Der Wolf und wir - Kurt Kotrschal - E-Book

Der Wolf und wir E-Book

Kurt Kotrschal

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Beschreibung

Kaum eine Beziehung ist so ambivalent wie jene zwischen Wolf und Mensch. Als Wildtiere und als Hunde haben sie unsere kulturelle Entwicklung begleitet, wurden zu unseren sprichwörtlich besten Freunden – aber auch zur Projektionsfläche irrationaler Ängste. Heute ist ihre Rückkehr mit Konflikten und aufgeheizten Debatten über Gefahr und Abschuss verbunden. Kurt Kotrschal, der das Wesen unserer Beziehung zu Wölfen und Hunden erforscht, zeigt: Ohne diese jahrtausendealte Beziehung wären wir nicht die Menschen, die wir sind. Die Probleme mancher mit dem Wolf sind Teil eines problematischen Verhältnisses zur Natur. Um die Biodiversitäts- und die Klimakrise zu überwinden, müssen wir Wölfen ihren Platz zugestehen und erkennen, dass sie auch eine Chance für Ökosysteme sind.

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Gewidmet dem Wolfsforschungszentrum (WSC)und der Veterinärmedizinischen UniversitätWien, die mit der Übernahme des WSC dessenlangfristige Existenz sicherte.

Inhalt

Warum es dieses Buch braucht

Wölfe, Hunde und Menschen – eine lange Beziehungsgeschichte

Die uralte Beziehung zu Wölfen und Hunden prägt uns Menschen bis heute. Bereits vor 35.000 Jahren arrangierten sich unsere Jäger- und-Sammler-Vorfahren mit dem Wolf, aus dem im Zusammenleben mit den Menschen der Hund wurde. Gemeinsam eroberten wir rasch und (allzu) gründlich alle Lebensräume der Erde.Heute kehren die Wölfe in die Kulturlandschaften Mitteleuropas zurück. Das verursacht Konflikte, bietet aber auch neue Chancen. Letztlich sind die „neuen Wölfe“ die Nagelprobe dafür, wie ernst es uns mit der ökologischen Wende wirklich ist. Faszinierend, was wir bereits über Mensch und Natur und über unsere alte Schicksalsgemeinschaft mit Wölfen und Hunden wissen. Umso erstaunlicher ist es daher, wie viel wir noch nicht wissen.

Die Rückkehr der Wölfe: Chancen und Herausforderungen

Wölfe kommen gegen den erbitterten Widerstand vieler Weidetierhalter und teils auch der Jägerschaft rasch zurück, weil der Großteil der europäischen Bevölkerung ihren strengen Schutz befürwortet und weil ihnen hohe Wilddichten einen reich gedeckten Tisch bereiten. Während die Wölfe in den vergangenen beiden Jahrzehnten wieder weite Teile Deutschlands besiedelten, sind sie in Österreich, Bayern und Südtirol noch selten, weil sie immer noch illegal getötet werden. In Europa ist die Entscheidung pro Wolf längst gefallen. Wir müssen daher nicht mehr diskutieren, ob wir mit Wölfen leben wollen, sehr wohl aber darüber, wie das nachhaltig und konfliktarm gelingen kann.

Wie Wölfe zu Hunden wurden

Wölfe und Menschen sind „Kooperationstiere“ – tatsächlich ist kein anderes Tier uns Menschen ähnlicher. Unsere altsteinzeitlichen Vorfahren jagten und lebten wie die Wölfe in kooperativen Familienclans. Zahme Wölfe waren offenbar das andere Ich dieser eiszeitlichen Jäger, ganz ähnlich, wie es heute die Hunde für die modernen Menschen sind. Im Zusammenleben mit den Menschen entstanden rasch aus Wölfen Hunde – eine evolutionär enorm erfolgreiche Strategie!Dass wir heute viel mehr als noch vor zehn Jahren wissen, ist auch der Arbeit mit gleichartig aufgezogenen Wölfen und Hunden am Wolfsforschungszentrum geschuldet. Die nette Kooperationsbereitschaft der Hunde entpuppte sich als altes Wolfserbe, welches aber an die menschlichen Bedürfnisse angepasst wurde. Daher „ticken“ Hunde etwas anders als Wölfe.

Zur Zukunft von Wölfen, Hunden und Menschen

Je mehr Menschen in Städten leben, desto mehr Hunde halten sie. Das ist auch gut so, denn das Leben mit Hunden fördert die optimale Entwicklung von Kindern und schützt sie vor psychischen Problemen im Erwachsenenalter. Hunde helfen dabei, geerdet, gesund und psychisch stabil zu bleiben – nicht zu unterschätzen in den stressigen Zeiten der Klima-, Biodiversitäts- und Pandemiekrisen.Immer mehr Leute erkennen die Notwendigkeit der ökologischen Wende. Dazu gehört nicht zuletzt ein neues Verhältnis zu Wolf und Natur. Während die Wölfe eine respektvolle Naturbeziehung einmahnen, begleiten und unterstützen uns die Hunde in diesem allzu interessanten Zeitenwandel.

