Der Würfler - Luke Rhinehart - E-Book

Der Würfler E-Book

Luke Rhinehart

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Beschreibung

Der 32-jährige Psychoanalytiker Luke Rhinehart ist von seinem Leben gelangweilt, das ihm wie die endlose Variation des immer gleichen Themas erscheint. Da entdeckt er eines Tages den Würfler in sich. Als er nach einem Pokerabend aufräumt, sieht er, dass ein Würfel unter einer Karte liegt. Und plötzlich kommt ihm der Gedanke, seine Nachbarin (und Frau seines Kollegen) zu vergewaltigen, falls der Würfel eine 1 zeigt. Die Chancen stehen 1:5. Das Unwahrscheinliche tritt ein und als Luke eine dreiviertel Stunde später wieder in seiner Wohnung steht, fühlt er sich ungemein erleichtert. „Würfeln heißt glauben“ lautet von nun an seine Devise, und so werden Ehefrauen, Affären und Kollegen in allen Lebenslagen mit der Würfeltheorie konfrontiert.

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Im Anfang war der Zufall, und der Zufall war bei Gott, und Gott war der Zufall. Dieser war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch diesen gemacht, und ohne diesen ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.

Es ward ein Mensch von Gott gesandt, der hieß Luke. Dieser kam zum Zeugnis, damit er Zeugnis gäbe über den wunderlichen Einfall, damit alle glauben sollten durch ihn. Er war nicht der Zufall, sondern dass er zeugte von dem Zufall. Das war der wahrhaftige Glücksfall, welcher alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen. Er war in der Welt, und die Welt ist durch denselben gemacht, und die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, und die Seinen nahmen ihn nicht auf. Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Kinder des Zufalls zu werden, selbst denen, die zufällig glauben, welche nicht von dem Geblüt noch von dem Willen des Fleisches, noch von dem Willen eines Mannes, sondern vom Zufall geboren sind. Und der Zufall ward Fleisch (und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des großen, wankelmütigen Vaters) und wohnte unter uns, voll des Chaos, der Unwahrheit und der wunderlichen Einfälle.

Aus dem „Buch der Würfel“

Inhaltsverzeichnis

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Epilog

Surfen auf dem Wellenkamm des Zufalls

1 Ich bin von wuchtigem Körperbau, habe riesige Fleischerhände, dralle Schenkel und einen Vierkantschädel und trage eine massive Brille mit dicken Brillengläsern. Ich bin eins neunzig und wiege an die einhundertzehn Kilo. Ich sehe aus wie Clark Kent, doch wenn ich meinen Büroanzug ablege, bin ich kaum stämmiger als meine Frau, nur um weniges kräftiger als Männer, die halb so groß sind wie ich, und reiße keine Bäume aus, auch nicht die kleinsten.

Als Leichtathlet bin ich in sämtlichen Haupt- und in etlichen Nebendisziplinen bestenfalls Mittelmaß. Ich spiele Poker verheerend schlecht und deshalb umso riskanter, an der Börse leidlich gut und mit Bedachtsamkeit. Ich habe eine hübsche Frau geheiratet, die früher einmal Claqueführerin bei Universitätssportveranstaltungen und Rock-and-Roll-Sängerin war, und habe zwei liebe, normale, neurotische Kinder. Ich bin tief religiös, habe einen ausgezeichneten, sehr hübschen pornografischen Roman mit dem Titel „Nackt auf einer fremden Insel“ geschrieben und bin kein Jude, noch war ich es jemals.

Es ist mir klar, dass sich der Leser aus alldem ein glaubhaftes Bild von mir machen können soll, doch muss ich leider weitere, inkongruente Einzelheiten hinzufügen: Es steckt auch das übliche Quantum Atheismus in mir, ich habe Tausende von Dollars für allen möglichen Unsinn ausgegeben, stand zeitweise in Opposition gegen die Regierung der Vereinigten Staaten, gegen die Stadtverwaltung von New York und gegen die Bezirksverwaltung der Bronx und von Scarsdale und bin eingetragenes Mitglied der Republikanischen Partei. Ich bin, wie Sie wohl alle wissen, der Schöpfer jener anrüchigen Würfelzentren, in denen Experimente zur Erforschung des menschlichen Verhaltens durchgeführt werden und die das Journal of Abnormal Psychology als „schandbar“, „gegen jede Ethik“, die New York Times als „unglaublich verderbt“ und „irregeleitet“, das Time Magazine als „Kloaken“ und schließlich die Evergreen-Revue als „ausgezeichnet“ und „spaßig“ bezeichnet haben. Ich bin ein zärtlich liebender Gatte, häufiger Ehebrecher und gelegentlich versuchsweise mit dem gleichen Geschlecht Verkehrender; dazu ein fähiger, sehr geschätzter Psychoanalytiker, der einzige übrigens, der je sowohl aus der Psychoanalytikervereinigung von New York (PANY) als auch aus der Amerikanischen Ärztevereinigung (AMA) hinausgeschmissen worden ist (wegen Anstoß erregender Handlungsweise und „vermutlicher Unfähigkeit“). Tausende von Würflern im ganzen Land bewundern und lobpreisen mich, aber ich war zweimal im Irrenhaus, einmal im Gefängnis, bin ständig und überall auf der Flucht und gern bereit zu sterben, zumindest dann, wenn ich diese Autobiografie vollendet haben werde.

In erster Linie bin ich Psychiater. Meine Leidenschaft, als Psychiater und als Würfler, gehört der menschlichen Persönlichkeit und den Möglichkeiten, sie zu verändern: meine Persönlichkeit, die anderer, die jedermanns. Ich will den Menschen das Gefühl der Freiheit, der ungetrübten Freude verschaffen. Die reinen, nackten Empfindungen sollen wieder zum Leben erweckt werden, Empfindungen, die etwa entstehen: wenn wir mit bloßen Füßen am frühen Morgen die Erde spüren und plötzlich gleich horizontalen Blitzen die Strahlen der aufgehenden Sonne durch das Blattwerk der Bäume hervorbrechen sehen; wenn ein junges Mädchen zum ersten Male die Lippen zum Kusse reicht; wenn ein plötzlicher Ideenblitz uns innerhalb von einer Zehntelsekunde die Erfahrungen eines ganzen Lebens in neuem Lichte erscheinen lässt.

Das Leben besteht aus kleinen Inselchen der Ekstase und Verzückung inmitten eines Ozeans der Langeweile, und ist man einmal dreißig, dann sieht man immer seltener Land. Wenn man gut ist, wandert man so lange von einem Streifen Sand zum anderen, bis man fast jedes Sandkörnchen kennt.

Als ich dieses „Problem“ im Kreise meiner Kollegen zur Sprache brachte, versicherten mir alle, dass das langsame, aber stetige Dahinwelken der Lebensfreude ebenso normal sei wie der Verfall unseres Körpers und fast dieselben physiologischen Ursachen habe. Aufgabe der Psychiatrie sei es ja, wurde ich erinnert, die Unlustgefühle abzubauen, die geistige Produktivität anzukurbeln, das Individuum in seinen sozialen Bindungen zu verankern und ihm zu helfen, sich selbst zu erkennen und zu akzeptieren. Es ginge nicht darum, Wesen, Wert und Bedeutung seiner selbst zu ändern, sondern darum, sich ohne Idealisierung sehen zu können und sich so zu nehmen, wie man sei.

