Die Stunde des Propheten - Håkan Östlundh - E-Book
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Die Stunde des Propheten E-Book

Håkan Östlundh

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Beschreibung

Der zweite Band der neuen, großartigen Thriller-Trilogie aus Schweden – rasant, clever geplottet und brandaktuell!

Ein halbes Jahr ist es her, dass Elias Krantz' Vater bei einem Bombenanschlag in Sarajevo getötet wurde. Die Spur verfolgten Elias und seine Verbündete, die Diplomatin Ylva Grey, bis in die höchsten Kreise der schwedischen Regierung und zu machtvollen Geschäftsleuten, die ihre Interessen um jeden Preis durchsetzen. Elias, angetrieben von Rache, ist jetzt für den schwedischen Geheimdienst im Einsatz. Sein Auftrag: Er soll das zwielichtige Unternehmen von Eric Hands infiltrieren – einem der Drahtzieher des Sarajevo-Anschlags und zentrale Figur einer Intrige, die ganz Europa in den Abgrund zu stürzen droht. Auf Gotland kommt er Hands gefährlich nah …

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Seitenzahl: 462

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Buch

Cannes: Elias Krantz ist für eine geheime schwedische Sondereinheit an der exklusiven Côte d’Azur im Einsatz. Unter dem Decknamen Tom White alias Der Prophet soll er an den Unternehmer Eric Hands herankommen – den Mörder seines Vaters und zentrale Figur einer Intrige, die ganz Europa in den Abgrund zu stürzen droht. Doch bald weiß Elias nicht mehr, wem er bei seiner Mission überhaupt noch trauen kann …

Stockholm: Karolina Möller, Elias’ Kontakt bei der geheimen schwedischen Sondereinheit, schreckt durch ein verdächtiges Geräusch aus dem Schlaf. In letzter Sekunde kann sie den Auftragskiller in ihrem Haus erschießen. Sie weiß: Sie müssen an ihrer Operation gegen Eric Hands und sein Netzwerk festhalten, auch wenn die Sondereinheit und allen voran Elias dadurch in große Gefahr geraten.

Sarajevo: In der flirrenden Hitze der bosnischen Hauptstadt nutzt die schwedische Diplomatin Ylva Grey ihre Kontakte, um ihren Verbündeten Elias zu unterstützen. Als sie an zwei Fotos gelangt, aufgenommen nur wenige Minuten vor dem Bombenanschlag, bei dem Elias’ Vater getötet wurde, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit …

Weitere Informationen zu Håkan Östlundh sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

HÅKAN ÖSTLUNDH

DIE STUNDE

DES

PROPHETEN

DIE ELIAS-KRANTZ-TRILOGIE 2

Thriller

Aus dem Schwedischen von Katrin Frey

Die schwedische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Den falska profeten« bei Bokförlaget Polaris, Stockholm.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2021

Copyright © Håkan Östlundh 2019

by Agreement with Grand Agency

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: FinePic®, München; Stocksy/Boris Jovanovic

Redaktion: Maike Dörries

KS · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-24961-8V001

www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Einen Steinwurf entfernt das nächtliche, den Geruch von Salz verströmende Mittelmeer, das sich mit leisen Seufzern immer wieder von den Stränden zurückzieht, gleich hinter ihm die Croisette mit den Palmen, Pinien und den von Scheinwerfern angestrahlten Luxushotels. Es ist der einundzwanzigste August. Elias sitzt mit William Retzius vor zwei halb leeren Gin Tonics auf der Terrasse des Hotel Martinez. Die Schwedensaison an der Riviera neigt sich ihrem Ende zu, die französische erreicht gerade den Höhepunkt.

Er zieht das vibrierende Handy aus der Innentasche seines Blazers. Leichter Schwindel erfasst ihn, als er »Jenny« auf dem Display sieht, sein Tarnname für Ylva.

»Geh ruhig dran«, sagt Wille. »Ich muss sowieso aufs Klo.«

Wille zwängt sich zwischen den Tischen hindurch. Elias hält das Handy unschlüssig in der Hand. Wille darf auf keinen Fall mitbekommen, dass Elias mit Ylva spricht.

Elias wohnt im Hotel Martinez in Cannes in einer der kleineren Suiten mit französischem Balkon und einem atemberaubenden Blick auf das Mittelmeer, das an einem windstillen Sommertag eher türkis als azurblau leuchtet. In dem von vornherein zum Scheitern verurteilten Versuch, Massentourismus, verschwenderische Dekadenz und französischen Alltag unter einen Hut zu bringen, läuft die Stadt auf Hochtouren. Er investiert seit zwei Wochen in seine Bekanntschaft mit William Retzius. Wille studiert Jura und stammt aus einer wohlhabenden Stockholmer Familie. Seine Eltern sind Rechtsanwälte, aber nicht so vermögend wie viele Familien in seinem Freundeskreis. Und eben wegen dieser Beziehungen bemüht Elias sich so, Willes Freund zu werden.

Darum hat er bis in die Morgenstunden in exklusiven Clubs wie dem Baolo und dem Gotha abgefeiert, in sauteuren Restaurants gebruncht und sogar einen Wasserskiausflug überstanden, ohne seine Würde zu verlieren.

In diesen Kreisen muss immer wieder aufs Neue die Männlichkeit in Form von Trinkfestigkeit, körperlicher Fitness, Attraktivität und Zahlungsfähigkeit unter Beweis gestellt werden. So kommt es Elias jedenfalls vor, während Wille und seine Freunde vielleicht gar nicht darüber nachdenken, weil diese Dinge für sie einfach dazugehören.

Die nie versiegenden Ströme von Champagner und hochprozentigem Alkohol bereiten ihm in gewisser Weise die größten Schwierigkeiten. Seit der Operation soll Elias nur noch in Maßen trinken, am besten gar nicht. Die operative Entfernung des Tumors hinter seiner Schädelwand liegt jetzt sieben Monate zurück, aber er hat trotzdem keine Lust, sein Gehirn unnötigen chemischen Belastungen auszusetzen. Außerdem muss er sich auf seinen Auftrag konzentrieren. Er sieht sich sicherheitshalber um, bevor er sein Getränk in den großen Topf einer struppigen Palme schüttet.

Er hat Wille vor zwei Wochen in der Strandbar vom Martinez kennengelernt und sich langsam, aber sicher herangetastet, bei jedem Vorschlag – Wasserski! – begeistert angebissen und hin und wieder selbst die Initiative ergriffen, ohne sich aufzudrängen, mit Einladungen zum Brunch oder einmal zu einem Sieben-Gänge-Menü in einem alten Schloss oben in den Bergen, wo sich pünktlich zum Dessert das Dach öffnete und den Blick auf den Sternenhimmel freigab. Er hatte die Rechnung für die fünf Leute übernommen.

Der Abend ist jung und noch lange nicht vorbei. Elias winkt einem Kellner und bestellt noch einen Gin Tonic, damit er in dem Moment serviert wird, wenn Wille zurückkommt. Will er zeigen, dass er in Stimmung ist, kann er nicht nur dasitzen und in ein leeres Glas starren.

Er steckt das Handy wieder ein. Er trägt eine ausgewaschene Levi’s 501, braune Mokassins von Weston, einen dunkelblauen Blazer über einem hellblauen, am Kragen offenen Charvet-Hemd, das halblange Haar lässig aus dem Gesicht gestrichen und am Handgelenk eine Vintage-Omega, die er angeblich von seinem Vater geerbt hat. Eine Art Standarduniform für junge Männer ohne Geldsorgen aus Paris.

Nicht dass Wille das Stockholmer Pendant repräsentieren würde. Er trägt alte Segeltuchschuhe, Jeans und ein lässiges weißes Hemd. Seine kastanienbraunen Locken machen, was sie wollen. Elias kann sich seinerseits keine Experimente erlauben. Er wäre gerne mehr als eine Kopie, will aber auf keinen Fall als Exzentriker auffallen. Der französische Look muss für die persönliche Note reichen. Heute ist er sogar in farbigen Shorts über die Croisette spaziert, was ihm einiges an Selbstbeherrschung abverlangt hat.

Er spürt eine Hand auf der Schulter, als Wille sich hinter ihm durchschlängelt und auf den Stuhl gegenüber fallen lässt. Wille zündet sich eine Pall Mall an und bläst den Rauch rücksichtsvoll zur Seite aus, während der Kellner Elias’ neuen Gin Tonic auf den Tisch stellt.

»Lass ihn stehen oder trink ihn auf ex«, sagt Wille.

»Wieso das?«

»Wir ziehen weiter.«

Elias zieht die Augenbrauen hoch.

Wille grinst. »Es wird dir gefallen.« Mehr sagt er nicht.

»Wie geheimnisvoll«, sagt Elias. Er winkt dem Kellner erneut, um zu bezahlen.

»Mann, siehst du nervös aus.« Wille lacht.

Tatsächlich? Er muss dringend seine Mimik besser kontrollieren.