Anhang

Literatur. Relevante Links. Impressum

Warum es dieses Buch braucht

Manche meinen zornesrot oder von Angstschweiß nass, die Wölfe würden nun wieder Europa „überfluten“. Eine Mehrheit der Menschen in den deutschsprachigen Ländern und anderswo begrüßt allerdings die Rückkehr der großen Beutegreifer, einschließlich des Wolfs. Als 2012 mein Buch Wolf – Hund – Mensch erschien, war für die erste Kategorie von Leuten die Welt noch in Ordnung – zumindest was die Wölfe betrifft. Das änderte sich, als in den darauffolgenden Jahren in Deutschland, Italien, Frankreich und anderen Ländern Europas die Wolfspopulationen kräftig zulegten und auch immer mehr Wölfe nach Österreich einwanderten. Für viele war dies als gute Nachricht ein Hoffnungsschimmer unter den Hiobsbotschaften des ökologischen Niedergangs, die täglich auf uns einprasseln. Der Wolf ist zurückgekehrt, um zu bleiben. Mit ihm kam eine stürmische, konfliktträchtige Debatte, auch um das zweifelhafte Menschenrecht, die Natur nach Gutdünken bis an die Grenzen auszubeuten.

In diesem vergangenen Jahrzehnt hat sich viel getan, nicht nur bezüglich der Wölfe in der freien Natur unserer Kulturlandschaften, sondern auch in der Grundlagenforschung zu Wölfen, Hunden und Menschen – beispielsweise am Wolfsforschungszentrum im niederösterreichischen Ernstbrunn. Es entstand ein neues Fundament, um unsere alten Beziehungskisten zu Wolf und Hund besser zu verstehen. Denn Wölfe sind nicht so, wie viele Leute glauben; Hunde übrigens auch nicht, und Menschen schon gar nicht – aber das ist wieder eine andere Geschichte, die ich in Mensch – woher wir kommen, wer wir sind, wohin wir gehen (2019) näher beleuchtet habe.

Angesichts der stürmischen Entwicklungen rund um die Wölfe im Freiland und aufgrund neu gewonnenen Wissens in der Wolf-Hund-Forschung erschien es weder sinnvoll noch möglich, meinen Wolf-Hund-Mensch-Text von 2012 bloß zu überarbeiten. Darum habe ich mich im Einverständnis mit den Freundinnen und Freunden vom Brandstätter Verlag dazu entschlossen, ein völlig neues Buch zum Thema zu schreiben. Das führte auch zu einer veränderten Gewichtung der Inhalte.

Der Fokus dieses neuen Buches liegt nun stärker auf den Wölfen und ihrer Rückkehr, ohne aber auszublenden, welche Rolle sie als Partner unserer Jäger-und-Sammler-Vorfahren spielten. Daraus entwickelt sich die vielfältige und große Bedeutung von Wolf und Hund in den menschlichen Kulturen. Die neuen Erkenntnisse zu den Unterschieden zwischen Wölfen und Hunden erlauben ein besseres Verständnis der Hunde als unsere besten Freunde und Partner – aber auch der Wölfe. Es lichten sich die Nebel um die immer noch bestehenden Missverständnisse und Fehlinformationen.

Der Wolf und wir schlägt einen weiten Bogen von der aktuellen Erregung um die Rückkehr der Wölfe über die immer schon große Bedeutung von Wölfen und Hunden für die Menschen und die neuesten Erkenntnisse zu den Hunden zurück zu den Wölfen. Ein Kreis der Zusammenhänge also, der auch begreifen lässt, warum ein Leben ohne wild lebende Wölfe zwar möglich, aber nicht erstrebenswert ist. Schon lange ist bekannt, dass ein Leben ohne Hunde zwar möglich, aber nicht sinnvoll ist. Auch das soll hier nochmals neu begründet werden.

Kapitel 1

Wölfe, Hunde und Menschen – eine lange Beziehungsgeschichte

Ein sehr persönlicher Beginn

Die Maiennacht ist so schwarz wie die vier einjährigen Wölfe um mich herum. Ich kann sie fühlen, nicht aber sehen oder hören – denn Wölfe sind Schleicher. Der große Rüde Aragorn liegt mit mir in Körperkontakt, die anderen, Kaspar, Shima und Tayanita, halten dagegen beim Schlafen gerne etwas Abstand. Ich bin weder verrückt noch versuche ich, mich als Alphawolf des Rudels zu profilieren. Vielmehr hatten wir unser eben gegründetes Wolfsforschungszentrum (WSC) im Mai 2009 mit Sack und Pack vom oberösterreichischen Almtal in den niederösterreichischen Wildpark Ernstbrunn übersiedelt. Da Wölfe vorsichtige Tiere sind, könnten sie in einer ihnen unbekannten Umgebung scheu bis panisch reagieren. Um sie durch meine Anwesenheit zu beruhigen, teilte ich daher die ersten drei Nächte mit ihnen das Lager im neuen Gehege. Ein Jahr zuvor waren diese ersten Wölfe des WSC von Friederike Range, Zsofia Viranyi und mir handaufgezogen worden. Dadurch wurden wir zu Partnern mit starker wechselseitiger Bindung.

Ich schlief ganz gut im Stroh des Wolfsunterstands, obwohl die unruhigen vierbeinigen Geister das gemeinsame Nachtlager immer wieder verließen. Es verunsicherte mich, Aragorn nicht mehr an meinem Rücken zu spüren, zumal Kaspar, der später so verlässliche Rudelchef, als Halbstarker noch etwas „verhaltensoriginell“ war. Aber Aragorn kam wieder, ebenso geräuschlos, wie er gegangen war. Ich fühlte seinen mächtigen Kopf auf meinem Oberschenkel – samt der Wirbelsäule eines Rehs. Die Knochen knackten zwischen seinen starken Kiefern. Da ich nicht wusste, ob er mich an seinem Essen tolerieren würde, lag ich zunächst ganz regungslos – nur nicht den Eindruck erwecken, ich wolle ihm seinen Leckerbissen streitig machen! Niemals nehmen wir unseren Wölfen oder Hunden einfach etwas weg. Falls nötig, wie etwa im Falle eines stibitzten Handys (Aragorn war ein Technik-freak), versuchen wir allenfalls den Austausch gegen ein gutes Stück Futter.