Auch für mich war dieses stets das wünschenswerte und nie außer Zweifel gesetzte Ziel der Psychotherapie gewesen. Aber nachdem ich mich „mit Erfolg“ einer psychoanalytischen Behandlung unterzogen und sieben Jahre lang in einiger Zufriedenheit, mit bescheidenem beruflichem Erfolg, einer Durchschnittsfrau und einer Durchschnittsfamilie dahingelebt hatte, entdeckte ich mit zweiunddreißig Jahren plötzlich, dass ich mich umbringen wollte. Und nicht nur mich, sondern eine Menge anderer auch.

Ich unternahm lange Spaziergänge, die mich stets über die Queensborough Bridge führten, und auf der Mitte der Brücke blieb ich dann immer stehen und starrte lange ins Wasser. Ich las nach, was Camus über den Selbstmord als vernunftgemäßen Ausweg aus dem Leben in einer absurden Welt geschrieben hat. In den U-Bahnhöfen stellte ich mich immer an den Rand des Bahnsteigs und neigte mich vor, bis ich fast das Übergewicht bekam. Am Montagmorgen sah ich stets versonnen das Fläschchen mit Strychnin an, das in meinem Medikamentenschrank steht. Bei Tag träumte ich von Atomexplosionen, die Manhattan in eine Wüstenei verwandelten, von Dampfwalzen, die meine Frau überfuhren, von Taxis, die in den East River stürzten und meinen Rivalen Dr. Ecstein mit ins kühle Nass hinabzogen, von unserem Babysitter, einem sechzehnjährigen Mädchen, wie es vor Schmerz brüllte, während ich mich in seinen Körper hineinbohrte.

Nun gilt der Wunsch, sich zu töten und andere zu erstechen, zu vergiften, zu beseitigen oder zu schänden, in der psychiatrischen Praxis als „ungesund“. Als schlecht, böse. Genauer gesagt: als Sünde. Hast du den Wunsch, dich umzubringen, dann erwartet man von dir, dass du die Einsicht in dieses dein krankhaftes Verlangen hast und dass du es „akzeptierst“, aber um Himmels willen nicht, dass du tatsächlich Hand an dich legst. Hast du das Verlangen, fleischlichen Verkehr mit einer hilflosen Achtjährigen zu pflegen, dann erwartet man von dir, dass du deine Lust akzeptierst – und dem Kind auch nicht ein Härchen krümmst. Du hasst deinen Vater. Schön und gut – aber untersteh dich nicht und hau ihm eins über den Schädel. Erkenne dich, akzeptiere dich – aber sei ja nicht du selbst.

Dieser Lehrsatz ist alt, aber er garantiert den Heilerfolg: nämlich dem Patienten dabei zu helfen, keine brutalen, vom Affekt geleiteten Taten zu begehen und somit ein langes, respektables Leben in auf ein bescheidenes Maß reduzierter Unzufriedenheit leben zu können. In Wahrheit zielt die Psychotherapie darauf ab, alle Patienten zu einem Leben zu „bekehren“, wie die Psychotherapeuten es führen. Schon beim Gedanken daran wurde mir schlecht.

Solche und ähnliche niedrigen Überlegungen begann ich in jenen Wochen anzustellen, in denen ich erstmals und völlig unerwartet unter Depressionen zu leiden hatte. Diese wurden offensichtlich ausgelöst durch einen länglichen Schreibblock, auf dem ich mir Notizen zu meinem „Buch“ machte, sie waren aber zweifellos Teil einer ganz allgemeinen Konstipation der Seele, die ich schon lange mit mir herumgeschleppt haben muss. Ich erinnere mich, dass ich jeden Morgen nach dem Frühstück, bevor der erste Patient kam, an meinem großen Eichenschreibtisch saß und mit einem Gefühl der Verachtung und des Hohns mein bisher Geleistetes und meine Zukunftsaussichten Revue passieren ließ. Dann nahm ich gewöhnlich meine Brille ab, geriet sowohl durch meine Gedanken als auch durch den Dunstschleier, hinter dem sich mir die Welt verbarg, kaum dass ich ohne Augengläser war, in Wut, rief emphatisch „Mit Blindheit geschlagen!“ und ließ meine unförmige Faust krachend auf die Tischplatte sausen.

Als Student brillierte ich, sammelte akademische Auszeichnungen wie mein Sohn Larry Kaugummibildchen. Noch während ich im Krankenhaus praktizierte, verfasste ich meinen ersten Artikel – eine Lappalie verglichen mit späteren – mit dem Titel „Psychologie der neurotischen Spannungszustände“, der sehr gut ankam. Jetzt, an meinem Schreibtisch sitzend, kamen mir die Artikel, die ich bisher veröffentlicht hatte, um kein Haar besser vor als die anderer Leute. Meine Heilerfolge schienen denen meiner Kollegen zu gleichen: Sie waren bedeutungslos. Allerhöchstens durfte ich hoffen, dass es mir gelang, den Patienten von seiner Angst und von seinen inneren Konflikten zu befreien, sodass er von einem Leben in qualvoller Passivität in ein solches zufriedenes Dahindämmern verfiel.

Inmitten meiner zynischen Betrachtungen geschah es dann zuweilen, dass ich mich Zukunftsträumen hingab. Und wovon träumte ich? Davon, in allem, was ich tat, noch unvergleichlich besser zu werden: weithin anerkannte Artikel und Bücher zu schreiben; meine Kinder so zu erziehen, dass sie nicht mehr die gleichen Fehler machten wie ich; eine Technicolor-Frau kennenzulernen und sie zu meiner Freundin oder Frau zu machen. Doch beim Gedanken, dass diese Wünsche sich alle erfüllen könnten, überkam mich auch schon wieder Verzweiflung. Ich saß zwischen zwei Stühlen. Einerseits kotzte mich dieses Leben an, anderseits war keine der sich anbietenden Ersatzexistenzen dem jetzigen Zustand vorzuziehen.

Meine Kollegen, die – wie auch ich selber – weiter sittsam-züchtig an den Couchen ihr therapeutisches Gemurmel verrichteten, versicherten mir, mein Problem sei normal: Ich hasste mich und die Welt, weil ich nicht fähig sei, die Grenzen des Lebens und meiner selbst zu akzeptieren. In der Literatur nennt man diese Haltung Romantik, in der Psychiatrie heißt es Neurose. Kritiklos gibt man sich der Überzeugung hin, dass ein an seinen Grenzen verzweifelndes und resignierendes Selbst die unvermeidliche, ausnahmslose Regel darstelle.

Schon begann ich mich dareinzufinden, als ich, nach einigen Monaten der Depression und nachdem ich mir einen 38er-Revolver samt Magazinen angeschafft hatte, an die Gestade des Zen-Buddhismus gespült wurde.

Fünfzehn Jahre lang war ich ehrgeizig gewesen, ein Mann mit Ambitionen, Treibender und Getriebener zugleich. Jeder, der sich der Psychiatrie verschreiben will, braucht für sich als Antriebsfeuerchen eine hübsche kleine Neurose, die seinen Motor in Gang hält. Und dann brachte mich Karin Horney auf die Lektüre von D. T. Suzuki und Alan Watts, und ich lernte Zen kennen. Und mir ging plötzlich auf, dass diese Welt der Ratten, von der ich geglaubt hatte, sie erschiene jedem normalen jungen Mann mit gesundem Ehrgeiz als eine solche, auch wirklich eine Welt der Ratten war.

