sie zur Eile an. Kälte und frische Luft schlagen ihr entgegen, und dann ist sie raus aus dem Gebäude.

Zwei hohe Straßenlaternen beleuchten den Hinterhof zwischen Hotel und Ferhadija-Moschee, der Asphalt unter ihren Füßen ist eiskalt. Hinter ihr scheppert etwas. Einer der Wächter fährt herum und hebt seine Waffe.

Es liegt kein Schnee, aber die Temperatur liegt unter dem Gefrierpunkt. Trotzdem schwitzt sie am ganzen Körper. Eigentlich müsste sie erleichtert sein, weil sie draußen ist, aber sie kann nur an das denken, was sie eben gesehen hat. Die Rezeption ist zerstört. Schutt und Asche.

Ein Einsatzfahrzeug der Polizei und ein ziviler Jeep donnern in den Hinterhof. Einer der Wachmänner sieht Ylva an und deutet auf den Jeep.

»Swedish Embassy?«

Ylva nickt, und sie bahnen sich zwischen Wasserlachen hindurch einen Weg zu dem Fahrzeug.

Als sie hinten einsteigt, hält sie inne.

»Wir können Anders nicht hier zurücklassen«, sagt sie auf Englisch. »Anders Krantz, er ist noch da drin.« Sie zeigt zurück zum Hotel und geht ein paar Schritte auf die offene Tür zu. »Wir sind sechs Personen von der schwedischen Botschaft. Einer von uns ist noch da drin. Anders Krantz. Ich glaube, er ist an der Rezeption gewesen.« Sie bewegt sich noch ein Stück auf die Tür zu, aber der Wachmann hält sie grob zurück.

»Können Sie nicht nach ihm sehen?«

»Wir tun bereits alles, was wir können. Setzen Sie sich bitte in den Jeep.«

»Aber wir können hier nicht ohne Anders wegfahren.« Ylva lässt nicht locker, bis sie unter Protest von den Männern in den Jeep befördert wird.

Sie finden alle Platz auf den beiden Rückbänken. Es ist sogar noch ein Platz frei. Ein sechster Platz. Der Sicherheitsmann setzt sich nach vorne neben den Fahrer.

Die Türen werden zugeknallt, und Ylva wird an die Rückenlehne gepresst, als sie mit quietschenden Reifen losrasen. Der Einsatzwagen fährt mit Blaulicht und Sirene voraus.

Wenn Anders an der Rezeption war, sieht es schlecht für ihn aus. Der Bereich rings um den Tresen war mehr oder weniger dem Erdboden gleichgemacht. Andererseits könnte er auch in seinem Zimmer oder im Fahrstuhl gewesen sein. Befindet er sich noch in dem brennenden Gebäude?

Ylva zieht ihr Handy aus der Tasche. Warum hat sie nicht gleich daran gedacht, ihn anzurufen?

»Wo fahren wir hin?«, fragt Kjell.

Der Wachmann dreht sich um, beantwortet aber nicht seine Frage.

»Keine Mobiltelefone«, sagt er.

»Verzeihung?«, erwidert Kjell.

»Keine Mobiltelefone«, wiederholt er. »Sicherheitsvorschrift. Handyortung, Sie wissen schon.«

»Ich muss den Kollegen anrufen, der noch im Hotel ist«, sagt Ylva. Sie hat bereits gewählt und sieht das Anrufsymbol auf dem Bildschirm.

»Ich will, dass Sie die Mobiltelefone jetzt abschalten«, sagt der Wachmann in scharfem Ton.

Ylva bekommt mit, wie die anderen ihre Handys herausholen und tun, was er von ihnen verlangt, während sie weiter auf ihr Display starrt. Warum wird sie nicht verbunden? Kann das verfluchte Netz in Sarajevo nicht ausnahmsweise einmal funktionieren, wenn man es wirklich braucht?

»Jetzt«, sagt der Wachmann. Diesmal wendet er sich direkt an Ylva. »Ich bestehe darauf«, sagt er.

»Ich auch.«

Begreift er nicht, dass ein Mitarbeiter fehlt? Das hat absolute Priorität.

»Sie können uns nicht vorschreiben, was wir zu tun und zu lassen haben«, sagt sie.

Das stimmt nicht ganz. Im Gegensatz zu Ylva und den Botschaftsmitarbeitern haben Kjell und Anders keinen Diplomatenstatus. Aber nun geht es ja um Ylva und ihr Handy.

Der Wachmann streckt eine große schwielige Hand aus. »Kann ich bitte die Handys haben?«

»Was?«

»Es dient Ihrer eigenen Sicherheit.«

»Wir sollten tun, was er sagt«, wirft Kristian Wigg auf Englisch ein.

Er sitzt eingeklemmt ganz hinten und muss den Kopf ein wenig einziehen. Immer so verdammt diplomatisch. Kapiert er nicht, dass sie nicht weiterkämpfen kann, wenn er ihr in den Rücken fällt? Sie ist die Anführerin der Gruppe, nicht er.

In Ylva flackert Widerstand auf, sie will protestieren, will nicht hören, dass sie nichts tun kann und dass Polizei und Rettungskräfte bereits tun, was in ihrer Macht steht, reißt sich aber zusammen, bevor sie aus der Haut fährt.

Der Wachmann nimmt ihr das Mobiltelefon aus der Hand. Sie lässt ihn gewähren, die anderen geben ebenfalls ihre Handys ab. Ylva nennt ihm Anders’ Nummer, damit er oder jemand anders ihn anruft.

Mit seiner Beute im Schoß wendet er ihr den Rücken zu. Ylva starrt durch die Windschutzscheibe. Sie rumpeln über einen gepflasterten Platz und gelangen auf die Marsala Tita.

»Wo fahren wir hin?«, fragt sie.

Wieder antwortet niemand.

»Das muss eine Bombe gewesen sein«, sagt sie zu Kjell, der neben ihr sitzt.

Kjell lockert seine Krawatte und öffnet den obersten Hemdknopf.

»Oder könnte es ein Unfall gewesen sein? Eine Gasexplosion?«

»Die Sicherheitsmaßnahmen deuten darauf hin, dass es kein Unfall war«, sagt er.