Als weiteres Prinzip lassen wir uns nie auf vermeidbare Konflikte ein. Theoretisch. Praktisch lag ein 50 Kilogramm schwerer Wolf auf mir, dessen Brechschere gerade Rehknochen zermalmt. Musste er das ausgerechnet auf mir machen? Nach einem Weilchen wurde es unbequem, ich drehte mich langsam zur Seite, aber Aragorn mampfte kommentarlos weiter. Schließlich begann ich seinen Kopf zu kraulen und die Rehwirbelsäule anzufassen, um deren mir unbequeme Lage zu verändern. Er knurrte nicht einmal, als meine Finger zwischen seinen Lefzen sondierten, um zu fühlen, welche seiner gewaltigen Backenzähne er zum Knacken der Wirbelsäule einsetzte. Ich nahm es als Beleg tiefen Vertrauens zwischen uns. Und wachte in der feuchten Morgendämmerung unter einem Apfelbaum auf, eingebettet zwischen friedlich schlummernden Wölfen.

Die vorangegangenen Absätze bleiben die einzige Textanleihe aus meinem Buch Wolf – Hund – Mensch von 2012; die Szene berührt mich heute noch, zumal ich sehr traurig darüber bin, dass uns bereits alle vier unserer schwarzen Pionierwölfe verließen, zuletzt Kaspar im August 2021. Sie begleiteten als engste Gefährten den Aufbau des WSC. Seit damals übernachteten wir übrigens nicht mehr mit unseren Wölfen und betreten die Gehege nicht mehr allein. Trotz tiefen wechselseitigen Vertrauens gaben wir uns strenge Sicherheitsregeln. „Better safe than sorry“, wie man in den USA so treffend sagt. Wir lebten und arbeiteten lange, intensive Jahre mit unseren Wölfen und Hunden, oft in engem Körperkontakt, wie es in der sozialen Natur der Säugetiere Wolf, Hund und Mensch liegt. Es tut gut, ihnen nahe zu sein, Nase und Finger in das Fell eines vertrauten Wolfes zu stecken (so er sich nicht gerade in Übelriechendem gewälzt hat). Es beglückt, einander tief in die Augen zu schauen, Einverständnis für eine gemeinsame Unternehmung herzustellen, sei es ein Leinenspaziergang oder ein geistig fordernder Verhaltenstest. Gerne lassen wir uns durch die bedachtsame Ruhe der selbstbewussten Wölfe anstecken – und erfreuen uns an der wuseligen Geschäftigkeit und manchen Schrullen unserer Hunde.

Meine Beziehung zu Wölfen entsprang der wissenschaftlichen Neugierde, wurde aber rasch persönlich, was selbst in der Wissenschaft nicht „falsch“ sein muss. Man versucht uns zuweilen als „Wolfsschmuser“ lächerlich zu machen, wohl um unsere Kompetenz und die Relevanz unserer Arbeit herunterzumachen. Dies misslingt allein schon angesichts unserer hochklassig publizierten Forschungsergebnisse. Differenziertes Wissen zum Wesen der Wölfe erwirbt man im sozialen Umgang, nicht aber indem man sie aus der Ferne beobachtet oder gar auf sie schießt. Wie auch in diesem Buch zum Ausdruck kommen soll, sind solche sozialen Nahebeziehungen nicht zwangsläufig der Tod der Objektivität in einer sentimentalen „Affenliebe“.

Im Gegenteil: Es schadet nicht, auch mental nachvollziehen zu können, welche enorme Bereicherung unsere altsteinzeitlichen Vorfahren durch ihre ersten zahmen Wölfe erfahren haben mögen. Sie fanden in einem anderen Tier ihr Du, welches uns bis heute in Form der Hunde begleitet. Wer Wölfen und Hunden in Vergleichsuntersuchungen gerecht werden will, muss sie aufziehen, mit ihnen leben und arbeiten. Der Pionier der Verhaltensforschung Konrad Lorenz war ein großer Verfechter dieser Methode; er erwarb sein enzyklopädisches Wissen, indem er über sein langes Leben eine Unzahl von Vogel- und Säugetierarten handaufzog. In einer solchen Elternrolle lernten wir, die Welt ein Stück weit wie Wolf oder Hund zu sehen, und entwickelten jene Intuition, die in der Wissenschaft weiterhilft, wenn der reine Verstand nicht mehr ausreicht. Daraus entstehen spannende Forschungsfragen im sicheren Gefühl dafür, was man den vierbeinigen Partnern zumuten kann und was nicht. Zudem lehren sie uns jenen Respekt, der den klugen, kooperativen und anpassungsfähigen Wölfen, aber auch den uns so zugetanen Hunden zusteht; zumal sie in vielerlei Beziehung viel menschenähnlicher „ticken“, als die meisten Leute immer noch anzunehmen bereit sind.

Manche unserer Wölfe schienen sich ihrer physischen Überlegenheit bewusst zu sein; aber nur ganz selten deuteten sie dies uns gegenüber an. Weil wir sie aufzogen, sind wir als Säugetiere mittels identischer sozialer, neuronaler und hormoneller Mechanismen aneinander gebunden – etwa so, wie Kinder an ihre Eltern. Solange man als Bindungspartner durch respektvollen Umgang auf Augenhöhe dafür sorgt, dass die Liebe der Wölfe nicht in Hass umschlägt, bleibt die Beziehung freundlich, friedlich und vertrauensvoll. Ich bin mir sehr sicher, dass uns die Wölfe und Hunde nicht als ihresgleichen oder Mitglieder ihrer Rudel betrachten. Vielmehr sind wir Sozialgefährten, die ihren Alltag mit vielen schönen gemeinsamen Unternehmungen bereichern. Nicht als Artgenossen, sondern als Menschen eben, auf die man sich erstaunlich gut einstellen kann, mit denen man aber keine Auseinandersetzungen um Rang und Bedeutung führen muss. Solche wertvollen Freunde hütet man als Wolf, und nützt es auch dann nicht aus, wenn sie gelegentlich schwächeln.

