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Ein böses Omen scheint sich zu erfüllen, als der Wolf von Aglik aus dem Kerker flieht und einen blutigen Rachefeldzug beginnt, der ihn bis nach Ibalan, ins Land der Tempel und weisen Frauen führt. Eine Shimay dritten Ranges wird entsandt, die den Wahnsinnigen stoppen soll, aber Khay trifft nicht auf den Mann, den sie erwartet hat. Überzeugt, Ammán helfen zu können, ignoriert sie ihren Auftrag und versucht stattdessen, sein Vertrauen zu gewinnen. Doch je näher sie ihm kommt, desto tiefer versinkt sie in einem Sumpf aus Lügen, Hass und Hexenwahn, bis sie vor der schrecklichen Wahrheit steht. Ihr Kampf um Ammáns Seele scheint aussichtslos, denn sie tritt nicht nur gegen eine mächtige Rivalin, sondern auch gegen das Schicksal an.
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Seitenzahl: 884
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Epilog
Der Kerkermeister trat vor die Gittertür. Das Bund mit den Eisenschlüsseln lag ihm heute schwer in der Hand. Er wusste, dass er Hochverrat beging, doch er war darüber hinaus, sein Gewissen zu bemühen. Mit ruhiger Hand drehte er den Schlüssel im Schloss, öffnete die Tür, trat in den fahlen Streifen Mondlicht, der durch den Luftspalt ins Innere der Zelle fiel. Staub wirbelte auf, er schmeckte nach Stroh und Tier.
Der Kerkermeister atmete flach. Er setzte das mitgebrachte Bündel zu seinen Füßen ab und zog mit der Rechten seinen Dolch aus dem Gürtel, lauschte … nichts regte sich.
Der Wolf war zweifellos geschwächt. Er hatte ihn aus gutem Grund ein paar Tage hungern lassen, dennoch war er weit davon entfernt, die Gefahr zu unterschätzen. Vor einem Monat erst hatte der Wolf einem Wärter zwei Finger abgebissen, als dieser ihm zu nahe gekommen war.
Ketten klirrten in der Finsternis. Seine Hand krampfte sich um den Dolch. Ein Schwert wäre besser gewesen, doch für solche Überlegungen war es jetzt zu spät.
»Also, hör gut zu!«, begann der Kerkermeister barsch, ohne sich dem Wolf weiter zu nähern. »Wie du siehst, bin ich allein. Du kannst jetzt entscheiden, mich anzugreifen. Das wäre dumm.«
Er lauschte. Stille. Das Klirren hatte aufgehört.
»Oder du kannst entscheiden, dich wieder wie ein Mensch zu verhalten und deinen Verstand zu gebrauchen.«
Keine Antwort. Der Kerkermeister wandte seinen Blick zurück zur offenen Zellentür. Der Gang lag verlassen. Nur der Fackelschein hauchte den steinernen Wänden etwas Leben ein.
»Fragst du dich nicht, warum ich deine Zelle in der Nacht betrete, ohne Kerze, ohne Schutz? Warum habe ich die Wachposten fortgeschickt? Denk nach! Wir haben nicht viel Zeit.« Mit dem Fuß schob er das mitgebrachte Bündel in die Richtung, aus der ein halblautes Knurren kam. »Für dich! Hemd, Hose, Schnürsandalen. Nichts Besonderes, aber immerhin. Allein dafür könnte mein Kopf auf dem Richtblock landen. Schon eine Idee, warum ich hier bin?«
Das Knurren verstummte.
»Ah! Dein Verstand funktioniert also noch. Gut! Leider genügt das noch nicht. Ich brauche dein Vertrauen, blindes Vertrauen, wenigstens eine Stunde lang. Bekommst du das hin?«
Ein raues Lachen kroch aus der Dunkelheit.
»Eine Stunde, mehr verlange ich nicht. Ich weiß, was es dich kostet. Ich habe dir übel mitgespielt. Aber ich habe dich nie getäuscht. Daran sollte dein Verstand dich jetzt erinnern. Ich bin einer der wenigen, vielleicht sogar der Einzige, der immer ehrlich zu dir war. Und ich sage dir ehrlich, deine Sturheit ist heute … wirklich … unangebracht.«
Diesmal lachte der Wolf nicht. Nach kurzer Stille folgte ein Unmutslaut. Der Kerkermeister nahm es als gutes Zeichen. »Ich nehme an, wir verstehen uns. Du hast einen schweren Gang vor dir, aber du wirst es schaffen, wenn du mir vertraust, ohne Wiederspruch tust, was ich sage, ohne Zögern. Und keine Fragen! Für Antworten ist später noch Zeit … wenn du in Freiheit bist.«
»Freiheit«, tönte es kratzig zurück. »Nachdem du dir so viel Mühe gegeben hast, mir jeden Gedanken daran auszutreiben, willst du mich jetzt ausgerechnet mit der Freiheit locken? Was soll ich damit anfangen?«
Erleichtert hockte der Kerkermeister sich hin und schnürte das Bündel auf. Er hatte den Wolf zum Reden gebracht. Die schwerste Hürde war genommen.
»Gebrauche deinen Verstand! Finde es selbst heraus.«
»Nun, wenn ich es bedenke … gleich als Erstes käme mir in den Sinn, dir jeden Knochen einzeln aus dem Leib zu schälen. Danach könnte es mir gefallen, ganz Aglik mit ausgeweideten Kadavern zu schmücken, und zum krönenden Abschluss pfähle ich unsere geliebte Königin auf der Standarte ihres eigenen Turms. Ja, der Gedanke an Freiheit ist nicht ohne Reiz.«
Der Kerkermeister nickte. Eine solche Antwort hatte er erwartet. Mit ruhiger Hand streckte er dem Wolf eine kleine Wurzel entgegen. »Nimm!«
»Was ist das?«
»Gebrannte Wurzel der Grünspanweide, bekannt auch als Zymin. Ich mische es dir schon seit Monaten unter das Essen, aber in den letzten Tagen hast du es entbehrt. Deshalb hast du wieder Schmerzen, und du spürst die Folgen des Entzugs. Nicht gut, wenn du deinen Verstand zu gebrauchen gedenkst. Iss ein Stück! Und dann denk noch einmal über meine Worte nach.«
Eine Hand tauchte aus dem Dunkel und riss ihm die Wurzel aus den Fingern. Lange Krallen schlitzten ihm den Handrücken auf. Ungehalten stemmte der Kerkermeister sich hoch und trat einen Schritt zurück. »Du wirst dich bald an vieles erinnern müssen, auch an deine Manieren.«
Ein langgezogenes Stöhnen antwortete ihm, ein von Erleichterung durchdrungener Laut.
»Besser? Bist du jetzt bereit, mir zuzuhören? Ich stelle dich vor die Wahl, mir eine Stunde lang zu vertrauen oder für den Rest deines Lebens in dieser Zelle zu verrotten. Ist eigentlich nicht so schwer.«
»Nicht schwer? Ich werde dir die Haut vom Leib reißen, sobald die Stunde vorüber ist.«
»Ja, dieses Risiko gehe ich ein.«
Die darauffolgende Stille sagte ihm, dass der Wolf nun endlich zu überlegen schien.
»Warum?«
»Keine Fragen! Das war eine meiner Bedingungen.«
Wieder klirrten die Ketten. Der Wolf hatte sich erhoben. Schmutzig und nackt wie immer, aber aufrecht wie nie trat er aus dem Dunkel heraus.
Unwillkürlich wich der Kerkermeister noch einen Schritt zurück. Wie schon viele Male zuvor fragte er sich, woher dieser Mann die Kraft nahm, die er, allen Entbehrungen zum Trotz, wie aus einem nie versiegenden Quell zu schöpfen schien. Angeblich war der Wolf mit Dunklen Mächten im Bunde.
Unwillig schüttelte der Kerkermeister den Gedanken ab. Von solchen Mythen hatte er sich noch nie beeinflussen lassen.