Als sie die Spur wechseln und kurz darauf rechts abbiegen, neigt sich das Auto zur Seite, und Ylva wird kurz an Kjell gedrückt.

»Aber sie können doch eigentlich noch gar keine Schlüsse gezogen haben? Ist das nicht reine Routine?«

Kjell streicht sich über den Kopf, ein Schweißtropfen rinnt an seiner Schläfe hinunter.

»Was wollte er so kurz vorm Abendessen an der Rezeption?«, fragt er. »Ich begreife das nicht.«

»Hotel«, sagt der Wachmann.

»War das eine Antwort?«, fragt Kjell, an Ylva gewandt.

Rechts vor ihnen liegt das legendäre Holiday Inn, das nach einem Besitzerwechsel nur noch Holiday heißt. Was für eine Ironie, wenn sie dorthin gebracht würden, in dieses Refugium der Weltmedien und anderer Zugereister während der Belagerung, ein Hotel, das den Betrieb auch dann noch aufrechterhielt, als seine Vorderseite von Scharfschützen und Granaten beschossen wurde.

Nein, sie fahren mit hoher Geschwindigkeit am Holiday vorbei. Nach weiteren fünfhundert Metern bremst der Jeep vor einem Hotel mit zwei bewaffneten Wachen und einem Militärfahrzeug vor dem Eingang. Vom Anblick der im Dunkeln aufblitzenden Waffen wird Ylva schlecht. War die Explosion im Hotel mehr als ein Einzelereignis, der Beginn von etwas Größerem?

Der Wachmann streckt vorsichtig den Kopf aus den Metalltüren des Aufzugs, wendet sich zuerst nach rechts und dann nach links, betritt den hellgrünen Flur und signalisiert Ylva, dass sie ihm folgen soll.

Er lässt sie vorangehen, vorbei an dunkelbraunen Türen mit ansteigenden Nummern. Der Teppichboden unter ihren Füßen fühlt sich rau an. In jeder Hand hält sie einen Schuh. Sie wünschte, sie hätte Schuhe, in denen sie fliehen, um ihr Leben rennen könnte.

Der Wachmann öffnet die Tür von Zimmer 657 und schaltet das Deckenlicht an. Nachdem er sich kurz umgesehen hat, übergibt er ihr die Schlüsselkarte. »Bleiben Sie im Zimmer.«

Die Tür fällt hinter ihm zu, und sie ist allein.

Ylva starrt das zur Seite geklappte Messingplättchen am Türspion an, stellt sich direkt davor und sieht in den Korridor. Auf der linken Seite ist der Rücken des Wachmanns zu erkennen. Warum ist nur sie auf dieser Etage untergebracht? Wo ist Kjell abgeblieben?

Sie bleibt eine Weile stehen und wartet ab, ob noch jemand von ihren Kollegen zu einem Zimmer auf diesem Gang gebracht wird, weiß aber nicht genau, ob die Botschaftsangestellten im Hotel einquartiert oder nach Hause gefahren werden sollten. Als niemand auftaucht, schiebt sie die Abdeckung vor den Spion, überlegt, ob sie die Sicherheitskette vorlegen soll, lässt es aber bleiben.

Sie zieht die Strumpfhose aus, die an beiden Beinen Laufmaschen hat, und wirft sie in den Papierkorb unter dem Schreibtisch. Dann sieht sie sich nach ihrem Koffer um, aber der ist natürlich nicht da. Ihre Sachen sind alle noch im Hotel: Kleidung, Strumpfhosen, Kulturtasche, geeignete Fluchtschuhe.

»Scheiße.«

Der Kraftausdruck entfährt ihr mit einem Seufzer.

Sie muss die Botschafterin anrufen. Und jemanden bei Sida.

Ylva greift mit zitternder Hand nach dem braunen Hörer und bittet die Rezeptionistin, sie zu verbinden. Das Tuten in der Leitung beruhigt sie eine Weile, aber während sie darauf wartet, dass sich jemand meldet, überschlagen sich die Fragen in ihrem Kopf. Womit soll sie anfangen? Anders? Mit der Explosion? Viel kann sie nicht darüber sagen. Sie weiß ja noch nicht einmal, wo sie ist, stellt sie fest und blättert in einer Infomappe des Hotels, um die Adresse herauszufinden.

Im Hörer tutet es noch immer. Warum geht niemand dran? Schließlich gibt sie auf. Wo soll sie stattdessen anrufen? Sie hat alle Nummern auf ihrem Handy gespeichert. Dann fällt ihr ein, dass sie sich in einem ungewöhnlich geistesgegenwärtigen Augenblick die Telefonnummern der Zentrale des Außenministeriums und des Sicherheitsbeauftragten von Sida auf einem Kärtchen notiert hat. Sie findet das Kärtchen im Innenfach ihrer Handtasche zwischen einer Kaugummipackung und einer alten Kinokarte.

Ylva greift erneut zum Telefon und studiert das Kärtchen, während sie ungeduldig auf ein Tuten wartet. Sie klopft ein paarmal auf die Gabel, aber es bringt nichts. Sie legt auf, wartet fünf Sekunden, nimmt den Hörer wieder in die Hand. Die Leitung ist tot.

Sie sieht sich nach ihren Schuhen um. Sie muss runter an die Rezeption. Wo hat sie ihre Schuhe gelassen? Sie betrachtet ihre nackten Beine, die zusammengeknüllte Strumpfhose im Papierkorb.

Hinunter zur Rezeption.

Noch einmal greift sie zum Hörer. Nichts. Sie knallt ihn auf die Gabel und setzt sich auf den lila Bettüberwurf mit einem Muster aus steifen Silberfäden. Anders, was ist mit Anders passiert? Und warum soll sie das Hotelzimmer nicht verlassen? Ylva sackt in sich zusammen und legt das Gesicht in die Hände. Ist Anders tot? Verletzt? Haben sie ihn ins Krankenhaus gebracht?

Raus jetzt. Warum hat sie ausgerechnet das als Letztes gesagt? Hätte sie nicht einmal die Maske fallen lassen und ihm gestehen können, wie viel er ihr bedeutet?

Ylva ist kurz davor, in Tränen auszubrechen, reißt sich aber zusammen.