Wille klatscht einmal in die Hände, ein Tick, der ihn unvermeidlich überkommt, wenn er lacht.

Sie laufen auf der Croisette nach Osten, Wille hat eine Zigarette im Mundwinkel und schreitet lang aus. Elias fragt sich, ob ihm wieder eine durchzechte Nacht bevorsteht, bei der nichts herauskommt. Er weiß, dass es falsch ist, so zu denken. Dass er Wille innerhalb von kürzester Zeit so nahegekommen ist, ist an sich schon ein Erfolg, und ihm ist bewusst, dass er diese Bekanntschaft noch monatelang wird pflegen müssen, bis sie Früchte trägt.

Wille ist ein netter Kerl, aber die endlosen und in gewisser Weise monotonen Partys öden Elias an. Er versteht nicht, was Wille davon hat. Ist er Alkoholiker? Oder geht es ihm um die Mädchen, die er mit ins Hotel nimmt?

We’re up all night to the sun,

we’re up all night to get some.

We’re up all night for good fun,

we’re up all night to get lucky.

Der fünf Jahre alt Hit von Daft Punk darf auf keiner französischen Tanzfläche fehlen. Get lucky.

Willes Handy klingelt. Er zieht es aus der Tasche und hält es sich ans Ohr.

Sie biegen rechts ab zum Hafen, lassen die Lichter der Croisette und das majestätische Carlton mit den wehenden Fahnen über dem protzigen Eingang hinter sich. In der Bucht funkeln die Lampen der Boote, die dort vor Anker liegen.

»Wir warten am Ende des Kais«, sagt Wille ins Handy. »Nee, aber …« Er wird unterbrochen und schnappt nach Luft. »Okay, verstehe … Alles klar, kapiert. Tom und ich warten da auf euch … Nein, nein, er ist superrelaxt, du wirst …« Er nickt und brummt zustimmend. »Okay, nice.«

Wille klickt das Gespräch weg und sieht Elias zufrieden an. Ohne es zu merken, ist Wille noch schneller geworden. So aufgedreht hat Elias ihn noch nie erlebt.

»Du wirst Richard mögen«, sagt er.

Elias erstarrt mitten in der Bewegung, ein Bein schwebt in der Luft. Als hätte auch sein Gehör ausgesetzt, wird es für einen Moment ganz still. Dann schwellen die Geräusche wieder an: das Verkehrsrauschen, das Lachen in den Bars und der charmante Klang französischen Small Talks.

Richard. Kein seltener Name. Aber William Retzius ist mit Richard Hands befreundet, und der einzige Grund, warum Elias sich seit zwei Wochen bemüht, Willes Freund zu werden.

Richard Hands ist der Sohn von Eric Hands, Haupteigner des Atlas-Konzerns und dafür verantwortlich, dass Elias’ Vater am sechzehnten Januar dieses Jahres in Sarajevo von einer Bombe zerfetzt wurde.

Während er neben Wille herläuft, spürt er den Alkohol. Hat er doch mehr getrunken als gedacht, obwohl er heimlich eine ganze Menge weggeschüttet hat, oder ist er einfach von der Situation überrollt? Noch vor Kurzem hat er befürchtet, es würde Monate dauern, etwas zu erreichen, und nun geht ihm alles viel zu schnell, am liebsten würde er sich unter einem Vorwand zurückziehen.

Aber das kommt nicht infrage. Wer weiß, ob sich noch einmal so eine Gelegenheit ergibt.

Sie kommen an gigantischen Motorjachten vorbei, die die Ausmaße von kleineren Finnlandfähren haben und so aussehen, als könnten sie nur von Titanen gelenkt werden. Vermutlich ist genau dieser Eindruck beabsichtigt.

Elias fragt sich, ob eine von ihnen ihr Ziel ist, aber an Bord der meisten ist es still und dunkel. Auf einigen Jachten ist Wachpersonal zu sehen, aber auch an denen gehen sie vorbei.

Das Meer riecht nach Salz, aber auch nach Algen und irgendwie brackig. Ein irritierender Hauch von Vergänglichkeit, der in der Luft liegen wird, bis im Herbst das Wasser abkühlt.

Sie gehen bis ans Ende des Stegs. Tom und ich warten da auf euch, hatte Wille mit einer gewissen Unterwürfigkeit in der Stimme gesagt.

»Fahren wir raus?«, fragt Elias.

»Yes.«

Wille zündet sich eine neue Zigarette an, will Elias auch eine anbieten, hält aber mit entschuldigendem Schnaufen mitten in der Bewegung inne. Die Flamme seines Feuerzeugs flackert auf und hinterlässt einen leuchtenden orangen Punkt, der mit Willes gestikulierender Hand durch die Dunkelheit fährt.

»Wer ist dieser Richard?«, fragt Elias.

»Du wirst ihn mögen«, wiederholt Wille, ohne das weiter zu vertiefen.

Nach einer Weile hören sie draußen in der Bucht das Dröhnen eines Motors. Ein Schlauchboot mit festem Rumpf brettert über die ruhige Wasseroberfläche auf sie zu. Als Elias sich umdreht, sieht er eine weiße Zodiac mit Sonnendach an den Anleger gleiten.

»Richard!«

Wille hebt zur Begrüßung die Hand und stellt sich an die Kante, um einen Tampen entgegenzunehmen, aber der Bootsführer, ein blonder Mann in ihrem Alter, verlässt den Steuerstand, hält sich mit einer Hand am Kai fest und winkt sie mit der anderen ins Boot.

»Macht schon.«

Wille steigt als Erster ein, Elias folgt ihm, stellt einen Fuß auf das fest aufgepumpte Gummi, spürt, wie Richard kurz über dem Ellbogen seinen Oberarm umfasst, um ihm Halt zu geben, und springt ins Boot. An Bord befindet sich noch eine weitere Person, ein Mädchen, auch sie schätzungsweise um die fünfundzwanzig. Das lange blonde Haar dezent gewellt sitzt sie in einem schneeweißen Jumpsuit auf der hinteren Bank.

Nachdem Wille und Richard sich auf jungenhafte Art umarmt und eine Reihe von Begrüßungsfloskeln ausgetauscht haben, gibt Richard Elias die Hand.

»Richard Hands, nett, dich kennenzulernen.«

»Tom White, ganz meinerseits.«

Er hat das Gefühl, das Gleichgewicht zu verlieren, über Bord zu gehen, ins dunkle Wasser zu stürzen. Er ist es wirklich, Richard Hands, der Sohn des Mörders.

»Tom White und nicht Max White wie die Zahnpasta, oder?«, gibt Richard prompt zurück und schlägt sich die Hand vor den Mund. »Ich und mein loses Mundwerk, entschuldige. Willkommen an Bord.« Er drückt Elias’ Schulter, lacht laut und wirkt kein bisschen schuldbewusst. Das Mädchen auf der hinteren Bank sieht ihn vorwurfsvoll an, aber dann muss auch sie lachen. Sie steht auf und kommt auf ihn zu.

»Jennifer McNamara.« Sie spricht Englisch mit amerikanischem Akzent. »Nimm es ihm nicht übel. Er hat Tourette oder so.«

Offenbar versteht sie ganz gut Schwedisch. Ihren amerikanischen Dialekt kann er nicht einordnen, tippt aber auf Westküste.

»Tom White, freut mich.«

»White. Bist du Engländer?«

»Mein Vater war Engländer.«

»Setzt euch, wir fahren los.«

Richard zeigt auf die Bank. Alle drei setzen sich hin, Elias in die Mitte.

»War?«, hakt Jennifer nach.

»Ja, er ist tot.«

»Oh, tut mir leid.«

»Danke, ist lange her.«

Richard legt ab und gibt Vollgas. Das Boot hebt ein Stück vom Wasser ab und schießt über die Bucht. Hinter ihm dröhnen die beiden Motoren, was Elias ganz recht ist. So kann Wille ihn nicht hören, als er sich zu Jennifer hinüberbeugt und ihr ins Ohr brüllt: »Wo fahren wir hin?«

»Hat dir William das nicht gesagt? Richards Vater hat hier draußen seine Jacht.«

Elias’ Herz überschlägt sich. Ganz langsam holt er tief Luft. Zum Glück macht der Krach der Motoren jedes vernünftige Gespräch unmöglich, denn er hat im Moment keinen blassen Schimmer, was er sagen soll.

Er hat damit gerechnet, Richard irgendwann im Laufe des Herbstes zu begegnen und mit ein wenig Glück sogar Gelegenheit zu haben, ihn näher kennenzulernen. Nun sieht es so aus, als hätte er schon nach wenigen Wochen das Ziel erreicht.

In Kürze wird er Eric Hands gegenüberstehen.

Er ist nicht bereit dafür.