»Freiheit!«, wiederholte der Mann und sprach das Wort aus, als wolle er sich eines Geschmacks erinnern. »Mir wurde schon Schlimmeres in Aussicht gestellt, nur wird mir die Freiheit von der falschen Zunge versprochen.«
»Sie wird dir von dem einzigen Mann versprochen, der wie du die Wahrheit gesehen hat. Denk nach! Ich sagte einmal, ich könne dein ewig gleiches Gewinsel nicht mehr hören. Ich war taub, das gebe ich zu, aber blind war ich nicht. Ich habe die Hexe und ihr Spiel durchschaut.«
»Und für diese Erkenntnis hast du fünf Jahre gebraucht?«
»Möchtest du das jetzt diskutieren?«
Der Wolf blickte ihn lange an, dann bückte er sich nach dem Kleiderbündel und zog die Hose über seine Hüften. »Wir werden sehen. Geh voran! Dein Leben ist nicht in Gefahr, nicht was mich betrifft … zumindest nicht heute.«
»Wird kein Spaziergang.«
»Das ist ein Fluchtversuch nie.«
»Kein Versuch! Du bist heute noch ein freier Mann.«
Der Wolf verharrte. »Wenn du das hier ernst meinst, dann sprechen wir von Verrat an der Krone, und sowas kommt einem nicht eben in den Sinn. Du planst das schon seit Wochen. Hoffentlich hast du auch einen Plan, wie wir die nächsten Tage überleben.«
»Hab ich.« Aufatmend nahm der Kerkermeister sein Schlüsselbund vom Gürtel und öffnete das Schloss am Hals des Gefangenen. »Dachte ich mir doch, dass noch ein Rest Verstand in dir ist, Jungchen.«
Der Wolf streifte das Halsband mit der langen Kette langsam ab, als könne er sich nur schwer davon trennen. »Jungchen? So hast du mich genannt, als du mir und Ukra noch die Hosen strammgezogen hast, weil wir die Gewölbe von Aglik für einen Spielplatz hielten. Zwanzig Jahre sind seither verstrichen. Ich war schon kein Junge mehr, als ich diese Zelle betrat.«
»Und als Wolf verlässt du sie«, gab der Kerkermeister zurück. »Alles hat sich verändert. Ich bin auch nicht mehr der Mann, der einst deinem Vater diente. Ich mache das hier nicht für dich, sondern für den Rest von dem, was von mir und meiner Familie noch übrig ist. Es mag dir wie ein schlechter Scherz erscheinen, aber ich zähle mich und die Meinen von heute an zur Gefolgschaft des einzig wahren Königs von Tatarak. Du solltest in der kommenden Stunde entscheiden, ob du unsere Gefolgschaft annehmen willst oder nicht.« Er warf die gelöste Kette auf den Boden, dann legte er dem Mann seinen Dolch in die Hand. »Ich für meinen Teil habe mich entschieden.«
Zögernd ließ er das beinerne Heft der Klinge los. Seine Kopfhaut zog sich wie eine trocknende Lederhaut zusammen und brannte auf seinen Schädelknochen. Mit diesem Teil seines Plans hatte er lange gehadert. Er hatte es als unumgänglich angesehen, ebenso blindes Vertrauen zu schenken, wie er verlangte, aber so wehrlos vor dem Wolf zu stehen, fühlte sich wie ein Todesurteil an, verdient und vielleicht schon im nächsten Augenblick vollstreckt.
Er lachte gepresst. Zwei Männer, die jedes Vertrauen in die Welt verloren hatten, stützten sich auf einen Plan, der von Vertrauen abhängig war.
Die Schneide des Dolchs blitzte im Mondschein auf, als der Wolf sie drehte und von allen Seiten betrachtete. »Der einzig wahre König von Tatarak ist tot.«
Den Worten war nicht zu entnehmen, ob er damit seinen Vater meinte oder sich selbst.
Der Kerkermeister nickte knapp, aber nur, um das Gespräch zu beenden. »Kein Wort mehr jetzt«, sagte er und trat auf den Gang hinaus.
Aufgewühlt rollte Königin Kyssandra von Ibalan das Pergament zusammen und sank auf ihren Thron zurück, dann entließ sie den Boten, der ihr die unheilverkündenden Zeilen überbracht hatte. Thalessa hatte in ihrem Schreiben deutliche Worte gewählt, jeder Tintenstrich war von Sorge durchtränkt.
… bisher wurde er nicht gefasst, obwohl sein Weg leicht zu verfolgen ist. Er sucht die Lehen einstiger Höflinge auf und tötet einen nach dem anderen. Die Blutspur, die er hinterlässt, bewegt sich auf die südöstliche Grenze zu. Er will nach Ibalan. Wie es scheint, arbeitet er eine Todesliste ab. Ich fürchte um jeden tatarakischen Vasallen, der sich nach Leriks Ermordung in Ibalan niedergelassen hat, und ich fürchte um Schwester Khay. Ammáns Hass ist so kalt wie sein mörderisches Blut. Der Hexenwahn hat ihn rasend gemacht. Er ist gefährlicher denn je. Im Süden von Tatarak ist es schon zu Unruhen gekommen. Er vergiftet den Geist der Menschen, die leichten Glaubens sind. Sein Gift wird über die Grenze schwappen, sobald er sie passiert. Er muss unter allen Umständen gestoppt werden …
Mit der freien Hand umfasste Kyssandra den Seelenstein auf ihrer Brust. Er pulsierte warm und ruhig wie ein zweites Herz. Das Shi war im Fluss, unberührt von dem Umstand, dass der Wolf von Aglik geflohen war, als wäre er seiner Bestimmung gefolgt.
Sie schüttelte den Kopf. Nichts geschah ohne Grund, das wusste jede Shimay. Es war Ammán selbst, der unergründlich blieb. Wie konnte es die Bestimmung eines tatarakischen Prinzen sein, das eigene Land zu zerstören, seine Werte, die Königslinie und sogar sich selbst?
In Tatarak hatten die Menschen sein eigentümliches Wesen und seine Besessenheit auf ihre Art gedeutet. Seit Jahren flüsterte man sich zu, der Wolf würde von Dunklen Mächten beherrscht, ein hartnäckiges Gerücht, die Erklärung unwissender Menschen ohne Gespür für den Fluss des Shi. Gänzlich unbegründet war ihre Angst jedoch nicht. Das Shi von Aglik war von Schatten befleckt, die schon seit Jahrzehnten Anlass zur Sorge gaben. Das Übel hatte sich angekündigt, lange vor Ammáns Geburt.
Für die Welt war es eine Zeit der Hoffnung gewesen, als König Lerik im Alter von fünfundzwanzig Jahren den Thron von Tatarak bestieg und die blutigen Kriegszüge seiner Vorgänger beendete. Binnen eines Jahres befriedete er sein kampflustiges Volk, indem er zuerst die Kriegstreiber hinrichten ließ, die gegen ihn aufbegehrten, danach rief er Reiterspiele und Turniere aus, die mehr Ruhm und Wohlstand versprachen, als die Heldengräber der früheren Jahre. Zugleich nahm er mit den Nachbarländern Verhandlungen auf oder setzte Hohe Gesandte ein, um Tatarak ein neues Ansehen zu verschaffen. Sein größter politischer Erfolg war der historische Bündnisvertrag mit Ibalan.
Kyssandras Blick fiel auf das Marmorbecken, das im Zentrum ihres Thronsaals stand. Es wurde nur selten mit Shi gefüllt, aber immer, wenn es um große Entscheidungen ging. Zu jener Zeit hatte Königin Sabali an diesem Becken gestanden und die Zeichen der Shimay gedeutet. Sie hatte Tatarak eine blühende Zukunft vorhergesagt, so der junge Herrscher des Landes eine Shimay von Ysch zu seiner Königin machte. Das hatte Lerik getan, gegen den Rat seines Kanzlers, trotz seiner Jugend und Unerfahrenheit, wie vom Atem der Welt berührt. Tatarak und Ibalan wurden durch eine Heirat verbunden. Beide Länder schrieben das Bündnis als Beginn einer neuen Epoche fest. Kyssandra erinnerte sich noch lebhaft an die Zeremonien und Festlichkeiten, auch an die heimliche Bewunderung, die sie dem tatarakischen König entgegengebracht hatte wie vermutlich jede Shimay der Schwesternschaft.
Ammáns Vater war schon in jungen Jahren ein stattlicher Mann und charismatischer Herrscher gewesen, ein Tataraki durch und durch, streng und stark und in eine flammendrote Aura gehüllt. Wie alle Männer hatte er keinen Zugang zum Fluss des Shi, dennoch schien er oft aus dem Bauch zu entscheiden. Als man ihm die blutjunge Shimay Milewa vorführte, die den Zeichen zufolge seine Bestimmung war, hatte er sich nur kurz irritiert gezeigt. Dann hatte er lange und schweigsam gelächelt und schließlich dem Verlöbnis zugestimmt, obwohl er aufgrund ihres Alters noch viele Jahre auf seine Braut hatte warten müssen.
Kyssandra fragte sich, ob es diese Entscheidung gewesen war, die den ersten Schatten hervorgebracht hatte. Königin Sabali und Weiße Mutter hatten am Tag der Hochzeit in Aglik schon eine größere Verdunklung im Shi gesehen.
Damals war die Entdeckung noch kein böses Omen, sondern eine Antwort gewesen. Die Zeichen der Shimay hatten ihre Weisheit offenbart. Tatarak bedurfte der Hohen Lehre, und Schwester Milewa würde als Königin wahre Wunder bewirken, so glaubte man damals noch. Doch es war anders gekommen.
Königin Sabali starb noch im selben Jahr, und so war es an Kyssandra gewesen, das wachsende Unheil weiter zu verfolgen, bis es sich mit der Geburt des Thronfolgers manifestierte und zu einer ausgeprägten Verwerfung auswuchs. Im Tempel von Ysch wurde reichlich darüber debattiert, was den Fluss des Shi derart gestört haben konnte und welche Bestimmung ein Kind erwartete, das im Schatten einer Verwerfung geboren war. Beantwortet waren diese Fragen bis heute nicht.
Kyssandra schlug das Pergament mit Thalessas Botschaft in die freie Hand, als wäre es ein Füllhorn, aus dem sie die Antworten herausschütteln konnte. Ihr Shi zog sich zusammen, sobald sie an den Wolf von Aglik dachte und an das, was ihm diesen Namen eingebracht hatte.
Sie selbst hatte sich von Beginn an geweigert, in Ammán etwas Böses zu sehen. Stattdessen hatte sie ihn mit Zuneigung überhäuft, wann immer sie ihm begegnet war und wie jedermann in seinen ersten Lebensjahren.