Sie versucht es wieder mit dem Telefon, aber das ist genauso stumm wie vorhin. Sie muss nach unten. Und wenn sie hundertmal gesagt haben, sie soll in ihrem Zimmer bleiben.

Sie hat gerade den schmerzenden nackten Fuß in den rechten Schuh gesteckt, als es an der Tür klopft. Zweimal fest. Sie hat noch nicht geantwortet, als die Tür von einem Mann geöffnet wird, den sie noch nie gesehen hat. Er trägt eine schwarze Hose und eine graue Trainingsjacke mit einem roten Querstreifen. In den Händen hält er ihren Victorinoxkoffer und eine rotbraune Aktentasche.

Wortlos betritt der Mann das Zimmer und stellt beides auf die Gepäckablage.

»Mein Telefon funktioniert nicht«, sagt Ylva auf Englisch und zeigt auf den braunen Apparat auf dem Schreibtisch.

Er grinst breit, antwortet aber nicht.

»Ich muss dringend telefonieren. Ich muss die schwedische Botschaft kontaktieren. Es ist wichtig.«

Er klopft aufmunternd auf den Koffer.

»Kann ich zur Rezeption runtergehen, um zu telefonieren? Mein Telefon funktioniert nicht.«

Er schüttelt lächelnd den Kopf und streicht sich eine Strähne aus der Stirn.

»Verlassen Sie nicht den Raum. Die Botschaft wurde kontaktiert.«

»Aber …«

Rasch verlässt er den Raum und schlägt die Tür hinter sich zu.

Ylva bleibt mit ihrem halben Satz auf der Zunge stehen. Kontaktiert? Von wem? Was haben die der Botschaft mitgeteilt? Sie muss runter an die Rezeption. Sie wird nicht aufgeben, bevor sie telefoniert hat.

Aber erst umziehen, jetzt hat sie ja ihre Sachen. Eine Hose und andere Schuhe. Sie streckt den Arm nach dem Koffer aus, hält aber inne und legt eine Hand auf das weiche Leder von Anders’ Aktentasche.

Sie dachten natürlich, es wäre ihre.

Vor einigen Stunden hat sie die vergessene Aktentasche noch als Komplikation betrachtet, jetzt empfindet sie sie eher als zärtliche Geste. Als einen Beweis, dass Anders sich bei ihr zu Hause fühlte, auch wenn zu Hause nur ein Hotelzimmer war. Er war nicht darauf bedacht, ja nichts liegen zu lassen. Er hat sich bei ihr heimisch gefühlt, wohl, sicher. Sie kann es sich nicht verkneifen, den Verschluss zu öffnen und den Deckel aufzuklappen. Ein Laptop in einer Schutzhülle, ein Collegeblock, ein Buch, ein paar Hefter und lose Blätter.

Schlagartig kommt ihr in den Sinn, ob er vielleicht zur Rezeption runtergefahren ist, weil er glaubte, seine Aktentasche dort vergessen zu haben. Hätte sie ihn retten können, wenn sie sich schnell den weißen Hotelbademantel übergeworfen und ihm barfuß hinterhergelaufen wäre? Dann hätte Kjell vielleicht genau in diesem Moment seine Tür aufgemacht und seine Schlüsse gezogen, aber Anders wäre nicht nach unten gefahren. Er wäre mit den anderen aus dem Dachgeschoss evakuiert worden und nicht in Stücke gerissen worden, im Fahrstuhl stecken geblieben und im Rauch erstickt …

Hätte sie ihm doch nur eine SMS geschickt.

Was, wenn er nur Zigaretten oder eine Zeitung kaufen gegangen ist und sie jetzt nicht erreichen kann, weil ihr dieser Idiot das Handy abgenommen hat?

Sinnlose Gedanken.

Raus jetzt.

Ein Brennen in der Brust. Warum kann man mit diesem Scheißtelefon nicht telefonieren? Ylva nimmt den Hörer ab und lauscht. Nichts. Knallt ihn wieder auf die Gabel.

Sie holt tief Luft, räumt Anders’ Tasche weg, legt ihren Koffer auf die Seite und klappt ihn auf. Es scheint alles da zu sein: Blusen und Jacken, die sie in den Schrank gehängt hatte, das Taschenbuch von Åsne Seierstad, Zwei Schwestern, und die Sachen aus dem Bad.

Sie zieht eine schwarze Hose und ihre roten New-Balance-Sneaker an, schaut durch den Spion in den Flur. Kein Mensch zu sehen. Vorsichtig öffnet sie die Tür und schleicht hinaus, überprüft noch einmal, ob sie die Schlüsselkarte in der Hosentasche hat, bevor sie die Tür zufallen lässt.

Die Übelkeit kommt wieder hoch. Die schwer bewaffneten Wachmänner vor dem Hotel. Sie zögert einen Augenblick, dann drückt sie auf den Fahrstuhlknopf. Sie ruft sich die Verantwortung, die sie für ihre Mitarbeiter trägt, ins Gedächtnis und nimmt ihren Pass aus der Handtasche.

Die Fahrstuhltüren öffnen sich mit einem diskreten Klingeln. Der Fahrstuhl ist leer. Sie geht hinein und drückt auf die Erdgeschosstaste, ein ziehendes Gefühl im Bauch, als der Aufzug fällt, bremst und sie dabei zu einer leichten Verbeugung zwingt.

Sie steuert die Rezeption an, die Sneakersohlen bewegen sich lautlos über den blanken Steinfußboden. Ein Mann in grünem Jackett und mit ordentlicher Kurzhaarfrisur blickt auf und lächelt sie an.

»Guten Abend, die Dame, was kann ich für Sie tun?«

Sie erwidert die Begrüßung und legt ihre rechte Hand, die gut sichtbar den Pass hält, auf den Tresen.

»Ich habe versucht, von meinem Zimmer aus zu telefonieren, aber mit dem Telefon stimmt etwas nicht. Gibt es hier unten einen Apparat, den ich benutzen kann?«

Die Lider des Rezeptionisten flattern kurz, dann lächelt er noch breiter. »Wir haben im Moment ein Problem mit der Verbindung.«

Die Übelkeit wird stärker. Ist es wirklich so schlimm? Sind die Telefonverbindungen aufgrund eines Staatsstreichs oder kriegsähnlichen Zustands unterbrochen?