Karolina Möller leidet selten unter Schlafstörungen. Während der Ausbildung musste sie Kurse in Entspannung und Autosuggestion belegen, um auch unter weniger günstigen Voraussetzungen einschlafen zu können. Schlaf ist entscheidend. Wer ausgeruht ist, hat gegenüber demjenigen, der nicht geschlafen hat, einen großen Vorteil.

Allerdings hat Karolina einen leichten Schlaf.

Deswegen wacht sie auf, sobald die Uhr an ihrem Handgelenk diskret vibriert. Sie greift nach dem Handy auf dem Nachttisch, sieht auf das Display und stellt fest, dass im Erdgeschoss die Haustür geöffnet wurde. Karolina wohnt im Obergeschoss eines Zweifamilienhauses auf Långholm, in einer alten gelben Holzvilla schräg gegenüber von der Werft. Sie braucht eine Sekunde, um sich im Raum umzuschauen und ins Treppenhaus zu horchen. Kein Ton. Falls jemand auf dem Weg nach oben ist, handelt es sich um einen äußerst vorsichtigen Eindringling. Sie hat mit anderen Worten Zeit nachzudenken, bevor sie handelt.

Karolina greift nach unten und zieht ihre Dienstwaffe aus der Halterung unter dem Bett. Sie gehört zu den wenigen bewaffneten Staatsbeamten, die ihre Waffe nicht im Waffenschrank in der Dienststelle einschließen, sondern rund um die Uhr bei sich haben. Das liegt, abgesehen von der aktuellen Bedrohung, daran, dass sie praktisch vierundzwanzig Stunden im Dienst oder zumindest in Bereitschaft ist und innerhalb von Minuten einsatzbereit sein muss.

Mit der Waffe in der Hand durchquert sie lautlos das Zimmer und bleibt an der Tür stehen. Sie hat bereits eine Kugel im Lauf, auch das abweichend von den üblichen Vorschriften, weil sie annimmt, dass sie mitten in der Nacht, wenn sie aus dem Schlaf gerissen wird, sowieso als Erstes ihre Pistole laden würde. So spart sie Zeit und vermeidet das metallische Klicken.

Sie sieht zum Wohnzimmer hinüber. Ihre Augen haben sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt. Von der Straßenbeleuchtung am Pålsund fällt spärliches Licht durch das Erkerfenster im Wohnzimmer, aber hinter ihr, auf der Rückseite des Hauses, deren Fenster auf die Insel zeigen, ist es stockdunkel. Hat gerade eine Stufe geknarrt? Irgendetwas bewegt sich da unten.

Sie drückt sich an die Wand und überlegt, ob sie den Eindringling überraschen soll, indem sie das Licht anmacht und ihre Waffe ins Treppenhaus richtet, oder lieber reglos stehen bleibt. Sie entscheidet sich für Letzteres. Wenn sie das Licht einschaltet, läuft sie Gefahr, selbst überrascht zu werden, vielleicht von einer in Panik abgefeuerten Waffe. Wartet sie ab, wird sie den Feind im Schein der Straßenbeleuchtung sehen und hoffentlich auch, ob er oder sie bewaffnet ist und, wenn ja, wie.

Sie hebt die Pistole und bewegt sich ein kleines Stück zur Seite, damit sie die Treppe im Blick hat. Sie ist vollkommen unvorbereitet auf den Schuss, der die Stille zerreißt. Mit einem Fiepen in den Ohren wirft sie sich auf den Boden und feuert zwei schlecht gezielte Schüsse in die Dunkelheit ab.

Außer dem trockenen Echo der Knalle ist aus dem Zimmer nichts zu hören. Sie umschließt die Waffe noch fester mit den Fingern, zielt sorgfältig auf die Treppe, etwas tiefer diesmal, und schießt zweimal kurz hintereinander und nach kurzer Pause ein drittes Mal.

Ein leises Rumsen und ein Keuchen dringen vom anderen Ende des Raums zu ihr herüber. Zwei, drei Sekunden ist es vollkommen still, dann rollt etwas Schweres die Treppe hinunter. Das Rascheln von Kleidung und mehrere harte Schläge gegen die Stufen, dann ist es wieder still.

Mit beißendem Rauchgeruch in der Nase nähert Karolina sich im Dunkeln der Treppe. Sie bleibt stehen, wartet ab, lauscht, hört aber nichts. Kein Knacken oder Knarren, kein Atmen. In einer fließenden Bewegung macht sie das Licht an und stellt sich, die Waffe mit beiden Händen nach unten gerichtet, oben an die Treppe. Sie hat außer einem T-Shirt und einem Slip nichts an und fühlt sich trotz Pistole merkwürdig schutzlos.

Gleich hinter der Haustür liegt zusammengekrümmt ein allem Anschein nach lebloser Körper. Die Wand links von der Treppe ist mit Blut bespritzt. Dort muss er gestanden haben, als er getroffen wurde. Der Mann ist von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet und trägt eine Strickmütze, die bis über die Augenbrauen gezogen ist. Neben ihm breitet sich eine dunkle, im Deckenlicht schimmernde Lache aus.

Seine rechte Hand liegt auf der Stufe hinter seinem Kopf. Sie sieht keine Waffe, aber vielleicht ist sie bei dem Sturz unter ihm gelandet, vielleicht hält er sie in der Linken und schießt, sobald sie näher kommt. Kampfbereit sieht er zwar nicht aus, aber das könnte eine Falle sein.

Sie bleibt stehen und mustert ihn. Er scheint nicht zu atmen, aber das ist aufgrund seiner gekrümmten Haltung nur schwer zu erkennen. Da sieht sie durch die Glasscheibe in ihrer Haustür unten bei den Nachbarn das Licht angehen.

»Karolina, bist du da? Alles okay?«, hört sie durch die Tür.

»Ja, alles in Ordnung«, ruft sie.

»Sicher? Ich wollte gerade die Polizei rufen.«

»Nein, nein, nicht nötig. Ich hab alles im Griff.«

Es würde die Dinge nur verkomplizieren, wenn jetzt eine Polizeistreife käme. Und wenn die Nachbarn der Notrufzentrale was von Schüssen erzählen, werden mindestens drei Kollegen losgeschickt.

»Geht zurück in eure Wohnung, da seid ihr sicher«, ruft sie. »Ich komme runter.«

Beruhigend klingt das nicht, aber sie dürfen jetzt nicht raus. Es ist nicht auszuschließen, dass der Mann, der wie ein Kartoffelsack am Fuß der Treppe liegt, draußen Verstärkung hat. Für die Nachbarn ist sie Polizistin, und wenn sie ihnen als solche sagt, sie sollen nicht die Polizei rufen, lassen sie es hoffentlich auch bleiben.

»Und macht das Licht aus.«

Die Pistole immer noch auf den Mann gerichtet läuft sie die Treppe hinunter, geht in die Hocke, stemmt ein Knie zwischen seine Schulterblätter und verlagert ihr gesamtes Gewicht darauf, falls er wider Erwarten noch Kraft für ein plötzliches Manöver hat.

»Draußen«, verdeutlicht sie.

Die Nachbarn machen die Außenbeleuchtung aus.

Karolina dreht den Mann um. Da liegt tatsächlich eine blutverschmierte Waffe. Eine Handfeuerwaffe mit Nachtsichtgerät. So etwas hat nicht jeder. Selbst unter Spezialisten würde sie auffallen. Eine höchst effektive Waffe in der Hand eines Mannes, der mühelos durch eine Tür mit Alarmanlage eingedrungen ist.

Karolina zieht einen dünnen Mantel von einem Kleiderbügel, schlüpft hinein und schließt den Gürtel. Erneut geht sie in die Hocke, stößt die Tür auf und sucht mithilfe des Nachtsichtgeräts an der Waffe des Mannes die Umgebung ab. Als sie sich sicher fühlt, entfernt sie das Magazin und die Patrone im Lauf, wischt ihre blutigen Hände an der Hose des Mannes ab und legt die Waffe auf die Hutablage. Ihre eigene Waffe steckt sie in die Manteltasche.

Sie hat den Nachbarn einiges zu erklären. Und eine Leiche im Flur.

Sie fahren mit hoher Geschwindigkeit aus der Bucht. Das Boot vibriert stark, und Elias hofft, dass Richard weiß, was er tut. Er scheint nicht ganz nüchtern zu sein und sieht, wenn er Jennifer angrinst, einen Tick zu lange nach hinten, während das Boot mit dreißig, vierzig Knoten in die entgegengesetzte Richtung rast.

Elias hat jedoch weniger Angst vor einem Schiffbruch als vor der Begegnung mit Eric Hands. Was er sagen und wie er sich verhalten soll, hat er mithilfe verschiedener Rollenspiele geübt. Er ist Tom White, und Tom White zuckt nicht mit der Wimper, wenn er den Reichen und Mächtigen der Welt gegenübersteht. Wie es ihm gelingen soll, dem Mörder seines Vaters in die Augen zu schauen, steht auf einem anderen Blatt.