Die Festivitäten anlässlich seiner Geburt waren prunkvoll gewesen, und sein Vater hatte mit Stolz den Namen seines Erben verkündet: Prinz Ammán Bayorak, der Prophezeite, Erstgeborener seiner Gnaden, Blut zweier Länder, Thronerbe von Tatarak. Das klang eindrucksvoll, vor allem aus Leriks Mund, und entsprechend beeindruckt war man dem Säugling begegnet, der – alle Aufmerksamkeit ignorierend – in den Armen seiner Mutter schlief. Aber der junge Prinz war nicht zu dem schneidigen und allerorts gefeierten Thronfolger herangewachsen, zu dem König Lerik ihn so gern erzogen hätte. Schon in den ersten Jahren zog sich der Junge hinter die Fassade eines eigenwilligen Trotzkopfs zurück, der lieber Würmer sammelte, als mit den geschnitzten Kriegerfiguren zu spielen, die der Vater ihm schenkte. Er fremdelte vor jedem unbekannten Gesicht und versteckte sich hinter den Röcken seiner Mutter, statt neben dem stolzen Vater zu stehen, der ihn bald nicht mehr jeder Gesandtschaft präsentierte. Bei Hof wurde oft darüber gemunkelt, warum das Kind so aus der Art schlug. Zuweilen wurde sogar an seinem königlichen Blut gezweifelt, weil nicht mal ein Funken von Leriks Glanz auf ihn abgefärbt hatte.
Kyssandra erinnerte sich an ein schüchternes Kind, aus dem ein pummliger, oft gelangweilt wirkender Knabe wurde. Im Alter der Reife schoss er plötzlich zu einem schlaksigen Jungspund auf, der eine Weile jedem Rocksaum nachgestellt war, bis auch dieses Interesse erlahmte. An seinem achtzehnten Geburtstag hatte sie ihm einen jungen Falken zum Geschenk gemacht. Sein Dank war zurückhaltend ausgefallen. Noch am selben Abend hatte er das Gehege geöffnet und das Tier freigelassen, sehr zur Missbilligung seines Vaters, der ein begeisterter Jäger gewesen war und es gern gesehen hätte, wenn aus seinem Sohn wenigstens ein geachteter Falkner geworden wäre. Aber Ammán teilte solche Leidenschaften nicht. Auch seine Kampfkünste wurden als eher durchschnittlich belächelt, obwohl er mit dem besten Schwertkämpfer trainierte, dem Ersten Krieger und Hauptmann der Rakan-dai, dem legendären Haraka Udon höchstselbst. Die Ausbildung endete ohne Prüfung und ohne Eid, weshalb der tatarakische Thronfolger sich nicht einmal des Titels eines Rakan-dai hatte rühmen können. Kyssandra konnte sich allerdings nie des Gefühls erwehren, dass Ammán solche Titel schlichtweg nicht wollte, entweder aus Starrsinn oder aus einer Überzeugung heraus, die sie durchaus verstand. Hinter all dem Ungehorsam und der Querköpfigkeit verbargen sich Wünsche, die zu schlicht waren, um die Ohren des übermächtigen Vaters zu erreichen oder gar die des Hofstaats von Tatarak.
Ja, Ammán war immer schon auffällig gewesen. Aber eine Gefahr? Nach Leriks eigener Aussage war sein Sohn zu träge, zu verschlossen und viel zu nachdenklich für einen Mann, der eines Tages über Land und Volk regieren sollte. Jeder wusste das, jeder stimmte der Ansicht des Königs zu.
Das einzige Talent, das dem Prinzen einige Achtung einbrachte, war sein Geschick im Umgang mit Pferden. Man sagte ihm nach, jeden noch so wilden Gaul binnen weniger Wochen in ein zuverlässiges Reittier zu verwandeln, manche sprachen gar von einem Zauber. Die Pferde aus seiner Zucht waren in den höchsten Kreisen begehrt. Allein seine mittelmäßige Reitkunst machte dieser kurzen Phase seiner Glorie bald wieder ein Ende. Er beteiligte sich selten an Jagden, noch seltener an Turnieren und in beidem ohne nennenswerten Erfolg.
König Lerik schob es seinem Mangel an Ehrgeiz zu, dass er in keinem Fach wahrhaft brillierte. Selbst Königin Milewa hatte sich bisweilen beklagt, weil ihr Sohn kaum eine Ambition und noch weniger Antrieb kannte, schon gar nicht, was die Krone seines Vaters betraf.
Kyssandra hatte das oft bedauert, weil sie durchaus königliche Anlagen in Ammáns Wesen sah: Geduld, Achtsamkeit und Kraft. Nicht die Kraft eines Rakan-dai oder die eines Jägers, der einen wilden Eber mit einem einzigen Speerwurf zur Strecke bringt, sondern die Kraft seines Shi, eine unbändige Lebenskraft, die ihn in eine eindrucksvolle, alles überstrahlende Aura hüllte.
Es lag eine Tragik darin, dass Ammán ausgerechnet den Fluss des Shi zum Urquell seines Hexenwahns machte und diesem am Ende selbst zum Opfer fiel. Wann genau er sich im Shi zu verirren begann, war nach all den Jahren nicht mehr zu ergründen, aber dass er in Leriks Schatten und in beständiger Angst aufgewachsen war, stand für Kyssandra heute fest. Angst hatte ihn geformt, nicht der Hass, der ihn später vernichtete.
Zweifellos hatte er sich schon früh mit den Alten Mythen befasst und an den Hexenkult geglaubt, der auf dem Nährboden seiner Ängste gewuchert war. Der tragische Tod seiner Mutter mochte den Wahn schließlich ausgelöst haben. Was sonst hatte ihn nur wenige Monate später dazu gebracht, den eigenen Vater zu ermorden, seine Stiefmutter zu bedrohen und am Tag, als ihm der Prozess gemacht wurde, von Verschwörung und Hexerei zu sprechen?
Kyssandra hatte dem Prozess gegen Ammán beigewohnt, als er mit glühendem Zorn und den abscheulichsten Worten Königin Thalessa der Hexerei und den halben Hofstaat eines haarsträubenden Komplotts bezichtigte. Es war eine Tortur gewesen, ihm dabei zuzusehen. Sein Shi hatte gewallt wie ein Geistermeer, aber der Zorn hatte ihn gleichzeitig ausgelaugt, bis seine Aura ihn wie ein Leichentuch umgab, blass und dünn, ein Schatten im Schatten von Aglik. Zu jung, zu unwissend war er gewesen für diesen Kampf, in dem er sein eigener Gegner gewesen war. Sein Todesurteil hatte er schon apathisch hingenommen, und während Thalessas Fürsprache, die ihn im letzten Moment vor dem Richtblock bewahrte, war er wie ein abgestorbener Baum zusammengebrochen.
Von all dem hatte er sich nie erholt. In den fünf Jahren, die er im Verlies von Aglik verbrachte, war er zuerst in Selbsthass und danach in Stumpfsinn verfallen, doch wirklich still war es nie um ihn geworden. Gerüchte machten die Runde, obskure, von ausufernder Fantasie genährte Fabeleien um den Wolf von Aglik, wie man ihn seither nannte. Aber Kyssandra hatte auch anderes gehört. Seine glühende Rede vor den Hohen Richtern war in so manchem Ohr verblieben, und fern der Hauptstadt hatten sich Zweifel geregt. Der Ruf nach dem wahren Erben von Tatarak war eines Tages zum Leben erwacht und nie ganz verhallt, wie auch die Stimmen, die bis heute seine Hinrichtung forderten. Unruhen waren darüber ausgebrochen. Familien und Dörfer, ganze Landstriche hatten sich entzweit. Der Wolf von Aglik, der vor dem Mord an seinem Vater ein ruhmloser Prinz gewesen war, hatte sich einen Namen gemacht, der das Land zerriss. Seine Flucht konnte nur neues Unheil bedeuten, ob er nun wahnhaft Hexen jagte oder blindlings um sich schlug und erst recht, wenn er ernsthaften Anspruch auf den Thron erhob. Die jüngsten Bluttaten waren erst der Beginn seines Feldzugs und das Ende nicht absehbar.
Kyssandra kniff ihre Lider zusammen. Sie stand wieder am Anfang. Warum war das Shi noch im Fluss? Warum erfüllte Ammán die Prophezeiung nicht? War der Orden der Shimay geblendet worden? Wissen und Wahrheit waren nicht zwangsläufig dasselbe.
Seufzend erhob sie sich von ihrem Thron. Tatarak war in Aufruhr und sie auch. Thalessa hatte in ihrem Schreiben eine düstere Vision gemalt, doch es war nie ratsam, gleich vom Schlimmsten auszugehen. Richtig war nur, dass man der Gefahr entgegenging. Jemand musste dem Wolf Einhalt gebieten, auch wenn man sich noch den Kopf über sein Handeln zerbrach.
»Eine Shimay muss entsandt werden«, sinnierte Kyssandra halblaut vor sich hin und schlug den Weg ein, den sie immer ging, wenn Zweifel ihre Entschlusskraft lähmten.
Es gab nur eine Shimay, die für diese Aufgabe infrage kam, jene Shimay, die Ammán bestimmt gewesen war, die schon einmal ihr Shi mit ihm geteilt hatte, wenn auch als Kind.
Sie würde ihn finden, ja. Aber ausgerechnet Schwester Khay stand Thalessas Worten zufolge weit oben auf Ammáns Todesliste, während die gesunde Vorsicht in Khays Naturell ganz am Ende stand. Als Shimay dritten Ranges war sie wissend. Auch an Achtsamkeit mangelte es ihr nicht. Aber sie neigte zu Leichtsinn und Übermut, und es fehlte ihr an Erfahrung. Ihr Wissen um die Eigenarten des tatarakischen Volkes glich diesen Mangel ein wenig aus, doch es war theoretisches Wissen, wenn nicht vieles davon schon in Vergessenheit geraten war. Wie viel wusste sie noch nach fünf Jahren? Ibalanische Banditen in die Schranken zu weisen oder einem wütenden Tataraki in den Weg zu treten, war ein Unterschied.