»Es ist ungeheuer wichtig, dass ich in Schweden anrufe. Ich arbeite im Auftrag der schwedischen Regierung.« Sie deutet auf das Wort diplomatique ganz unten auf ihrem Pass. »Ich muss in Schweden anrufen.«

Der Rezeptionist reißt die Augen auf und sieht sich in alle Richtungen um, bevor er antwortet. »Ich versichere Ihnen, dass wir tun, was wir können, um die Leitungen wieder …«

Weiter kommt er nicht, als aus dem Büro hinter der Rezeption ein schrilles Telefonklingeln zu hören ist. Ylva lächelt den Mann freundlich an.

»Die Leitungen scheinen wieder zu funktionieren.«

Der Rezeptionist blinzelt einige Male, räumt Papiere zur Seite und versucht sich an einem kläglichen Lächeln.

»Selbstverständlich. Einen Augenblick, bitte.« Er greift zu einem Hörer, tippt eine Nummer ein, anscheinend eine interne Nummer, und hat sofort jemanden am Apparat. Das Gespräch dauert keine halbe Minute. Er legt auf.

»Einen Moment.«

»Ich muss wirklich telefonieren.«

Hinter ihr sagt eine Stimme: »Guten Abend.«

Sie dreht sich um und sieht sich einem kräftigen Mann in weißem Hemd und dunkelblauem Anzug gegenüber, nicht grellgrün wie die Kleidung des Hotelpersonals. Sie registriert einen weißen Fleck in der braunen Iris seines rechten Auges. Er verzieht keine Miene, doch sein Blick hinter der Gleitsichtbrille wirkt müde.

»Guten Abend. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir behilflich sein könnten, in Schweden anzurufen.« Wieder erklärt sie, dass sie eine Gesandte der schwedischen Regierung ist, und zeigt ihren Pass.

Der Mann, der sich nicht vorgestellt hat, streckt fünf dicke Finger aus. Sie gibt ihm den Pass, der fast in seinen großen Händen verschwindet.

Er blättert stumm darin, dann sieht er den Rezeptionisten an und sagt etwas auf Bosnisch. Der Rezeptionist zeigt in das Büro, während er etwas erwidert. Sie diskutieren eine Weile. Schließlich macht der Mann eine auffordernde Geste, und der Rezeptionist stellt das Telefon auf den Tresen.

Ylva streckt die Hand nach dem Telefon aus, aber der Mann hebt die Hand mit dem Pass wie ein Stoppschild.

Er legt ihren Pass auf den Tresen, zieht das Telefon zu sich heran und wählt eine Nummer. Es folgt ein gedämpftes und abgehacktes Gespräch. Der Rezeptionist zieht die Schultern hoch und spitzt die Ohren. Der Mann im blauen Anzug schlägt den Pass auf und liest der Person am anderen Ende der Leitung irgendeine Angabe daraus vor.

Nachdem er aufgelegt hat, gibt er ihr den Pass zurück und schiebt das Telefon mit beiden Händen zehn symbolische Zentimeter in ihre Richtung. »Bitte sehr. Ein Anruf, dann müssen Sie zurück auf Ihr Zimmer.«

Ylva hat sich den Versuch, die Botschafterin zu erreichen, bereits aus dem Kopf geschlagen und wählt stattdessen die Nummer der Sicherheitsbeauftragten von Sida. Im Geiste schickt sie ein Stoßgebet zum Himmel. Und tatsächlich geht sie nach dem zweiten Klingeln dran.

»Sofia Nordin.«

»Hallo, Sofia, hier ist Ylva. Es ist …«

Ylvas Stimme versagt. Sie hustet einige Male, um sie wieder in den Griff zu bekommen.

»Du bist in Sarajevo, oder?«, fragt Sofia.

»Ja.«

»Ist was passiert?«

Ein entfernter Klingelton, schwingendes Läuten sanfter Glocken, das verstummt und nach einer kurzen Pause wieder einsetzt. Elias öffnet die Augen und blinzelt einen orange leuchtenden Fleck im Dunkeln an.

Sein Handy klingelt. Es liegt auf dem Wohnzimmertisch. Als er es schafft, den Blick zu fokussieren, wird aus dem orangen Fleck das Zifferblatt eines Weckers. Wer will morgens um halb vier etwas von ihm?

Er wundert sich, dass er doch noch eingeschlafen ist. Als das Bild von dem abgetrennten Gesicht schließlich verblasste, war es nach zwei.

Das Handy piepst hartnäckig weiter. Er dreht sich auf den Rücken und starrt in die Dunkelheit. Er muss aufstehen und drangehen, bevor das Klingeln die anderen weckt, schlägt die Bettdecke zur Seite und zwingt sich, die Füße auf den Boden zu stellen, aber er kommt zu spät.

Eine Tür geht auf, Schritte im Flur, dann wird zweimal fest an seine Tür geklopft.

»Elias, bist du da?«

Es ist Amanda.

»Ja«, flüstert er, unsicher, ob er zu hören ist.

Das Scharnier quietscht. Es ist zu dunkel, um sie zu erkennen.

Er streckt die Hand aus und knipst die Nachttischlampe an. Amanda kommt mit seinem Handy auf ihn zu. Auf dem Display leuchtet »Mari-Louise«.

»Deine Stiefmutter«, zischt Amanda.

Als er ihr das Telefon abnimmt, geht sie sofort aus dem Zimmer.

Seine Finger sind kalt und steif. Hellwach setzt er sich auf die Bettkante. Er spürt seinen Puls, genau da, wo das Brustbein endet, harte Schläge, die im ganzen Körper nachvibrieren. Es gibt nicht viele Gründe, aus denen Mari-Louise um diese Tageszeit anrufen würde.

Er ist jetzt ganz kalt, reglos wie ein spiegelglatter Dezembersee, der jeden Moment von einer Eisschicht überzogen wird.

»Elias, hier ist Mari-Louise.«

Ihre Stimme ist brüchig, heiser. Mit der Handykante am Ohr sitzt Elias stumm da, während sie sich sammelt. Er hört Amanda in der Küche den Wasserhahn aufdrehen, wickelt sich in die Decke und macht die Tür zu, die sie offen gelassen hat.