Ich war wie vor den Kopf geschlagen, über Nacht bekehrt – wie es einem nur ergehen kann, wenn man bisher alles zum Kotzen gefunden hat. Jetzt, da ich den Ehrgeiz und das geistige Strebertum meiner Kollegen als sinnlos und krankhaft empfand, gelang mir die Einbeziehung meiner selbst in diesen Aspekt. Auch ich jagte nur Illusionen nach. Die Lösung des Rätsels lag darin, dass man die Dinge einfach laufen ließ, alle Hemmnisse, Schwierigkeiten und Zweigeleisigkeiten des Lebens mit Freude und Genugtuung zur Kenntnis nahm und jedem seiner Impulse nachgab. Das Leben ist sinnlos? Wen kümmert es. Demnach sind meine Ambitionen Mist? Es schadet dennoch nicht, welche zu haben. Das Leben ist langweilig? Gähnen ist gesund.

Ich gab meinen Impulsen nach, ließ mich treiben, ließ den Dingen ihren Lauf, ohne mich darüber aufzuregen.

Leider schien das Leben nur noch langweiliger zu werden. Zugegeben, ich war fröhlich, erfreute mich an meiner Langeweile, während ich früher darunter gelitten hatte. Doch das Leben an sich blieb eine graue Milchsuppe. Rein theoretisch gesehen, war die öde Zufriedenheit immer noch besser als der Wunsch zu morden und zu schänden, ich persönlich sah darin jedoch nur einen matten Vorteil.

Und in diesem Stadium meiner etwas armseligen Wahrheitssuche entdeckte ich den Würfler in mir.

2 Mein Leben vor dem Tag W war Zwang, Routine, Gleichmaß, Unordnung und ödes Nichts – das typische Leben eines erfolgreichen, verheirateten Mannes. Mein neues Leben begann an einem heißen Tag Mitte August 1968.

Ich wachte kurz vor sieben auf, wälzte mich seitwärts und schmiegte mich an Lillian, meine Frau, die zusammengerollt im Bett neben mir lag und schlief, und begann mit meinen riesigen Schwammhänden ihre Brüste und Schenkel zu streicheln. Ich liebte es, den Tag so zu beginnen: Ich setzte damit den Maßstab für den weiteren Tagesablauf, der von da an ohnehin stets verflachte. Nach etwa fünf Minuten drehten wir uns einander zu, und sie begann meine Liebkosungen zuerst mit den Händen, dann mit den Lippen zu erwidern.

„Mmm … Morgen, Schatz“, sagte der eine schließlich.

„Mmm“, sagte der andere.

Damit war zugleich der Höhepunkt unseres täglichen Gesprächs erreicht, das von da an mehr und mehr an Profiliertheit einbüßte. Aber wenn warme Hände und feuchte, warme Lippen einem über die sensibelsten Stellen des Körpers gleiten, dann erscheint die Welt eben als die beste aller Welten.

Lil und ich näherten uns langsam dem Punkt, an welchem aus dem Spiel süßer Ernst wird, als im Vorzimmer leises Tappen zu hören war, die Tür aufflog und dreißig Kilogramm geladener Knabenenergie durch die Luft gewirbelt kamen und auf unserem Bett landeten.

„Zeit zum Aufstehen!“, rief er.

Lil hatte sich beim Hören des tappenden Geräusches instinktiv von mir abgewendet, und obwohl sie sich nach wie vor an mich schmiegte und mit ihrem Hinterteil aufreizende Bewegungen vollführte, wusste ich aus Erfahrung, dass der Spaß vorbei war. Ich hatte sie stets zu überzeugen versucht, dass in der vollkommenen Gesellschaft die Eltern vor den Kindern Sexualverkehr betrieben, so als ob es sich um eine Tätigkeit wie Essen oder Trinken handelte, und dass im Idealfall die Kinder mit den Eltern schliefen. Doch Lil war da anderer Meinung. Sie tat es am liebsten unter der Bettdecke, allein mit ihrem Partner und frei von unliebsamen Störungen. Ich wies sie darauf hin, dass das auf das Vorhandensein verdrängter Schamgefühle schließen ließe, und sie gab mir recht – und weigerte sich weiterhin, vor den Augen unserer Kinder Liebkosungen auszutauschen. Unsere Tochter, fünfundzwanzig Kilogramm schweres Gegenstück ihres Bruders, kündigte sich nun an, wenn auch um einige Phon lauter als dieser.

„Kikeriki! Aufstehen!“

Gewöhnlich stehen wir dann auf. Manchmal, wenn ich nicht schon um neun einen Patienten erwarte, kriegen wir Larry dazu, für sich und seine Schwester das Frühstück zu machen. Das tut er gern, nur ist das Klirren und Scheppern zerbrechenden Geschirrs oder plötzlich eintretende lautlose Stille nicht geeignet, uns die paar Minuten, die wir auf diese Weise gewinnen, zu versüßen. Es ist schwer möglich, sich körperlichen Freuden hinzugeben, wenn die Küche in Flammen steht. An diesem bewussten Morgen erhob sich Lil sogleich, sittsam ihre Vorderseite von den Kindern abwendend, schlüpfte in einen hauchdünnen Morgenrock, der den Kindern das zu Verbergende verbergen mochte, meiner Fantasie jedoch keine Schranken auferlegte, und schlurfte in die Küche, um das Frühstück zu machen.

Lil, das sollte hier festgehalten werden, ist groß, eher schlank, hat spitze, scharfe Ellbogen, Ohren, Nase, Zähne und – rein metaphorisch zu verstehen – Zunge, dafür rundliche Brüste, Schenkel und Hinterbacken. Alle sagen, ihr Blondhaar und ihre statuenhafte Würde machten sie zu einer Schönheit. Ihr ebenmäßiges Gesicht hat aber etwas Feenhaftes an sich, das ich versucht bin, maushaft zu nennen. Nur dass man dann sofort an rote Perlaugen denkt, und sie hat blaue Perlaugen.

Evie war zwar munter drauflos schwatzend ihrer Mutter in die Küche gefolgt, doch Larry lag noch immer mit gespreizten Armen und Beinen auf dem riesigen Doppelbett. Es war seine Einstellung, dass unser Bett groß genug sei für die ganze Familie, und er fand, dass Lils Behauptung, Mama und Papa wären so groß, dass sie das Doppelbett allein für sich brauchten, reinste Heuchelei sei. Seine neueste Strategie war es, so lange auf dem Bett herumzuhopsen, bis jeder Erwachsene das Feld geräumt hatte. Erst dann zog er im Triumph ab.

„Höchste Zeit, Luke“, sagte er im würdevollen Ton des Arztes, der seinem Patienten mitteilt, dass er befürchte, das Bein müsse abgenommen werden.

„Es ist noch nicht acht Uhr“, sagte ich.

„Und das?“, fragte er und zeigte stumm auf die Uhr, die auf dem Ankleidetisch stand.

Ich blinzelte. „Es ist fünf nach halb sechs“, sagte ich und rollte mich weg von ihm. Einige Sekunden später hantierte er an meiner Stirn herum.

„Da hast du deine Brille“, sagte er. „Jetzt schau hin.“

Ich schaute. „Du hast die Zeiger vorgedreht.“

Larry kletterte auf das Bett und begann, sicher ohne jede böse Absicht, herumzuhüpfen und vor sich hin zu summen.