Tatarak war noch immer ein raues Land, in dem die Gaben der Frauen verkümmerten. Der Frieden wurde auf herkömmliche Art gewahrt, durch Stadtwachen oder bewaffnete Garden, welche allerorts für Ordnung sorgten, und nicht zuletzt einer Heerschar, die gegen Aufruhr und Krieg gerüstet war.
In Ibalan gab es dergleichen nicht. Streitigkeiten und Vergehen wurden mit dem Fluss des Shi in Einklang gebracht. Meist genügte es, eine Shimay zu entsenden, die mit der Gabe der Empathie gesegnet war, andernfalls schickte der Tempel eine Bekehrerin.
»Ei-ei, Halunke, hör die Shimay! Sie bricht dein finstres Herz entzwei. Hat sie gesprochen, kommst du gekrochen«, war im Volk ein verbreiteter Reim, der Missstimmungen oft schon im Keim erstickte, und Wegelagerer fürchteten nichts mehr, als an eine solche Shimay zu geraten und den Rest ihres Lebens als Wohltäter zu verbringen. Selten war ein Fall so schwer, dass er im Thronsaal der Königin verhandelt werden musste, und noch nie hatte ein Delinquent diesen Saal ohne Läuterung verlassen.
Kyssandra ließ die Palastmauern hinter sich und schritt die Wege des Tulpengartens entlang, an den Weinhängen vorbei und durch den duftenden Kräuterhain, wo dieser Tage der Safran blühte, über das Ewige Mandala bis vor die Tore des Tempels von Ysch, der aus schneeweißem ayurischen Marmor errichtet war. Die geschwungenen Säulen, auf denen er ruhte, nahmen sie wie erhobene Arme in Empfang.
Weiße Mutter kam ihr schon am Eingang entgegen, auf ihr Stöckchen gestützt, von ihrem langen Haar umweht. Ihre silbrige Aura strahlte die Ruhe eines Bergsees aus. Wie immer hatte sie ihr Kommen gespürt, und ihr besorgter Blick machte deutlich, wie viel von Kyssandras Kummer sie schon aufgespürt und gedeutet hatte.
Die Königin neigte den Kopf vor ihrer alten Lehrmeisterin. Im Tempel waren Titel nicht von Bedeutung, hier gab es nur Shimay, Frauen jedweden Alters, die gemeinsam Sutras sangen und ihre Fertigkeiten trainierten, von der ersten Erkenntnis bis zur letzten Reise. Die Lehre von Ysch endete nie.
Kyssandra hatte ihren ersten Rang in der Kunst der Selbstlosigkeit erreicht, was keine besondere Gabe war, weil jede Shimay danach strebte, doch nur wenige brachten es bis zur Meisterschaft. Von dem Wunsch beseelt, eine große Telepathin, Heilerin oder Bekehrerin zu werden, stand vielen der Ehrgeiz im Weg. Insofern ragte sie doch mit ihrer unspektakulären Gabe heraus, die nur im Beisein ihrer Lehrmeisterin verblasste. Weiße Mutter hatte es in jedem Fach zur Meisterschaft gebracht, was der Königin seit der Stunde ihrer ersten Begegnung den höchsten Respekt einflößte. Sie wählte die gleichen Worte wie damals und wie viele Male seither.
»Ich bitte um deinen Beistand und um Rat«, sagte sie schlicht.
»Du brauchst nur etwas Ruhe«, gab die Weiße Mutter zurück. »Eigentlich weißt du schon, was du tun wirst.«
»Ich bin mir nicht sicher«, gestand die Königin.
»Dann komm zur Ruhe.« Lächelnd legte Weiße Mutter drei Fingerspitzen an Kyssandras Gesicht. »Wir sind Shi … in Liebe empfangen …«
Augenblicklich spürte Kyssandra den belebenden Strom, der von der Lehrmeisterin auf sie überging. Dankbar nahm sie ihn an, eine Mischung aus Trost und Klarsicht, auch eine Spur Vertrauen schwamm darin. Überrascht blickte sie auf. Wie kam die Weiße Mutter darauf, dass es ihr an letzterem mangelte?
»Vertraue dem Shi!«, wurde sie belehrt. »Dann wirst du dich weniger schwertun, eine Entscheidung zu treffen.«
Kyssandra verwandelte das empfangene Shi in pure Heilkraft. »… und zurückgegeben«, beendete sie das Ritual.
Weiße Mutter seufzte, als sie den zurückflutenden Strom empfing. »Ich danke dir, aber wie immer übertreibst du es. Es verlangt mich nicht danach, wie eine junge Gazelle durch unsere Gärten zu springen.«
»Mir würde es gefallen.« Kyssandra lächelte vergnügt.
Weiße Mutter stieß ihren Stock auf den Boden. »Es gibt einen Grund, warum das Alter uns als letzte Lektion noch einmal Geduld und Demut lehrt. Ein alter Geist hat in einem jungen Körper nichts verloren. Er würde nur Unruhe stiften.«
»Dann stimmt es wohl, dass man daran eine Hexe erkennt«, scherzte Kyssandra weiter und erntete einen zweiten tadelnden Blick. Da rief sie sich zur Ordnung. »Verzeih! Ich bin wirklich noch in Aufruhr.«
»Dann lass uns gemeinsam in Aufruhr sein«, sagte die Weiße Mutter und hakte sich bei ihr ein.
Im Gleichmaß ihrer Schritte setzten sie ihren Weg fort und wandelten durch den Innenhof des Tempels, in dem das leise Plätschern und Klackern der Wasserspiele zu hören war.
»Es ist ungeheuerlich, was in Tatarak geschehen ist«, begann Weiße Mutter nach langem Schweigen. »Als würden die Alten Mythen zum Leben erwachen. Hast du sie je gelesen?«
Kyssandra nickte schwach. »Als ich noch sehr jung war und töricht genug, meine Nase in die absonderlichsten Schriften zu stecken. Es sind grausame Geschichten. Weise Frauen werden als Hexen verunglimpft, von den eigenen Männern geschmäht, von anderen verfolgt und auf Scheiterhaufen verbrannt. Ich weiß nicht, was Menschen dazu bringt, solchen Mythen Glauben zu schenken.«
»Der Hexenwahn ist ein gefährliches Gift.«
»Aber es hat uns nie etwas anhaben können«, erwiderte Kyssandra erregt. »Unser Volk weiß, dass wir keine Hexen sind. Unser Shi wird aus Liebe geboren. Hexenkräfte entstehen aus Hass.«
»Und sie sind ein Mythos!«, sagte die Weiße Mutter streng.
Kyssandra blickte auf den steinigen Weg, über den sie schritten. »Hast du dich je gefragt, woher dieser Mythos stammt? Wenn es keine Hexen gibt und auch nie gegeben hat, wie konnte ein so falsches Bild von uns Frauen dann überhaupt entstehen?«
»Weil es zu jeder Zeit Männer gab, die sich von uns bedroht fühlten … es gibt sie auch heute noch.«
»Ist der Wolf von Aglik ein solcher Mann?«
Weiße Mutter neigte ihren Kopf zur Seite. »Das ist schwer zu sagen. Fühlte er sich bedroht?«
»Sein Antrieb ist Angst.«
»Möglicherweise. Er hat König Lerik gewiss nicht ermordet, weil es ihn nach der Krone verlangte, auch wenn alle Welt das glaubt. Seine Tat war von Gefühlen motiviert.«
Kyssandra nickte. »Vielleicht … weil Lerik so kurz nach Milewas Tod wieder geheiratet hat.«
»Das wäre vorstellbar. Ammáns Mutter war kaum ins Shi gegangen, schon saß eine neue Königin auf dem Thron. Das kann für einen jungen Mann schwer zu akzeptieren sein. Ich denke, da fügt sich alles zusammen, die Angst, die Trauer, die Wut, sein Glauben an den Hexenkult, die Verwerfung im Shi und eine Stiefmutter, die …«
»Nein, warte!« Kyssandra unterdrückte ein Schauern. »So einfach kann ich mir seinen Hass nicht erklären. Thalessa hat sich tadellos am tatarakischen Hof eingefügt. Sie hat sich nie über Ammán beklagt, nicht einmal nach Leriks Ermordung, als alle anderen sich schon von ihm abgewandt hatten. Vor den Hohen Richtern hat sie als einzige für ihn gesprochen, und nicht zuletzt hat sie ihn vor dem Richtblock bewahrt. Zum Dank schimpft er sie eine Hexe – und alle anderen Shimay unserer Schwesternschaft gleich dazu. Alles nur, weil sie seinen Vater geheiratet hat?«
»Du tust dir keinen Gefallen, wenn du dich seinem wahren Leiden verschließt«, sagte die Weiße Mutter ruhig, aber Kyssandra hatte sich noch nicht alles von der Seele geredet.
