Die Nacht des Propheten - Håkan Östlundh - E-Book
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Die Nacht des Propheten E-Book

Håkan Östlundh

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Beschreibung

Das fulminante Finale der neuen, großartigen Thriller-Trilogie aus Schweden – rasant, clever geplottet und brandaktuell!

Eine Jacht vor Cannes. Ein Mann springt von Bord. Dann setzt eine Explosion das Meer in Flammen. Elias Krantz ist in letzter Sekunde den Männern entkommen, die er stellen sollte. Dabei hat er alles verloren: seine Familie, seinen Job beim schwedischen Geheimdienst, die Frau, die er liebt. Sein Wissen um die Machenschaften der schwedischen Regierung und des skrupellosen Unternehmers Eric Hands machen ihn von allen Seiten zum Gejagten. Einzig bei seiner Vertrauten, der Diplomatin Ylva Grey, findet er Hilfe. Doch Elias weiß: Wenn er für Gerechtigkeit sorgen will, muss er noch einmal zum Rächer werden – selbst wenn es ihm den Tod bringt …

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Seitenzahl: 496

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Buch

Sanremo: Nachdem seine Tarnung aufgeflogen ist, taucht Elias Krantz alias Der Prophet in der italienischen Küstenstadt unter. Er hat alles verloren: seine Familie, seinen Job bei der geheimen schwedischen Sondereinheit und die Frau, die er liebt. Sein Wissen um die Machenschaften der schwedischen Regierung und des skrupellosen Unternehmers Eric Hands machen ihn von allen Seiten zum Gejagten. Elias weiß: Er kann sich nicht für immer verstecken. Er muss die Sache zu Ende bringen und Eric Hands und dessen Netzwerk ein für alle Mal unschädlich machen …

Stockholm: Nach Elias’ Flucht versucht Karolina Möller von der geheimen schwedischen Sondereinheit weiter, die Hintergründe der Verschwörung aufzudecken, die ihren Anfang mit dem Mord an Elias’ Vater nahm und im Anschlag auf eine Passagiermaschine gipfelte. Im Zentrum des verantwortlichen Netzwerks: Eric Hands, Chef des Sicherheitskonzerns Atlas. Während ihre Kollegen Elias bereits abgeschrieben haben, sorgt Karolina sich um ihn und bittet seine Verbündete, die Diplomatin Ylva Grey, um Hilfe. Ylva begibt sich auf die Suche nach der Wahrheit – und auf eine Jagd um Leben und Tod …

Weitere Informationen zu Håkan Östlundh sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

HÅKAN ÖSTLUNDH

DIENACHT

DES

PROPHETEN

DIE ELIAS-KRANTZ-TRILOGIE 3

Thriller

Aus dem Schwedischen von Katrin Frey

Die schwedische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Profetens sista död« bei Bokförlaget Polaris, Stockholm.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung August 2021

Copyright © Håkan Östlundh 2021

by Agreement with Grand Agency

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: FinePic®, München; Arcangel/Miguel Sopreira; GettyImages/RooM/steinliland; GettyImages/Kristina Kausmann/EyeEm; Stocksy/Mem Studio

Redaktion: Maike Dörries

KS · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-24955-7V001

www.goldmann-verlag.de

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(Nichts anderes zulassen als) die dunklen Kräfte, die Rache in Liebe und Tod in Verliebtheit verwandeln.

Tom White in Die Stunde des Propheten

Hat er sie wirklich geliebt? Oder hat er es sich nur eingeredet, um das, was er ihr angetan hat, vor sich selbst zu rechtfertigen?

Spielt das jetzt noch eine Rolle?

Ulrika lebt nicht mehr. Von einer Bombe zerfetzt. Tot.

Elias hat sich für ein Zwei-Sterne-Hotel entschieden, dessen Sterne allerdings schon zwanzig Jahre auf dem Buckel haben. Grund war nicht nur der günstige Preis, sondern die Hoffnung, dass man es hier bei der Anmeldung mit den Personalien nicht so genau nehmen würde.

Der Eingangsbereich des Hotel Liberty ist überraschend einladend, das gewölbte Glasdach über der Tür ist von üppigen Palmen und schmiedeeisernen Leuchtern flankiert, aber in der Rezeption riecht es nach Küche, Staub und Putzmittel. Der blaugemusterte Teppich vor dem Tresen, wo die Hotelgäste beim Check-in stehen, ist fleckig und bis auf die Kettfäden abgenutzt.

Er war vor vier Jahren das letzte Mal in Sanremo, an dem Bahnhof, wo er früher so oft ausgestiegen ist … Nach dem Tod seiner Mutter ist er immer seltener hergekommen. Sieben Jahre sind inzwischen vergangen. Und seine Großmutter war auch nicht die Reiselustigste. In Schweden war sie zuletzt bei Mamas Beerdigung. Da lebte Opa noch. Er erinnert sich lebhaft daran. Die beiden Alten mit den weichen, arthrosekrummen Händen und den liebevollen Augen, zu Hause in Ligurien zwei Felsen in der Brandung, aber in einem Land mit einer fremden Sprache ganz verloren.

Als er an die verflossenen Jahre denkt, überkommt ihn ein trostloses Gefühl von Verlassenheit, das in paradoxer Weise geradezu seine Stimmung hebt. Er hat nicht erwartet, etwas anderes als Trauer und Ratlosigkeit empfinden zu können, aber offenbar ließ sich auf die schwere Last doch noch ein negatives Gefühl draufpacken.

Obwohl es bis zu seiner Großmutter, die ein Stück landeinwärts wohnt, mit dem Auto höchstens eine Stunde ist, wird er sie nicht besuchen. Das Risiko ist ihm zu hoch. Wenn ihm jemand folgt und Tom White mit Elias Ferreira Krantz in Verbindung bringt, kann das nicht nur für ihn, sondern auch für seine Großmutter verhängnisvolle Folgen haben. Trotzdem ist er nach Sanremo gekommen. Ist es Zufall? Wohl kaum. Wahrscheinlich hat ihn seine Identitätslosigkeit hierhergetrieben. Zu seinen unbestritten hier liegenden Wurzeln.

Elias geht zu dem verwaisten Marmortresen und drückt auf Anweisung eines dort mit Klebestreifen befestigten Zettels in englischer und italienischer Sprache den Klingelknopf.

Eine elegante, müde aussehende Frau um die dreißig mit gefärbtem und chemisch geglättetem Haar tritt aus einem Raum hinter der Rezeption. Während sie ihn lächelnd fragt, wie sie ihm weiterhelfen kann, legt sie eine Hand mit fünf kunstvoll modellierten, korallenroten Nägeln auf den Tresen.

»Haben Sie ein Einzelzimmer für zwei Nächte?«, fragt er.

»Ja«, sagt sie. »Zweiundfünfzig Euro mit Frühstück.«

Ein Schnäppchen.

»Perfekt«, sagt er erfreut.

Ohne eine Miene zu verziehen, schiebt sie ihm ein gelbes Formular hinüber und knallt einen Kugelschreiber darauf. Elias trägt sich als Andreas Johansson ein, ein entfernter Bekannter vom Gymnasium, gibt aber für den Fall, dass sie auf die Idee kommen sollte, ihn auf Facebook zu suchen, eine vollkommen andere Adresse an. Es gibt sicher Tausende Andreas Johanssons, genug, um eventuelle Recherchen schulterzuckend ad acta zu legen.

»Ich brauche eine Kreditkarte und einen Pass oder einen anderen Ausweis«, sagt sie, als er ihr das Formular zurückgibt.

Elias lächelt gequält.

»Tut mir leid, ich habe weder noch.«

Ihre Augen weiten sich ein wenig.

»Bezahlen kann ich, ich habe Bargeld dabei.«

»Aber keinen Ausweis?«

»Nein. Ich bin in Nizza ausgeraubt worden. Man hat mir Handy, Brieftasche, Pass und alles andere außer dem Bargeld, das ich in der Tasche hatte, gestohlen.«

Er klopft sich auf die Hosentasche, um zu verdeutlichen, wo er sein Geld hat. Seufzend wirft sie einen Blick auf seine Hose, schaut ihm in die Augen und trommelt eine Weile mit den Fingern auf das Formular, bevor sie es in einem Fach unter dem Tresen verschwinden lässt. Ihren Augenringen nach zu urteilen, hat sie andere Sorgen als die Identitätsnachweise der Hotelgäste.

»Sie müssen für beide Nächte im Voraus bezahlen. Wenn Sie länger bleiben wollen, brauche ich einen vorläufigen Pass oder eine polizeiliche Verlustanzeige.«

»Danke.«

Er gibt ihr einhundertzehn Euro und bekommt sechs zurück, aber keine Quittung. Er gibt keine weiteren Erklärungen ab, aber sie dürfte auch so zu dem Schluss gekommen sein, dass er sich die blauen Flecken im Gesicht bei dem Raubüberfall zugezogen hat.

Nachdem sich auch die zweite Sicherheitstür mit einem Klicken öffnet, betritt Örjan zehn Minuten verspätet die Räume des Büros in der Floragata. Es ist untypisch für ihn, zu spät zu kommen, schon gar nicht, ohne Bescheid zu sagen.

»Gebt mir fünf Minuten«, ächzt er.

Karolina Möller und Vendela Bark nicken, aber er hat ihnen bereits den Rücken zugekehrt und ist auf dem Weg in sein Zimmer.

Karolina und Vendela wohnen nach wie vor in der etwas schäbigen Wohnung in der Blekingegata, in die sie gezogen sind, nachdem ein Mann in Karolinas Wohnung auf Långholm eingebrochen ist und versucht hat, sie zu töten, dürfen aber mittlerweile wieder ins Büro.