Es stieg in mir hoch, und als die Welle des Zorns mich überspülte – ein Moment, den jeder Vater kennt –, brüllte ich: „Raus!“

Larry flitzte davon und in die Küche, und dreizehn Sekunden lang lag ich relativ zufrieden da, hörte Eves endloses Geplauder, gelegentlich unterbrochen von Lils Schreien, und von tief unten aus der Straßenschlucht Manhattans das unaufhörliche Gehupe der Automobile. Dieses dreizehn Sekunden dauernde Gehörbad war angenehm; doch dann begann ich zu denken, und der Tag war im Eimer.

Ich dachte an die zwei Patienten, die ich an diesem Vormittag erwartete, an das Mittagessen mit Dr. Ecstein und Dr. Felloni, an das Buch über Sadismus, das ich schreiben sollte, an die Kinder, an Lillian – und Langeweile überkam mich. Seit einigen Monaten hatte ich das deprimierende Gefühl, in einem abwärtsfahrenden Lift nach oben zu steigen.

„Paps, Frühstück!“

„Die Eier, Schatz!“

Ich erhob mich, schob meine Füße in die Hausschuhe Größe 46, schlang meinen Bademantel um mich gleich einem Römer, der sich auf den Weg zum Forum macht, und ging in die Küche. Mein Gesicht legte ich dabei in, wie ich hoffte, glaubhaft sonnige Falten.

Unsere Wohnung hat sechs Zimmer und liegt in der Nähe des Central Park, bereits in einer etwas teureren Gegend, zwar etwas im Osten, etwas in der Nähe des Negerviertels, aber auch nicht allzu weit entfernt vom Nobelviertel der East Side. Ihre Lage hat so viele Interpretationsmöglichkeiten, dass unsere Freunde bis heute nicht wissen, ob sie uns deswegen beneiden oder bedauern sollen.

Lil stand in der kleinen Küche am Herd und schlug mit aggressiver Heftigkeit Eier in die Pfanne, während die beiden Kinder mit verweinten Gesichtern still am entfernten Ende des Tisches saßen. Larry hatte mit der Jalousie herumgespielt – unser Küchenfenster bietet einen herrlichen Ausblick auf ein Küchenfenster gegenüber, von dem aus man wieder einen herrlichen Ausblick auf unser Küchenfenster hat –, und Eve hatte sich des Verbrechens unaufhörlichen Gequassels schuldig gemacht. Lil hatte sie mit Worten ermahnt, weil wir nichts von körperlicher Züchtigung halten, aber ihr Schreien ist von derartiger Durchdringlichkeit, dass Kinder – und auch Erwachsene –, hätten sie die Wahl, manchmal körperliche Züchtigung ihrer mündlichen Zurechtweisung vorziehen würden.

Als sie die Rühreier mit Schinken anrichtete, sah sie mich an und fragte: „Wann wirst du heute von Queensborough zurück sein?“

„So um halb vier. Warum?“, fragte ich. Dabei ließ ich mich vorsichtig auf einen kleinen Küchensessel nieder.

„Arlene kommt heute Nachmittag. Sie möchte noch einmal mit uns reden.“

„Larry hat meinen Löffel genommen.“

„Gib ihr ihren Löffel, Larry“, sagte ich.

Lil gab Evie den Löffel zurück.

„Ich glaube, sie wird wieder damit anfangen, dass sie ein Baby haben will“, sagte sie.

„Mmmm.“

„Ich möchte, dass du mit Jake ein Wörtchen redest“, sagte Lil und setzte sich neben mich.

„Was soll ich ihm sagen?“, fragte ich. „Soll ich vielleicht sagen: ,Hör mal, Jake, deine Frau wünscht sich so sehnlichst ein Baby. Wenn ich dir irgendwie helfen kann …?‘“

„Gibt es in Harlem Dinosaurier?“, fragte Evie.

„Ja“, sagte Lil. „Genau das könntest du sagen. Es ist schließlich seine eheliche Verpflichtung. Arlene ist jetzt dreiunddreißig und will ein Baby seit – Evie, man isst mit dem Löffel.“

„Jake fährt heute nach Philadelphia“, sagte ich.

„Ich weiß. Deshalb kommt Arlene ja. Aber die Pokerrunde heute Abend ist fix, nicht wahr?“

„Mmmm.“

„Mami, was ist eine Jungfer?“, fragte Larry langsam.

„Eine Jungfer ist ein junges Mädchen“, antwortete sie.

„Sehr jung“, fügte ich hinzu.

„Komisch“, sagte er.

„Was?“, fragte Lil.

„Barney Goldfish hat zu mir blöde Jungfer gesagt.“

„Barney hat das Wort falsch gebraucht“, sagte Lil. „Warum verschieben wir nicht den Pokerabend, Luke. Es ist …

„Warum sollten wir?“

„Ich möchte mir lieber ein Stück ansehen.“

Pause.

„Wenn du, Tom und Renata wenigstens einmal ein anderes Gesprächsthema hättet als Psychologie und Börsenkurse, dann wäre das schon etwas.“

„Psychologie der Börsenkurse?“

„Ich sagte Psychologie und Börsenkurse! Mein Gott, mach doch deine Ohren auf.“

Würdevoll führte ich die Gabel zum Mund und nahm mit meditativer Gelassenheit ab und zu einen Schluck Nescafé. Eine der Grundregeln, die ich bei meiner ersten Beschäftigung mit dem Zen-Buddhismus gelernt hatte, war die, mit einer Frau nicht zu streiten. „Lass dich treiben“, sagte der große Weise Oboko, und das tat ich nun seit fünf Monaten. Lil machte das rasend.

Zwanzig Sekunden lang blieb es still. Relativ still. Denn Larry sprang auf und schob eine Scheibe Brot in den Toaster, und Evie versuchte einen Vortrag über Dinosaurier zu halten, wurde aber durch einen Blick zum Schweigen gebracht. Dann sagte ich, der ich weiß, dass die sicherste Methode, Streit zu vermeiden, die ist, zurückzuziehen, bevor der andere noch richtig attackiert hat, ganz ruhig: „Entschuldige, Lil.“

„Du und dein blödes Zen. Ich versuche, dir etwas begreiflich zu machen. Mir behagt die Art unserer Zerstreuung nicht. Warum können wir nicht einmal etwas anderes tun, etwas Neues, oder vielleicht gar, so revolutionär das klingen mag, etwas, das mir gefällt?“

„Schatz, die Kinder.“

Die Kinder nahmen an unserer Auseinandersetzung ebensolchen Anteil wie zwei Elefanten am Gezänk zweier Moskitos. Aber der Trick hatte immer Erfolg. Lil schwieg.