»Es erschüttert mich, weil ich den Grund nicht erkennen kann. Das Shi hat Ammán von Geburt an begünstigt. Die Krone war ihm in die Wiege gelegt. Er wurde bestmöglich erzogen, gefördert, die Zeichen der Shimay haben ihm eine Braut bestimmt. Doch er wirft alles weg, schlimmer noch, er verachtet es. Und was hat Khay ihm getan? Er ist ihr nur einmal begegnet, und das war vor fünfzehn Jahren. Khay ist die Letzte, die ihm Böses will. Sie war für ihn bestimmt, nun wird diese Bestimmung für sie zum Fluch.«
Weiße Mutter schien diesen Gedankengang nicht zu teilen, dennoch nickte sie. »Jetzt nähern wir uns deiner eigentlichen Sorge. Du glaubst, du hättest dem Mädchen den falschen Weg bereitet. Du fürchtest, für ihr Schicksal verantwortlich zu sein.«
»Weil es so ist«, entgegnete Kyssandra bedrückt. »Ich selbst habe den Großen Atem befragt. Ich habe Ammáns Verlobung mit Khay arrangiert. Die Zeichen waren eindeutig.«
»Waren sie das? Das Mädchen war eine Waise, von einer Herkunft weit unter Ammáns Stand. Lerik musste Gesetze ändern, damit die Verlobung überhaupt stattfinden konnte.«
»An ihrer Bestimmung gab es keinen Zweifel! Jeder, der die beiden Kinder zusammen sah, hat das erkannt, sogar König Lerik, obwohl er über unsere Deutungsregeln nur lachte. Khay war schüchtern, aber auf Ammán ging sie zu, und er wusste sofort, dass sie etwas Besonderes für ihn war. Seine Aura hat aufgelodert in ihrer Gegenwart. Und sie haben ihr Shi geteilt! Unbewusst, wie Kinder es eben tun, aber auf selbstlose Weise. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie seine Lebenskraft auf Khay überging, sprühend vor Zuneigung, und Khay – gerade einmal sechs Jahre alt – gab es wie eine echte Shimay zurück. Die Verlobung fand noch am selben Abend statt.«
»Und danach wurden sie getrennt«, erinnerte sie die Weiße Mutter.
»Natürlich! Ammán kehrte mit seinen Eltern nach Tatarak zurück, und Khay nahm ihre Ausbildung im Tempel auf. Die Hochzeit sollte stattfinden, wenn sie den dritten Rang der Shimay erreicht, also etwa, wenn sie neunzehn ist. Jetzt ist sie schon einundzwanzig, Ammán nennt sie eine Hexe, und das Shi ist noch immer im Fluss. Ich verstehe es nicht! Thalessa geht sogar davon aus, dass er ihr nach dem Leben trachtet. Wie kann das sein?«
Weiße Mutter wiegte ihren Kopf. »Ammán weiß nicht, dass Khay von seinem Shi empfing. Männer spüren den Austausch nicht. Und selbst wenn er es wüsste, so ist er doch gestärkt daraus hervorgegangen. Erinnerst du dich an den Lehrsatz, dass die einfachste Erklärung meist die richtige ist?« Mit wachsamen Augen blickte die alte Shimay auf. »Jetzt sag mir, warum du das Offensichtliche nicht sehen willst.«
Weil ich es nie wahrhaben wollte, dachte Kyssandra.
»Ammán wurde im Schatten einer Verwerfung geboren, sein Shi ist krank«, sprach sie es aus. »Möglicherweise … der 87. Khaday. Damit ließe sich das Gift in seinem Geist erklären, sein Hexenwahn und sein Unvermögen, den Weg zu gehen, der ihm prophezeit worden ist.«
Weiße Mutter nickte. »Du weißt es! Wann genau und wie der Wahnsinn ihn ereilt hat, spielt keine Rolle. Die Ursachen können so verschieden sein wie unsere Seelen, eine lange, unglückliche Verkettung von Ereignissen oder ein einziger Moment, der ihm eine Wunde zufügte, die er aus eigener Kraft nicht heilen kann. Du stehst heute nicht vor einer Entscheidung, nicht einmal vor einer Wahl. Du musst Schwester Khay entsenden.«
»Ich weiß.« Die Königin seufzte.
»Vertraue dem Shi, Kyssandra! Die Zeichen haben Khay für Ammán bestimmt. Sie haben nicht bestimmt, dass sie die zukünftige Königin an seiner Seite ist. Das war deine Idee!«
»Du glaubst also, sie wäre nur seine Heilerin? Genauso gut könnte es ihre Bestimmung sein, von seiner Hand zu sterben. Wenn das Shi im Fluss ist, gibt es auch dafür einen Grund.«
Lächelnd legte die alte Shimay eine Hand an ihr Gesicht. »Was sagt dir dein Gefühl?«
Kyssandra atmete tief ein, erst dann gab sie das Lächeln zurück. »Ich verschwende Zeit und Kraft, wenn ich mir Sorgen mache.«
Weiße Mutter nickte. »Das Shi ist im Fluss. Khay ist stark genug, ihre Bestimmung selbst zu finden. Und all deine Gedanken der letzten Stunde waren so überflüssig wie Zweifel und Angst. Vertrauen, Schwester Kyssandra! Du stehst nicht über dem Großen Atem … keine von uns.«
»Königliche Schwester!« Khays Wangen blühten auf, als sie Kyssandra erkannte.
»Du weißt doch, dass du mich hier nicht so nennen sollst«, flüsterte die Königin und küsste sie auf beide Wangen.
»Gehen wir ein paar Schritte bis vor das Tor, dann darf ich dich sogar ›Königin‹ nennen«, gab die junge Shimay mit einem strahlenden Lächeln zurück. »Was macht das für einen Unterschied, ob hier oder dort? Ich habe das nie verstanden.«
Kyssandra drohte ihr spielerisch mit dem Finger. »Du hast es sehr wohl verstanden, Kind. Du hältst dich nur nicht daran.«
»Kind?« Khay lachte auf. »Wunderbar! Ich darf nicht sagen, was du bist, aber du darfst sagen, was ich nicht bin. Ich werde ein Koan daraus machen.«
»Ich freue mich darauf«, sagte die Königin sanft.
Wie so oft fühlte sie sich von Khays Lebhaftigkeit an ihre eigene Jugend erinnert, an Zeiten, in denen Sorgen noch keine Last, sondern eine Herausforderung waren. Khay hatte schon früh lernen müssen, mit Rückschlägen umzugehen. Nachdem Ammán ihre Verlobung aufgelöst hatte, war sie durch eine schwere Zeit der Zweifel gegangen und hatte alles in Frage gestellt, bis hin zum Fluss des Shi, aber dann hatte sie ihre Studien einfach wieder aufgenommen und weitergemacht, mit der alten Unbekümmertheit und neuen Zielen. Eine Ehe und Kinder schloss sie dabei nicht aus, was Kyssandra freute. Khay war nicht für den langen Weg einer Weißen Mutter gemacht, auch wenn sie klug und einfühlsam war. Ihre Aura verriet ihre Leidenschaft, flüssiges Gold und Abendrot, Temperament und Stille, das war nur dann gänzlich in Einklang zu bringen, wenn ein Mann in ihr Leben trat, der mit dieser turbulenten Mischung umgehen konnte.
Auch körperlich war das Mädchen zu einer schönen Frau herangewachsen, soweit Kyssandra das beurteilen konnte. Wie jede Shimay achtete sie selten auf Äußerlichkeiten, aber in den Augen eines Mannes, der die Schönheit ihrer Aura nicht sah, dürfte Khay einige Aufmerksamkeit erwecken. Ihre weiße Stola umschmeichelte eine anmutige Gestalt, und ihre blaugrünen Augen glänzten wach unter hellen Wimpern hervor. Nur ihr langes blondes Haar und ihre etwas zu klein geratene Nase ließen sie noch immer kindlich erscheinen.
Kyssandra wusste, dass dieser Eindruck täuschte. Sie selbst war durch die Schule der Shimay gegangen, war behütet aufgewachsen, fern von aller Not, die auch in Ibalan noch nicht gänzlich ausgemerzt war. Aber ein einfaches Leben war der Weg der Shimay nicht. Tagein, tagaus im Einklang mit seinem Shi zu leben, verlangte Disziplin und Konzentration. Nicht zuletzt wurde von den Schülerinnen der höheren Ränge schon bedingungslose Selbstlosigkeit erwartet, gerade dann, wenn sie das Alter erreichten, in dem sie sich selbst entdeckten, ihre Weiblichkeit, ihre Gaben, wenn sie ihre ersten wohltätigen Reisen unternahmen und Männern begegneten, die mit den Mönchen im Tempel nicht vergleichbar waren.
Als hätten ihre Gedanken einen Anstoß gegeben, sprach Khay sie soeben auf einen dieser Mönche an.
»Bismata und ich waren letzte Nacht im Tulpengarten«, erzählte sie eine Spur zu beschwingt.
Kyssandra runzelte die Stirn. Das war nicht verboten, aber aus Khays Mund klang es so.
»Was habt ihr dort angestellt?« Sie zwinkerte ihr zu, weil sie der Eindruck beschlich, dass Khay gerade etwas Aufmunterung brauchte.
»Wir haben stundenlang geredet.«
»Das macht ihr beiden doch ständig.«
»Er …« Jetzt wurde die junge Shimay sogar rot. »Er hat mir einen Antrag gemacht. Glaubst du, ich sollte ihn annehmen?«
»Wenn du vor dem Richtigen stehst, dann hinterfragst du das nicht, du weißt es«, gab die Königin vorsichtig zurück.
Khay zuckte mit den Schultern. »Ammán war der Richtige, das ist alles, was ich weiß. Aber Ammán will mich nicht mehr, Bismata schon, also nehme ich den, der mich will.«
»Ist das der rechte Grund, eine Ehe einzugehen?«
»Wahrscheinlich nicht.« Khay schniefte. »Wahrscheinlich ist Bismata auch nur aus Mitleid an mich herangetreten. Trotzdem denke ich darüber nach. Ich mag ihn. Er ist ein begnadeter Heiler, und er kennt sich mit Pflanzen aus wie kein anderer. Gemeinsam haben wir schon Wunder vollbracht. Unser Shi ist im Einklang, und das zeichnet eine gute Partnerschaft aus.«
Die Königin nickte. »Aber du liebst ihn nicht.«
»Ich liebe alle Menschen!«, erwiderte Khay.