Dass Wölfe aber auch anders können, zeigt ein grausiger Vorfall im schwedischen Zoo Kolmården, von dem in diesem Buch noch zu lesen sein wird. Nein, Wölfe und andere Tiere sind nicht „unberechenbar“, sondern sehr verlässlich im Umgang, wenn man sie gut kennt und respektiert. Menschen fallen überwiegend anderen Menschen zum Opfer, und nur in geringem Ausmaß mehr oder weniger wilden Tieren. Der Mensch bleibt des Menschen gefährlichster Wolf.

Das Bild der Wölfe in der Öffentlichkeit

Seit der Altsteinzeit sind Wölfe Aufreger und Hingucker – sonst hätten wir heute keine Hunde. Ob man Wölfe respektiert, sie fürchtet, liebt oder hasst, hängt von der eigenen Erfahrung, den Erzählungen in Familie und Gesellschaft und dem Wissen über sie ab. Die meisten Menschen kennen Wölfe nur vom Hörensagen. Es scheint, als würden im Zeitalter der digitalen Echokammern alte Märchen, Aberglaube und gezielte Fehlinformation mehr denn je das Bild vom Wolf verzerren. Eine entspannte Mehrheit der Bevölkerung Europas sieht den Wolf zwar als schützenswerten Teil des Ökosystems – aber ähnlich wie beim Thema Corona machen extreme Minderheiten die öffentliche Diskussion über Wölfe zur dissonanten Kakophonie. Manche überhöhen die Wölfe als magische Tiere mit besonderen Eigenschaften geradezu esoterisch, von anderen wiederum werden sie immer noch gefürchtet, gehasst und verfolgt. Wider besseres Wissen, aber Wissen hat nicht nur in Sachen Wolf einen schweren Stand gegen Emotionen und Vorurteile. Ärgerlich, denn nicht Aberglaube und Desinformation werden die Probleme der Weidetierhalter lösen. Ein konfliktarmes Zusammenleben mit Wölfen, wie auch mit den anderen großen Beutegreifern Bär, Luchs und Goldschakal, kann nur auf Basis von Wissen und Vernunft gelingen – oder eben gar nicht.

Während die meisten Europäer über reichlich Erfahrung mit Hunden verfügen, kann man Personen, die Wölfe gut kennen, weil sie über Jahre mit ihnen lebten und arbeiteten, an den Fingern weniger Hände abzählen. Das sollte auch so bleiben, denn sehr im Gegensatz zu den Hunden eignen sich Wölfe in unserer technisierten Welt nicht als private Sozialkumpane. Und die wild lebenden Wölfe sollte man im Interesse eines möglichst problemlosen Zusammenlebens ohnehin in Ruhe lassen. Das ist andererseits schade, denn es liegt in der menschlichen Natur, Ambivalenz gegenüber dem zu entwickeln, was man nicht kennt. Das trifft auch auf Wölfe zu. Wie man aus dem Artenschutz weiß, schützen und respektieren Menschen, was sie kennen und lieben. Wölfe muss man nicht lieben, aber man kann sich im Zeitalter der medial-digitalen Aufklärung (die es neben der medial-digitalen Verdummung gottlob immer noch gibt), mittels öffentlich-rechtlicher Medien und des immer noch existierenden Qualitätsjournalismus einfacher als je zuvor an zuverlässigen Nachrichtenquellen bedienen, um sich einigermaßen objektiv und gründlich über Wölfe und auch Hunde zu informieren – wenn man denn will.

Shima

Kaspar

Aragorn

Drei der vier ersten Wölfe des Wolfsforschungszentrum (WSC): Die Welpen stammen aus dem südsteirischen Tierpark Herberstein und wurden 2008 im oberösterreichischen Cumberland-Wildpark von Friederike Range, Zsofia Viranyi und Kurt Kotrschal handaufgezogen. Das WSC übersiedelte im Frühjahr 2009 in den Wildpark Ernstbrunn in Niederösterreich.

Die ersten Wolfswelpen des Wolfsforschungszentrums, Kaspar, Aragorn, Shima und Tayanita, im Alter von etwa zwölf Wochen mit der Eurasierhündin Bolita. Sie wurden 2008 im Cumberland-Wildpark Grünau aufgezogen.

Kurt Kotrschal mit Aragorn (rechts oben) im Winter 2008 in Grünau und 13 Jahre später mit Tala und Chitto in Ernstbrunn. Nicht nur das Fell der Wölfe wurde heller …

Kurt Kotrschal mit Aragorn (rechts oben) im Winter 2008 in Grünau und 13 Jahre später mit Tala und Chitto in Ernstbrunn. Nicht nur das Fell der Wölfe wurde heller …

Die ersten Wolfswelpen des Wolfsforschungszentrums, Kaspar, Aragorn, Shima und Tayanita, im Alter von etwa zwölf Wochen mit der Eurasierhündin Bolita. Sie wurden 2008 im Cumberland-Wildpark Grünau aufgezogen.