Wille stupst ihn in die Seite und deutet mit einer Kopfbewegung nach vorn. Elias späht in die Nacht und erblickt eine große Motorjacht. An Deck brennt Licht, die Ankerleuchten glühen im Dunkeln wie rote Augen. Es ist ein schönes, langes Schiff mit schwarzem Rumpf.

Elias schließt die Augen, um sie vor dem Fahrtwind zu schützen, aber eigentlich auf der Suche nach der inneren Ruhe, die es ihm ermöglicht, sich nicht zu verraten und Eric Hands nicht bei der erstbesten Gelegenheit mit einer Flasche Kelt, einem Cognac, den er angeblich gerne trinkt, den Schädel einzuschlagen.

Allein der Gedanke lässt Zweifel in Elias aufkommen, ob er für diesen Auftrag wirklich der Richtige ist. Ist er nicht emotional viel zu verstrickt? Er will das hier, er will es wirklich. Aber schafft er es auch?

Im Geiste versucht er, Eric Hands in einen anderen Kontext zu setzen. Als den wohlhabenden und weltweit vernetzten Geschäftsmann, den der faszinierte Tom White näher kennenlernen möchte. Als Vater eines flüchtigen Bekannten, gegenüber dem er sich vor allen Dingen höflich benehmen muss, während er genügend Interesse an seiner beruflichen Tätigkeit zeigt, um sich Respekt zu verschaffen, aber auch lässig genug auftritt, um keinen Verdacht zu erregen.

Das gelingt ihm mit mäßigem Erfolg.

So war das Ganze aber auch nicht gedacht gewesen.

Abgesehen von der emotional schwierigen Situation besteht die Gefahr, dass Eric Hands in ihm nicht mehr als eine der zufälligen Partybekanntschaften seines Sohnes sieht, genau das, was er ist. Er hatte eigentlich einen anderen ersten Eindruck vermitteln wollen.

Richard legt gerade eine Pause in seinem BWL-Studium ein, nicht an der vornehmen Stockholmer Handelshochschule, da ist er nicht genommen worden, sondern auf einer Privatuniversität in England, an der sein Vater Beziehungen hat. In einem der ersten Semester war er in einen Autounfall mit Todesfolge verwickelt. Es war unklar, ob Richard etwas getrunken und wer eigentlich am Steuer gesessen hat. Die Eltern des verunglückten Kommilitonen haben versucht, Richard für den Vorfall zur Verantwortung zu ziehen, aber entweder gab es keine Beweise, oder sie sind nicht gegen die Anwälte angekommen, die die Familie Hands mobilisiert hatte. Jedenfalls konnte Richard schlecht an derselben Universität weiterstudieren und verließ sicherheitshalber gleich das Land.

Richard dreht eine Extrarunde um das Schiff, fährt dicht an der Ankerkette vorbei, würgt den Motor ab und gleitet bis an die Leiter, die an der Längsseite herunterhängt. Als die Motoren verstummt sind, ist Musik zu hören, markante Beats, Swedish House Mafia. Hastig befestigt Richard den Tampen an einem der Stahlseile an der Leiter. »Bitte sehr, ihr zuerst.«

Er hält Jennifer die Hand hin, damit sie zuerst auf die aufgepumpte Seitenwand und dann zur Leiter hinübersteigen kann. Wille und Elias folgen ihr, Richard verlässt das Boot als Letzter.

Oben an Deck werden sie von zwei Besatzungsmitgliedern in schwarzen Hosen und weißen T-Shirts begrüßt, deren Ärmel sich über prallen Oberarmmuskeln spannen. In den Hüftholstern stecken Pistolen. Einer von ihnen nimmt Elias zur Seite und erklärt ihm auf Englisch, dass er eine Sicherheitskontrolle durchführen muss. Aus den Augenwinkeln sieht Elias den anderen die Leiter zum Schlauchboot hinunterhasten.

»Sorry, ein neuer Bekannter …«

Richard öffnet entschuldigend die Arme, während die Hände des Mannes Elias abtasten.

»Ich kann nichts dafür.«

Jennifer und Wille bleibt die Untersuchung erspart, und als Elias mit einem kurzen Nicken abgesegnet wird, winkt Richard sie hinter sich her aufs Achterdeck. Die Jacht hat einen länglichen Decksalon und eine Etage höher eine Kommandobrücke. Auf dem Achterdeck blubbert ein leerer Whirlpool.

»Ein richtiges Schiff«, sagt Elias. »Nice.«

»Allein die Hafengebühr kostet fünf Mille pro Nacht«, flüstert Wille.

»Dann versteh ich, warum sie hier draußen vor Anker liegen.«

Wille lacht leise.

Sein selbstsicheres Auftreten auf den schmalen Teakholzbrettern trügt. Er hat die Schultern bis an die Ohren hochgezogen. Möglicherweise dauert es nur noch Sekunden, bis er Eric Hands die Hand geben, seine Körpertemperatur fühlen und dabei bis in die Augenwinkel vertrauenerweckend lächeln muss.

»Im Frühjahr hat Richards Vater seine kleinere Jacht gegen die hier eingetauscht«, fährt Wille fort. »Fünfundvierzig Meter lang, drei Meter Tiefgang und außer den Sicherheitsleuten noch vier Mann Besatzung.«

Sie sind auf dem Achterdeck angekommen, gehen um den Decksaufbau herum und durch eine Öffnung in der großen Glaswand in den Achtersalon. Es ist laut. An die zwanzig Personen sind in dem lang gestreckten Raum verteilt, der sich mit einer verschiebbaren Spiegelwand teilen lässt. An der Bar ganz hinten sitzen zwei junge Frauen und wippen im Takt zur Musik, es läuft jetzt Nause.

Wille erntet wiedererkennende Blicke und erfreutes Johlen von drei Personen, die träge in einer Sesselgruppe abhängen. Auf dem Tisch vor ihnen stehen fünf Champagnerflöten. Oder Flûtes, wie man sie auf der Croisette bestellt.

Nachdem Wille die beiden Mädchen, die eine dunkelhaarig und im hellblauen Cocktailkleid, die andere blond und in Jeans und weißer Bluse, mit Wangenkuss begrüßt und dem jungen Mann in der weißen Jeans und dem dunkelblauen Leinenblazer zugenickt hat, wenden sich alle drei neugierig Elias zu und stellen sich der Reihe nach vor: Åsa Dunér, Helene Tiedemann und Klas Eriksson.

In Anbetracht der hohen Absätze ihrer Sandaletten und der champagnertrunkenen Stimmung kehren Åsa und Helene mit überraschend sicherem Schritt zu ihren Sesseln zurück. Elias spürt eine Hand auf seiner Schulter.

»Auch ein Glas Champagner oder lieber einen Cocktail, Tom?«, fragt Richard. »Paul macht fantastische Hemingway Daiquiri.«

Er gibt dem Mann an der Bar ein Zeichen.

»Ein Hemingway Daiquiri scheint mir genau das, was ich jetzt brauche«, sagt Elias wahrheitsgemäß.

»Gut, dann nehmen wir zwei, oder …?«

Richard sieht Wille an.

»Gerne.«

»Drei Daiquiri.«

Richard hebt drei Finger.

Der Mann hinter dem Tresen nickt kurz und macht sich an die Arbeit. Genau wie die anderen Besatzungsmitglieder ist er in Schwarz-Weiß gekleidet, trägt aber im Unterschied zu ihnen eine weiße Kellnerjacke mit geflochtenen Schulterklappen.

Sie setzen sich zu Willes Freunden. Elias landet zwischen Åsa und Richard. Helene und Klas gehören zum Bekanntenkreis von Richard Hands, über Åsa weiß er nichts. Er fragt sie direkt, woher sie die anderen kennt, und stellt fest, dass sie genauso zufällig hierher geraten ist wie er. Wobei er den Zufall vorgetäuscht hat.

Paul kommt mit drei Daiquiri und einer Flasche Champagner an den Tisch, die er eigenhändig öffnet. Nachdem er eingeschenkt hat, stoßen alle sieben miteinander an, und auch Elias trinkt einen großen Schluck. Er braucht den Alkohol wirklich, um sich zu entspannen und mit den anderen warm zu werden. Ausnahmsweise.

Die Unterhaltung wechselt zwischen Schwedisch und Jennifer zuliebe Englisch hin und her. Während Elias Åsa erzählt, dass er an der Verteidigungshochschule doktoriert, bekommt er mit einem Ohr mit, dass Wille sich nach Eric erkundigt und einen Teil von Richards Antwort: »Dann wäre ich nicht hier.« Da Richard lacht, als er das sagt, ist schwer auszumachen, wie ernst die Aussage gemeint ist. Elias schließt jedenfalls daraus, dass Eric Hands nicht an Bord ist und Richard den Kontakt zu seinem Vater auf das Nötigste beschränkt.