Sie ermitteln noch immer im versuchten Mord an Karolina und sind überzeugt, dass hinter dem inkompetenten Mörder Hintermänner stehen, möglicherweise dieselben Personen oder zumindest dasselbe terroristische Netzwerk, das vor sechs Wochen den Air-France- Flug Nr. 1562 während des Anflugs auf den Stockholmer Flughafen Arlanda abgeschossen hat.

Seitdem hat sich einiges verändert. Fünf neue Mitarbeiter sind dazugekommen. Zwei in der von Vendela geleiteten IT-Abteilung, die momentan die vom Propheten beschafften Daten aus dem System von Atlas sortiert und analysiert, und drei sind Karolina unterstellt. Unten auf der Straße haben sie einen Wachmann, das Zimmer von Örjan Mardell oder, besser gesagt, der verglaste Teil des Zimmers am Ende des Ganges, das er als sein persönliches Büro benutzt, soll immer abgeschlossen sein, und die Dienstwaffen dürfen auch innerhalb der Räumlichkeiten nicht abgelegt werden.

Die Aufklärung des Anschlags auf das französische Linienflugzeug, den größten Terrorangriff, der je in Schweden stattgefunden hat, erfordert enormen Aufwand. Der geheime Teil der Arbeit des Büros betrifft nur ein kleines, aber nicht unbedeutendes Detail: die verwendete Waffe. Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelt es sich um eine tragbare Flugabwehrrakete, die in Zusammenhang mit dem Industriellen Eric Hands und dem Atlas-Konzern stehen könnte.

»Ich verstehe nicht, was der Prophet sich dabei gedacht hat«, sagt Karolina. »Warum haut er aus dem Krankenhaus ab? Wir tun alles, um ihm zu helfen, trotz seinem doppelten Spiel mit Lambert, und er macht sich aus dem Staub wie ein zur Fahndung ausgeschriebener Bankräuber.«

»Du bist immer noch sauer.«

Vendela wirft ihr einen belustigten Blick zu, was Karolina noch wütender macht.

»Ja, warum sollte ich das auch nicht sein?«

Der Prophet hatte sich mit Emmanuel Lambert vom CNRLT eingelassen, einer Organisation, die sich am ehesten als Frankreichs neue Homeland Security beschreiben lässt, ohne das Büro zu informieren. Er hat ihnen damit nicht geschadet, aber das ist nebensächlich. Lambert hat sich ihre Arbeit zunutze gemacht.

Der Prophet war ein Doppelagent geworden. Ein Verräter. Und man konnte beim besten Willen nicht behaupten, er hätte nicht gewusst, worauf er sich einließ.

»Er dürfte ziemlich durcheinander sein«, sagt Vendela. »Das liegt in der Natur der Sache. Probleme mit Paranoia? Keine Sorge, schluck einfach die Tabletten hier und bleib im Krankenhaus, dann klärt sich alles.«

Vendelas einfühlsame Stimme geht ihr gegen den Strich.

»Wir hätten ihn einsperren sollen.«

»Tja, kann sein, nur haben wir das nicht zu entscheiden. Er lag in einem französischen Militärkrankenhaus.«

Vendela steht auf und klopft sich ein paar Papierschnipsel von ihrer schwarzen Jeans. Erstaunlicherweise hat sie nach ihrer Rückkehr aus Cannes Zeit gefunden, zum Friseur zu gehen. Die ohnehin zierliche Person wirkt noch eine Nummer kleiner, seit sich der voluminöse Lockenkopf auf zwei straff geflochtene Zöpfe reduziert hat.

»Wollen wir?«

Vor Örjans Tür bleiben sie stehen.

Örjan, der hinter seinem Schreibtisch steht, den Blick auf den Bildschirm gerichtet, drückt den Türöffner, als er sie bemerkt. An der Tischkante steht ein Plastikteller mit einem letzten Hummusrest von Reggev in der Döbelnsgata, eine zusammengefaltete Serviette und eine Holzgabel sorgsam darauf platziert. Selbst wenn er sich gehen lässt noch ein Ordnungsfanatiker, denkt Karolina. Hastig wirft Örjan den Teller in den Papierkorb unter seinem Tisch und knöpft sich das Jackett zu, das wie alle seine Kleidungsstücke einen Tick zu klein für seinen massigen Körper zu sein scheint.

Karolina und Vendela setzen sich, und Karolina beginnt sofort mit ihrem Bericht. Diesmal verzichtet sie auf emotionale Exkurse.

»Der Prophet ist mit einem Taxi aus dem Krankenhaus entkommen. Unterwegs hat er sich eines Handys und einer Kreditkarte entledigt. Das Handy hat er weggeworfen, sobald er das Krankenhaus verlassen hatte, die Kreditkarte hat er in einen Gully fallen lassen, nachdem er an einem Geldautomaten Geld abgehoben hat. Vermutlich, weil er befürchtet, dass man ihn anhand der Kreditkarte verfolgen würde. Das Taxi hat ihn ins Stadtzentrum von Nizza gefahren, wo wir seine Spur verloren haben, weil uns ein plötzlich aus einer Querstraße kommendes Müllauto den Weg abgeschnitten hat. Ich bezweifle, dass es ein Zufall war.«

»Wer könnte deiner Ansicht nach dahinterstecken?«, fragt Örjan.

Er sitzt regungslos an seinem Schreibtisch und verzieht keine Miene. Was, wie sie aus Erfahrung weiß, auf höchstes Interesse hindeutet.

»Das Handy und die Kreditkarte, die er bei sich hatte, als er aus dem Krankenhaus kam, kann er nur von Lambert haben«, sagt Karolina. »Falls Lambert ihm zur Flucht verholfen hat, könnte er durchaus auch dafür gesorgt haben, dass ihm niemand folgt.«

»Hat er ihm womöglich eine neue Identität verschafft?«

»Leider sind wir nicht an die Kreditkarte herangekommen«, antwortet Vendela. »Aber das Handy habe ich untersucht. Es war eine einzige Nummer darauf gespeichert. Eine anonyme französische Telefonnummer.«

Örjan denkt kurz nach.

»Wir lassen die Sache auf sich beruhen«, sagt er schließlich.

»Was?«

Karolina sieht Örjan ungläubig an und wirft Vendela einen Seitenblick zu.

»Ja«, sagt ihr Chef. »Lasst ihn laufen. Er hat unseren Auftrag erfüllt. Wir haben bekommen, was wir wollten.«

Sie hatten ihr Ziel erreicht, das darin bestand, ins Datennetzwerk des Atlas-Konzerns einzudringen. Der Prophet hatte aus Notwehr den schwedischen Rechtsextremisten Simon Brinkman getötet, der für Eric Hands eine Reihe zwielichtiger Geschäfte erledigt hatte. Anhand von Satellitenbildern hatte Eric Hands den Propheten ein paar Tage später enttarnt und das Computersystem abgeschaltet. Allerdings hatten sie sich zu dem Zeitpunkt bereits alles, was dort zu holen war, heruntergeladen.

»Entschuldige«, sagt Karolina, »aber ist das wirklich die richtige Entscheidung? Du bist ihm nie persönlich begegnet, so wie wir. Er ist verwirrt. Es ist nicht auszuschließen, dass er uns oder sich selbst für das, was passiert ist, Vorwürfe macht. Ich befürchte, er könnte auf die Idee kommen, mit seinem Wissen an die Öffentlichkeit zu gehen oder sich gar etwas anzutun.«

Örjan drückt sich an die Rückenlehne, als würde er unangenehmem Mundgeruch ausweichen.

»Ich habe gehört, was du gesagt hast«, brummt er. »Aber ich glaube, der Prophet weiß durchaus, was für ihn am besten ist. Alle von euch erwähnten Vorsichtsmaßnahmen deuten auf eine stabile Persönlichkeit hin. Und sollte er …« Örjan umfasst die Armlehnen und legt eine Pause ein.

»Was?«

»Sollte er sich doch umbringen, ist das nicht unser Problem.« Örjan hüstelt angestrengt. »Natürlich tragen wir eine Verantwortung für unsere Mitarbeiter, aber wenn diese sich uns bewusst entziehen und darüber hinaus mit dem Nachrichtendienst eines anderen Staates anbandeln, dann sind wir meiner Meinung nach nicht mehr zuständig. Oder seht ihr das anders?«

Es ist nicht leicht, etwas dagegen zu sagen. Vor allem, weil das Argument auch von ihr hätte sein können. Es aus dem Mund ihres Chefs zu hören, fühlt sich trotzdem nicht gut an. Obwohl sie eigentlich stinksauer auf den Propheten ist, muss sie zugeben, dass sie sich Sorgen um ihn macht. Außerdem ist sie der Meinung, dass sie für ihn verantwortlich sind, weil sie ihn in diese Sache mit hineingezogen haben. Aber Örjan ist der Chef. Und deswegen hält sie den Mund.

»Na dann«, sagt Örjan. »Schließen wir den Propheten ab und blicken nach vorne.«

Es ist der zweiundzwanzigste Oktober. Elias sitzt an einem gusseisernen Bistrotisch unter einer Platane, deren Blätter allmählich gelb werden, und hat einen doppelten Espresso vor sich stehen. Ein paar Minuten lang vergisst er fast, dass er auf der Flucht ist, und konzentriert sich auf die warme Sonne in seinem Gesicht und den bitteren Kaffeegeschmack auf der Zunge.

Seit er das Krankenhaus verlassen hat, sind drei Tage vergangen. Während der zwei Tage im Hotel Liberty gegenüber vom Piercing-Studio »Borneo Flower«, das ganz und gar keine Ähnlichkeit mit dem düsteren BDSM-Keller hatte, den man bei solch einem Namen in Stockholm erwarten würde, sondern eher an ein exklusives Juweliergeschäft erinnerte, hatte er sich ein einfaches Handy besorgt und von einem der Internetcafés, die es in diesen Breitengraden immer noch gibt, bei Airbnb ein günstiges Zimmer gebucht.