»Es geht um deinen Vater. Anders …«, krächzt Mari-Louise und verstummt.

Elias weiß schon, was sie zu sagen versucht. Seine Beine geben nach. Er sinkt auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und legt die Stirn auf Zygmunt Bauman, den sie morgen im Seminar besprechen wollen.

Ist er jetzt Waise? Vierundzwanzig Jahre alt und ganz allein auf der Welt. Er wartet, aber als nichts mehr kommt, muss er die Frage stellen: »Was ist passiert?«

»Ich weiß nicht genau. Es gab eine Explosion im Hotel und …«

Er betrachtet den roten Stuhl am Fenster, auf dem seine Kleidungsstücke einen unförmigen Haufen bilden. Zwei schwarze Socken liegen ein Stück entfernt auf dem Fußboden.

»Eine Explosion? Eine Bombe?«

»Es scheint, als wüssten sie das noch nicht. Sie sagen, er wird vermisst. Sie finden ihn nicht.«

»Wer sagt das?«

»Jemand von Sida hat mich angerufen.«

»Wer?«

»Niemand, den ich kenne. Ich kann mich nicht erinnern, aber ich habe mir den Namen aufgeschrieben. Wenn du kurz wartest …«

»Lass. Was genau haben sie gesagt? Er kann doch nicht einfach weg sein?«

»Er könnte verletzt und in ein Krankenhaus gebracht worden sein. Sie untersuchen das.«

»Er ist also nicht …«

»Nein. Sie wissen nicht genau, was passiert ist.«

Elias stützt sich mit einer Hand am Schreibtisch ab und steht auf. Es ist also nicht so schlimm, wie er zuerst dachte. Explosion und verschwunden ist schon schlimm genug, aber zumindest scheint er noch am Leben zu sein.

Er muss wissen, was passiert ist, muss es mit eigenen Ohren hören und nicht gefiltert durch Mari-Louises Verwirrung. »Ich komme nach Hause.«

»Ja, tu das«, sagt Mari-Louise. »Es wäre wirklich schön, wenn du kommen könntest.«

Ein ersticktes Schluchzen dringt an Elias’ Ohr.

»Ich nehme den ersten Zug.«

Neben dem Zug, der über die Uppsala-Ebene fährt, wirbelt Schnee auf, bleibt an den Fensterrahmen hängen und lässt nur schwarze Gucklöcher in die Januarnacht übrig. Es ist ein alter Zug. Elias hat sich in den mittleren Waggon mit den Sitzgruppen im offenen Großraum gesetzt.

Er hat seinen Vater vor sich gesehen, als er mit dem schweren Rucksack, in den er hastig Klamotten und Bücher gestopft hat, in der beißenden Kälte das letzte Stück der Dragarbrunnsgata entlangrannte, und er sieht seinen Vater noch immer vor sich. Das mittelblonde Haar, das er in letzter Zeit wieder etwas länger getragen hat. Der Blick, der immer herzlich ist, manchmal fordernd, aber nie hart oder verurteilend. Er war für Elias da, als seine Mutter starb. Er hat ihn unterstützt wie niemand sonst. Elias war achtzehn. An dem Tag hatte er das Gefühl gehabt, den großen und entscheidenden Schritt in die Erwachsenenwelt zu machen und das letzte bisschen seiner jugendlichen Bockigkeit hinter sich zu lassen.

»Der Prophet!«

Im Gang steht eine groß gewachsene Gestalt in beigem Dufflecoat mit grau-grüner Wollmütze auf dem Kopf und schwankt im Takt der unregelmäßigen Zugbewegungen hin und her.

Prophet ist er seit dem Gymnasium nicht mehr genannt worden und auch damals nicht besonders oft.

Elias kann den schwankenden Typen nicht einordnen, aber sie scheinen gleich alt zu sein. Es muss ein ehemaliger Klassenkamerad oder jemand aus seiner alten Schule sein.

»Der Prophet. Mann, ist das lange her.«

Er lässt sich auf die Sitzreihe gegenüber sinken, stellt seinen schwarzen Baumwollrucksack zwischen den Füßen ab und lacht.

»Erkennst du mich nicht?«

In der fünften Klasse hatte der Lehrer sie gefragt, ob sie die Bedeutung ihrer Namen kennen würden. Einige hatten überhaupt keine Ahnung, andere hatten eine kurze Antwort parat, der Heilige, die Schöne, der Sieger, aber Elias erzählte die ganze Geschichte aus dem Alten Testament, die ihm wiederum sein Vater erzählt hatte, von Elia, Gottes einzigem Propheten zu der Zeit, der die Propheten Baals aufforderte, die Existenz ihres Gottes zu beweisen. Elia gelang, woran andere gescheitert waren, und er ließ die vierhundertfünfzig falschen Baalspropheten töten.

Es lag vermutlich eher am Eifer als am Inhalt, dass seine Klassenkameraden Blut leckten. Elias hatte zu lange geredet, wusste zu viel über eine verstaubte Geschichte aus der Bibel und glaubte lächerlicherweise, sie hätte irgendetwas mit ihm zu tun.

Der Prophet war kein freundlicher Spitzname. Das sperrige Wort wurde drei Schuljahre lang mit herablassendem Tonfall ausgesprochen.

In der Achten oder Neunten war der Spitzname kaum noch zu hören. Und in der Oberstufe benutzte er ihn selbst ab und zu, wenn er Beiträge für die Schülerzeitung ins Netz stellte oder unter dem Deckmantel einer erfundenen Person etwas auf Facebook postete. Das war seine Art, den Namen für sich zu erobern, ihn sich anzueignen. Es verschaffte ihm Genugtuung. Eine Zeit lang lebte der Name in einem kleinen Kreis wieder auf, wurde mit einer gewissen, fast koketten Ehrfurcht verwendet. Er war reine Fiktion, aber Elias gefiel er. Dann geriet er in Vergessenheit.

»Du hast wirklich keine Ahnung, gib’s zu.«

»Nein, habe ich nicht«, antwortet Elias aggressiv.