Als er sicher ist, in dieser Nacht nicht auf Eric Hands zu treffen, entspannt er sich. Seine Schultern sinken nach unten, die Verkrampfung in der Zwerchfellregion löst sich, und eine angenehme Wärme breitet sich im Körper aus. Vielleicht trägt auch der halb ausgetrunkene Daiquiri dazu bei.

Ein wenig enttäuscht ist er trotzdem. Nicht wegen der aufgeschobenen Begegnung mit Eric Hands, sondern weil dies vielleicht nicht der richtige Weg ist. Wenn Richard tatsächlich kein gutes Verhältnis zu seinem Vater hat oder aus einem anderen Grund lieber vermeidet, dass seine Bekannten ihn treffen, ergibt sich eventuell nie eine Gelegenheit.

Richards Handy klingelt. Er steht auf und geht nach draußen. Klas erzählt Elias, was dieser schon weiß, nämlich dass er im zweiten Studienjahr auf der Handelshochschule ist. Er hat sein Studium spät begonnen für den Spross einer bildungs- und leistungsorientierten Familie. Er begründet das selbstironisch mit einer Tenniskarriere, an der er zu lange festgehalten hat.

»Ich hätte eigentlich wissen müssen, dass ich international keine Medaillenchancen habe, und irgendwie war es mir auch klar, aber das Ganze hat irrsinnigen Spaß gemacht. Das Spielen, die Reisen, der ganze Zirkus.«

Anschließend hat er ein paar Jahre in Skiorten in der Schweiz und in Frankreich abgehangen und in den Metropolen der Welt Party gemacht.

»Ich bin nicht reich oder so, aber ich habe mich durchgeschlagen, weil ich überall bei Freunden übernachten konnte.«

Elias kann sich den braungebrannten und abgesehen von einem kleinen Bauchansatz durchtrainierten Klas, der mit einem Glas Champagner in der Hand im Achtersalon der 45-Meter-Jacht vor der französischen Riviera sitzt, nur schwer als couchsurfenden Bohemien vorstellen.

»Aber mittlerweile bist du auf der Handelshochschule fest verwurzelt.«

Sekundenlang verfinstert sich Klas’ Blick, dann wirft er lachend den Kopf in den Nacken.

»Und wie.«

Richard telefoniert immer noch, den linken Arm als Stütze für das Handy vor dem Bauch, und geht langsam auf dem Achterdeck im Kreis. Dabei nickt er eifrig und lacht hin und wieder, aber was er sagt, ist nicht zu verstehen. Jennifer beobachtet ihn genau.

»Mit wem hast du gesprochen?«, fragt sie ihn, als er wieder reinkommt.

»Lillis«, sagt er. »Sie ist auf dem Weg hierher.«

»Jetzt?«

»Ja.«

Zehn Minuten später hört Elias das satte Knattern eines großen Außenborders. Das Boot kommt näher, der Motor verstummt, dann das Gluckern und das leise Rumsen des Anlegemanövers. Eine gut gelaunte Frauenstimme wechselt ein paar Worte mit der Besatzung, und zwanzig Sekunden später steht sie im Salon. Falls sie Gepäck dabeihat, hat sie es abgegeben. Ohne Handtasche, in hautenger Jeans und Vintage-Prada-Jacke, die sie um einiges erwachsener wirken lässt als ihren Bruder und seine Freunde, steht sie auf dem Achterdeck.

»Was für eine Party!«, ruft sie fröhlich und mitreißend und nicht so kindisch und albern, wie es aus Helene Tiedemanns Mund geklungen hätte.

Lillis, wie sie von ihren engsten Freunden genannt wird, ist sechsundzwanzig, zwei Jahre älter als Richard, und studiert in New York Philosophie und Literaturwissenschaft, hält sich aber momentan offensichtlich an der französischen Riviera auf. Sie hat blaugraue Augen hinter einer Pilotenbrille mit goldener Fassung, kurzes blondes Haar und wirkt in jeder Hinsicht klein und zierlich. Der Spitzname passt perfekt.

Außer Åsa und Elias scheint sie alle zu kennen, sie begrüßt Åsa zuerst und gibt dann Elias die Hand.

»Ulrika Hands.«

»Tom White.«

Ihre schmalen Lippen verziehen sich zu einem verspielten Lächeln.

»Ein neues Gesicht, wie spannend.« Sie geht noch einen Schritt auf ihn zu. »Wie ist das passiert?« Sie hebt die Hand, als wolle sie die Narbe auf seiner Wange berühren.

»Du meinst das hier?« Elias zeigt selbst darauf.

»Ja.«

»Formel 1.«

»Was?«

»Nein, ein ganz normaler Autounfall.«

»Du siehst auch zu intelligent aus, um mit einem Rennwagen im Kreis zu fahren.«

Elias muss grinsen. Er fühlt sich aus unerfindlichen Gründen von ihr auserwählt.

»Darüber will ich mehr wissen«, sagt sie. »Aber zuerst werde ich mich umziehen.«

Sie verschwindet so schnell, wie sie gekommen ist. Richard sieht ihn belustigt an.

»Meine Schwester scheint in Form zu sein. Du solltest gut auf dich aufpassen.«

Oder die Strategie wechseln.

Anfang Februar. Die ersten Tage nach der Operation kann er sich nicht einmal aufsetzen, ohne dass ihm vor Schwindel kotzübel wird. Von der Welt, die er kannte, ist nichts mehr übrig. Er ist ein Betrunkener auf einem Schiff in stürmischer See und betrachtet seine Umgebung durch ein Fernglas.

Nach Hirnoperationen ist das normal, sagt Göran Gilbert, der Chirurg. Gleichgewichts- und Sehsinn müssen, wie alle anderen Sinneswahrnehmungen, neu justiert werden. Das kann beängstigend und verwirrend sein, geht aber rasch vorbei.

Tatsächlich hat er das Schlimmste nach ein paar Tagen hinter sich, aber das Gefühl von Verletzlichkeit lässt sich nicht so schnell abschütteln. Nicht nur sein Leben und seine Körperfunktionen, sondern auch das, was wir Realität nennen. Wenn er darüber nachdenkt, wird ihm angst und bange. Was ist eigentlich da draußen passiert? Sind Bilder, Geräusche und Gerüche nur Partikelorkane, die unsere Sinnesorgane überfluten und von unserem Gehirn in eine überschaubare Wirklichkeit umgebaut werden? Ist alles, was er erlebt, eine Illusion? Ein Gedankenspiel, das nur in seinem Kopf stattfindet? Gibt es überhaupt andere Menschen außer ihm?

Obwohl er nicht genau weiß, wie sie wirken, ist Elias dankbar für die Medikamente, die er bekommt, denn sie verbinden ihn mit der Wirklichkeit, egal, ob diese nun real ist oder nicht.

Als er die Augen öffnet, sieht er eine dunkle Gestalt neben dem Bett. Eva oder die Frau, die sich Eva nannte, hat ihr schwarzes Haar zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden, der ihr über die Schulter hängt.

»Was machst du hier?«

Er tastet nach dem Schalter, mit dem er die Schwester ruft.

»Ich freue mich auch, dich zu sehen«, sagt sie.

Er weiß, dass sie nichts mit Mari-Louises Tod zu tun hat, aber er wird das Gefühl nicht los, dass sie nicht alles getan hat, um ihn zu verhindern.

»Entschuldige«, murmelt er. »Ich bin noch nicht richtig wach.«

»Wie geht es dir?«

»Wie gesagt, ich bin nicht ganz wach.«

Er greift nach einem Becher mit Trinkhalm. Sie will ihm helfen, aber er kommt ihr zuvor.

»Geht schon.«

Er zieht den Trinkhalm heraus, legt ihn auf den Nachttisch und leert den Becher. Alles hier ist auf Dreijährige ausgerichtet. Trinkhalme, Trinkbecher mit Haltegriffen und Teller mit hohem Rand und Gummiring unten drunter.

»Du studierst gar nicht Medizin«, sagt er.

»Nein.«

»Und heißt auch nicht Eva?«

Sie streckt die Hand aus. »Vendela.«

Er greift danach, spürt ihre starken Finger. »Der Prophet«, rutscht ihm heraus.

Er will ihr damit entgegenkommen und sich gleichzeitig entziehen. Sie weiß schließlich, wie er heißt. Aber kann er sich sicher sein, dass sie ihm diesmal ihren richtigen Namen gesagt hat?

»Ganz im Ernst, warum bist du hier? Sollst du auf mich aufpassen?«

»Ich wollte nur mal sehen, wie es dir geht.«

Elias weiß noch immer nicht, was in dieser Nacht in der Blockhütte passiert ist. Hat sein besoffener Kopf nur geträumt? Aufmerksam studiert er ihre Mimik, kann aber keine Schlüsse daraus ziehen, und fragen will er nicht.

»Sie haben dir den Verband abgenommen«, sagt sie.

»Was?«

»Der Verband ist weg.« Sie deutet auf sein Gesicht.