Die Wohnung im nördlichen Teil der Stadt ist eher ein Kabuff, eingerichtet mit wackligen Möbeln von IKEA und Flohmarktfunden und einem Minimum an Küchenutensilien, aber natürlich mit WLAN und einem Flachbildschirm aus grauem Plastik ausgestattet. Etwas Besseres kann er sich nicht leisten, sein Geld muss so lange wie möglich reichen. Wenn das nicht viel teurere und um einiges wohnlichere Hotel nicht auf eine Verlustanzeige bestanden hätte, wäre er lieber dortgeblieben.

Das imbissartige Straßencafé befindet sich an einem dreieckigen Platz in der Nähe seiner Wohnung. Er hat es gleich am ersten Tag hier entdeckt. Der Betreiber mit der dunklen, wettergegerbten Haut und dem militärisch geraden Rücken behandelt ihn bereits wie einen Stammgast. Er weiß, er sollte sich besser keine Gewohnheiten zulegen, aber irgendwie muss er sich ja beweisen, dass er noch existiert und wenigstens noch eine winzige Verbindung zur Welt besteht.

Das Leben undercover mit all seinen psychischen Belastungen und Entbehrungen ist schon schwer genug, wenn man ein Ziel vor Augen hat und weiß, dass man letztendlich etwas bewirken wird. Etwas ganz anderes ist es, wenn das Leben im Verborgenen Selbstzweck ist. Er braucht irgendeinen Grund, um zu leben, und sei es nur ein Kaffee und ein paar Sonnenstrahlen.

Er braucht einen Plan, aber bislang ist ihm das nicht gelungen. Am besten wäre es wahrscheinlich, nach Schweden zurückzukehren. Solange er sich auf Regionalzüge beschränkt und innerhalb des Schengenraums bleibt, benötigt er dafür noch nicht mal Ausweispapiere. Er spricht fließend Englisch, Schwedisch und Französisch und ist zurzeit blond. Er läuft also weder Gefahr, in Gewahrsam genommen noch in ein Kriegsgebiet abgeschoben zu werden. Schlimmstenfalls kann er einen Grenzübergang nicht im ersten Anlauf passieren und muss es am nächsten Tag erneut versuchen.

Er ist immer noch erschöpft, sein misshandelter Körper gehorcht ihm nicht richtig. Die Schläge, die er auf der Jacht von Eric Hands eingesteckt hat, spürt er noch in den Knochen, und wenn er sich unbedacht bewegt, schmerzt die gebrochene Rippe. Die blauen Flecke im Gesicht sind zum Glück fast vollständig verblasst. Elias schließt die Augen, hört ein paar Straßen weiter den Verkehr rauschen und zwei Frauen, die sich in ratterndem Italienisch unterhalten. Er versteht nicht einmal die Hälfte.

Sein Puls schießt in die Höhe, ein Erinnerungsfetzen zwingt ihn, die Augen zu öffnen: Ulrika an der Reling, die ausgelassen winkt und ihm zuruft, dass sie ihn holen kommt. Er spürt die nassen Kleider auf der Haut, so weit draußen ist das Wasser kalt, und sein malträtierter Körper tut weh. Dann die ferngesteuerte Rakete, die Jacht im Flammenmeer, Ulrika verschwunden und er selbst gefangen in der Taubheit nach der Explosion.

Hastig sieht er sich auf dem Platz um. Der Mann an der Espressomaschine, die beiden Passantinnen, eine gurrende Taube hoch oben in der Platane.

Sie ist vor seinen Augen gestorben, von einer Sekunde auf die andere ist sie atomisiert worden. Es sind mittlerweile eine Reihe Menschen gestorben, die ihm nahestanden: sein Vater bei dem Bombenattentat in Sarajevo. Aus dem Weg geräumt, nachdem ihm ein Whistleblower aus dem Atlas-Konzern einen USB-Stick mit einer Tonaufnahme hatte zukommen lassen. So hat das Ganze für Elias angefangen, bevor er in einen Strudel aus Tod, Korruption und ungesühnten Verbrechen geraten war. Seine Stiefmutter Mari-Louise, ermordet an einem vermeintlich sicheren Ort, sein Stiefbruder Markus, irrtümlich an seiner Stelle hingerichtet, und dann Ulrika auf der Jacht. Den Auftragskiller, ein Rechtsextremist namens Simon Brinkman, hat Elias eigenhändig mit einem französischen Fleischmesser getötet.

War Elias schuld daran, dass Ulrika ums Leben gekommen ist?

Ja. Sie ist nur wegen seiner Anwesenheit gestorben.

Elias war zwar nicht für die zielsuchende Rakete verantwortlich, die das Boot in Stücke gerissen hat, aber ohne ihn hätte Ulrika sich nicht an Bord der Jacht oder in Cannes oder überhaupt in Europa befunden.

Er war ein Mörder, und wen er nicht selber tötete, kam durch seine Anwesenheit zu Tode.

Er hat sie geliebt. Und das war ein Fehler gewesen. Verheerend unprofessionell. Aber alles andere war undenkbar. Er war gelandet, wo er gelandet war, weil es so hatte kommen müssen. Er hat Ulrika kennengelernt, hat sich in sie verliebt und ihr Vertrauen gewonnen, weil seine Gefühle echt waren, wenn auch durch eine absichtlich herbeigeführte Situation forciert: ihrem Vater Eric Hands näherzukommen. So lief das, und das wussten die Mitarbeiter des Büros genau, gaben sich aber ahnungslos.

Es war nicht das erste Mal, und es war vorherzusehen gewesen, weil Menschen keine Maschinen sind, und genau darum ging es. Elias war Kanonenfutter. Emotionales Kanonenfutter.

Er sieht zum Himmel hinauf. Rast dort eine zielsuchende Rakete durch die Luft? Er bekommt einen trockenen Mund und muss sich an der Tischkante festhalten, um nicht vom Stuhl zu kippen. Er beißt die Zähne aufeinander und zählt die Sekunden bis zur Explosion.

Doch es passiert nichts. Keine Rakete, keine Explosion, kein Tod. Langsam normalisiert sich sein Puls, und er kann die feuchten Hände vom Tisch lösen. Die Kopfschmerzen machen sich wieder bemerkbar. Manchmal glaubt er, der Tumor wäre noch da, aber dann verdrängt er seine Ängste und sagt sich, dass es mit den Schlägen und der Raketenexplosion zu tun hat, dass die Schmerzen daher rühren müssen.

Er steht auf und will zurück zu seiner Wohnung gehen. Der Mann in der kleinen Bar ruft ihm ein Ciao hinterher. Er winkt ihm zu. Dieser alte Mann, der ihn gar nicht kennt, ist sein einziger Grund, sich real zu fühlen.

Er verlässt die Gasse, die zu dem Platz führt, und geht den schmalen Bürgersteig einer Einbahnstraße entlang, durch die gerade mal ein Auto passt. Vor einem Lebensmittelgeschäft weicht er einem Hund mit struppig grauem Fell aus, der mit der Schnauze auf den Vorderpfoten ausgestreckt daliegt, und läuft ein Stück auf der Fahrbahn. Der Hund verfolgt ihn reglos mit seinem Blick.

Im gleichen Moment, als ihm ein Mann in dunkelblauem Blouson mit kleinem Krokodil auf der Brust entgegenkommt, überholt ihn ein weißer Lieferwagen. Elias springt zurück auf den Gehweg und drückt sich an die Hauswand, um den Mann vorbeizulassen, doch der Mann weicht ebenfalls aus. Elias bleibt lächelnd stehen, damit sie sich nicht wieder beide in einem nervösen Ausweichmanöver gegenseitig den Weg versperren, und fordert den anderen mit einer höflichen Geste zum Weitergehen auf.

Da öffnet sich scheppernd die Schiebetür des Lieferwagens. Der kräftige Mann im Lacoste-Blouson deutet mit einer Kopfbewegung auf den Wagen.

»Einsteigen«, sagt er auf Französisch.

Elias dreht sich um und will davonrennen, wird aber nach höchstens einem Meter von einem Mann aufgehalten, der unbemerkt hinter ihm aufgetaucht ist. Die beiden Männer drehen ihm die Arme auf den Rücken und schieben ihn unsanft in den Lieferwagen. Er hat ihnen nicht viel entgegenzusetzen, als sie ihn auf den Boden drücken und er einen Stich am Oberschenkel spürt. Das Fahrzeug setzt sich in Bewegung, und während er wegdämmert, träumt er, er würde wegrennen. Überzeugt davon, dass sie ihn töten wollen, rennt er um sein Leben, während er gleichzeitig denkt, dass es bestimmt ein spannender Ausflug wird.

Ylva Grey steigt am Flughafen Arlanda in den Expressbus und nimmt am Hauptbahnhof ein Taxi. Als der schwarze Wagen auf die hohen Tannen zufährt und sie kurz darauf auf dem Hügel am See die prächtige Jugendstilvilla erblickt, ist sie seit zwei Wochen nicht zu Hause gewesen. Sie hatte Urlaub genommen, um dem Medienrummel zu entfliehen. In der Annahme, nicht als Generaldirektorin von Sida zurückzukehren. Sie hatte sogar vorsorglich ein Blankokündigungsschreiben eingereicht, sich nun aber doch entschlossen zu bleiben. Die Staatssekretärin im Ministerium für technische Zusammenarbeit ist bereits informiert. Sie hat nicht vor aufzugeben.