»Gewiss, aber von dieser Liebe spreche ich nicht. Ich spreche von der Liebe, die dein Shi Funken sprühen lässt. Du hast noch nie erfahren, welche Kraft in einer solchen Verbindung steckt.«
»Hätte ich mit Ammán Funken gesprüht?«, fragte Khay und senkte den Blick, doch sie redete sofort weiter. »Du musst nichts sagen. Ich weiß es. Seit unserer Begegnung mögen viele Jahre vergangen sein, doch ich habe nichts vergessen. Er hat mich geneckt und all die dummen Sachen gesagt, die ein älterer Junge einem Mädchen an den Kopf werfen kann. Und ich habe an seinen Haaren gezogen und ihm genauso dumme Antworten gegeben. Trotzdem fühlte es sich richtig an, als würde ich an seiner Seite wachsen und klarer sehen. Seine bloße Gegenwart war wie … Erwachen im Morgenlicht.«
Mit drei Fingerspitzen berührte die Königin Khays Gesicht. »Schenke deiner Schwester einen Augenblick davon.«
Khay zögerte, doch dann nickte sie und öffnete sich der Königin. Der erfahrenen Shimay genügte ein Augenblick.
»Überwältigend«, murmelte sie und löste die Finger von Khays Gesicht. »In Bismatas Gegenwart fühlst du das nicht?«
»Wenn ich mit Bismata zusammen bin, fühle ich ähnlich, alles ist richtig und gut, aber auch … so selbstverständlich.«
»Keine Funken, hm?« Die Königin schmunzelte, als sie das Aufwallen in Khays Aura sah. »Du musst deinen eigenen Weg gehen. Das ist der einzige Rat, den ich dir geben kann. Lass dich vom Shi leiten. Wohin treibt es dich?«
Unruhe brandete über das Gesicht der jungen Shimay. Ihre Stirn wellte sich, als würde sie einen Gedanken an die Oberfläche ihres Bewusstseins hieven, der schon lange in ihr gärte. »Ich kann Ammán nicht loslassen, solange ich nicht wenigstens eine Chance erhalte, meiner Bestimmung zu folgen. Ich weiß, er hat schreckliche Dinge gesagt und getan, aber ist das Grund genug, ihn aufzugeben? Nicht für mich.«
Kyssandra nickte. »Weiter.«
»Ich kenne Ammán. Ich fühle ihn in meinem Shi. Er ist nicht gewalttätig und nicht böse. Sein Shi ist … krank.«
Überrascht hob Kyssandra ihre Brauen. »Weiße Mutter und ich sind zu demselben Schluss gekommen. Das heißt aber noch lange nicht, dass du Ammán kennst. Der Junge, der dich einst neckte, ist heute der Wolf von Aglik, der seinen eigenen Vater gemordet hat. Es heißt, er habe ihm wie ein Tier die Kehle zerbissen. König Lerik ist elendig verblutet.« Kyssandra strich mit ihrem Zeigefinger über Khays Hals und sah sie dabei eindringlich an. Sie wollte die Schwester nicht ängstigen, nur eine Warnung aussprechen, die in ihrem Fall nicht drastisch genug ausfallen konnte.
Die junge Shimay verarbeitete das grausige Bild schnell. »Nichts geschieht grundlos. Auch wenn es uns nicht immer vergönnt ist, die wahren Gründe zu sehen.«
»Das ist richtig. Ich vergesse bisweilen, dass du den dritten Rang der Shimay längst abgeschlossen hast.«
»Und den zweiten begonnen«, fügte Khay mit erhobenem Kinn hinzu. »Wenn ich erst eine Shimay ersten Ranges bin, dann kann Schwester Thalessa keine Einwände mehr erheben, wenn ich Ammán in Burg Aglik besuchen will.«
»Sie hat es dir nur zu deinem Schutz untersagt.«
Khay nickte stumm, doch sie machte dabei ein sauertöpfisches Gesicht.
»Ammán ist heute ein gefährlicher Mann, vergiss das nie! Der Mord an König Lerik war erst der Anfang. Inzwischen mordet er jeden, der ihm in die Quere kommt.«
Khay tat die Bemerkung mit einem Kopfschütteln ab, dann stutzte sie. »Inzwischen?«
»Ammán ist aus Burg Aglik geflohen und in diesem Moment auf dem Weg nach Ibalan. Er jagt einstige Freunde und Höflinge, die nach Leriks Tod von ihren Ämtern zurückgetreten sind. Viele leben im Süden von Tatarak, andere haben sich in Ibalan niedergelassen. Hier wie dort sind sie ihm ungeschützt ausgeliefert. Wenn er sie findet, bringt er sie um, ausnahmslos, Leibwachen, Ratsherren, Lehrer, eine Art Todesliste, auf der höchstwahrscheinlich auch dein Name steht.«
»Das … das kann ich nicht glauben.« Khay sank auf eines der Zedernholzbänkchen nieder, die den Gartenweg säumten.
Kyssandra setzte sich neben sie und zog Thalessas Pergament aus ihrem Ärmel hervor. »Wenn du wüsstest, was ich alles nicht glauben kann, und doch ist es geschehen. Lies das bitte! Es wird dir Übelkeit bereiten, aber du musst davon erfahren.«
Khay entrollte das Schreiben, ihr Blick huschte über die Zeilen. »Ammán hat schon sieben Leben ausgelöscht«, flüsterte sie entsetzt. »Fünf Höflinge, ein Rakan-dai und … dessen Frau. Er hat sie regelrecht hingerichtet.« Mit bebenden Lippen wandte sie sich ab.
»Ich verspreche dir Sicherheit, solange du die Mauern des Tempels nicht verlässt«, sagte Kyssandra leise, während sie Khays angespannte Schultern rieb.
Hastig wischte die junge Frau ihre Tränen ab. »Nein! Ich werde mich nicht hinter diesen Mauern verstecken. Siehst du es denn nicht? Die Zeit ist gekommen, in der Ammán mich braucht. Ich bitte dich, schicke mich nach ihm aus! Ich kann ihn von weiteren Taten abhalten und vielleicht sogar … heilen.«
»Ich gebe dir in allem recht, nur nicht, was seine Heilung betrifft. Seine Krankheit ist zu schwer, wahrscheinlich der 87. Khaday. Du weißt, was das bedeutet! Das Gift in seinem Geist könnte auf dich übergehen. Es wäre viel zu riskant, wenn du es allein versuchst. Du bist noch nicht stark genug! Bring Ammán in den Tempel der Shimay, dann kannst du auch gern an seiner Heilung teilhaben, aber nur unter Aufsicht.«
Khay sprang auf. »Warum sitzen wir dann noch hier herum? Ich reise heute noch ab.«
Seufzend zog Kyssandra sie auf die Bank zurück. »Ich dachte mir schon, dass du so reagieren würdest, aber es ängstigt mich auch. Muss ich dich wieder einmal an deine größte Schwäche erinnern?«
Khay biss sich auf die Lippen. »Leichtsinn. Ich denke nicht nach und renne einfach los … bis ich stolpere.«
Ernst sah die Königin sie an. »Du hast deine Lektion gelernt und wirst nicht noch einmal stolpern. Wäre ich anderer Meinung, würde ich dich nicht schicken. Bereite dich nur in Ruhe auf deine Reise vor. Es genügt, wenn du dich morgen früh auf den Weg machst.«
»Aber ich fühle mich schon vorbereitet.«
»Was weißt du noch über Tatarak?«
»Alles, was wichtig ist«, gab Khay prompt zurück. »Tatarak wurde bis zu König Leriks Tod von Männern regiert, die sich nicht von ihrem Shi leiten lassen. Sie handeln nach Gesetzen und stellen Regeln auf.«
Das klang wie auswendig gelernt.
»Hast du auch verstanden, was Gesetze und Regeln sind?«
»Texte«, kam es etwas weniger selbstsicher zurück.
»Was besagen diese Texte?«
»Gebote … Verbote …« Khay verstummte und verdrehte die Augen, während sie sich der lang zurückliegenden Lektionen entsann.
Die Königin half ihr. »Du darfst einen Menschen nicht töten. Das ist eine Regel.«
»Aber … das weiß man doch.«
»Wenn du es trotzdem tust, wirst du verurteilt und bestraft. Das geschieht nach einem Gesetz.«
»So wie Ammán für den Mord an König Lerik zu lebenslanger Gefangenschaft verurteilt wurde.« Khay nickte verstehend. »Aber auf diese Weise kann man einen verirrten Geist doch unmöglich heilen.«
»Es geht nicht um Heilung.«
»Wozu braucht es dann Gesetze?«
»Sie sind …« Kyssandra überlegte angestrengt. »… eine Art Pfad, der die Menschen leitet, so wie wir uns vom Shi leiten lassen. Wir haben übrigens auch Regeln und Gesetze in Ibalan.«
»Das … ist mir neu.«
Die Königin lachte. »Sie wurden nie aufgeschrieben, dennoch haben sie Gültigkeit. Du spürst es nicht, wenn du dich unseren Regeln beugst, weil du es frei nach deinem Herzen tust, aber manchmal verletzt du sie auch. Und du weißt es!«
»Bewusst?«, fragte Khay konsterniert.