Er würde gerne wissen, wann das war, will aber nicht preisgeben, dass er keine Erinnerung daran hat. Wie kann das sein? Ist er immer noch nicht wach? Ihr Händedruck kam ihm real vor. Entschlossen und nicht geträumt.

Er greift nach ihrem Arm, lässt ihn aber sofort los, als er die Struktur des Stoffs und die festen Muskeln darunter spürt.

»Was ist?«

»Nichts.«

Der Verband ist weg, hat sie gesagt. Dann wird es wohl so sein. Er schwingt die Beine über die Bettkante und rutscht langsam vor, bis seine Füße den Boden berühren. Er stellt sich hin und prüft, ob ihm schwindlig wird. Er geht die paar Schritte zum Spiegel über dem Handwaschbecken. Liegen ist lebensgefährlich, seine Beine sind wacklig, er kommt sich vor wie achtzig. Schweißüberströmt steht er vorm Spiegel. Er fällt und fällt, Tausende von Metern im Sinkflug durch die Wolken, kann sich gerade noch am Waschbecken festhalten. Die Person im Spiegel ist ihm fremd. Er murmelt etwas, das er selbst nicht versteht.

»Alles okay?«, fragt Vendela.

Er dreht sich um. »Warum?«

Sie sieht ihn fragend an. »Warum?«

Er zeigt auf sein Gesicht. »Warum bin ich …«

Alles dreht sich. So viele Fragen.

»Habt ihr das gemacht?«

»Wir? Denkst du, wir könnten den Ärzten vorschreiben, was sie zu tun haben?«

Er dreht sich wieder zum Waschbecken um. Starrt das unbekannte Spiegelbild an.

»Wer bin ich?«

»Das hast du doch gerade gesagt«, antwortet Vendela. »Du bist der Prophet.«

Erbost und viel zu hastig dreht er sich um, muss sich am Waschbecken festhalten.

»Was soll das heißen?« Er sieht sie wütend an.

»Sie mussten etwas mit deinem Gesicht machen. Du erinnerst dich doch noch …«

»Ja«, unterbricht er sie, »ich erinnere mich.«

Es ist also kein Albtraum und keine Halluzination. Das hier ist jetzt er. Ein fremdes Gesicht.

»Es ist sicher nicht das Schlechteste, wenn du für jemand anderen gehalten wirst«, sagt Vendela. »Wenn du dir die Haare färbst, erkennt dich nicht einmal deine Familie wieder.«

»Ich habe keine Familie mehr.«

Ihre Blicke treffen sich im Spiegel. Sie sieht nicht weg, sondern kommt näher.

»Ich mache dir einen Vorschlag, falls du Interesse hast.«

»Was für einen Vorschlag?« Er dreht sich zu ihr um.

»Wir helfen dir. Unabhängig davon, was du von dem Vorschlag hältst. Aber du könntest uns auch helfen.«

»Wobei?«

»Eric Hands.«

Seine Beine tragen ihn nicht zuverlässig. Eigentlich müsste er wieder ins Bett, aber er reißt sich zusammen und bleibt trotz Schwindel und kaltem Schweiß auf der Stirn vor ihr stehen.

»Es ist eine schwierige und zeitaufwendige Aufgabe«, sagt sie. »Aber wenn du Erfolg hast, können wir ihm die Morde und Korruption in großem Umfang nachweisen.«

»Er wird zur Rechenschaft gezogen und bestraft?«

»Ja. Wenn die Zeit reif ist.«

Der Mörder seines Vaters. Wie konnte er das Angebot ablehnen?

Karolina Möller wartet auf dem oberen Treppenabsatz, die Dienstpistole liegt rechts neben ihr. Sie hält dies für den sichersten Ort, wenn sie nicht mit einer Waffe mit Nachtsichtgerät durchs Fenster erschossen werden will, und falls jemand durch die Tür ins Haus eindringt, kommt er nicht weit.

Das ist in diesem Jahr der zweite Mensch, den sie aus Notwehr getötet hat. Beim ersten Mal war es ihr erster Schuss überhaupt auf einen lebenden Menschen. Es ist extrem beklemmend, jemanden zu töten, auch wenn es sich um einen rücksichtslosen Mörder handelt.

Zwei Autos fahren auf den Parkplatz hinter dem Haus. Autotüren werden geöffnet, knirschende Schritte im Kies, dann ein Klopfen.

»Karolina?«

Sie steckt die Waffe ins Holster, geht nach unten und öffnet die Tür. Drei Leute stehen davor, ihr Chef Örjan Mardell samt Verstärkung. Er wirft einen Blick auf den Toten im Flur.

»Interessante Begrüßung.« Mit einem großen Schritt steigt er über das leblose Bündel und sieht Karolina mit zusammengekniffenen Augen an. »Alles okay?«

Sie nickt. »Ja.«

Er macht die Tür hinter sich zu, die anderen beiden bleiben draußen.

»Wir gehen rauf«, sagt er.

Örjan Mardells massiger Körper erklimmt die Treppe, Karolina folgt ihm. Er ist nicht übergewichtig, aber unförmig und irgendwie halslos. In seiner Jugend war er Ringer.

»Wie haben die Nachbarn reagiert?«, fragt er gedämpft und legt eine Hand in den breiten Nacken.

»Ich habe ihnen erzählt, ich hätte draußen ein Knallen gehört und wäre auf der Treppe gestolpert, als ich nachsehen wollte«, flüstert sie.

Örjan zieht die Augenbrauen hoch. »Und das haben sie dir abgekauft?«

»Was hätten sie denn sonst tun sollen? Mir unterstellen, ich würde lügen? Ich bin schließlich Polizistin.«

Sie verzieht das Gesicht zu einem gekünstelten Grinsen.

»Vertrauen die Leute heutzutage noch der Polizei?«

Ihre Nachbarn anscheinend schon. Sie hatten keine Einwände, als sie sagte, es sei besser, wenn sie selbst ihre Kollegen anriefe, als den allgemeinen Notruf zu wählen.

»Pack ein paar Sachen und was du sonst so brauchst. Ich bringe dich vorübergehend woanders unter.«

Karolina stöhnt. »Vorübergehend?«

»Ja.«

»Klingt, als bräuchte ich einen großen Koffer.«

»Könnte sein«, sagt Örjan.

Sie ist froh, dass er den Vorfall ernst nimmt, aber sie hatte gehofft, mit dem Eintreffen ihrer Kollegen wäre das Ganze beendet. In eine andere Wohnung gebracht zu werden beruhigt sie kein bisschen. Es ist eine Zuspitzung.

Karolina öffnet den Kleiderschrank, nimmt einen mittelgroßen Koffer heraus, einen größeren besitzt sie gar nicht, und legt ihn auf das Bett. Schnell wirft sie Socken und Unterwäsche, ein Necessaire, ihre Laufsachen und -schuhe hinein und nimmt sich für die übrigen Kleidungsstücke etwas mehr Zeit.

Zehn Minuten später fahren sie in zwei identischen grauen Audis durch die Stadt. Die beiden anderen Kollegen sind in der Wohnung geblieben und warten auf die Techniker. Nach einem strategischen Wagenwechsel in einer Polizeitiefgarage auf Kungsholm fahren sie in einem Auto zurück über die Västerbro und auf dem Ringväg nach Osten. Über den Dächern wird es hell. Örjan biegt zuerst links ab in die Götgata, dann rechts in die Ölandsgata, fährt einmal um den Block und dann in eine Tiefgarage in der Gotlandsgata.

»Es gibt sechs verschiedene Ausgänge in drei Straßen«, sagt er auf dem Weg zu einem der Ausgänge.

Karolina zieht den Koffer hinter sich her. Das Rattern der Rollen hallt durch die schmutzige Garage, in der es nach Benzin stinkt. Örjan zeigt auf einen roten Mazda, der noch aus dem vorigen Jahrtausend zu stammen scheint.

»Dein neues Auto.«

»Soll das ein Witz sein?«

»Läuft wie ein Uhrwerk.«

Sie fahren mit dem Aufzug in den dritten Stock, wo Örjan eine Wohnungstür mit Walnussfurnier aufschließt. Auf der Briefschlitzklappe steht Axelsson.

Karolina lässt den Rollkoffer im Flur stehen. In der sparsam möblierten Dreizimmerwohnung aus den Sechzigern steht die Luft. In einem der beiden Schlafzimmer liegt ein kratziger Teppichboden.

»Die DDR hatte in diesem Haus bis in die Achtziger eine konspirative Wohnung«, sagt Örjan.

»Bist du sicher, dass es nicht diese hier war?«

Es sieht aus, als wäre die Zeit in den Sechzigern stehen geblieben. Die Tapeten sind fast bis zur Unsichtbarkeit diskret, die Einbauschränke grau, der Rest der Möbel aus Furnierholz. Örjan lacht brummig, wird aber sofort wieder ernst.