Der Platz vor ihm ist leer. Ungläubig starrt er auf das dunkelbraune Kunstleder, sieht sich im Waggon um. Oberhalb der Rückenlehnen der anderen Sitzgruppen sind einzelne Köpfe zu sehen, aber keiner mit Wollmütze. Der Zug rattert weiter durch die Winternacht.

Er muss geträumt haben. Einen aufdringlichen, extrem plastischen Traum, aber anders kann er es sich nicht erklären.

Vierzig Minuten später geht er vom Stockholmer Hauptbahnhof direkt zu den schwarzen Taxis, die in einer Reihe warten. Keine Schlange um diese Zeit. Er übergibt dem Taxifahrer den Koffer, setzt sich auf die Rückbank und bittet ihn, in den Karlbergsväg 40 zu fahren. Der Taxameter leuchtet im Dunkeln, als sie sich in den Verkehr auf der Vasagata einfädeln.

Die Sorge über die Diagnose des Neurochirurgen ist vorübergehend in den Hintergrund gerückt. Ein Übel ist durch ein anderes ersetzt worden. Bosnien-Herzegowina, ein Land, in dem er noch nie gewesen ist. Die Jugoslawienkriege waren schon kompliziert und schwer verständlich, als sie stattfanden, aber mittlerweile sind sie ein Paradebeispiel dafür, wie schlummernder Nationalismus mithilfe von Lügen und Manipulation zum Leben erweckt und benutzt wird, um Nachbarn gegeneinander aufzuhetzen.

Sein Vater war in den meisten Ländern auf dem Balkan gewesen, mehrmals, genau wie im Mittleren Osten, in Nordafrika, Zentralasien und in einigen Ländern südlich der Sahara, aber noch nie ist Elias der Gedanke gekommen, die Reisen könnten gefährlich sein. Nicht einmal, wenn sein Vater im Mittleren Osten unterwegs war, hat er sich übermäßig Sorgen gemacht.

Und jetzt eine Explosion. Was mag das bedeuten? Hat er Splitter abbekommen? Ist ihm ein Fuß abgerissen worden? Ein ganzes Bein?

Elias bezahlt das Taxi und tritt durch die Haustür, über der die Jahreszahl 1907 in den Torbogen eingemeißelt ist. Er fährt mit dem Aufzug in den dritten Stock, aber als er vor der Wohnungstür steht, kann er seinen Schlüssel nicht finden. Er drückt auf den Klingelknopf. Der Klang ist ihm immer noch fremd.

Als sein Vater ihm erzählte, dass er mit Mari-Louise zusammenziehen würde, empfand Elias das zunächst als Verrat. Als ob sein Vater die Erinnerung an seine Mutter auslöschen wollte. Mari-Louise hatte ihm schnell den Wind aus den Segeln genommen, und jetzt kommt er meistens ganz gut mit ihr zurecht. Jedenfalls besser als mit seinem Stiefbruder Markus.

Die Tür geht auf.

»Elias.«

Mari-Louise ist blass, ihre Augen rot gerändert, das Haar ist ungekämmt, und die Schultern unter dem dicken weißen Wollpullover hat sie hochgezogen. Sie streckt die Arme aus, um ihn an sich zu ziehen. In dieser Sekunde, bevor sie ihn umarmt, offenbart sich ihm eine Mari-Louise, die er noch nie gesehen hat. Der normalerweise scharfe Blick geht ins Leere, als würde sie durch ihn hindurchschauen oder gar nichts wahrnehmen und vollkommen verloren sein. Der Körper in seinen Armen zittert und atmet keuchend ein. Elias streicht ihr vorsichtig über den Rücken.

»Hast du was Neues gehört?«

Sie schüttelt den Kopf. »Aber es kam in den Nachrichten.«

»Echt, was haben sie gesagt?«

»Nur ganz kurz.«

Mari-Louise streckt sich, und Elias zieht die Hände zurück.

»Im Radio«, fährt sie fort. »Sie haben keine Namen genannt. Explosion in einem Hotel in Sarajevo. Laut Angaben des Außenministeriums könnte ein schwedischer Staatsangehöriger zu Schaden gekommen sein. So ungefähr.«

»Über die Explosion haben sie nichts gesagt? Ob es eine Bombe war, ein Unfall oder …«

»Nein, nichts.«

Mari-Louise holt seinen Koffer herein und schließt die Tür. In allen Räumen brennt Licht. Im Esszimmer, im Wohnzimmer, in der engen, altmodischen Küche und in Mari-Louises Schlafzimmer.

Es ist eine große Wohnung. Mari-Louise wohnte bereits seit zwölf Jahren hier, als sein Vater beschloss, das Einfamilienhaus in Tyresö zu verkaufen und zu ihr in die Altbauwohnung mit den hohen Decken zu ziehen. Seitdem sind vier Jahre vergangen.

»Das Bett in deinem Zimmer ist bezogen«, sagt Mari-Louise, »aber ich weiß nicht, wie lange schon. Ich hole dir besser frische Bettwäsche. Du bleibst doch?«

»Ich bleibe«, sagt Elias, »aber das Bett ist jetzt nicht so wichtig.«

»Natürlich, entschuldige, ich dachte nur … Häng doch erst mal deine Jacke auf.« Sie sieht sich hastig um. »Warum melden die sich nicht? Sie müssen doch wissen, dass wir auf heißen Kohlen sitzen. Das ist … unmenschlich.«

Sie bedeckt die Augen mit der Hand und weint zurückhaltend und verkrampft.

»Nicht weinen.«

Elias macht einen Schritt auf sie zu, zögert kurz, aber dann zieht er sie genauso an sich, wie Mari-Louise es kurz zuvor mit ihm gemacht hat. Sie weint weiter. Seine Schulter wird feucht.