Tatsächlich ist das Thema Wolf in aller Munde und in allen Medien. In der lokalen Berichterstattung widerspiegelt sich vor allem der Unmut einer betroffenen und teils lauten Minderheit. Verständlich, sind doch Almbauern und andere Weidetierhalter bisher auch ganz gut ohne Wolf und andere große Beutegreifer, wie Bär, Luchs und Goldschakal, ausgekommen. Zudem vergreifen sich Wölfe nicht gerade tierschutzkonform an Schafen und anderen Nutztieren, und so einem Gemetzel fallen meist mehrere Nutztiere zum Opfer. Das bereitet betroffenen Haltern ein wirtschaftliches und psychisches Problem nahezu biblischer Dimension. Obwohl die meisten Schafe ein Lebensende durch Schlachtung erwartet, sind sie für ihre Halter nicht bloß Sache und Kapital. Die meisten leben in einer Art Beziehung zu ihren Tieren, für die sie sich verantwortlich fühlen – und es nach dem Tierschutzgesetz tatsächlich auch sind. Es kommt der Düpierung des „guten Hirten“ gleich, wenn sich der „böse Wolf“ an dessen Schafen vergreift. Dennoch ist es maßlos übertrieben, den Wolf als Totengräber der Alm- und Weidewirtschaft hinzustellen. Und wenn versucht wird, das Rotkäppchensyndrom wiederzubeleben, indem man Wölfen unterstellt, sie hätten nichts Besseres zu tun, als sich an Pilzesammlern und Kindern zu vergreifen, dann geschieht das meist in der Absicht, die Leute gegen den Wolf aufzubringen. Auch das ist verständlich, bleibt doch die Angst eine der mächtigsten Verbündeten – in der Politik wie auch in der Agitation gegen den Wolf.

Chancen und Konflikte rund um die Wiederkehr der Wölfe

Weniger nachvollziehbar als die Skepsis der Schafshalter ist der Widerstand vieler Jäger gegen die einwandernden Wölfe. Aufgrund eines ökologisch weitgehend dysfunktionalen Wildmanagements durch die Jagd bevölkert ohnehin viel zu viel „Schalenwild“, also Rehe, Hirsche und Wildschweine, die Wälder, Felder und Fluren Mitteleuropas – mit allzeit rekordverdächtigen, immer noch steigenden Wilddichten in den meisten Gegenden Österreichs und Deutschlands. Die Wiederkehr der großen Beutegreifer in Europa, insbesondere der Wölfe, erklärt sich durch einen verbesserten gesetzlichen Schutz, der das Interesse einer großen Mehrheit der Bevölkerung Europas an diesen charismatischen Wildtieren widerspiegelt. Der Hauptgrund für die rasche Rückkehr der Wölfe liegt aber in den aus gesamtökologischer Sicht viel zu hohen Wilddichten. Wenn also manche Jäger mit den Neuankömmlingen Probleme haben, dann sollten sie einmal einen Blick in den Spiegel riskieren, um die eigentlichen Verursacher auszumachen.

Die Schafe gehören den Haltern, das Wild aber nicht den Jägern. Wie der Wolf auch, haben Jäger ein Aneignungsrecht, mehr nicht; auch wenn sie im Zuge ihrer meist überzogenen Bemühungen in der Hege „ihrer“ Rehe und Hirsche schon längst eine Art Nutztierhaltung in der Kulturlandschaft betreiben. Vielleicht entwickeln viele Jäger ja auch deswegen das Gefühl, das Wild zu besitzen, fühlen sich für dessen Wohl verantwortlich und bestimmen gottgleich über dessen Tod – sofern der kapitale Bock nicht auf der Straße überfahren wird, bevor man ihn erlegt. Wie zu Zeiten, als nur der Adel jagen durfte, nehmen viele Jäger die Wölfe immer noch als lästige, schwierig zu kontrollierende Konkurrenten, „Schädlinge“ und „Raubzeug“ wahr, welche die Jagd auf Schalenwild erschweren und die Jagdreviere „entwerten“. Entgegen besserem Wissen sehen viele Jäger die Wölfe noch immer nicht als Verbündete in der Hege von „Niederwild“ oder beim Gesunderhalten der Wildbestände. Dabei können Wölfe das besser als ihre menschlichen Kollegen – wenn man sie denn ließe.

Weil Wölfe manchen Leuten ihr gewohntes Wirtschaften erschweren und die sich darüber laut in den Medien, bei den Behörden und gelegentlich bei der Europäischen Kommission beschweren, wird der Eindruck eines „Wolfsproblems“ vermittelt. Das ist für Österreich geradezu lächerlich, haben es doch die Wölfe im schönen Alpenland aufgrund einer intensiven, so gut wie nicht geahndeten Wildtierkriminalität noch immer nicht geschafft, eine nennenswerte Population aufzubauen; sehr im Gegensatz zu Deutschland und anderen Ländern Mitteleuropas, wo man Artenschutz und Gesetze offenbar ernster nimmt. Ebenso regelmäßig wie bestimmt und gut begründet, schmettern daher die Kommissare und die zuständigen Beamten der EU Beschwerden zum angeblich überzogenen Schutzstatus des Wolfes ab. Es fehlt, insbesondere für Österreich und seine Alpen-Alliierten Südtirol und Bayern, an Verständnis für deren Forderung nach Regulierung oder wolfsfreien Zonen. Aufgrund der noch kaum vorhandenen Wolfspopulationen in diesen Ländern gibt es ja noch gar nichts zu „regulieren“. Laut der für alle Staaten der EU bindenden „Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie“ (FFH) müssen die gelisteten Wildtiere – so auch der Wolf – streng geschützt werden, bis im jeweiligen Land ein „günstiger Erhaltungszustand“ erreicht wurde, die Population also groß genug ist, um genügend Reproduktion und vitale, nicht ingezüchtete Nachkommen zu gewährleisten. Dann dürfen sie gegebenenfalls auch bejagt werden. Dieser FFH-konforme Zustand ist derzeit aber für die Wölfe noch nicht einmal in Deutschland erfüllt, geschweige denn in Österreich.