»Ich bin sicher, dass der Vorfall bei dir zu Hause mit unserer Tätigkeit zusammenhängt. Es sei denn, du hast eine andere Vermutung. Liegst du mit irgendjemandem da draußen im Clinch?«

Obwohl Karolina die Antwort bereits kennt, denkt sie nach. Möglicherweise hat sie den einen oder anderen provoziert, aber doch nicht so sehr, dass mitten in der Nacht ein Mordanschlag auf sie verübt wird.

»Du persönlich, meine ich«, konkretisiert Örjan.

»Schon verstanden. Nein.«

»Habe ich auch nicht angenommen, aber fragen muss ich trotzdem. Ich glaube, wir finden heraus, wer dahintersteckt, wenn wir unsere eigenen Operationen unter die Lupe nehmen.«

»Ich kann mir nur einen Kontext vorstellen«, sagt sie.

»Und der wäre?«

Sie zögert. Im letzten Winter wäre sie beinahe draufgegangen, und heute Nacht hat auch nicht viel gefehlt. Ob sie deshalb einen Zusammenhang herstellt?

»Komm schon. Bei uns werden keine Minuspunkte verteilt.«

»Atlas«, bringt sie zwischen fast geschlossenen Lippen hervor.

»Das wäre auch mein Tipp.«

Sieben Monate sind vergangen, seit der offiziell bei Sida, der schwedischen Behörde für internationale Entwicklungszusammenarbeit, eingestellte Anders Krantz, inoffiziell verdeckter Mitarbeiter des Büros, in Sarajevo von einer Bombe getötet wurde. Ylva Grey, seine Chefin bei Sida, hat gemeinsam mit Krantz’ Sohn Elias angefangen, die Hintergründe des Mordes aufzudecken. Sie sind auf Korruption gestoßen, in die auch Henning Eriksson, Parteisekretär der regierenden Sozialdemokraten, verstrickt war. Eriksson hat sein Amt missbraucht, um Atlas Schield, einer Hightechfirma mit Kontakten zur Waffenindustrie, eine Art Persilschein zu verschaffen. Er hat Beschlüsse in eine bestimmte Richtung gelenkt, Ausfuhrgenehmigungen für militärisch einsetzbare Güter und Fördergelder besorgt sowie Firmengründungen im Ausland begünstigt.

Anders Krantz war im Besitz einer Tonaufnahme gewesen, in der zu hören ist, wie Eriksson Eric Hands, dem Haupteigner des Atlas-Konzerns, an Bord des firmeneigenen Privatjets das Vorgehen erläutert. Einen Tag später wurde Anders Krantz in Sarajevo in die Luft gesprengt.

Viel zu viele Tote, und von den Verantwortlichen wurde keiner zur Rechenschaft gezogen. Eine widerwärtige Geschichte.

»Es ist nicht vorbei?«

»Das weißt du doch.«

»Ja, in dem Sinne, dass gegen niemanden Anklage erhoben wurde, aber ich dachte, es wären trotzdem alle zufrieden.«

»Einige haben aber Grund, unzufrieden zu sein, oder etwa nicht?«

»Die Türkei?«

»Ja. Und angesichts der bevorstehenden Wahlen will die Regierung auch nichts davon hören.«

Ein Schlüssel wird in die Wohnungstür gesteckt. Karolina greift nach ihrer Pistole, aber Örjan hält sie zurück.

Vendela Bark kommt mit verschlafenem Gesicht, einer vollgepackten Sporttasche in der Hand und einer etwas kleineren Schultertasche herein. Als sie Karolina und Örjan erblickt, bleibt sie stehen.

»Seid ihr das Empfangskomitee, oder wohnen wir alle hier?«

»Nur ich, glaube ich.« Karolina wirft Örjan einen Blick zu.

Er räuspert sich. »Ja, genau. Du und Vendela.«

»Wie gemütlich.« Vendela guckt ins Wohnzimmer. »Kriegt jede von uns ein eigenes Zimmer, oder schlafen wir im Stockbett?«

Karolina war davon ausgegangen, die Wohnung für sich zu haben, aber sie ist froh, in den düsteren Räumen nicht allein zu sein. Obwohl sie keine Ahnung hat, wie es ist, mit Vendela zusammenzuwohnen.

»Nimm’s nicht persönlich.« Vendela streicht sich das schwarze Haar aus dem Gesicht. »Ich bin es nicht gewohnt, um vier Uhr nachts aus dem Bett gejagt zu werden. Wollen wir gleich die Zimmer verteilen, damit ich wieder ins Bett kann? Ach, weißt du was, ich nehme einfach das mit der Minibar und dem Jacuzzi und du das andere, okay?«

Karolina erkennt sie kaum wieder. Offenbar kommen morgens nach dem Aufwachen unbekannte Seiten ihrer Persönlichkeit zum Vorschein.

»Anscheinend wurdest du nicht vernünftig gebrieft«, sagt Örjan. »Vor anderthalb Stunden ist ein Unbekannter in Karolinas Haus eingedrungen und hat auf sie geschossen.«

»Mit einer Waffe mit Nachtsichtgerät«, fügt Karolina hinzu.

»Deswegen sind wir hier«, sagt Örjan.

Vendela stellt ihr Gepäck ab.

»Mir wurde nur gesagt …« Sie geht zu Karolina und streicht mit beiden Händen über deren Oberarme. »Meine Güte, wie geht es dir?«

»Ganz okay«, antwortet sie tapfer.

Vendela nimmt sie fest in den Arm. Einerseits ist es ein schönes Gefühl, weil sie genau das gebraucht hat, aber andererseits merkt sie jetzt, dass es ihr überhaupt nicht gut geht.

Elias sitzt mit Ulrika und Klas draußen an Deck. Die anderen sind unten in ihren Kabinen verschwunden oder zurück an Land gefahren. Ulrika trägt jetzt ein kurzes Sommerkleid und hochhackige Sandalen. Ihre Beine sind braungebrannt.

Der Bootsverkehr ist zur Ruhe gekommen. Das Meer ist spiegelglatt. Die Männer der Crew wirken ein bisschen apathisch.

»Ricky findet es idiotisch, dass ich nicht in Papas Wohnung in der Madison Avenue wohne«, sagt Ulrika.

»Wo wohnst du denn?«, fragt Elias.

»Auf dem Campus.«

»Zu zweit im Wohnheimzimmer?«

»Nicht zu zweit, aber ansonsten ja. Wundert dich das?«

»Nicht unbedingt«, sagt Elias. »Aber wenn dein Vater schon eine Wohnung hat …«

»Auf dem Campus zu wohnen macht mehr Spaß. Man ist viel schneller integriert und lernt Leute kennen. Außerdem spart man sich die Fahrerei.«

»Wie ist denn Harlem so?«, fragt Klas.

»Der Campus liegt in Morningside Heights und nicht in Harlem.«

»So nennen sie die Gegend doch nur, um die weißen Studenten nicht abzuschrecken. Morningside Heights ist in Harlem. Das ist genauso absurd, wie zu sagen, Greenwich Village wäre nicht Manhattan.«

»Ja, ja, whatever«, sagt Ulrika.

Sie winkt mit ihrem leeren Glas in der Hand ab, nimmt die Weinflasche vom Tisch und schenkt sich nach.

»Morningside Heights«, brummt Klas und steht auf. »Ich gehe runter, wir sehen uns morgen.«

Sie rufen Klas, der im Weggehen eins der Lieder summt, die am Abend gelaufen sind, ein »Gute Nacht« hinterher.

Bald geht die Sonne auf, und Elias ist betrunken. Trotzdem hat er einen Rest Klarheit im Kopf, eine Geistesgegenwart, der weder Alkohol noch späte Stunde etwas anhaben können. Er nimmt an, dass ihn das Wissen, sich auf feindlichem Terrain zu befinden, wach hält.

»Was wird man mit Literaturwissenschaft und Philosophie?«, fragt er.

»Disst du mich jetzt auch?«

»Bestimmt nicht. Das ist kein Diss, es interessiert mich wirklich.«

Sie legt den Kopf schief und sieht ihn skeptisch an. »Hm …«

»Ehrlich«, wiederholt er.

Ist sie ernsthaft gekränkt? Hat er mit einer harmlosen Frage alles kaputt gemacht? Oder tut sie nur so?

»Es ist nur, weil Ricky sich bei jeder Gelegenheit über mein Studium lustig macht. Er bezeichnet mich als Sigrid-Rausing-Wannabe und unterstellt mir, ich würde Papas Geld an arbeitsscheue Kulturfuzzis verteilen.«

Er merkt, dass es unklug wäre nachzufragen, ob sie das will.

»Klingt, als wäre dein und Richards Verhältnis nicht so toll.«

»Ach«, sagt sie. »Die üblichen Kabbeleien unter Geschwistern. Eigentlich verstehen wir uns ganz gut, aber wir sind sehr verschieden.«

Sie stellt ihr Glas auf die Tischkante. Es droht umzukippen, aber Elias streckt instinktiv die Hand aus und rettet Glas und Inhalt.