Die böswillige Lüge, sie hätte Einwanderer ohne Arbeitsgenehmigung bei sich zu Hause unentgeltlich arbeiten lassen, wie anfänglich von Rechtsextremisten in den sozialen Medien verbreitet, war nach einer Weile auch in den Mainstreammedien angekommen. Eine oft genug wiederholte Lüge wird zwar nicht automatisch wahr, aber man sät Zweifel, und irgendwann fangen auch seriöse Journalisten an, Fragen zu stellen und den Zweifeln Nahrung zu geben.

Als Eric Hands’ Jacht untergegangen war, hatte sie ihre bereits beschlossene Abreise um ein paar Tage verschoben. Ein paar schreckliche Tage lang war sie überzeugt, dass Elias tot war.

Sie konnte sich nicht erklären, was ihn dazu getrieben hatte, unter Lebensgefahr auf die Capricorn zurückzukehren, obwohl sein Auftrag eigentlich abgeschlossen war. Hatte er gehofft, noch mehr bewirken zu können? Ging es ihm um Gerechtigkeit und Vergeltung? Oder um die Frau an Bord, Eric Hands’ Tochter Ulrika? Hatte sie ihn gelockt?

Das Taxi fährt durch das Tor. Es ist ein sonniger Tag, die Luft ist kalt und klar, der Himmel hoch. Noch hat sich die Dunkelheit nicht über den Norden gesenkt, aber sie liegt bereits auf der Lauer.

Sie bittet den Taxifahrer, neben dem Wohnmobil zu halten, in dem sich der Wachschutz aufhält, klopft an und teilt dem Personenschützer ihre Rückkehr mit. Es sind drei oder vier verschiedene Männer, die in Schichten arbeiten. Ylva hat noch keinen von ihnen persönlich getroffen, aber sie hat die Namen und Passfotos zugeschickt bekommen. Der Mann zeigt ihr seinen Ausweis und stellt sich vor. Peder Christiansen. Das klingt dänisch. Auf solche Dinge achtet sie mittlerweile penibel. Vor einem Jahr wäre der gezückte Ausweis nur eine Formalität gewesen. Sie hätte nicht einmal den Namen gelesen. Nun liest sie ihn nicht nur, sie prägt ihn sich ein.

Er weist sie auf die beiden Notrufschalter hin, die im Haus eingebaut wurden. Einer im Schlafzimmer und einer in der Küche. Dafür muss sie eine App auf ihrem Smartphone installieren. Und sie werden Übungen durchführen. Er kann innerhalb von dreißig Sekunden bei ihr sein.

Das Taxi fährt vor bis zum Eingang. Ylva bezahlt, trägt ihren Koffer die wenigen Stufen hinauf und steckt den Schlüssel ins Schloss. Sie durchquert den großen, vollgestellten Hausflur. Jedes Mal wenn sie nach längerer Abwesenheit nach Hause kommt, fällt ihr auf, dass sie dringend ausmisten müsste, aber sobald sie im Haus ist, vergisst sie es wieder.

Sie schließt die nächste Tür auf, stellt den Koffer ab und gibt den Code in die Tastatur der Alarmanlage ein. Sie hängt ihren Mantel auf, aber die Schuhe behält sie an. Es ist Ende Oktober, die Fußböden sind kalt.

Die Personenschützer sind ihr großzügig gewährt worden, als die Schmutzkampagne von den Internetseiten der rechtsextremen Kreise in die Boulevardpresse hinübergeschwappt war. Im Grunde war die mediale Hetzjagd aber nur ein Vorwand. Der Sicherheitsbeauftragte von Sida hatte den Vorschlag als Erster geäußert. Ylva war zuerst dagegen gewesen, aber wenige Tage später hatte Karolina Möller vom Büro auch darauf bestanden. Es gab noch andere Gründe, Dinge, die mit Eric Hands und dem Mord an Elias’ Vater zu tun hatten. Im schlimmsten Fall war auch Ylva in Gefahr. Unter diesen Umständen konnte Ylva den Schutz nicht mehr ablehnen, hatte sich aber vor den Journalisten, die ihre Einfahrt belagerten, bereits in ein Hotel verkrochen.

Peder Christiansen und die anderen Personenschützer waren dem Büro unterstellt und keine externen Sicherheitsleute oder Mitarbeiter der Säpo. Ylva hatte sich besorgt gefragt, wie es sein würde mit dem Wohnmobil mit einem Wächter direkt neben dem Haus, der regelmäßig seine Runden drehen und dafür sorgen würde, dass niemand im Gebüsch herumschlich. Sie befürchtete, sich selbst überwacht und in ihrem Privatleben eingeschränkt zu fühlen, aber als sie nun in ihrem Wohnzimmer steht und auf das dunkle Wasser des Magelungensees hinausblickt, fühlt sie sich wider Erwarten sicher. Es ist ein beruhigender Gedanke, dass jemand sie beschützt, wenn sie abends den Kopf auf ihr Kissen legt. So kann sie die Augen schließen, ohne sich ausmalen zu müssen, wer da draußen in der Nacht alles herumschleichen könnte.

Die Luft in den Wohnräumen ist klamm. Ylva geht in den Keller und stellt die Heizung an, dann versucht sie, in dem grünen Kachelofen ein Feuer zu machen, was ihr beim dritten Mal schließlich gelingt.

Die französischen Medien haben ausführlich über den Anschlag auf die Capricorn berichtet. Insbesondere die Lokalzeitungen an der Riviera. Die Jacht war kurz nach dem Einschlag der Rakete gesunken, aber irgendjemand hatte es trotzdem geschafft, ein Foto von dem brennenden Schiff zu machen. Die Capricorn, die nur noch als verbogenes Stahlskelett inmitten der Flammen zu erkennen war, brannte lichterloh. Ulrika, die Tochter des schwedischen Industriellen Eric Hands, war vermutlich ums Leben gekommen. Es folgten die wildesten Spekulationen: Zuerst wird in Schweden die Air-France-Maschine abgeschossen, dann die private Jacht des Inhabers des schwedischen Atlas-Konzerns, der unter anderem Material für die Rüstung produziert, versenkt. Bestand da einen Zusammenhang? Einem Gerücht zufolge hatte Eric Hands auf der Passagierliste dieses Air-France-Flugs gestanden. War es in Wirklichkeit um ihn gegangen? Und wer nahm den Tod von einhundertsiebenundvierzig Menschen in Kauf, wenn er es nur auf einen bestimmten abgesehen hatte?

Nirgendwo wurde Ulrikas Freund erwähnt. Kein Wort zu Tom White, der Deckidentität, unter der sich Elias in die Familie Hands eingeschlichen hatte.

Ylva war einerseits von Elias’ Tod überzeugt gewesen und hatte andererseits standhaft die Augen davor verschlossen. Sie hatte sich an einen Rest Hoffnung geklammert und alles Übrige ausgeblendet.

Da sie Elias nicht erreichen konnte, hatte sie Emmanuel Lambert und Karolina Möller angerufen. Ersterer hatte sich nicht zurückgemeldet, aber Karolina hatte nach zwei Tagen zurückgerufen und mitgeteilt, Elias sei okay. Mehr könne sie nicht sagen.

Okay. Wie konnte irgendjemand nach einem solchen Vorfall okay sein? Aber immerhin war er offenbar am Leben und vermutlich auch nicht allzu schwer verletzt.

Sie hatte Elias zuletzt im Krankenhaus in Cannes gesehen. Vermutlich war er zu dem Zeitpunkt schon nicht okay gewesen, auch wenn der Unfall, in den er verwickelt war, reine Fiktion war. Er hatte etwas Fieberhaftes ausgestrahlt, eine Besessenheit, die rational nicht zu erklären gewesen war. Er hatte diese Sache um jeden Preis durchziehen wollen. Dass er dabei ein viel zu hohes Risiko einging, war ihm egal. Er war wie ein Roulettespieler, der weiß, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit verlieren wird, aber der Aussicht auf den großen Gewinn trotzdem nicht widerstehen kann.

Und nun ist er ein gebranntes Kind. Jedenfalls im übertragenen Sinn.

Wenn sie nur mit ihm sprechen könnte, eine Minute würde ihr schon reichen, sogar mit einer halben wäre sie zufrieden, sie möchte einfach nur aus seinem Mund hören, dass er okay ist. Er müsste es gar nicht konkret sagen, sie würde es seiner Stimme anmerken, da ist sie sich ganz sicher. Das würde ihr die innere Unruhe nehmen, die sie quält, seit sie die riesigen Flammen auf der Titelseite der Nice-Matin gesehen hat.

Abgesehen vom Knistern des Feuers im Kachelofen ist es in der sechshundert Quadratmeter großen Villa extrem still. Wie schon sehr lange. Sie weiß gar nicht mehr, wann sie zuletzt Leute zum Abendessen oder einer Party eingeladen hat. Während ihrer Ehe mit Johan war das Haus fast jedes Wochenende voll gewesen. Laute Gespräche am Esszimmertisch bis spät in die Nacht und große Feste, bei denen sich unüberschaubar viele Leute in den Räumen tummelten. Trotzdem war es nie zu eng geworden, und es hatte fast immer Spaß gemacht.

Johans Gäste wechselten je nach Film, den er gerade produzierte, aber die Rollenverteilung blieb gleich: Schauspieler, Regisseure, Drehbuchautoren, Koproduzenten und alle möglichen anderen Leute, die irgendwie am Film beteiligt waren. Von ihrer Seite kamen mehr oder weniger immer dieselben Gesichter aus der Entwicklungshilfe und Diplomaten.