Die großen Beutegreifer als Nagelprobe für die ökologische Wende

Vor allem Rundfunk und TV in Form der Öffentlich-Rechtlichen, teils auch die seriösen Printmedien, bemühen sich merklich um eine ausgewogene Berichterstattung zu den wiederkehrenden Wölfen. Verständlich, liegt dies doch im Interesse ihres Publikums. Denn alle seriösen, also repräsentativen Umfragen – etwa eine Umfrage des Market-Instituts im Auftrag des WWF und eine weitere im Auftrag der Tageszeitung Kurier, beide aus 2019 – zeigen, dass etwa 70 Prozent der österreichischen Bevölkerung pro Wolf eingestellt sind. In anderen europäischen Ländern fallen Umfragen meist noch positiver aus, es begrüßen je nach Land bis zu 90 Prozent der Europäer die Rückkehr der Wölfe und anderer Beutegreifer. Das wird immer wieder als die romantische Gefühlsduselei naturferner Städter abgetan, was aber objektiv falsch ist, weil alle diese Umfragen zeigen, dass auch eine Mehrheit der Landbevölkerung diese Wiederkehr befürwortet. Zudem ist der Wolf keinesfalls nur ein Problem, er bietet auch erhebliche Chancen. Die Pro-Argumente drehen sich um seine ökologische Rolle als Förderer der Biodiversität und der Gesunderhaltung der Wildbestände. Nicht zu unterschätzen ist auch die Rolle des Wolfes als Katalysator politischer Debatten in der Gesellschaft zur Nutzung der Landschaft. Diese Debatten hätten schon längst geführt werden müssen. Mit seiner Wiederkehr macht der Wolf das nun möglich und nötig.

Ist die Nutzung aller Ressourcen der Erde ein Privileg des Menschen? Und dürfen/sollen wir alle uns beim Wirtschaften störenden Mitgeschöpfe mit Flinte und Gift beseitigen? Dies führte immerhin dazu, dass heute die Wildtiere weniger als fünf Prozent der Biomasse der landlebenden Wirbeltiere auf der Erde ausmachen; erdrückende 95 Prozent entfallen bereits auf Menschen und ihre Nutztiere. Allein diese Zahlen entlarven das Argument mancher Leute als manipulativen Unsinn, der Artenschutz solle in der Wildnis betrieben werden. Die macht in Österreich gerade noch 0,2 Prozent der Staatsfläche aus, eingebettet in magere 2,6 Prozent als Nationalparke gewidmete Fläche. Daher schützen wir die Wildtiere entweder im Kulturland, also den von uns Menschen land- und forstwirtschaftlich genutzten Flächen, oder wir werden die meisten von ihnen verlieren. Um es gleich vorwegzunehmen – der Wolf ist keine aussterbende Art, aber soll der Artenschutz erst dann einsetzen, wenn eine Art bereits beinahe verschwunden ist? Der Wolf erfüllt als Apex-Prädator wichtige ökologische Funktionen. Damit meint man Beutegreifer an der Spitze der Nahrungspyramide, die das Verhalten ihrer Beutetiere stark beeinflussen und so Ökosysteme prägen. Zudem wurde er zum Symbol, zur echten Nagelprobe, wie ernst es uns ist mit der Umstellung unserer Lebens- und Wirtschaftsstile in Richtung Nachhaltigkeit.

Seit den 1970er-Jahren verringerten sich auf der Welt – Österreich und Deutschland sind keine Ausnahmen – die Vorkommen von Fischen, Amphibien, Reptilien, Insekten, Vögeln und Säugetieren um etwas 70 Prozent, wie im „Living Planet Report“ (2020) nachzulesen ist. Das sind Horrorzahlen. Die Lage ist aber noch viel schlimmer, weil um 1970 der Bestand an Wildtieren im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter im Schnitt bereits um mindestens 50 Prozent abgenommen hatte. Es ging aber nicht bloß die Zahl der Individuen zurück. Mit Ausnahme der jagdlich überhegten Arten und einiger Kulturfolger verschwinden die Arten der Wildtiere in schwindelerregendem Tempo. Sie sterben aus, weil wir sie direkt verfolgen oder ihnen durch unsere Aktivitäten den Lebensraum nehmen und damit die Klimakrise verursachen, die wiederum das Aussterben beschleunigt. Die Biodiversität zerrinnt zwischen unseren untätigen Fingern, die aber andererseits sehr gut darin sind, die schlimmste Biodiversitätskrise seit dem Einschlag des Meteoriten vor Yukatan vor 66 Millionen Jahren zu verursachen. Damals starben in kürzester Zeit über 90 Prozent der land- und wasserlebenden Lebewesen aus. Heute geht es in die gleiche Richtung. In ihrer an sich höchst nötigen Fixierung auf die Klimakrise vergessen die Menschen gern, dass sie intakte Ökosysteme zum Überleben brauchen. Wo käme sonst unsere Nahrung, unser Trinkwasser her?