»Respekt.«

Er stellt das Glas weiter in die Mitte des Tisches.

»Und jetzt erzähl mal von dem Unfall«, sagt Ulrika. »Woher hast du diese Narbe?«

»Ist nicht so spannend.«

»Glaube ich nicht. Los, erzähl.« Sie sieht ihn mit neugierigen Augen an.

»Meine Mutter und ich waren auf dem Heimweg. Sie hatte in Paris einen Termin in einer Anwaltskanzlei, und ich habe sie begleitet, weil ich mir Schuhe kaufen wollte. Völlig banal.«

Elias grinst verkrampft.

»Was für Schuhe?«

Er kommt aus dem Konzept und starrt sie mit leerem Blick an.

»Das war ein Witz«, kichert sie. »Entschuldige, ich habe einen im Tee, glaube ich, sprich weiter.«

Er sammelt sich, als ginge es wirklich um ein einschneidendes Erlebnis. Wenn er sich daran erinnert, wie seine eigene Mutter vor sechs Jahren an Krebs gestorben ist, klappt es ganz gut.

»Wir waren gerade von der Périphérique abgefahren, als uns jemand hinten drauffuhr. Der Zusammenstoß an sich war nicht so schlimm, aber wir gerieten auf die andere Fahrbahn, und da hat es richtig geknallt. Ich habe das Bewusstsein verloren, und als ich wieder aufwachte, wurde ich gerade in einen Krankenwagen getragen.«

Im Osten sieht man jetzt einen Hauch Orange, in der Dunkelheit kreischen Vögel.

»Und das soll nicht spannend sein?«, fragt Ulrika.

»Für mich ist der Unfall nicht so … Ich erinnere mich viel intensiver an alles andere, den Tod meiner Mutter …«

»Oh, entschuldige.« Sie legt sich die Hand vor den Mund. »Das wusste ich nicht. Es tut mir wirklich leid.«

»Macht nichts. Ist lange her.«

»Wie lange?«

»Sechs Jahre. Ich war gerade achtzehn geworden.«

Ulrika beugt sich nach vorn und hebt die Hand zu seinem Gesicht. Diesmal berührt sie ihn. Sie fährt mit einem Finger die blasse Narbe entlang. Sie hat schöne, neugierige Augen, denen man kaum widerstehen kann, und zwei eigensinnige Linien auf der Stirn. Er muss aufpassen. Wenn er zu voreilig ist, könnte der lose geknüpfte Kontakt zur Familie Hands schnell wieder abreißen.

Sie ist diejenige, die den ersten Schritt macht, indem sie ihre Lippen auf seine presst, ihre verspielte kleine Zunge ist kühl. Ihr kurzes Haar fühlt sich voll und seidig an. Sie riecht nach Zitrone und Salz, wie das Meer.

Dann zieht sie sich zurück, sieht ihn mit leuchtenden Augen lange an, lächelt zufrieden und küsst ihn erneut. Sie steht auf, ohne das Küssen zu unterbrechen, und setzt sich rittlings auf ihn.

Damit hat er nicht gerechnet. Egal, ob es gut ist oder nicht, riskant werden könnte es auf jeden Fall, es gibt kein Zurück mehr. Jetzt muss er mitmachen.

Ulrika drückt sich an ihn und erschauert, als seine Hände unter das seidige Kleid wandern.

»Ich wünschte, ich könnte die Crew unter Deck schicken«, keucht sie in sein Ohr, »aber das darf ich nicht.«

Er ist hart, und sie reibt sich mit langsamen Bewegungen an ihm. So sitzen sie lange da, bis sie sich auf seinem Schoß umdreht, seine Hand nimmt und sie sich zwischen die Schenkel schiebt. Sie legt den Kopf an seine Schulter und schließt die Augen, während er sie mit feuchten Fingern sanft streichelt. Er beobachtet ihr Gesicht, die geschwungenen Wimpern, die konzentriert geschürzten Lippen. Sie bewegt sich zum Rhythmus seiner Hand, versteift sich und stöhnt dreimal kurz hintereinander, fast als hätte sie Schmerzen. Dann entspannt sie sich genauso schnell und dreht sich lachend zu ihm um.

»Oh …« Sie streckt sich, lacht weiter. »Vielleicht sollten wir langsam nach unten gehen«, sagt sie.

Er rechnet damit, dass sie ihn in ihre Kabine mitnimmt, aber sie zeigt auf eine andere Tür.

»Die letzte Kabine auf der linken Seite ist deine.«

Er weiß nicht, ob er darauf bestehen soll, sie zu begleiten, hat sich nicht überlegt, was Tom White in dieser Situation tun würde, kommt aber rasch zu dem Schluss, dass es merkwürdig wäre, es nicht wenigstens zu versuchen. Er legt ihr die Hände auf die Hüften und zieht sie an sich.

»Schlafen wir nicht in einem Bett?«

»Nächstes Mal vielleicht.« Sie gibt ihm einen Kuss. »In ein paar Wochen besuchen mich Wille und Ricky in New York. Du musst unbedingt mitkommen, das wird super.«

Elias hat keine Ahnung, ob sie es ernst meint oder ihn nur abwimmeln will.

»Klar, ich komme auf jeden Fall«, antwortet er im gleichen scherzhaften Ton.

Mit drückenden Kopfschmerzen hinter der Stirn wacht er früh auf. Hinter der ovalen Luke das tiefblaue Mittelmeer. Die Côte d’Azur macht ihrem Namen alle Ehre. Er kann die Häuser in der Bucht und die Zuckergussfassade des Carlton erkennen.

Er ist froh, dass er alleine aufwacht. Höchstwahrscheinlich bereut Ulrika den spontanen Alkoholsex.

Seine Kabine ist klein, hat aber gehobenen Hotelstandard. Die Decke war so straff um die Matratze gespannt gewesen, dass er fast mit Gewalt daran zerren musste, um darunterzuschlüpfen. Er hat ein eigenes Bad mit eingeschweißter Zahnbürste neben dem Waschbecken.

Er füllt ein Glas mit Leitungswasser und nimmt zwei Paracetamol. Obwohl er nur wenige Stunden geschlafen hat, kann er nicht wieder einschlafen. Er zieht Jeans und Hemd an und geht barfuß auf den Gang.

Die Grundrisse der drei Decks hat er im Kopf. Ganz hinten auf der Ebene, auf der er sich befindet, führen drei Stufen hinauf zu Eric Hands’ Privaträumen, einer Schlafkabine und einem Arbeitszimmer. In der turbulentesten Phase des Atlas-Konzerns, vom Tod von Elias’ Vater bei dem Bombenanschlag auf das Hotel Europe in Sarajevo bis zu dem Moment, als ihm ein Auftragsmörder in Ylvas Villa in Farsta Strand das halbe Gesicht weggeschossen hat, soll sich Eric Hands auf die Jacht zurückgezogen und sein gigantisches Unternehmen von hier aus regiert haben.

Fünf Menschen sind innerhalb weniger Wochen ums Leben gekommen, die Mörder selbst mitgezählt, sieben. Darunter Elias’ Vater, Elias’ Stiefmutter und Elias’ Stiefbruder. Sie waren zwar nie auf einer Wellenlänge, aber Markus war das letzte bisschen Familie, das Elias noch geblieben war, bis er im Flur der elterlichen Wohnung im Karlbergsväg kaltblütig hingerichtet wurde, während sich Elias im Schlafzimmer versteckt hielt.

Er hat noch eine Großmutter mütterlicherseits, aber die lebt in Ligurien. Mit seinem Italienisch ist es nicht weit her, und außerdem hat er sie nur selten gesehen, seit seine Mutter vor fast sieben Jahren gestorben ist.

Und jetzt ist er hier. Er steht auf und wischt sich den Schweiß von der Stirn, während ihm durch den Kopf geht, was gestern passiert ist. Es ist fast zu glatt gelaufen: Wille, Richard, Ulrika, die Jacht. Er brauchte sich gar nicht anzustrengen, hat sich einfach treiben lassen und ist von Richard freundlich und großzügig aufgenommen worden. Und Ulrika hat sich aus irgendeinem Grund sofort auf ihn eingeschossen, sobald sie an Bord war. Es war, als wüssten sie alle Bescheid und spielten ein Spiel mit ihm.

Er weiß, dass das nicht sein kann, aber völlig ausgeschlossen ist es nicht, schließlich ist nichts unmöglich. Wenn Örjan, Karolina oder jemand anders aus einem sehr kleinen Personenkreis ihn verraten hätten, dann vielleicht, aber das ist extrem unwahrscheinlich. Darauf muss er vertrauen. Etwas anderes bleibt ihm gar nicht übrig.

Jetzt nur keine Hirngespinste. Er darf sich nicht verunsichern lassen, um sich nicht früher oder später zu verraten. Er holt tief Luft, stellt beide Füße fest auf den weichen Teppich, verankert sich in Tom White, er ist Tom White.