»Dass sie nicht wissen, wo er ist, könnte doch auch ein gutes Zeichen sein«, sagt er. »Bestimmt ist er in ein Krankenhaus gebracht worden, und sie haben nur noch nicht herausgefunden, in welches.«

»Mein Gott, Sarajevo, man kann sich doch vorstellen, wie die medizinische Versorgung dort aussieht.«

Er steht noch eine Weile so da und hält sie fest, aber dann zieht er sich aus der Umarmung zurück. Sie sind sich körperlich noch nie so nah gewesen. Eine Begrüßungsumarmung, das schon, aber nicht so. Es kommt ihm merkwürdig vor, insbesondere wenn sein Vater nicht da ist, wenn sein Vater vielleicht sogar …

»Warum erfahren wir nichts?«

Sie ist nicht sie selbst. Durcheinander und irgendwie alt. Das ist Elias noch nie aufgefallen. Er dirigiert Mari-Louise auf einen Stuhl und übernimmt das Kommando. Er weiß, dass er das schafft, aber es geht nicht ohne Kampf. Tief in ihm zieht ihn etwas nach unten, drängt ihn, sich in seinem Zimmer einzuschließen und zu heulen.

Er zieht den blauen Parka aus und wirft ihn auf den Koffer. »Wer hat dich angerufen? Hast du die Nummer gefunden?«

»Ja, sie liegt neben dem Telefon«, sagt Mari-Louise und geht vor ihm durch das Wohnzimmer in das frühere Servierzimmer vor der Küche.

Das Telefon steht auf einem dreibeinigen Hocker in der Ecke. Mari-Louise greift nach dem Block neben dem alten Tastentelefon. Der Tisch wackelt. Er stammt aus dem Haus in Tyresö und hat schon immer gekippelt.

»Hier.« Sie reicht ihm den Block. Ihre Handschrift ist fahrig, aber leicht zu lesen. Sofia Nordin und daneben eine Telefonnummer.

»Ist das eine Kollegin von Papa?«

»Das glaube ich nicht. Es war ja nach drei, als sie anrief. Bestimmt nur jemand, der zufällig Nachtdienst hatte.«

»Aus seiner Abteilung hat sich niemand gemeldet?«

»Nein, außer ihr hat keiner angerufen.« Mari-Louise zeigt auf die Nummer.

»Ich versuche mal, sie zu erreichen«, sagt Elias. Er wählt die Nummer mit seinem Handy und lauscht angestrengt zwischen den Freizeichen.

»Sofia Nordin«, sagt eine nächtlich verkratzte Stimme.

»Guten Morgen, hier ist Elias Ferreira Krantz, der Sohn von Anders Krantz.«

»Oh, guten Morgen. Zunächst einmal muss ich …«

»Wissen Sie mehr über meinen Vater? Haben die ihn inzwischen gefunden?«

»Es tut mir leid, aber ich muss Sie bitten, sich von mir zurückrufen zu lassen.«

»Ach. Und wann?«

»Nein, also, ich muss Sie zurückrufen. Aus Geheimhaltungsgründen.«

Er benötigt einen zusätzlichen Atemzug, um zu verstehen, was Sofia Nordin meint.

»Können Sie meine Nummer nicht sehen?«

»Bedaure, aber das sind unsere Vorschriften.«

»Okay, dann lege ich auf.«

Elias klickt das Gespräch weg. Mari-Louise sieht ihn fragend an.

»Sie muss zurückrufen.«

Das macht die Sache nicht klarer.

»Um sicherzugehen, dass …«

Das Handy klingelt in seiner Hand. Elias setzt sich auf den dreibeinigen Stuhl zwischen dem Tisch und dem hohen Servierschrank. Der Block liegt griffbereit auf seinem Schoß, falls er etwas notieren muss.

»Hallo, Elias hier.«

»Hallo«, sagt eine exaltiert freundliche Stimme, ganz und gar nicht die von Sofia Nordin. »Rebecka Holmgren, Journalistin vom Expressen. Spreche ich mit Elias Ferreira Krantz?«

Ylva liegt mit ihren roten Turnschuhen auf dem Bett, um jederzeit für Feuertreppen gerüstet zu sein, falls der Alarm losgeht. Sie starrt an die Decke, bemerkt den Rauchmelder am anderen Ende des Raums, spürt das kratzige Brokatmuster der Tagesdecke unter ihren Handflächen. Seit der Explosion im Hotel Europe sind zwölf Stunden vergangen. Sie hat kurz geschlafen. Geschlummert. Wie lange? Zwei, drei Stunden?

Der Schlafmangel macht ihre Gedanken unscharf.

Was wollte Anders an der Rezeption?

Wie war es, als die Bombe explodierte? War er nah dran?

Die Hoffnung, dass er nicht dort war, sondern noch in seinem Zimmer oder im Fahrstuhl auf dem Weg nach oben, hat sie aufgegeben.

Seine Rippen unter ihren Fingern. Die Aktentasche auf dem Schreibtischstuhl.

Raus jetzt.

Ruckartig setzt sie sich auf, um die Bilder zu verscheuchen, reibt seufzend ihre Oberschenkel. Sie kann nichts tun, sie ist in ihrem Zimmer eingesperrt und hat keinen Kontakt zur Außenwelt, die Telefonleitung ist unterbrochen oder besser gesagt abgeschaltet, das Handy hat man ihr weggenommen. Sie hat versucht, sich mit ihrem Computer ins Internet einzuloggen, ist aber nur bis zum hoteleigenen Intranet gekommen, das über Frühstückszeiten, Zimmerservice und die Spa-Abteilung im Keller informiert.

Es klopft an der Tür. Dreimal. Kurz und nicht übertrieben laut. Sie steht vom Bett auf, fast sicher, dass auch diesmal jemand ins Zimmer stürmt, bevor sie geantwortet hat, aber als sie den Spion erreicht, ist die Tür noch geschlossen. Sie schiebt das Messingplättchen zur Seite und schaut in den Gang.

Der Mann vor der Tür trägt eine dunkelblaue Uniform mit einem gelben Abzeichen, auf dem ein Schild vor zwei gekreuzten Schwertern und die Abkürzung SIPA zu sehen ist. Er steht dicht vor der Tür, fixiert einen Punkt neben dem Spion und hat die eine Hand vor die andere gelegt wie ein Fußballspieler, der beim Freistoß schützend sein Geschlecht bedeckt. Er ist von der State Investigation and Protection Agency, ein Beamter der Bundespolizei, der sich mit Völkermord, organisiertem Verbrechen, Terrorismus und Korruption beschäftigt. Vorsichtig macht Ylva auf.