Klima und Biodiversität sind zwei Seiten derselben Medaille. Gescheite Leute und internationale Umweltagenturen meinen, es wäre der beste Schutz für das Klima und unser langfristiges Überleben, den Fokus viel stärker als bisher auf die Biodiversität zu richten. Etwa auf eine Ausweitung der Schutzgebiete, der naturnahen Wälder und Moore auf 30 bis 50 Prozent der weltweiten Landflächen und auf weit über 50 Prozent der Meere. Dies schützt nicht nur die Lebensräume und Arten, sondern sorgt auch für eine Optimierung der CO2-Fixierung. Vor diesem Hintergrund scheint es völlig aus der Zeit gefallen, das Wolfsproblem einer Minderheit gegen den Willen der Mehrheit mit der Flinte lösen zu wollen. Das ist zudem irrational. Denn man kann Wölfe schon illegal abschießen – und man tut es auch. Aber der nächste Wolf kommt ganz bestimmt, und der wird wieder Nutztiere töten, wenn sich ihre Halter nicht endlich auf ihre Verantwortung besinnen, ihre Weidetiere fachgerecht zu schützen. Natürlich: Wenn die Mehrheit der Bevölkerung das Wildtier Wolf will, kann sie nicht die Minderheit der Betroffenen mit Kosten, Mühen bis zur Bedrohung ihrer Existenz sitzenlassen. Vielmehr ist Artenschutz eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Daher darf man das Geschehen auf dem Lande nicht länger dem Gutdünken der Jagd, der Land- und Forstwirtschaft überlassen, weil diese Wirtschaftszweige maßgeblich Klima und Biodiversität beeinflussen; und wie das Beispiel Wolf eindrücklich zeigt: Dass er in Österreich noch nicht Fuß fassen konnte, liegt vor allem am Agieren dieser Lobbys. „Naturnah, ökologisch und nachhaltig“ sind als einlullendes „Greenwashing“ wohlklingende Begriffe für das Marketing – gewirtschaftet wird in Wald, Feld und Flur aber immer noch viel zu stark rücksichtslos gegen die Natur.

All das unterstreicht die lange bekannte, aber wenig beachtete Regel, dass die Beziehungen zu Tieren Gradmesser sind für die Verfasstheit einer Gesellschaft. Das gilt für den Umgang mit Tauben in der Stadt, wie einst Milan Kundera in seinem wunderschönen Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins deutlich machte, oder auch für die Straßenhunde in südlichen Ländern. Es macht einen Unterschied – auch für die dort heranwachsenden Kinder –, ob diese Tiere lebensverachtend getötet werden oder ob man humanere und nachhaltigere Lösungen findet. Flinte und Gift lösten kaum je Probleme, in der Regel schaffen sie welche. Das gilt auch für Wölfe, andere große Beutegreifer und Greifvögel. Sie einfach abzuschießen, weil sie die Kreise mancher Leute stören, drückt im Grunde eine tiefe Ignoranz und rohe Verachtung gegenüber jener Natur aus, von der nicht zuletzt das menschliche Überleben abhängen wird. Wahrscheinlich hängt das auch mit jener neoliberalen Optimierungsmentalität zusammen, die bereits lange – erzwungen durch die teils lächerlich geringen Erzeugerpreise – auf Land- und Forstwirtschaft durchschlägt. Vertriebssysteme und Handel sowie die politisch gewollten, sehr niedrigen Lebensmittelpreise sind Mitverursacher des Wirtschaftens gegen die Natur und des Artensterbens.

Die Zukunft: ökologische Landwirtschaft unter Einbezug des Artenschutzes

Natürlich hängt auch der Wolf im Netz des rücksichtslosen Wirtschaftens und der dadurch verursachten ökologischen Katastrophe. Die ist aber weder Naturgesetz noch Schicksal. Man kann – nein, muss – das auch im Interesse der menschlichen Lebensqualität ändern. Es ist durch die Wissenschaft und ihre Analysen längst klar geworden, welche Rahmenbedingungen es für den Artenschutz und ein möglichst konfliktarmes Zusammenleben mit den großen Beutegreifern auch in den Alpen braucht. Man muss sie nur endlich umsetzen und die konservative Folklore alpenländischen Irrglaubens zugunsten besseren Wissens über Bord werfen. Es reicht aber nicht, nur an den Schräubchen zu drehen. Die gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union beruht auch für die kommenden Jahre immer noch auf den Flächenförderungen für die Großen. Wer viel Land hat, bekommt viel. Das fördert die industrielle Produktion von Lebensmitteln, die Optimierung im Hier und Jetzt ohne Rücksicht auf die Zukunft, Nachhaltigkeit bleibt auf der Strecke. Was nach den EU-Budgetverhandlungen für die Landwirtschaft der kommenden Jahre auch von der österreichischen Landwirtschaftsministerin 2021 als ökologische Wende gefeiert wurde, ist in Wirklichkeit eine Mogelpackung. Mittelfristig braucht es auch im Interesse des Artenschutzes eine radikale Verlagerung der Förderungen weg von der immer noch überwiegend chemieintensiven industriellen Landwirtschaft hin zu ökologisch wirtschaftenden Qualitätsbetrieben, für die auch der Artenschutz unter Einschluss der großen Beutegreifer selbstverständlich ist.