Nachdem wir mit dem Essen fertig waren, brachte Lil die Kinder ins Kinderzimmer, wo sie sich anziehen mussten, und ich ging mich waschen und rasieren. In der steif erhobenen Rechten den mit Seifenschaum bedeckten Pinsel haltend, stand ich vor dem Spiegel und starrte düster hinein. Ich hasste es, mir einen zwei Tage alten Bart abscheren zu müssen. Die dunklen Schatten um den Mund gaben mir ein männlich-potentes Aussehen, und es drängten sich dem Betrachter Vergleiche mit Don Giovanni, Faust, Mephisto, Charlton Heston oder Jesus auf. Nach dem Rasieren glich ich dann eher einem jungenhaften, gut aussehenden Werbemann. Nur die Tatsache, dass ich Psychiater der gehobenen Schicht war und eine Brille aufhaben musste, um mich überhaupt im Spiegel betrachten zu können, hielt mich davon ab, mir einen Bart wachsen zu lassen. Dafür ließ ich mir lange Koteletten stehen und sah so etwas weniger wie ein erfolgreicher Werbemann und etwas mehr wie ein beschäftigungsloser Schauspieler aus.

Ich hatte eben zu rasieren begonnen und lenkte gerade mein besonderes Augenmerk auf drei kleine Härchen auf meinem Kinn, als Lil hereinkam und sich gegen den Türpfosten lehnte. Sie hatte immer noch den züchtigen Morgenrock an.

„Ich würde mich scheiden lassen, wenn ich dann nicht allein mit den Kindern dasäße“, sagte sie halb ernst, halb ironisch.

„Mhm.“

„Wenn sie bei dir bleiben, würdest du aus ihnen Buddha-Clowns machen.“

„Mmmmmm.“

„Was ich einfach nicht begreife, ist, dass du Psychiater bist und für mich weniger Verständnis hast als unser Aufzugsdiener.“

„Aber Schätzchen . . .“

„Du hast keins! Du denkst, wenn du mich regelmäßig beschläfst, dich vor und nach jedem Streit entschuldigst, mir Gymnastiktrikots, Bilder, Gitarren, Buchclubabonnements kaufst, machst du mich glücklich. Das ist es gerade, was mich verrückt macht.“

„Was soll ich tun?“

„Weiß ich das? Du bist der Psychiater. Du solltest es wissen. Ich bin eine Madame Bovary ohne romantische Sehnsüchte.“

„Du willst aus mir einen Kurpfuscher machen, weißt du das?“

„Ich weiß. Schön, dass du wenigstens das merkst. Endlich macht es Spaß, dich anzugreifen, da du merkst, worauf ich hinaus will. Dass du die Bovary kennst, ist ein Wunder. Deine literarischen Kenntnisse gehen im Allgemeinen nicht über die des Mannes im Aufzug hinaus.“

„Sag, was ist eigentlich zwischen dir und dem Mann im Aufzug …?“

„Ich mache keine Yoga-Übungen mehr …“

„Wieso das?“

„Ich werde nur noch verkrampfter.“

„Das ist eigenartig, denn sie sind dazu da …“

„Ich weiß! Ich werde jedenfalls verkrampft.“

Ich war fertig mit dem Rasieren, hatte die Brille abgenommen und schmierte meine Haare mit irgendeinem fettigen Zeug ein. Lil kam ins Badezimmer herein und setzte sich auf den Wäschekorb. Als ich mich etwas vorbeugte, um meine Haare im Spiegel besser in Augenschein nehmen zu können, spürte ich, dass mir die Knie wehtaten. Außerdem sah ich ohne Gläser alt aus und ziemlich verlebt. Da ich weder viel trank noch viel rauchte, fragte ich mich, ob übertriebenes Petting am Morgen einen schwächte.

„Vielleicht sollte ich ein Hippie werden“, sagte Lil träumerisch.

„Das haben schon einige unserer Patienten versucht. Sie scheinen vom Ergebnis nicht allzu erfreut zu sein.“

„Oder Rauschgift.“

„Aber Lil, mein kleines Schätz…“

„Rühr mich nicht an!“

„Aber, was …“

„Lass mich!“

Lil war bis zum Duschvorhang zurückgewichen, als würde sie von einem Sexualverbrecher bedroht. Leicht irritiert durch ihre offensichtliche Angst zog ich mich zurück.

„Schatz, in einer halben Stunde habe ich einen Patienten. Ich muss gehen.“

„Ich werde dich betrügen!“, schrie Lil mir nach. „Das hat Madame Bovary auch getan.“

Ich wandte mich um. Sie stand da, die Arme verschränkt, mit spitzen Ellbogen, die zu beiden Seiten ihres dünnen Körpers hervorstachen, und mit einem unglücklichen, hilflosen Mauseblick. Sie sah aus wie ein weiblicher Don Quichotte, den man soeben verprügelt hatte. Ich ging zu ihr hin und nahm sie in die Arme.

„Armes, kleines, reiches Mädchen. Mit wem willst du mich denn betrügen? Mit dem Mann im Aufzug? (Sie schluchzte.) Mit wem noch? Mit dem dreiundsechzig Jahre alten Dr. Mann und dem stürmischen Kavalier Jake Ecstein. (Sie hasste Jake, und er nahm nie von ihr Notiz.) Komm, mein Kleines. In drei Wochen beginnen unsere Ferien, das ist die Erholungspause, die du brauchst. Wie …“

Sie hatte ihren Kopf immer noch in meiner Brust vergraben, aber ihr Atem ging regelmäßig. Sie hatte nur einmal geschluchzt.

„Und jetzt … Kopf hoch … Brust heraus … Bauch hinein …“, sagte ich. „Bäckchen zusammen … und du bist wieder gewappnet fürs Leben. Du hast einen aufregenden Vormittag vor dir: Du unterhältst dich mit Evie, sprichst mit Oma Kettle (unserer Haushaltshilfe) über moderne Kunst, liest die Time, hörst dir Schuberts Unvollendete an – lauter prickelnde, anregende Sachen.“

Den Arm um sie geschlungen, ging ich mit ihr ins Schlafzimmer. Während ich mich fertig ankleidete, sah sie mir schweigend zu, ans Bett gelehnt, mit verschränkten Armen, die spitzen Ellbogen seitlich hervorstechend. Sie begleitete mich zur Tür, wo wir einen nicht sehr leidenschaftlichen Kuss tauschten. Dann sagte sie nachdenklich und mit fast heiterem Gesichtsausdruck: „Und nicht einmal mein Yoga habe ich mehr.“

3 Ich hatte meine Ordination in der 57. Straße zusammen mit Dr. Jacob Ecstein: jung (dreiunddreißig), dynamisch (bisher zwei Bücher veröffentlicht), intelligent (er und ich waren fast immer einer Meinung), von angenehmem Äußeren (jeder mochte ihn), reizlos (niemand liebte ihn), anal (leidenschaftlicher Börsenspekulant), oral (starker Raucher), nongenital (Frauen schienen für ihn nicht zu existieren), Jude (er kannte ganze zwei jiddische Ausdrücke). Unsere gemeinsame Sekretärin war eine Miss Reingold, Mary Jane Reingold: alt (sechsunddreißig), undynamisch (sie arbeitete für uns), unintelligent (sie mochte Ecstein mehr als mich), von angenehmem Äußeren (jeder bemitleidete sie), reizlos (groß, dünn, Brillenträgerin, niemand liebte sie), anal (von fanatischer Ordnungsliebe), oral (sie aß ununterbrochen), genital (war von fanatischer Beflissenheit), keine Jüdin (fand, die Kenntnis zweier jiddischer Ausdrücke verrate den Intellektuellen).