»Mrs Grey?« Der Mann lächelt kaum merklich. Sein Blick und die dichten Augenbrauen streben in eine andere Richtung.

»Ja?«

»Bratza Prskalo, SIPA Sarajevo.«

Ylva drückt die ausgestreckte Hand.

»Wären Sie so freundlich, mich zu begleiten?«, fragt er.

»Wohin?«

»Wir möchten Sie als Zeugin befragen.«

»Aha.« Sie nickt. »Selbstverständlich. Ich komme.«

Die polizeiliche Vernehmung erscheint ihr wie eine Befreiung, sie kann das Zimmer gar nicht schnell genug verlassen. Ohne weitere Fragen zu stellen, schnappt sie sich ihre Handtasche und nimmt den Mantel vom Haken hinter der Tür. Wird sie endlich etwas über Anders erfahren?

Sie fahren in einem schwarzen Volkswagen auf der großen Durchgangsstraße. Es ist noch früh, erst kurz nach acht, aber in der Stadt herrscht dichter Verkehr. Es geht langsam voran. Hinter einer grauen Wolkendecke ist soeben die Sonne aufgegangen. Nichts deutet auf Unruhen hin, keine über das normale Maß hinausgehende Militärpräsenz. Kurz vor dem Flughafen biegt der Polizeibeamte links ab.

Irgendwo hier verläuft die Grenze zum östlichen Sarajevo, das in der Republik Serbien liegt. Angeblich blüht an der Grenze die Kriminalität, weil niemand genau weiß, welche Polizei zuständig ist. Oft kommt gar keine, weil beide Behörden sich gegenseitig die Verantwortung zuschieben.

Fünf Minuten später fahren sie durch ein Tor auf ein eingezäuntes Gelände, auf dem eine Art betongraue, plattenverkleidete Festung steht. Ylva erhascht nur einen Blick auf das Gebäude, bevor sie durch eine Seitentür hineingeführt wird.

Der Polizeibeamte bringt sie durch ein verglastes Treppenhaus in den ersten Stock und lässt sie allein in einem kahlen, fensterlosen Raum zurück, dessen Wände so grau sind wie das Gebäude von außen. Sie sitzt am Kopfende eines Tisches und wartet. Durch den Korridor hallen Schritte. Immer wieder rechnet sie damit, dass die Tür aufgeht und der Mann zurückkommt, aber es dauert. Als die Tür schließlich geöffnet wird – es sind bestimmt zwanzig Minuten vergangen –, tritt eine Frau ein. Sie sieht etwas jünger aus als Ylva, Mitte dreißig, tippt sie. Das rotbraune Haar fällt lockig über die Schultern ihres grauen Blazers.

Ylva versteht den Namen nicht richtig, als sie sich vorstellt, kann ihn aber auf dem Schild lesen, das der Frau an einem dunkelblauen Band um den Hals hängt. Gordana. Der Nachname verbirgt sich unter dem Revers.

Die SIPA-Beamtin Gordana mit dem unbekannten Nachnamen setzt sich in gebührendem Abstand ans andere Kopfende, legt einen schwarzen Füller auf den Tisch und blättert umständlich in ihren Unterlagen.

Gordana blickt zu ihr auf, dunkle Augen unter hochgezogenen Augenbrauen.

»Wo befand sich Anders Krantz, als Sie ins Restaurant im Dachgeschoss hinauffuhren?«

Sie spricht gut Englisch, nahezu akzentfrei. Es ist eher die Betonung als die Aussprache, die sie verrät.

»Ich weiß es nicht genau«, antwortet Ylva. »Aber er hat einem Kollegen per SMS geschrieben, dass er noch mal runter zur Rezeption müsste.«

»Es hat ihn aber keiner von Ihnen dort gesehen?«

»Soweit ich weiß, nicht. Wir waren oben im Restaurant verabredet. Diejenigen, die von außerhalb kamen, müssen in der Lobby eingetroffen sein, bevor er an der Rezeption war.«

Gordana schiebt ihre Unterlagen ein Stück zur Seite. »Hatten Sie persönlichen Kontakt zu Anders Krantz, nachdem Sie nach Ihren Terminen gestern ins Hotel zurückgehrt waren?«

Das fängt ja gut an.

»Ja, hatte ich«, antwortet sie.

Gordana wartet geduldig, fragt nicht nach. Als sie sich aufrichtet, verrutscht ihr Ausweisschild ein wenig. Der Nachname beginnt mit »Sem«, der Rest ist immer noch verdeckt. Merkt sie, dass Ylva krampfhaft überlegt, was sie antworten soll, ohne zu lügen oder wenigstens so wenig wie möglich?

»Er hatte noch eine Frage. Es ging um ein Detail. Wir wollten uns oben treffen.«

Raus jetzt.

Ihr wird heiß. Sie hat das Gefühl, die Polizeibeamtin könnte in sie hineinschauen.

»Wieso ist Anders Krantz zur Rezeption hinuntergefahren?«

»Das frage ich mich auch«, erwidert Ylva. »Ich weiß es wirklich nicht.«

»Wie lange ist Anders Krantz schon bei Sida angestellt?«

»Noch nicht lange. Seit einem Jahr etwa.«

Ein Jahr und dann das hier. Sie fühlt sich schuldig, vollkommen irrational, aber so ist es. Die merkwürdigen Fragen machen es nicht besser. Johannes Becker, Staatssekretär der Ministerin für technische Zusammenarbeit, hat Anders entdeckt und für den Posten als Leiter der Balkaneinheit empfohlen. Obwohl sie auf Johannes’ Urteil vertraut, hatte sie sich darüber geärgert. Normalerweise mischte sich das Ministerium in die Besetzung von Stellen auf diesem Niveau nicht ein. Sie wollte sich ihre Mitarbeiter selbst aussuchen und sie nicht von oben aufgezwungen bekommen. Doch als sie Anders kennengelernt und seine Referenzen gesehen hatte, verflog ihr Ärger rasch. Er war genau der Richtige.

»Wissen Sie schon irgendwas Neues?«

Gordana sieht sie fragend an.

»Über Anders? Über die Vorfälle?« War es zu salopp, ihn nur beim Vornamen zu nennen? Zu schwammig? »Anders Krantz«, verbessert sie sich.