Anfangs dachte sie, das wäre in der Filmbranche so üblich, dass rund um jeden Film intensive Bindungen geknüpft wurden, die sich nach beendeter Produktion schnell wieder auflösten. Mit der Zeit begriff sie, dass Johan dazu neigte, es sich mit allen Menschen um sich herum unwiderruflich zu verderben. Er verlangte unmäßig viel, reizte die ohnehin harten Verträge endlos aus und geriet mit anderen Produzenten aneinander. Er war bekannt für seine Zielstrebigkeit, aber abgesehen von wenigen Ausnahmen arbeitete er selten zweimal mit demselben Team zusammen.

Und vor sechs Jahren hatte er dann unwiderruflich die Beziehung zu ihr gekappt. Nachdem er im Streit um das Haus klein beigegeben hatte, hatte sie nie wieder etwas von ihm gehört.

Am nächsten Morgen steht sie früh auf. Sie ist gerade erst hinunter ins Erdgeschoss gegangen, um sich einen Kaffee zu machen, als die Pressebeauftragte von Sida anruft. Dass sie sich schon vor dem Frühstück meldet, ist nie ein gutes Zeichen.

»Es gibt etwas, das du wissen musst«, sagt sie ohne Einleitung.

Ylva weiß sofort, worum es geht.

»Scheiße, die lassen aber auch nicht locker.« Wütend durchquert sie die Küche und geht in den Wintergarten.

»Wohl wahr, aber das hier ist … neu«, sagt Agneta.

Neu? Was meint sie damit? Ylva kehrt zurück in die Küche und setzt sich.

»Schlimmer kann es ja kaum werden.«

»Diesmal sind es keine Vorwürfe. Eher Gerüchte.«

Und was war das andere dann? Gerüchte, Lügen, wo ist da der Unterschied?

»Sag mir einfach, worum es geht.«

»Das liest du am besten selbst. Ich schicke dir einen Link.«

»Moment, leg nicht auf.« Ylva läuft eilig die Treppe hinauf und in ihr Arbeitszimmer. »Ich setze mich an den Computer.«

»Nur damit du dich nicht wunderst«, sagt Agneta. »Die Sache ist etwas schmutzig.«

Ylvas Finger verharren reglos über der Tastatur. Sie hatte angenommen, es ginge um einen weiteren Artikel über Najide und Hossin, denen sie ihr Gästehaus überlassen hatte, solange ihr Aufenthaltsstatus nicht geklärt war. Ihre Gedanken schwärmen in alle möglichen Richtungen aus. Ist das öffentliche Interesse an ihr aufgrund der Hetzkampagne so groß geworden, dass jetzt auch privater Klatsch über sie verbreitet wird?

»Okay«, seufzt sie, »hast du den Link geschickt?«

»Ja.«

Ylva zögert einen Augenblick, bevor sie ihn öffnet.

»Die traurige Liebesgeschichte der Generaldirektorin. Liebhaber kam bei Terroranschlag ums Leben.«

Sie schließt das Fenster, weil sie nicht weiterlesen will. Die Überschrift brennt schon genug.

»Verfluchte Scheiße«, sagt sie.

»Das kannst du laut sagen«, sagt Agneta. »Es ist widerlich.«

Das ist eine völlig neue Dimension. Jetzt muss sie auf alles gefasst sein. Ihr wird innerlich eiskalt. Was kommt als Nächstes? Dass Johan mit der Putzfrau geschlafen hat? Und Ylva mit dem Auto in den See gefahren ist?

»Wir besprechen nachher im Büro, wie wir darauf reagieren.«

Sie legt auf und erhebt sich langsam. Sie friert. Es ist kalt im Haus. Sie geht wieder hinunter, um zu frühstücken. Auf halber Treppe erblickt sie das Sofa im Erker und muss an Elias denken. Obwohl seitdem drei Monate vergangen sind, hat sie die Küsse noch klar und leidenschaftlich in Erinnerung. Dort auf dem Sofa im Wohnzimmer haben sie sich geküsst. Sanft, innig, und überwältigend steigen die Gefühle wieder in ihr hoch, als sie sich der Erinnerung hingibt. Der Sohn ihres ermordeten Geliebten. Werden sie auch das in den Schmutz ziehen?

Das darf auf keinen Fall passieren, denkt sie. Wer könnte es ausplaudern? Nur sie und Elias wissen davon, aber sie hat das Gefühl, jeder könnte wie durch durchsichtige Wände in ihr Leben und ihre Seele schauen und ihre Gedanken lesen.

Karolina nimmt den Fahrstuhl in die Tiefgarage und steigt in den roten Toyota mit der ausgeblichenen Lackierung und dem Rost um die Radkästen. Örjan hat behauptet, er würde wie ein Uhrwerk laufen. Hat er nicht sogar gesagt, wie geschmiert?

Der Wagen springt umstandslos an, und rein mechanisch gibt es nichts auszusetzen, aber wie geschmiert läuft der Motor wirklich nicht. Sie fährt die Rampe hoch und hinaus auf die Gotlandsgata, in der direkt gegenüber das Junggesellenhotel liegt, das für gewisse innerstädtische Randexistenzen offenbar immer noch eine Funktion erfüllt.

Verglichen mit ihnen kann sie sich vielleicht glücklich schätzen, aber sie gibt unumwunden zu, dass sie Heimweh nach ihrer Wohnung auf Långholm hat.

Sie hat sich damit abgefunden, dass es noch eine Weile dauern wird, bis sie wieder nach Hause kann, hofft aber noch vor Jahresende auf eine menschenwürdigere Behausung als die versiffte Drei-Zimmer-Wohnung mit der billigen Auslegeware, dem Walnussfurnier und den grölenden Stammgästen, die spätnachts aus dem Kristall torkeln. Sie nennen es das DDR-Quartier. Hartnäckigen Gerüchten zufolge hat die DDR in diesem Gebäude bis 1990 eine Wohnung gehabt.

Sie fährt auf der Ringstraße bis zur Hornsgata und über die Västerbro hinaus aus der Stadt. Der Blick weitet sich, eine besorgniserregend intensive Herbstsonne glitzert auf dem Riddarfjärd, und vor dem Rathaus wendet ein Segelboot.

Um wieder in die Floragata zu gelangen, müssen sie die Tiefgarage des Polizeigebäudes auf Kungsholm durchqueren. Karolina lenkt den alten Toyota in die Einfahrt am Kronobergspark, steigt um in den büroeigenen Audi, fährt die spiralförmige Rampe hinauf, die auf den Innenhof des Polizeigebäudes mündet, und wird von dort durch das Tor auf die Kungsholmsgata entlassen.

Zehn Minuten vor der Zeit kommt sie in der Fredsgata an. Sie parkt einen Block vom Regierungssitz entfernt und erblickt Örjan Mardell, der seinen massigen Körper aus einem Auto wuchtet. Er führt die einzelnen Bewegungsschritte so systematisch aus wie eine Denksportaufgabe. Nachdem er die Autotür zugeknallt hat, knöpft er den engsitzenden Mantel zu, fährt sich mit den Fingern durchs Haar und hebt eine Hand zum Gruß, als er Karolina bemerkt.

Gemeinsam gehen sie zurück zur Drottninggata, die vormittags um halb zehn so gut wie menschenleer ist. Die Regierungsbeamten sind bereits am Platz, die Touristen noch nicht richtig in die Gänge gekommen. Sie betreten das Gebäude wie üblich durch den Kücheneingang und werden von einem Securitymitarbeiter durch die Personalkantine geschleust.

Die Sitzungen im Justizministerium, dem das Büro formal angehört, haben bisher in Anwesenheit des Ministers, des Staatssekretärs und des Parteisekretärs der Regierungspartei stattgefunden. Vereinzelt war auch der Staatsminister dabei, aber seit dem unappetitlichen Atlas-Skandal halten die Politiker sich fern. Es ist wahrscheinlich klüger, das Büro in gebührendem Abstand zu halten. Man nutzt zwar gerne dessen Dienste, aber wenn es allzu Unappetitliches ans Licht befördert, kann man immer noch so tun, als hätte man nichts davon gewusst.

Gabriel Fors hat praktischerweise die diffuse Funktion eines politischen Ministerialberaters inne, inoffiziell berät er darüber hinaus die Regierung in Sicherheitsfragen. Dass er das tut, muss man sich allerdings selbst zusammenreimen, da er ja nicht in offiziellem Auftrag handelt. Dass Örjan Mardell ebenfalls inoffizieller Regierungsberater ist, darauf ist Karolina schnell gekommen.

Der Vorname Gabriel passt zu ihm, er strahlt tatsächlich wie ein kerngesunder Engel. Er ist groß mit vollem, naturgewelltem Blondschopf und himmelblauen Augen. Die sommerliche Ganzjahresbräune ist nicht direkt schön, wirkt aber mit seinem etwas fleischigen Gesicht durchaus attraktiv. Ist er sexy? Zweifellos.

»Setzen Sie sich doch«, sagt er einladend.

Karolina versucht, es sich zu verkneifen, Gabriel Fors in Gedanken auszuziehen. Sie kann sich heute schlecht konzentrieren. Seit sie nicht mehr auf Långholm wohnt, ist ihr Liebesleben eine Katastrophe. Wer beim Büro arbeitet, darf weder Tinder noch andere Dating-Apps benutzen, die Möglichkeiten, sich im realen Leben umzutun, sind aufgrund der Sicherheitsvorschriften auch begrenzt, und mit Vendela in einer Wohnung zu masturbieren, ist ihr unangenehm. Hin und wieder gönnt sie sich unter der Dusche einen Quickie mit sich selbst, das ist momentan alles. An manchen Tagen hat sie das Gefühl, kurz vor einer Explosion zu stehen, Tourette zu bekommen oder irgendeinen irreparablen Schaden anzurichten. Aber sie hat diesen Job unter anderem für ihre Fähigkeit bekommen, äußerlich kühl zu wirken, auch wenn es in ihr kocht.