»Ein Beispiel?« Lehrmeisterlich hob Kyssandra einen Finger an. »Wenn du mich innerhalb dieser Mauern noch einmal königlich oder gar Königin nennst, dann werde ich dich nie wieder besuchen.«
»Du willst mich dafür bestrafen? Aber …« Heftig schüttelte Khay ihren Kopf. »Ich werde es nie wieder tun! Ich verspreche es!«
»Siehst du? Wie oft habe ich dich darum gebeten? Jetzt habe ich ein Gesetz daraus gemacht. Die Wirkung ist erstaunlich, nicht wahr?«
»Es gefällt mir nicht.«
Kyssandra lachte. »Warum?«
»Weil es dumm ist. Wenn man für alles ein Gesetz machen wollte, könnte man Bibliotheken damit füllen, und wer soll sich das alles merken?«
»Da stimme ich dir zu. Deshalb haben wir solche Texte aus unserem Leben verbannt. Wir vertrauen dem Großen Atem, auch wenn seine Eingebung uns bisweilen vor Rätsel stellt.«
Gedankenvoll beobachtete Khay den Schwebesamen eines Herzblattstrauchs, der von einem Windhauch davongewirbelt wurde. »Ich werde diese Gesetze nicht brauchen, wenn ich Ammán finden will. Das Shi wird mich zu ihm führen und ihn zu mir. Ich glaube, er ist gar nicht wegen der Höflinge nach Ibalan gekommen, sondern weil er nach mir sucht, weil ich seine Bestimmung bin.«
»Männer folgen dem Fluss des Shi nicht bewusst, aber du hast vermutlich recht. Er wird sich deiner erinnern, an die guten Gefühle, die ihr geteilt habt.« Liebevoll strich die Königin über Khays blondes Haar. »Geh trotzdem nicht allein, wenn du den Tempel verlässt. Bismata soll dich begleiten. Und versprich mir noch etwas: Bring dich nicht in Gefahr! Nimm Kontakt zu unserer Weißen Mutter auf, sobald du Ammán gefunden hast. Überstürze nichts und versuche nicht, ihn allein zu heilen! Nur eine Shimay ersten Ranges kann einschätzen, wie krank sein Shi wirklich ist.«
»Ich verspreche es.«
»Alles dient nur dem Zweck, Ammán zu helfen.«
»Nichts anderes wünsche ich mir.«
Kyssandra küsste ihre Stirn, dann sandte sie einen kraftvollen Impuls. »Wir sind Shi … in Liebe empfangen …«
Khay nahm die Gabe an und gab pure Dankbarkeit zurück.
Krosnir Thulan kniete mit gesenktem Haupt im Gras und erwartete seinen Tod. Er erwartete ihn seit Jahren, hatte ihn zeitweilig sogar herbeigesehnt, nun war der Tod so nah wie der Mann, der mit blankem Schwert vor ihm stand und mit eisiger Stimme Rechenschaft von ihm forderte.
Nichts lieber als das, dachte der einstige Großkanzler bei sich, dann legte er sein Geständnis ab, eine tonnenschwere Last, die keine Geringere als seine eigene Ehefrau ihm aufgebürdet hatte. Mochte Tilda nun endlich zufrieden sein.
»Ich bin schuldig, wie ein Verräter nur schuldig sein kann«, endete er mit brüchiger Stimme. »Ich habe unseren König verraten, seine Krone, sein Land, sein Volk … und dich.«
Er blickte auf. Abscheu lag in Ammáns Blick, steinerne Härte in seinen Augenwinkeln. Vergeblich suchte Krosnir nach einem Rest des trägen Knaben, der regelmäßig während seiner Lehrstunden eingeschlafen war, oder des jungen Prinzen, der ihm mit unsinnigen Fragen und törichten Einwänden manch graues Haar eingebracht hatte. Aus dem Knaben war ein Mann geworden, aus dem Thronfolger ein Geächteter. Dünn sah er aus. Sein hagerer Körper steckte in bäuerlichem Schweinsleder, seine Hose in klobigen Stiefeln. Um sein Wams schlang sich ein schmuckloser Gürtel, an dem ein Münzbeutel, ein Dolch und die leere Schwertscheide hingen. Sein Gesicht hatte er vermummt, nur die Eisaugen des Wolfs von Aglik blitzten Krosnir entgegen. Er schrumpfte noch ein Stück in sich zusammen, als Ammán zuerst sein Schwert und dann seine Stimme erhob.
»Welche der Hexen war es, die dich umgarnte? Die Königin? Deine Frau?«
»Tilda?« Resigniert schüttelte Krosnir den Kopf. »Du kennst meine Frau! Als Kind bist du in ihrer Küche ein und aus gegangen. Sie hat dich geliebt, das tut sie bis heute. Wie kannst du sie eine Hexe nennen?«
»Du hast sie verlassen.«
»Mitnichten. Sie hat mir den Laufpass gegeben.«
»Weil du einer anderen Hexe die Röcke hochgezogen hast?«
»Weil ich dich im Stich ließ. Das konnte sie mir nicht verzeihen.«
»Warum sollte es deine Hexenfrau kümmern?«
»Ammán!« Der alte Großkanzler seufzte. »Es gibt keine Hexen! Du hast dich in deinem Wahn verrannt. Der Hexenkult ist ein Mythos. Jeder weiß das, nur du hältst daran fest. Kam dir nie in den Sinn, dass ich alles, wirklich alles nur für Gold getan habe?«
»Für Gold? In den Diensten meines Vaters warst du doch schon ein vermögender Mann.«
»Ist man je vermögend genug? Ich wollte mehr, viel mehr.«
»Du hast dein Gold bekommen, nehme ich an. Warum hast du Tatarak dann verlassen?«
»Das sagte ich schon. Tilda hat mich rausgeschmissen. Ich wollte es nicht akzeptieren, ich bettelte und flehte, ich schlief sogar vor meiner eigenen Kammertür. Sie blieb unversöhnlich. Eine Woche lang war ich die Lachnummer bei Hof, da bin ich aufs Land gezogen. Als ich von deiner Flucht erfuhr, habe ich mich dort nicht mehr sicher gefühlt … zu Recht.« Mit flackernden Lidern blickte er auf. »Hat Esmirs Frau geweint, als du sie abgestochen hast?«
Die Eisaugen wurden schmal. »Nein, sie hat nicht geweint. Esmir hat geweint und irgendwas von Reue gefaselt.«
»Wahrscheinlich hat er sein ganzes Leben bereut. Seine Frau war wirklich ein Biest … aber keine Hexe.«
»Wie steht’s mit dir? Du hast noch Zeit für ein letztes Wort.«
»Reue?« Krosnir fröstelte. »Nein. Verdruss, ja. Der Preis war zu hoch. Ich habe Tilda verloren, meine Stellung, mein Heim. Ich habe Unmengen von Gold, aber auf dem Land bieten sich nicht viele Möglichkeiten, es auszugeben und … man grübelt zu viel. Tatarak geht vor die Hunde … dann erkennt man, wie viel Anteil man daran hat. Man beginnt, sich schmutzig zu fühlen.«
»Du hättest dich jederzeit reinwaschen können. Wärst du nur ein einziges Mal aufgestanden und hättest die Wahrheit gesagt, vor meinem Schwert wärst du fortan sicher gewesen.«
»Niemand hätte mir geglaubt, so wie man dir keinen Glauben schenkte.«
»Es hätte dich vor dem Tod bewahrt.«
Das klang endgültig. Krosnir wurde eiskalt.
»Du wirst mich nicht töten! Das kannst du nicht!«, stammelte er, als ihn das Entsetzen packte. Der Tod mochte ihm noch so verheißungsvoll winken, das Sterben jagte ihm panische Angst durch die Glieder.
In Ammáns Stimme war weder Mitleid noch Gnade. »Warum nicht? Nur deshalb bin ich hier. Du könntest mir allerdings noch eine kleine Geschichte über Burg Harak erzählen. Es heißt, sie wäre recht eindrucksvoll.«
Krosnir verstand. Heiser vor Angst begann er zu reden, gab alles preis, was er über die Burg, Hauptmann Haraka und die abtrünnigen Rakan-dai wusste. Erst als ihm beim besten Willen nichts mehr einfiel, brach er ab.
»Danke«, sagte der Wolf und ließ seine Klinge auf die Schulter des Großkanzlers fallen. Die Schulter blieb unverletzt, dank der ledernen Patten, welche die schwere Robe des Mannes zierten, nicht jedoch das Ohr, das der scharfen Klinge den Weg versperrte. Wie eine Scheibe Butter fiel es von dem ungeschützten Kopf ab.
Mit überschlagender Stimme heulte Krosnir auf. »Ich habe dir doch alles erzählt! Was willst du noch?«
»Dein Leben, das sagte ich doch schon.«
»Aber … ich habe … du kannst doch nicht …«
»Was kann ich nicht?«, fragte der Wolf und trennte das andere Ohr vom Kopf.
Da ging Krosnirs Stammeln in schrilles Kreischen über. Trotz seiner gefesselten Hände warf er sich herum und robbte auf den Saum des Waldes zu.
Drei Männer blickten ihm eine Zeit lang hinterher, bis Skato sich schließlich in Bewegung setzte, den Ausreißer am Schlafittchen packte und, ihn neben sich her schleifend, zurück zum Feuer stapfte.