Miss Reingold grüßte mich im Ton der Geschäftigkeit. „Mr. Jenkins wartet auf Sie in Ihrem Büro, Dr. Rhinehart.“

„Danke, Miss Reingold. Gab’s gestern Anrufe?“

„Dr. Mann wollte heute Mittag mit Ihnen essen. Ich habe zugesagt.“

„Gut.“

Bevor ich noch meinen Patienten aufsuchen konnte, kam Jake Ecstein drahtig aus seinem Büro geschossen, rief mir heiter-lässig ein „Hallo, Luke, wie geht’s deinem Buch?“ zu, ganz im Ton eines Menschen, der seinen Freund nach dem Befinden des Eheweibes fragt, und bat Miss Reingold um einige Krankenberichte. Jakes Charakter habe ich bereits beschrieben; sein Körper war gedrungen, plump, verfettet, sein Gesicht rundlich, wachsam, fröhlich, mit dicker Hornbrille und dem gewissen stechenden Ich-kann-durch-dich-hindurchsehen-Blick. Dem Aussehen nach hätte er Gebrauchtwagenhändler sein können.

„Mein Buch ist moribund“, antwortete ich, während Jake aus den Händen von Miss Reingold einen Packen Blätter entgegennahm.

„Großartig“, sagte er. „Soeben lese ich eine Rezension im AP Journal über mein Buch ,Psychoanalyse: ihre Aufgaben und Möglichkeiten‘. Sie finden es großartig.“ Er begann die Blätter langsam durchzusehen und legte dann eines nach dem anderen auf Miss Reingolds Schreibtisch zurück.

„Das freut mich zu hören, Jake. Du scheinst mit diesem Buch das große Los gezogen zu haben.“

„Die Leute sehen den Lichtstreif am Hori…“

„Bitte … Dr. Ecstein“, sagte Miss Reingold.

„Den immer deutlicher werdenden Lichtstreif – das wird einige Psychoanalytiker bekehren.“

„Kannst du heute überhaupt mit uns zu Mittag essen?“, fragte ich ihn. „Wann fliegst du nach Philadelphia?“

„Verdammt, du hast recht. Ich möchte Dr. Mann die Rezension zeigen. Die Maschine startet um zwei. Beim Poker heute Abend werde ich nicht dabei sein.“

„Bitte … Dr. Ecstein.“

„Hast du schon etwas von dem Buch gelesen?“, redete Ecstein weiter und warf mir einen seiner stechenden Blicke zu, der jeden seiner Patienten augenblicklich hätte vergessen lassen, woran er gerade dachte.

„Nein, noch nicht. Ich bringe es nicht fertig. Ich muss da einen psychologischen Block haben. Vielleicht ist es Berufsneid oder so.“

„Doktor … Dr. Ecstein?“

„Hm. Na ja. In Philadelphia treffe ich übrigens wieder diesen Analerotiker, von dem ich dir erzählt habe. Ich glaube, wir stehen kurz vor der Wende. Er ist von seinem Voyeurismus geheilt, hat aber immer noch visuelle Blackouts.“

„Dr. Ecstein, Sir“, sagte Miss Reingold. Sie war aufgestanden. „Wir sehen uns noch, Luke. Miss R., schicken Sie mir Mr. Klopper herein.“

Mit einem Stoß von Blättern in der Hand schoss Jake drahtig in sein Büro zurück. Ich bat Miss Reingold, das Queensborough State Hospital anzurufen und mit denen noch einmal meine Termine abzuklären.

„Ja, Dr. Rhinehart“, sagte sie.

„Was hatten Sie denn dauernd auf dem Herzen, als Dr. Ecstein Sie nicht zu Wort kommen ließ?“

„Ach Doktor.“ Sie verzog ihr Gesicht zu einem unsicheren Lächeln. „Dr. Ecstein hat mich gebeten, ihm die Berichte über Miss Riffe und Mr. Klopper zu geben, und ich gab ihm irrtümlich die Listen zur vorjährigen Jahresabrechnung.“

„Machen Sie sich nichts daraus, Miss Reingold“, beruhigte ich sie. „Vielleicht führt das auch in diesem Fall zur großen Wende.“

Es war 9.07 Uhr, als ich mich endlich in meinen Sessel fallen ließ, der neben dem Kopfende der Behandlungscouch stand, auf der es sich Mr. Reginald Jenkins bereits bequem gemacht hatte. Normalerweise irritiert nichts einen Patienten mehr, als wenn sein Psychiater zu spät kommt. Aber Jenkins war ein Masochist.

„Entschuldigen Sie bitte, dass ich schon hier liege“, sagte er, „aber Ihre Sekretärin hat mich einfach hereingeführt und gesagt, ich solle mich niederlegen.“

„Das ist ganz recht, Mr. Jenkins. Tut mir leid, dass ich etwas zu spät komme.“

Der Leser wird nun wissen wollen, welches meine Methode ist. Ich bin, um es gleich zu sagen, Anhänger der indirekten Methode. Für jene, denen das nichts sagt, sei es näher erläutert. Der Psychoanalytiker bleibt bei der Sitzung passiv, zeigt Anteilnahme, ohne sich zu den Geständnissen des Patienten näher zu äußern, und versucht nicht, das Gespräch in eine bestimmte Richtung zu lenken. Genauer gesagt, er sitzt da wie ein Vollidiot.

„Herr Doktor, da war diese Sache mit Wessen, Wessen & Woof. Ich hätte die Stellung haben können. Was tat ich? Fuhr für vier Wochen auf Ferien nach Jamaika, als ich erfuhr, ich solle mich dort vorstellen.“

„Aha.“

„Was ist Ihre Meinung? Ich nehme an, das ist Masochismus.“

„Sie glauben, es könnte Masochismus sein.“

„Ich weiß nicht. Was glauben Sie?“

„Sie sind also nicht sicher, ob es Masochismus ist, aber es ist Ihnen klar, dass Sie oft Dinge tun, die selbstzerstörerischer Natur sind.“

„Das ist es. Das ist es. Trotzdem habe ich keinerlei Selbstmordabsichten. Außer im Traum. Da werfe ich mich vor eine Herde von Hippopotamussen – oder Hippopotami. Oder zünde mich vor der Fassade von Wessen, Wessen & Woof an. Aber jede echte Chance vermassele ich mir.“

„Obwohl Sie im wachen Zustand nie Selbstmordabsichten haben, denken Sie im Traum daran, Selbstmord zu begehen.“

„Ja. Aber das ist normal. Jeder tut verrücktes Zeug im Traum.“

„Sie haben das Gefühl, ihre selbstzerstörerischen Träume seien normal, weil …“ Der intelligente Leser weiß jetzt, worum es geht. Der erwünschte Effekt der indirekten Methode ist der, den Patienten dazu zu bringen, immer offener über sich zu reden, vollstes Vertrauen zu dem Trottel zu haben, der ihn heilt, und schließlich selber den Knoten in seinem Innern zu erkennen und aufzuknüpfen. Und im Raum über der Couch schwebt unsichtbar, doch stets gewärtig die Vorstellung, dass die Stunde fünfunddreißig Dollar kostet.

Und es funktioniert. Es funktioniert genauso gut wie jede andere erprobte Methode der Psychotherapie. Es hat einmal Erfolg, ein andermal nicht.

Mein zweiter Patient an diesem Morgen war ein unbeholfener Mensch, Erbe eines kleinen Vermögens, der aussah wie ein Freistilringer und das Temperament hatte wie ein Freistilringer.