Örjan und Karolina setzen sich. Auf dieser grünen Sitzgruppe haben sie im Januar mit dem inzwischen verstorbenen Parteisekretär Henning Eriksson zusammengesessen. Offiziell ist er während einer Urlaubsreise ans Mittelmeer bei einem Badeunfall ums Leben gekommen. Ertrunken. Tatsächlich ist er ertränkt worden, nachdem er sich von Eric Hands hat bestechen lassen, Einfluss auf behördliche Beschlüsse zu nehmen.

»Die Nachwehen der Atlas-Geschichte sind fast noch schlimmer als ihr Ursprung«, sagt Gabriel mit gequältem Gesichtsausdruck.

Nachwehen ist ein nicht ganz treffender Ausdruck, weil es sich eher um einen Tsunami handelt, aber ansonsten hat er recht.

»Man könnte sagen, dass der Atlas-Skandal die Scheiße war, die auf einen Ventilator trifft. Jetzt dürfen wir uns mit dem Shitstorm auseinandersetzen, der noch nicht vorbei ist.«

Der Anschlag auf den Air-France-Flieger hat Schweden erschüttert, in den Nachrichten und den sozialen Medien war von nichts anderem die Rede, aber den komplizierten Hintergrund kennt außer einigen wenigen Personen in Schweden und ein paar weiteren in Frankreich kaum jemand genau.

Drei Jahre zuvor hatte ein kleines Netzwerk schwedischer Beamter und Politiker begonnen, sich mit Bestechungsgeldern und anderen Annehmlichkeiten von Atlas Schield schmieren zu lassen, dem großen Konzern auf dem Gebiet der digitalen Sicherheit und Kommunikation, dessen Produkte der zivilen und militärischen Überwachung dienen. Als Gegenleistung wurden Atlas Ausfuhrgenehmigungen für militärisch einsetzbare Produkte garantiert und geheime Informationen über entsprechende Anträge von Konkurrenten beschafft. Mit anderen Worten: Korruption und Industriespionage.

Nach einer Weile hatte der französische Nachrichtendienst Wind von der Bestechung bekommen und nutzte dieses Wissen als Druckmittel, dass Schweden dem Atlas-Konzern den Export eines militärischen Flugüberwachungssystems an die Türkei untersagt. Frankreich nutzte nämlich in seiner zivilen Flugüberwachung dieselbe Verschlüsselungstechnik und befürchtete, fundamentalistische Kräfte innerhalb des türkischen Militärs könnten versuchen, mithilfe der Hardware die Verschlüsselung zu dekodieren und auf diese Weise den französischen Flugverkehr zu bedrohen.

Im Zuge der Aufklärung der angeblichen Korruptionsaffäre beauftragte das Büro Anders Krantz, den Vater des Propheten, mit der heimlichen Verfolgung einer Spur, die zu Sida führte. Dabei fiel ihm eine Tonaufnahme in die Hände, die an Bord von Eric Hands’ Privatflugzeug aufgenommen worden war. Auf dieser war zu hören, wie der Parteisekretär der Regierungspartei Hands illegale Dienstleistungen anbot. Anders Krantz bekommt diese Tonaufnahme während eines Aufenthalts in Sarajevo von einem Whistleblower zugespielt. Am Abend darauf explodiert im Foyer seines Hotels eine Bombe, Anders Krantz kommt ums Leben, und die Tonaufnahme verschwindet.

Wenig später trifft Schweden mit Frankreich und Atlas eine Vereinbarung. Und derjenige, der die Abmachung unter Dach und Fach bringt, ist niemand anders als Henning Eriksson. Ziel des Abkommens ist es, beide Seiten zufriedenzustellen und zu verhindern, dass der Korruptionsskandal öffentlich wird, denn ein halbes Jahr später wird in Schweden gewählt. Hauptsächlich jedoch zum Schutz von Henning Eriksson. Sollte die Regierung zum jetzigen Zeitpunkt von seiner Beteiligung an dem Skandal erfahren, würde niemand es wagen, ihn zur Rechenschaft zu ziehen, da es nicht nur Henning Eriksson selbst, sondern die Regierung zu Fall bringen würde.

Laut der Vereinbarung mit Frankreich und Atlas kann Atlas sein militärisches Flugüberwachungssystem wie geplant an die Türkei verkaufen, und Frankreich bekommt innerhalb der nächsten zwei Jahre ein neu entwickeltes Verschlüsselungssystem und als Absicherung einen Zugang zur militärischen Flugüberwachung der Türkei. Diesen Zugang tauscht Frankreich einige Monate später gegen Informationen des russischen Geheimdienstes, dank derer ein umfangreicher Terroranschlag auf französischem Boden verhindert wird.

Als dann russische Bomber die türkische Lufthoheit verletzen und von türkischen Jagdflugzeugen vertrieben werden, wird eins der türkischen Flugzeuge abgeschossen. Einfach so.

Nach dem Sommer ereignen sich zwei Dinge, die das Büro nur als Vergeltungsschlag für die schwedische Abmachung mit Frankreich und Atlas interpretieren kann. Eine Racheaktion mit fundamentalistischem Absender. Im August dringt ein türkischstämmiger Mann in Karolina Möllers Wohnung ein und versucht, sie umzubringen. Das ist insofern beunruhigend, als es auf fundierte, wenn auch nicht ganz zutreffende Kenntnisse der Rolle des Büros bei der Abmachung hindeutet. Im September wird eine Air-France-Maschine im Anflug auf Arlanda abgeschossen. Einhundertsiebenundvierzig Menschen kommen ums Leben. Es ist der brutalste Terrorangriff, der je in Schweden vorgekommen ist, das Land steht unter Schock. Eric Hands und seine beiden Kinder stehen auf der Passagierliste, sind aber nicht an Bord. Die auf ihre Namen gebuchten Plätze und der Terrorangriff vermitteln eine eindeutige Botschaft.

Eine Gruppe von Salafisten bekennt sich zu dem Anschlag, aber es wird gemutmaßt, dass die Terroristen von einem schwedischen rechtsextremen Netzwerk mit den tragbaren Luftabwehrrobotern ausgestattet worden sind, mit denen die Maschine allem Anschein nach abgeschossen wurde. Dahinter wird eine Strategie vermutet. Terroranschläge mit islamistischen Vorzeichen schüren Hass auf Muslime und bereiten den Boden für rechtsextreme Gruppierungen in Schweden.

Das Absurde daran ist, falls das alles stimmt, dass es sich um dasselbe rechtsextreme Netzwerk handelt, das sich im Auftrag von Eric Hands die Hände schmutzig gemacht und unter anderem die Bombe platziert hat, durch die Anders Krantz ums Leben kam. Als Gegenleistung hat das Netzwerk militärische Waffen erhalten, an die es selbst kaum herankommen würde. Möglicherweise sogar einen Luftabwehrroboter.

Gabriel Fors hüstelt angestrengt in die geballte Faust. »Was wissen wir über die Waffe, mit der die Air-France-Maschine attackiert wurde?«

Örjan greift nach seiner Aktentasche aus blankgeriebenem braunem Leder und zieht einen weißen Hefter heraus, dem er einen Stapel Fotos entnimmt, die er in Anbetracht seines augenscheinlich schwerfälligen Körperbaus überraschend schnell auf dem Tisch ausbreitet. Doch Karolina lässt sich von seiner massigen Gestalt nicht täuschen. Sie arbeitet seit bald vier Jahren mit Örjan zusammen und weiß, dass seine Kilos zu einem Großteil aus Muskelmasse bestehen. Die Genlotterie hat ihm möglicherweise keinen athletischen Körper beschert, dafür verbergen sich unter seinem Anzug Kraft und eine erstaunliche Schnelligkeit.

»Das hier ist Simon Brinkman, der Rechtsextremist, der im Verborgenen operiert. Statt Versammlungen und lauten Appellen setzt er auf anonyme Hetzkampagnen und arbeitet, wie wir vermuten, mit Terroristen der unterschiedlichsten politischen Lager zusammen.«

»Was bedeutet das?«

»Operiert hat, sollten wir wohl eher sagen«, wirft Karolina ein. »Er lebt nicht mehr.«

Gabriel sieht sie fragend an, offenbar verwirrt ihn die Neuigkeit, und wendet sich wieder Örjan zu.

»Hier ist er zusammen mit Eric Hands auf Gotland«, fährt Örjan fort. »Wir vermuten, dass die Kisten im Hintergrund Waffen enthalten. Die Größe deutet darauf hin, dass es sich nicht um Handfeuerwaffen, sondern um aufwendigere Geräte handelt, möglicherweise Flugabwehrwaffen. Gemacht wurden die Bilder etwa eine Woche nach dem Abschuss der AF1562, daher können die Waffen in diesen Kisten nicht dafür verwendet worden sein.«

»Das ist mir bekannt«, sagt Gabriel. »Aber hat sich zu der Tat nicht eine Gruppe von Salafisten bekannt, die mit dem IS sympathisiert? Insofern verstehe ich nicht, wieso …«

»Dazu komme ich noch«, fällt Örjan ihm ins Wort.

Er klappt seinen Hefter auf und sucht ein weiteres Foto heraus.

»Wir gehen davon aus, dass der Inhalt dieser Kisten auf Gotland, egal ob Waffen oder etwas anderes, die Bezahlung für bestimmte Dienste sind, die Simon Brinkman im Auftrag von Eric Hands erledigt hat. Die Vermutung liegt also nahe, dass Brinkman nicht zum ersten Mal in dieser Währung entlohnt wurde.«

»Sie sind doch ins System von Atlas eingedrungen. Ist dabei etwas herausgekommen?«

»Wir sind noch dabei, das Material zu analysieren. Falls Eric Hands Waffen beschafft hat, um Brinkman damit zu bezahlen, hat er das natürlich im Verborgenen getan. Trotzdem muss er selbst sie ebenfalls auf irgendeine Weise bezahlt haben. Wir folgen dem Geld, müssen uns dabei aber auch darüber klar werden, was die Empfänger damit machen.«

Örjan legt das Foto, das er zuletzt aus der Mappe genommen hat, auf den Tisch. Darauf ist hinter der reflektierenden Windschutzscheibe eines Autos ein Mann um die vierzig zu sehen, dunkle Haare, markante Gesichtszüge und direkt unter dem rechten Auge ein Muttermal.