»Komm, Drecksack, der Wolf ist noch nicht fertig mit dir.«
»Bitte, Ammán! … Hab Erbarmen mit mir! … Ich bin doch nur ein alter Mann, ich bin … ich habe Geld, viel Geld, viertausend Denare in gemünztem Gold. Du kannst alles haben. Bitte! … Bitte!«
»Das ist ja nicht mit anzuhören«, knurrte Dareno, der jüngste der drei. »Auf dem Richtblock ist noch keiner winselnd gestorben, aber wenn das Publikum fehlt, dann heulen sie alle.«
Skato nickte Ammán zu. »Erspare uns den Gesang! Wir kennen schon alle Strophen.«
Der Wolf beendete Krosnirs Leben mit einem Stich in die Brust, dann stieß er den verblutenden Körper mit einem Fußtritt um und durchsuchte seine Kleider. »Keine üble Sache, bei jedem von Thalessas Schergen reichlich Münzen zu finden«, sagte er und warf Skato eine pralle Geldkatze zu. Die unförmige Reisetasche, in der sich das erwähnte Gold befand, rührte er nicht an. Schweigend beugte Dareno sich nieder und durchwühlte Krosnirs Habseligkeiten, bis er eine schwere Schatulle fand.
»Viertausend Denare gemünztes Gold«, murmelte er verzückt. »Nett.«
»Blutgold«, sagte Ammán.
Skato knurrte. »Gold ist Gold.«
Vom Wald her ertönte ein Pfiff. Der Wolf drehte sich um und erblickte neben der einzigen Frau in seiner kleinen Gefolgschaft zwei Gestalten, die eindeutig nicht hierhergehörten. »Scheiße!«
Skato stapfte an ihm vorbei auf seine Tochter zu, die ihrer Jagdbeute – gut gelaunt wie immer – ein paar Knuffe versetzte, damit sie aus den Büschen heraus auf die Lichtung traten.
»Aylin! Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Seit wann machen wir Gefangene?« Wütend musterte Skato die zwei seltsamen Figuren, die sich an den Händen hielten und im Gleichtakt schlotterten. »Du solltest sicherstellen, dass wir hier keine Zeugen haben«, fuhr er fort und schlug die Fäuste aufeinander.
»Es war schon zu spät«, gab Aylin flapsig zurück und zeigte auf das Unterholz. »Sie hatten sich zwischen den Büschen versteckt, wer weiß wie lange schon.«
»Nur zwei … drei Minuten«, stammelte der Mann, dessen spindeldürrer Körper in einer makellos weißen Robe steckte. Sein Gesicht wirkte so weich, dass Skato sich fragte, ob er überhaupt einen Mann vor sich hatte. Unter seinem blonden Lockenkopf starrten weit aufgerissene Rehaugen hervor. Kein Mann sollte so lange Wimpern haben. Seine Wangen waren rot wie die einer frisch entjungferten Maid.
Aylin zupfte ein paar Blättchen aus seinem Haar. »Ist er nicht schnuckelig?«
Skato schnaubte und warf einen Blick auf die Frau, die schon eher seiner Vorstellung von schnuckelig entsprach, auch wenn sie hechelte, als würde sie kurz vor einer Entbindung stehen. Ihre Lippen bewegten sich wie bei einem stummen Gebet. Auch sie trug ein Gewand aus reinem Weiß.
»Wer seid ihr zwei Täubchen?«, fragte er bemüht ruhig, weil er schon glaubte, die Frau würde vor seinen Augen ersticken.
»Hei… Hei… Heiler«, hechelte sie hervor. Ihr Blick huschte immer wieder zu Krosnirs Leiche.
Skato tippte ihr auf die Schulter und zeigte dann auf sein Gesicht. »Heiler, ja? Und was gibt es hier zu heilen mitten im Wald?«
»Pilze«, haspelte der Mann.
Aylin brach in schallendes Gelächter aus und schlug beide Hände auf ihre Knie. »Komm, Vater! Lass uns die beiden eine Weile behalten. Das ist witzig.«
»Keineswegs!« Die düstere Antwort kam von Ammán, der mit langsamen Schritten nähertrat. Er musterte die zwei. »Weiße Roben, unschuldiger Blick, einfältige Gesichter und wenn mich nicht alles täuscht …« Ohne auf ihren entrüsteten Aufschrei zu achten, griff er in den Ausschnitt der Frau und förderte ein schillerndes Anhängsel zutage, das an einer dünnen Kette von ihrem Hals herabhing. »… ein Hexenstein. Mein Schwertarm dafür, dass die beiden noch vor kurzem hinter Tempelmauern gehockt und Sutras gesungen haben.«
»Der nächste Tempel der Shimay ist Tagesreisen entfernt«, meinte Skato.
Ammán beachtete ihn nicht. Er wog den Stein in seiner Hand und musterte die Frau. »Welcher Rang?«
Sie japste noch immer.
»Der Wolf hat dir eine Frage gestellt!«, sagte Skato schroff.
»Dritter … Rang … zweiter … begonnen«, kam es wie einzelne kleine Salven zurück.
Aylin gackerte wie ein Huhn. »Ei-ei, Halunke, hör die Shimay! Sie bricht dein finstres Herz entzwei. Hat sie gesprochen, kommst du gekrochen. Ich lach mich tot.«
»Was habt ihr hier zu suchen?«, fragte Ammán und stieß dem Mann seinen Schwertknauf in die Rippen. »Wenn du noch einmal ›Pilze‹ sagst, hast du ein Ohr weniger.«
Da begann auch der Fremde zu hecheln.
Die Frau indes schien sich etwas beruhigt zu haben. »Wir sind Heiler«, erklärte sie in einem ganzen zusammenhängenden Satz.
Sein Kopf schwenkte zu ihr zurück. »Das sagtest du schon.«
»Wir haben tatsächlich Pilze gesammelt.« Langsam, wie um den Wolf nicht zu reizen, nahm sie eine Leinentasche von ihrer Schulter und hielt sie ihm offen hin. »Schäferlinge. Gut gegen innere Unruhe und … Übellaunigkeit.«
Mit einem belustigten Grunzen wandte Skato sich ab. »Entscheide du! Ich kann nicht mehr.«
»Sie sind harmlos«, flötete Aylin ihm von der anderen Seite ins Ohr. »Lass uns ein wenig Spaß mit ihnen haben, ein oder zwei Tage, dann schaffe ich sie beiseite. Und solange passe ich auf sie auf.«
»Umbringen kann ich sie auch selbst.« Ammán trat erneut an die Frau heran, deren blaugrüne Augen sich augenblicklich weiteten. Er ließ sich davon nicht täuschen. Die anderen mochten glauben, dass pure Angst sie schlottern und stammeln ließ, aber da irrten sie sich. Ammán wusste genau, was diese Frau so durcheinanderbrachte. Sie sah mehr, als ihm lieb war. Und er sah mehr als die anderen, die sich um ihn herum nur köstlich amüsierten. Eine Shimay dritten Ranges war eine unwägbare Gefahr, gerade weil sie so harmlos wirkte. Sein Blick glitt über ihre schlanke Figur, die an den genau richtigen Stellen die genau richtigen Rundungen aufwies. Ihr blondes Haar umrahmte wie ein Unschuldsschleier ihr fein geschnittenes Gesicht, in dem eine freche, von Sommersprossen gesprenkelte Stupsnase saß. Ihre vor Aufregung noch feuchten Lippen … alles an ihr war wie geschaffen, einen Mann zu verführen und ihm jede Kraft zu rauben. Er hörte das Knirschen seiner eigenen Zähne. »Keine Hexe ist harmlos, und am schlimmsten sind die, die sich mit Unschuld tarnen.«
Die Stupsnase vor seinen Augen wurde rot. »Ich bin keine Hexe!«
»Stimmt!« Mit einem Ruck riss er den Stein von ihrem Hals. »Jetzt bist du nur noch eine Frau, die sich am Feuer nützlich machen kann.«
»Seht ihr? So habe ich mir das vorgestellt«, sagte Aylin am Abend und streckte mit einem zufriedenen Rülpser ihre langen Beine aus. »Das war lecker.«
»Kein Unterschied«, kommentierte Skato, obwohl er schon über seinem dritten Teller Suppe saß. »Du kochst genauso gut.«
»Ich will aber nicht mehr kochen. Wenn ihr Männer bekocht werden wollt, dann hättet ihr eine Frau mitnehmen sollen, nicht mich.«
Dareno lachte. »Und was bist du?«
»Jägerin.« Sie rollte herum und kroch auf allen Vieren auf ihren Bruder zu. »Bogenschützin, Späherin, Diebin … Würgeschlange!« Mit dem letzten Wort stürzte sie sich auf ihn.
Kopfschüttelnd sah Skato ihrem Geraufe zu. »Seid ihr nicht langsam zu alt dafür? Verdammt! Ich dachte immer, das hört auf, wenn ihr erwachsen seid.«
Brummig stellte er seinen noch halbvollen Teller weg und warf einen Blick auf ihre unfreiwilligen Gäste. Rücken an Rücken, mit gefesselten Händen saßen sie einige Meter entfernt auf dem Boden und schienen miteinander zu flüstern.
»Das ist so ein Scheiß«, fluchte er leise.
»Ein ganzer Kackhaufen«, gab Ammán ihm recht.
Skato spuckte ins Feuer. »Wenigstens machen sie keinen Ärger.«
Die anfängliche Scheu der beiden hatte sich schnell verflüchtigt. Bereitwillig hatte die Frau am Waldrand mehrere Arme voll Leseholz gesammelt, der Mann hatte unter Aylins Aufsicht Krosnirs Leichnam begraben und danach hatten sie einen Kessel schmackhafter Suppe gekocht. Sogar Darenos entzündeten Wespenstich hatten sie sich angesehen und ohne Aufforderung behandelt. Nicht ein einziges Mal hatten sie zu fliehen versucht.
Skato knurrte. »Gefangene verhalten sich nicht so.«