Nur angemessene Erzeuger- und Verbraucherpreise können die gekoppelten Miseren von Landwirtschaft und Artenschutz nachhaltig lösen. Wir müssen rasch von einem perversen System wegkommen, das heute die europäischen Bauern in Abhängigkeit hält, die bis zu 70 Prozent von Förderungen leben (müssen), weil sie keine angemessenen Erlöse für ihre Produkte erzielen können. Anteil daran hat auch eine brutal neoliberale Internationalisierung des Lebensmittelmarktes, die Landwirte weltweit unter Druck setzt, weil sie ja unter lokalen Bedingungen produzieren müssen. So tötet das Neuseelandlamm indirekt den Wolf in den Alpen, die Sojaimporte ins fleischhungrige Europa vernichten den brasilianischen Regenwald und die billigst und tierquälerisch in Eurasien produzierten Hühner treiben die afrikanischen Bauern ins Elend. Das drohende Mercosur-Abkommen zwischen EU und Südamerika (Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay) betrifft auch den Freihandel von Lebensmittel. Es wird die Bauern zu beiden Seiten des Atlantiks weiter unter Druck setzen und die Vernichtung der letzten Lebensräume für Wildtiere beschleunigen – in Südamerika wie auch in Europa. Damit muss aber Schluss sein. Es gibt langfristig keine Alternative zu Regionalität, Saisonalität und Qualität in Ernährung und anderen Bereichen unseres Lebensstils, im Interesse von Klima, Biodiversität und letztlich – dem Wolf.

Die schöne Utopie von Weidetierhaltern, welche die Produkte ihrer glücklichen Tiere zu einem Preis verkaufen, der es ihnen erlaubt, als begeisterte Tier- und Artenschützer zu wirtschaften, ist vielleicht Zukunftsmusik, löst aber nicht die gegenwärtigen Konflikte um den Wolf und andere große Beutegreifer. Pragmatische Soforthilfen gibt es bereits, man müsste sie nur beschreiten. Es ist angesichts steigender Populationszahlen klar, dass der Wolf in Europa wiedergekommen ist, um zu bleiben – auch in den Alpen. Da Abschuss und wolfsfreie Zonen weder gesetzlich möglich noch biologisch-ökologisch sinnvoll oder praktikabel sind, führt an Herdenschutzmaßnahmen kein Weg vorbei. Dieser wirkt zudem ja auch gegen streunende Hunde, die in Europa immer noch ähnliche Verluste an Weidetieren verursachen wie die Wölfe – man spricht bloß nicht darüber.

Im Flachland gestaltet sich der Herdenschutz ziemlich unkompliziert über gut gewartete stromführende Zäune. Im Gebirge wird es schwieriger, da braucht es lokal angepasste Lösungen. Einer der Megatrends geht in Richtung Behirtung mit Hunden, eine ebenso aufwendige wie uralte Kulturtechnik. Sie überlebte allerdings in Gebieten, wo auch der Wolf nie ganz verschwunden war, in Osteuropa, auf dem Balkan. Diese überlieferten und bei uns verloren gegangenen Konzepte muss man nun mühsam auch in den bergigen Lagen Mitteleuropas wieder auferstehen lassen. Sicherlich eine komplexe Angelegenheit, die aber durch gut gefüllte nationale und EU-Fördertöpfe zur Abgeltung des erheblichen materiellen und personellen Aufwandes erleichtert wird. Man sollte diese Mittel aber auch abrufen. Politik und die Funktionäre der Landwirtschaft müssen ihre Kopf-in-den-Sand-Blockadepolitik endlich aufgeben. Herdenschutz betreibt man nicht für den Wolf, sondern für eine ökologische Weidewirtschaft in unser aller Interesse. Durch den Wolf erzwungene Schutzmaßnahmen senken ja auch die Verluste an Weidetieren aus anderen Gründen. Und der Wolf wird nicht einfach wunderbarerweise verschwinden, wenn man sich weigert, Herdenschutz zu betreiben.

Schon lange funkt es zwischen Wölfen und Menschen

Letztlich ist ein solches Geflecht der Beziehungen zwischen den großen Beutegreifern und den Interessen der Menschen nichts Neues. Unsere aus Afrika kommenden Homo-sapiens-Vorfahren stießen vor 45.000 Jahren ins Innere Eurasiens vor; sie behaupteten sich dank ihrer Klugheit und sozialen Organisation gegen die vielen Beutegreifer in diesen beutereichen Lebensräumen, einschließlich Löwen, Säbelzahnkatzen, Bären und Hyänen. Und vielleicht auch dank einer frühen Allianz mit dem Wolf, primär aus spirituellen Gründen, vor allem aber, weil es ökologisch und sozial zwischen den beiden Arten gepasst hat. Eine Gemeinschaft mit zahmen Wölfen war offensichtlich verbreiteter eurasischer Lifestyle in der Altsteinzeit, zu Beginn der Mammutjäger-Kultur vor etwa 35.000 Jahren. Um diese Zeit entstanden auch die ersten, noch sehr wolfsähnlichen Hunde; sie begleiteten seitdem die rasche Eroberung nahezu aller Lebensräume der Erde, einschließlich der Wüsten, der Arktis, der nordamerikanischen Kontinente und des pazifischen Raumes. Wo dieses Erfolgsteam aus Mensch und Hund einfiel, veränderten sie die Ökosysteme teils drastisch. Arten starben aus, die Vegetation veränderte sich durch Prozesse, die Menschen mit ihren Hunden als die potentesten Nischenkonstrukteure unter allen Lebewesen der Erde dermaßen auf die Spitze trieben, dass sie damit heute schließlich ihr eigenes Überleben und jenes der Biosphäre in Gefahr bringen.

Für die wenigen frühen Jäger und Sammler der wildreichen Nordhalbkugel waren die Wölfe kaum Konkurrenten, vielleicht aber Brüder, Wesensverwandte und Lehrmeister, wie in den Mythen der nordamerikanischen Great-Plains-Indianer. Diese halbnomadischen, in ihren Tipi-Zelten lebenden Büffeljäger-Leute entwickelten