»Im Dezember vergangenen Jahres haben sich dieser Mann und Simon Brinkman in Sarajevo mit zwei Saudis getroffen. Wir haben keine Informationen über den Inhalt des Treffens, aber einer der beiden saudischen Männer ist aus salafistischen Kreisen mit Verbindungen zu terroristischen Netzwerken bekannt, die mehrere Bombenanschläge auf Autos und Selbstmordattentate im Mittleren Osten und der Türkei verübt haben sollen.«

»Genauer gesagt im Januar 2016 in Istanbul«, fügt Karolina hinzu. »Der Anschlag war offensichtlich gegen westliche Ausländer gerichtet. Der Selbstmordattentäter hat mitten in einer Touristengegend seine Bombenweste gezündet. Dreizehn Personen kamen ums Leben, zwölf Deutsche und ein Peruaner.«

Gabriel Fors stöhnt auf.

»Die beiden Saudis haben Sarajevo nach dem Treffen sofort verlassen und sind über Istanbul nach Riad geflogen.«

Der politische Berater legt sich die Hand ans Kinn und schüttelt den Kopf.

»Handelt es sich um dieselbe Gruppe, die sich zum Anschlag auf die AF1562 bekannt hat?«, fragt er durch die Finger.

»Man kann hier eigentlich nicht von Gruppe sprechen«, sagt Karolina. »Sie verhalten sich eher wie ein Insektenschwarm, der sich scheinbar aus dem Nichts bildet, seine Aufgaben erledigt und genauso schnell verschwindet. Die Täter kommen aus den verschiedensten Richtungen und haben außer ihrem Weltbild nicht viel gemeinsam. Die Terroristen, die vor zwanzig Jahren die Flugzeuge ins World Trade Center gelenkt haben, hatten Universitätsabschlüsse und starke religiöse Überzeugungen. Die Terroristen von heute haben höchstens elementare Grundbildung, häufig einen kriminellen Hintergrund, sind es gewohnt, Gewalt anzuwenden, und wissen, wo sie sich die entsprechenden Waffen beschaffen können. Viele haben psychische Probleme und sind für Leute mit Führungsqualitäten leicht zu führen. Man braucht sie nicht umständlich davon zu überzeugen, dass es gerechtfertigt ist, fünfzig zufällig auf einem Platz anwesende Menschen zu töten. Ob es sich dabei um eine Gruppe oder auch nur ein Netzwerk handelt …«

Sie breitet die Arme aus.

»Verstehe«, sagt Gabriel ernst. »Gibt es denn eine Verbindung zwischen den schwedischen Rechtsextremisten und dieser … anderen Fraktion?«

Örjan antwortet mit genauso ernstem Gesicht.

»Ja, es gibt eine Verbindung.«

Gabriel stöhnt erneut auf und zeigt dann auf das Foto auf dem Tisch.

»Und wer ist das da?«

»Wir haben ihn noch nicht identifiziert. Zuerst haben wir ihn für einen serbischen Rechtsextremisten gehalten, der mit Brinkman zusammenarbeitet, aber neuere Informationen deuten auf etwas anderes hin. Möglicherweise war sein eigentliches Ziel, etwas über die Saudis und ihre Kontakte herauszufinden. Vermutlich im Auftrag eines Nachrichtendienstes.«

»Des serbischen?«

»Wir wissen es nicht genau, aber wahrscheinlich eher von einer größeren Nation: Großbritannien, Frankreich, USA.«

»Das heißt also, er weiß, was bei diesen Treffen in Sarajevo besprochen wurde«, sagt Gabriel Fors, der sich wieder gefangen hat.

»Ja, und das eröffnet Möglichkeiten«, sagt Örjan.

Gabriel trommelt sanft mit den Fingerkuppen auf das Foto.

»Dann könnte man es wohl als Glück im Unglück bezeichnen, dass Henning Eriksson über Bord gegangen ist.«

Der sachverständige Berater lacht nervös. Ein unangenehmes Schweigen breitet sich im Raum aus. Das Lachen geht in ein Räuspern über.

»Ja, das war vielleicht …«

Gabriel wedelt mit der Hand, was wohl als eine Art Entschuldigung interpretiert werden soll. Er schiebt das Foto wieder zu Örjan hinüber und möchte sich offensichtlich konkreten Dingen zuwenden.

»Finden Sie heraus, wer das ist«, sagt er. »Oder besser gesagt, was er weiß.«

Genau diesen Beschluss haben sie sich erhofft. Trotzdem ist Karolina ein wenig verwundert. Wäre es nicht viel besser, nichts zu wissen? Zumindest für diejenigen, die sich hinter dem Sachverständigen verbergen, nämlich Justizminister und Regierung. Vermutlich sind sie zu paranoid, um der Sache nicht auf den Grund zu gehen, aber da das Büro und somit eine hausinterne Einheit ermittelt und keine Behörde, könnten sie die Ergebnisse einfach unter den Teppich kehren, falls sie ihnen nicht behagen. Und niemand wird je erfahren, dass sie überhaupt danach gefragt haben.

Elias träumt von hohen Dünen aus feinem Sand, der vom Wind aufgewirbelt wird. Der lästige Sand ist überall, unter der Kleidung, in den Hosentaschen und in den Augen, zwischen den Zähnen und in den Ohren.

Er steht knietief im Sand und kann sich nicht bewegen, bald reicht ihm der Sand bis zum Schritt, er steckt fest. Er ist allein in der Wüste, und der Sand wird ihn begraben. In ein paar Stunden werden nur noch Dünen übrig sein.

Die Hitze erschwert das Atmen, Sandmassen drücken auf seine Brust. Er versucht, den Sand mit den Händen wenigstens vom Oberkörper wegzuschaufeln, um nicht zu ersticken, nicht vollständig unterzugehen. Es ist unmöglich. Er, ganz allein, gegen die Wüste. Ein Meer aus Sand.

Er wird wach, weil er sich selbst die Brust zerkratzt. Wo ist er? Nicht in seiner Airbnb-Wohnung in Sanremo. Oder träumt er noch? Er starrt an eine glatte Decke, schwarz oder vielleicht dunkelgrün. Der Raum ist dunkel, bis auf das grelle Licht, das durch drei kleine Fenster hereinscheint.

Vorsichtig setzt er sich auf. Er zittert, sein Kopf ist schwer. Das Bettgestell knarrt. Er fühlt die Reste unbekannter Substanzen durch seinen Blutkreislauf fließen.

Gemessen an den Umständen ist er erstaunlich ruhig. Das Naheliegendste wäre Panik, fieberhaftes Überlegen, wie er hier lebend rauskommt.

Liegt es an dem Mittel, mit dem sie ihn betäubt haben? Oder hat er sich mittlerweile so an diese potenziell lebensbedrohlichen Extremsituationen gewöhnt, die seit Monaten sein Alltag sind, dass er nicht mehr normal reagiert?

Er atmet tief ein und spürt ein Brennen in den Nasenlöchern. Es ist heiß. Seine Hand wird feucht, als er sich über das Gesicht fährt.

Er dreht sich zum Fenster über dem Bett und sieht nichts außer Sand. Er rückt näher an die Scheibe heran. Dünen, so weit das Auge reicht. Er schaut mit zusammengekniffenen Augen zum Fenster an der gegenüberliegenden Wand. Ein Moskitonetz erschwert die Sicht. Die dunklen Umrisse könnten eventuell Gebäude sein, und zwischen den verstreut liegenden Häusern meint er struppiges Grün zu erkennen. Nicht nur Sand also.

Allmählich gewöhnen sich die Augen an die Dunkelheit, und er bemerkt zwei Männer an einem Tisch, die ihn ansehen. Einer der beiden sagt etwas, was er nicht versteht. Hat er Hallo gesagt? Die beiden wenden sich wieder ab und setzen murmelnd ihr Gespräch fort, als ob er nicht da wäre.

Hinter ihnen erahnt er weitere Betten, Schränke und eine Sitzbank mit einem Bücherstapel, einem Laptop und einem Motorradhelm.

Er hat viele Fragen, ringt aber mit sich, weil er nicht weiß, welche zuerst. Wo bin ich? Was mache ich hier? Wer sind Sie? Oder sollte er sich erst einmal vorstellen?

Er sagt auf Französisch guten Tag, weil er das Gefühl hat, dass sie sich in dieser Sprache unterhalten. Einer von beiden dreht sich zu Elias um, seine Augen blitzen im Licht auf, das durchs Fenster hereinscheint, aber bevor er etwas sagen kann, geht quietschend die Tür auf. Im grellen Licht von draußen sieht Elias den Umriss eines großen Mannes mit kurzem Haar. In der Hand hält er einen in der Sonne blitzenden Gegenstand, eine Flasche.

Der Mann nickt den am Tisch sitzenden Männern zu, woraufhin die beiden aufstehen und ohne Eile den Raum verlassen. Ihre Bewegungen scheinen der Hitze angepasst und darauf ausgerichtet zu sein, nicht unnötig Energie zu verschwenden. Der Mann lässt sich an ihre Stelle am Tisch nieder und deutet auf den freien Platz.

»Setzen Sie sich zu mir«, sagt er auf Französisch.