Frank Osterflood war der deprimierendste Fall, der mir in fünf Jahren Praxis untergekommen war. Nach den ersten zwei Monaten Behandlung schien er ein ziemlich netter, wenn auch innerlich leerer Mann der oberen Zehntausend zu sein, der sich leise Sorgen darüber machte, dass er nicht imstande war, sich länger auf eine Sache zu konzentrieren. Er wechselte gern seine Stellungen, durchschnittlich zwei- bis dreimal im Jahr. Er sprach viel über seine diversen Jobs, über einen farblosen Vater und über zwei miese Brüder und deren Familien, erzählte das alles aber im Konversationston, sodass mir klar war, dass wir noch recht weit entfernt sein mussten von der eigentlichen Ursache seines Kummers. Falls ihm überhaupt etwas Kummer machte. Der einzige Fingerzeig, der mir die Annahme gestattete, dass er alles andere war denn ein leeres Fass, waren seine gelegentlichen gehässigen Bemerkungen über Frauen. Als ich ihn eines Morgens fragte, wie er zu Frauen stünde, zögerte er zuerst und sagte dann, er finde sie langweilig. Als ich ihn hierauf fragte, wie er seinen sexuellen Bedürfnissen nachkomme, antwortete er ausdruckslos: „Prostituierte.“

Zwei- oder dreimal in späteren Sitzungen schilderte er mir, wie er die Mädchen demütigte und erniedrigte, mit denen er gegen Bezahlung schlief. Dabei schien er sich keine Gedanken über die Art seines Verhaltens zu machen. Die Erniedrigung der Frau war für ihn normal, gehörte sozusagen zum amerikanischen Way of Life. Viel mehr interessierte ihn, warum er seine letzte Stellung aufgegeben hatte. Im Büro, in dem er tätig gewesen war, habe es so „komisch gerochen“.

Mitten in der Sitzung an dem bewussten Augusttag unterbrach er seine ihn ganz offensichtlich amüsierende Beschreibung, wie er in einer Bar in der East Side die Einrichtung kurz und klein geschlagen habe, setzte sich auf und starrte sinnend – nach meinen Erfahrungen als Psychiater sollte ich besser sagen, er stierte – zu Boden. Jeder Muskel in seinem Gesicht schien zu arbeiten. Mehrere Minuten lang blieb er so sitzen und brummte vor sich hin wie ein alter Kühlschrank. Dann sagte er:

„Ich bin so aufgeladen, dass ich glaube, ich explodiere … wenn ich mich nicht entladen kann.“

„Ich verstehe.“

(Pause)

„Ich explodiere … wenn ich mich nicht … sexuell entladen kann.“

„Ja.“

(Pause)

„Man fühlt eine unerträgliche Spannung in sich, die sich über sexuelle Bahnen den Weg nach außen sucht.“

„Ja.“

„Wollen Sie nicht wissen, wie?“

„Wenn Sie es mir sagen wollen.“

„Wollen Sie es wissen? Müssen Sie es nicht wissen, damit Sie mir helfen können?“

„Sie sollen mir nur etwas sagen, wenn Sie das Gefühl haben, es mir sagen zu müssen.“

„Na, ich weiß, dass Sie es gern wissen möchten, aber ich sage es Ihnen nicht.“

„Sie glauben also, dass Sie, obwohl ich es wissen will und Sie mir über diese Frauen erzählt haben, es mir nicht erzählen werden.“

„Eigentlich … ist es Sodomie. Wenn die Spannung in mir wächst – möglicherweise immer dann, wenn ich es mit einer Halbseidenen getrieben habe, dann werde ich … muss ich … möchte ich einer Frau den Splint hineinrammen und ihr die verdammten Eingeweide aus dem Leib treiben … einem Mädchen … jung … je jünger, desto besser.“

„Wenn Sie in einen Spannungszustand geraten, möchten Sie einer Frau die Eingeweide aus dem Leib treiben.“

„Die verdammten Eingeweide. Ich möchte ihr meinen Stiel in den Bauch stoßen.“

„Sie möchten ihren ganzen Körper durchbohren.“

„Jaah, aber von hinten. Ich will, dass sie schreit, blutet, es mit der Angst zu tun kriegt.“

(Pause. Lange Pause)

„Sie wollen also in ihren Anus eindringen und wünschen sich, dass sie schreit, blutet, Angst hat.“

„Jaah! Aber die Huren haben dabei nur den Kaugummi im Maul und bohren in der Nase.“

(Pause)

„Die Prostituierten, mit denen Sie solcherart Verkehr hatten, hatten weder Angst noch schienen sie Schmerz zu empfinden.“

„Sie waren alle scheiße. Die nahmen die fünfundzwanzig Dollar, reckten den Arsch in die Höhe und kauten Kaugummi oder lasen Comicstrips. Und wenn ich grob werden wollte, tauchte ein Kerl, um einen Kopf größer als ich, im Türrahmen auf und schwang einen Vorschlaghammer oder sonst was. (Pause) Ich bin darauf gekommen, dass Sodomie – als solche (er lächelte schief) – mich von meinen Spannungen befreit.“

„Sie konnten also Ihre Spannungen nicht durch Beziehungen zu Prostituierten abbauen, wenn die Damen weder Schmerzgefühle noch Gefühle des Erniedrigtwerdens zeigten.“

„Jaah. Die Sache ist die, dass ich anfing, junge Mädchen zu schänden und danach abzumurksen.“

(Lange Pause)

„Im Bemühen, sich von den Spannungszuständen zu befreien, begannen Sie Mädchen zu vergewaltigen und zu töten.“

„Jaah. Sie dürfen es doch niemandem sagen, nicht wahr? Sie sagten mir doch, die ärztliche Schweigepflicht verbiete es Ihnen, etwas an dritte Personen weiterzugeben.“

„Ja.“

(Pause)

„Ich glaube, dass ich meine Spannungen etwas lösen kann, wenn ich Mädchen vergewaltige und umbringe. Ich fühle mich danach stets besser.“

„Ich verstehe.“

„Mein Problem ist nur, dass ich nervös werde, wenn ich daran denke, dass sie mich einmal erwischen könnten. Darum habe ich ja gehofft, ich würde durch eine psychoanalytische Behandlung zu etwas normaleren Methoden finden, meine Spannungen loszuwerden.“

„Sie würden also gern Ihre Spannungen auf andere Weise abbauen als durch Vergewaltigung und Mord.“

„Jaah. Entweder das, oder Sie kurieren mich von meiner Angst, erwischt zu werden …“

Der kritische Leser mag denken, dieser Fall habe zu sehr Sensationscharakter, um typisch zu sein für den psychoanalytischen Alltag. Aber Mr. Osterflood existiert. Oder besser: existierte. Doch davon später. Die Sache verhielt sich so, dass ich an einem Buch mit dem Titel „Die sado-masochistische Persönlichkeit und ihre Phasensprünge“ arbeitete, in welchem ich Fälle beschrieb, die zeigten, wie Sadisten zu Masochisten wurden und umgekehrt. Zu diesem Zweck schickten mir meine Kollegen Patienten mit ausgeprägten sadistischen oder masochistischen Tendenzen. Osterflood war zugegebenermaßen unter diesen der Sadist mit dem stärksten Profianstrich, aber in den Nervenheilanstalten gehören Fälle wie Osterflood durchaus nicht zu den Seltenheiten.