Trotz der Dunkelheit weiß Elias sofort, wer der Mann ist. Es ist beruhigend, die vertraute Stimme zu hören. Er war zwar bisher auch nicht sonderlich beunruhigt, aber nun fühlt er sich doch etwas sicherer. Er ist sich der Absurdität dieses Gedankens durchaus bewusst, aber genau das empfindet er seinem Entführer gegenüber. Er steht vom Bett auf und geht auf wackligen Beinen zum Tisch. Er fühlt sich kraftlos. Als hätte er viel Blut verloren.

»Sie werden bald wieder Sie selbst sein«, sagt Emmanuel Lambert und hält die Flasche hoch. »Hier, trinken Sie etwas Wasser.«

Elias geht in dem gemächlichen Tempo, zu dem er momentan in der Lage ist, auf den Tisch zu.

»Haben Sie nicht gesagt, ich könnte jederzeit gehen?«

Lambert lehnt sich zurück.

»Ich habe nicht damit gerechnet, dass Sie sich aus dem Staub machen, ohne sich zu verabschieden.«

Elias meint, die Andeutung eines Lächelns auf seinem Gesicht zu sehen. Er sinkt auf einen Stuhl und greift nach der Wasserflasche. Der Schraubverschluss knirscht, als er ihn abdreht, und im Flaschenhals zischt die Kohlensäure.

»Wo bin ich hier gelandet?«, fragt er, nachdem er die Flasche abgestellt hat. »Bei der Fremdenlegion?«

Lambert lacht.

»Nein, Sie sind nicht von der Fremdenlegion gekidnappt worden.«

»Wo bin ich dann?«

Emmanuel Lambert trägt eine dunkelblaue Windjacke über einer locker sitzenden, beigen Jeans. Der Wind hat sein normalerweise ordentlich gekämmtes Haar durcheinandergebracht. Er dreht sich um und deutet auf die Dünen, die hinter den Fenstern zu erahnen sind.

»Wir befinden uns hier«, sagt er, »in einem Ausbildungszentrum für Personen unterschiedlichster Provenienz. Koordiniert wird es von der CNRLT.«

Die CNRLT hat Präsident Emmanuel Macron 2017 gegründet, um dem überhandnehmenden islamistischen Terror im Land etwas entgegenzusetzen. Die Einheit hat die Aufgabe, Terrorismus zu beobachten und zu bekämpfen. Da die CNRLT keine staatliche Behörde, sondern dem Präsidenten direkt unterstellt ist, hat sie, rein juristisch betrachtet, gewisse Ähnlichkeiten mit dem Büro.

»Es geht also um Terrorismus?«, fragt Elias.

»Worum sonst? Die Capricorn, die Air-France-Maschine, Simon Brinkmans Kontakte zu saudischen Salafisten in Sarajevo und Eric Hands’ eventuelle indirekte Einflussnahme.«

»Ich dachte, Sie halten Eric Hands den Rücken frei.«

Elias merkt, dass Lambert auf diesen Satz nicht vorbereitet ist. Bei ihrer letzten Begegnung wollte er nicht über die Abmachung sprechen, die Henning Eriksson mit Atlas und Frankreich getroffen hat, weil er angeblich befürchtete, damit seine »Befugnisse zu überschreiten«. Wahrscheinlich hat er geglaubt, das Büro würde es auch nicht tun.

»Wir haben eine Vereinbarung mit Atlas Schield, aber falls Eric Hands Terroristen auf direktem oder indirektem Weg Waffen zur Verfügung stellt, gilt sie nicht mehr.«

Hands als Zielscheibe klingt gut. Gleichzeitig ist die Rolle, die Eric Hands bei der ganzen Sache spielt, nahezu absurd. Frankreich hat der Abmachung mit Atlas Schield freudig zugestimmt, herausgekommen ist dabei ein abgeschossenes französisches Passagierflugzeug und Eric Hands’ vor Cannes versenkte Luxusjacht, und in gewisser Weise ist Hands für all das verantwortlich. Sie könnten es sich genauso gut selbst zum Vorwurf machen.

»Warum bin ich hier?«, fragt Elias.

»Gehen wir eine Runde.«

Lambert steht auf.

Er ist es gewohnt, Befehle zu geben. Er hat etwas Energisches an sich, ist aber nie richtig greifbar, sondern dreht Elias jederzeit, ohne Vorwarnung, den Rücken zu und verschwindet, sobald er seine Anweisungen erteilt hat.

Elias steht auf, seine Bewegungen sind steif.

»Was machen die Rippen?«

»Der Transport war nicht sehr zuträglich.«

»Tut mir leid, wenn Sie härter als nötig angefasst wurden. In die Details bin ich nicht involviert.«

Er zeigt auf die Flasche.

»Nehmen Sie das Wasser mit, in der Sonne ist es heiß.«

Lambert hält ihm die Tür auf und lässt Elias den Vortritt. Er kneift die Augen zusammen, als er in die Hitze hinaustritt. Er schirmt das grelle Licht mit der Hand ab und sieht Lambert an.

»Wieso haben Sie mir Geld und ein Handy gegeben und nicht verhindert, dass ich abhaue, wenn Sie gar nicht vorhatten, mich entkommen zu lassen?«

»Das war ein notwendiger Umweg. Ihre alten Freunde vom Büro sollten nicht wissen, dass Sie für mich arbeiten.«

»Glauben Sie nicht, dass das Büro einen Verdacht hat?«

»Tja, einen Verdacht … den haben sie mit Sicherheit. Das ist ja im Grunde auch ihr Job. Aber genau wissen tun sie es nicht.«

»Und Sie halten die Aktion also ohne meine Zustimmung für glaubwürdiger?«

»Das ist nicht nur meine persönliche Meinung. Was echt ist, wirkt immer glaubwürdiger, oder etwa nicht?«

Der Platz ist nicht so verlassen, wie er von der Baracke aus gewirkt hat. Von den etwa zehn verschieden großen Gebäuden sind einige weiß verputzt, der Rest so einfach wie die Baracke, in der er aufgewacht ist. In einiger Entfernung, die schwer einzuschätzen ist, ist eine kleine Ansammlung von dicht an dicht gebauten schachtelförmigen Häusern zu sehen.

Ein dumpfer Knall lässt Elias zusammenzucken.

»Nur eine Übung«, sagt Lambert.

Elias sieht sich suchend um, ohne irgendwelche Zeichen einer Explosion zu sehen. Sie muss weit weg stattgefunden haben.

»Wir möchten Ihnen eine mehrmonatige Ausbildung anbieten …« Er legt Elias eine Hand auf die Schulter. »Machen Sie nicht so ein ängstliches Gesicht. Sie werden Ihre taktischen Fähigkeiten deutlich verbessern und Kenntnisse in Waffenkunde, Nahkampf, Überwachung und sicherer Kommunikation erwerben.«

Er klingt, als würde er die Werbetrommel für die Abendakademie rühren.

»Und falls Sie einwilligen …«

Lambert greift in die Innentasche seiner Jacke und angelt einen Pass mit dem französischen Wappen auf der Vorderseite heraus.

»Ich nehme an, für einen französischen Pass muss ich etwas mehr tun, als nur einen Kurs zu absolvieren.«

»Wenn Sie ihn behalten wollen, ja.«

Im hellen Licht erkennt er die Sandkörner in Lamberts Augenbrauen. Auf seiner Stirn zeichnen sich drei markante Falten ab, und über dem rechten Auge hat er eine blasse Narbe.

»Wir sind mit der Unterstützung, die wir aus Schweden bekommen, nicht ganz zufrieden. Die schwedische Regierung will ihre schmutzige Wäsche im Fall Hands nicht in der Öffentlichkeit waschen.«

»Und Sie lassen es sich nicht nehmen, aus diesem Unwillen einen Vorteil zu ziehen«, kann Elias es sich nicht verkneifen.

»Zu unserem Schutz«, sagt Lambert schnell.

»Die AF1562 war eine direkte Folge dieser Vereinbarung …«

Er sieht, wie sich Lamberts Blick verfinstert. Elias hat sich weit aus der Deckung hervorgewagt, ist im Prinzip entführt worden und Lamberts »… falls Sie einwilligen« ist vermutlich nicht mehr als eine Höflichkeitsfloskel. Das ist kein günstiger Zeitpunkt, die Rolle zu hinterfragen, die der französische Nachrichtendienst beim Tod von einhundertsiebenundvierzig Menschen gespielt hat.

»Ich habe ein genauso großes Interesse daran, Hands zur Rechenschaft zu ziehen, wie Sie, und das wissen Sie auch.«

Elias hat sich mit Leib und Seele dafür eingesetzt, allerdings ohne Erfolg, und ist nur knapp mit dem Leben davongekommen. Viel mehr ist ihm allerdings auch nicht geblieben.

Es vergehen einige endlose Sekunden, dann entspannen sich Lamberts Züge, und er steckt den Pass wieder ein. Zwei breitschultrige und mit Waffen bepackte Frauen gehen in raschem Tempo an ihnen vorbei und verschwinden hinter einem der Gebäude.

»Und was soll ich für Sie tun?«

Er muss beide Hände benutzen, um seine Augen vor der starken Sonne zu schützen.

»Sie werden Kleidung bekommen, die für dieses Klima besser geeignet ist«, sagt Lambert. »Die Einzelheiten besprechen wir, wenn Sie hier fertig und an Ihrem Einsatzort in Stockholm sind.«

Elias bleibt stehen. Lambert geht weiter, aber als er bemerkt, dass Elias nicht mehr neben ihm ist, dreht er sich um und sieht ihn fragend an.

»Ich soll also meine Zustimmung zu etwas geben, dessen Folgen ich nicht einschätzen kann?«

Lamberts Blick wird kühl.

»Mir scheint, Sie haben keine andere Wahl.«