Bemerkenswert an der Sache ist nur, dass Osterflood frei herumläuft. Obwohl ich ihm nach seinem Geständnis dringend riet, eine Heilanstalt aufzusuchen, lehnte er dies ab, und ich konnte nicht veranlassen, dass er festgenommen wurde, ohne damit die ärztliche Schweigepflicht zu verletzen. Offenbar hatte auch niemand den Verdacht, in Osterflood einen „Feind der Gesellschaft“ vor sich zu haben. Das Einzige, was ich tun konnte, war, allen meinen Freunden zu raten, ihre Kinder nie unbeaufsichtigt auf den Kinderspielplätzen in Harlem herumtollen zu lassen – von wo Osterflood sich seine Opfer holte –, und daneben mit allen Mitteln zu versuchen, Osterflood zu heilen.

Nachdem Osterflood an jenem Morgen gegangen war, brütete ich eine Weile über diesem unlösbaren Problem, machte ein paar Notizen und beschloss dann, an meinem Buch zu arbeiten.

Ich zwang mich mit derselben Begeisterung hinter meinen Schreibtisch, mit der sich ein an Diarrhöe Erkrankter auf die Toilette schleppt: Ich verspürte das dringende Bedürfnis, aus mir rauszulassen, was drin war, dabei war ich längst davon überzeugt, es würde nichts als Scheiße zum Vorschein kommen.

Mein Buch hing mir zum Hals raus, es war sozusagen in Schönheit gestorben. Einige Monate vorher hatte ich versucht, dem Verlag Pordom House die Zusage abzuringen, es zu drucken, wenn es fertig war. In meinen Vorstellungen sah ich es bereits im Sog einer gewaltigen Werbekampagne die Leiter zum nationalen, später zum internationalen Erfolg emporklimmen, sah vor mir, wie Jake Ecstein rasend wurde und sich in seiner Verzweiflung in die Arme berechnender Frauen und in die Krallen des Börsenspielteufels stürzte. Die Leute bei Pordom hatten hin und her überlegt, sich um eine Antwort herumgedrückt … mit einem Wort: Sie hatten kein Interesse gehabt. Und ich an diesem Morgen – wie auch an den vorhergehenden – hatte auch keins.

Der Haken bei dem Buch war klein, aber umso störender: Es fehlte eine Aussage. Der Hauptteil sollte den Fallstudien gewidmet sein. Hier wollte ich alle Patientengeschichten aufnehmen, bei denen im Verlauf der Behandlung primär sadistische Verhaltensbilder sich zu masochistischen wandelten. Meine Traumidee war gewesen, den Patienten an jenem Punkt „einzufrieren“, wo er nicht mehr sadistisch und noch nicht masochistisch war. Falls es einen solchen Punkt gab. Fälle, die bewiesen, dass es diese komplette Wandlung vom Sadismus zum Masochismus gab, hatte ich genug an der Hand; aber keinen Fall mit „eingefrorener Freiheit“. Dieser Terminus bezeichnete jenen idealen Zustand der Mitte; er war mir eines Morgens in einem Moment geistiger Helle eingefallen.

Die Sache war die, dass Jake Ecstein, dieser Mensch mit dem Aussehen eines Gebrauchtwagenhändlers, zwei der vernünftigsten und ehrlichsten Bücher über Psychotherapie geschrieben hatte, die mir je untergekommen waren, in denen er im Wesentlichen darlegte, dass keiner von uns Psychiatern wisse oder jemals annähernd wissen würde, was und wie er da heile. Jake kurierte seine Patienten nicht besser und nicht schlechter als jeder andere Arzt auch und veröffentlichte danach brillante Fallstudien, an Hand derer er zeigte, dass der Schlüssel zu seinem Erfolg der Zufall sei, ja dass häufig gerade das ungewollte Abweichen vom theoretischen Fahrplan zum Durchbruch durch die Barriere der Neurose führe. Jake hatte immer und immer wieder bewiesen, wie sehr bei der Behandlung das Glück eine Rolle spielte. Am besten vielleicht mit seiner „Bleistiftspitzerkur“.

Eine Patientin, die nach fünfzehn Monaten Behandlung so wenig Neigung zeigte, von ihrer Neurose herunterzusteigen, dass selbst Jake sich zu langweilen begann, machte eine komplette Wandlung durch, als Jake ihr, mit seinen Gedanken ganz woanders und daher glaubend, er habe seine Sekretärin vor sich, den Auftrag gab, seine Bleistifte zu spitzen. Die Patientin, eine sehr wohlhabende Dame, ging gehorsam hinaus in den Vorraum, und im selben Augenblick, da sie einen Bleistift in die Öffnung des Bleistiftspitzers stecken wollte, begann sie schrille Schreie auszustoßen, sich an den Haaren zu reißen und Wasser und Kot zu lassen. Drei Wochen später konnte „Mrs. P.“ als geheilt entlassen werden.

Was Wunder, wenn ich das Gefühl hatte, mein Geschreibsel sei bloß ein müßiges, prätentiöses Spiel mit Worten.

Ich verbrachte daher die Zeit bis zum Lunch folgendermaßen: Erstens las ich die Börsenberichte der New York Times; zweitens schrieb ich einen eineinhalb Seiten langen Bericht über Mr. Osterflood; und drittens malte ich Männchen auf die eben in Arbeit befindliche Manuskriptseite meines Buches.

4 Das Mittagsessen nahm ich an jenem Tag mit drei meiner engsten Berufskollegen ein: mit Dr. Ecstein, über den ich mich gern mokiere, weil er so intelligent und so erfolgreich ist; Frau Dr. Renata Felloni, der einzigen praktizierenden Psychoanalytikerin im New York der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit; und Dr. Timothy Mann, der kleinen, dicklichen, etwas schmuddeligen Vaterfigur, die mir seit vier Jahren Ratschläge zuteil werden lässt und dieses Recht aus der psychoanalytischen Behandlung vor vier Jahren ableitet.

Als Jake und ich kamen, fanden wir Dr. Mann in lümmelnder Haltung am Tisch sitzend, eifrig an einer Semmel kauend und wohlwollend sein Gegenüber betrachtend. Dr. Mann war ein großes Tier: einer der leitenden Direktoren des Queens-borough State Hospital, wo ich zweimal die Woche tätig war, Mitglied des Exekutivkomitees der PANY (der Psychoanalysts Association of New York) und Autor von siebzehn Fachartikeln und drei Büchern. Von den Letzteren war eines das meist benutzte unter den existierenden Werken zum Thema existenzialistische Therapie. Von Dr. Mann analysiert zu werden, galt als große Ehre, und ich hatte das auch zu schätzen gewusst, bis mein wachsendes Unbehagen und meine sich steigernde Langeweile mir die Überzeugung eintrichterten, dass die Behandlung mir nicht gutgetan hatte. Dr. Mann war ganz mit seiner Kautätigkeit beschäftigt, und man konnte schwer sagen, ob er Dr. Fellonis gelehrten Ausführungen die nötige Aufmerksamkeit schenkte.

Renata Felloni sieht aus wie die altjüngferliche Schwester Oberin an einer presbyterianischen Mädchenschule. Sie hat ergrautes, streng frisiertes Haar, trägt eine Brille und spricht in jenem langsamen, würdigen italoamerikanischen Singsang, der ihren Erörterungen zum Thema Penis, Orgasmus, Sodomie und Fellatio einen so neutralen Anstrich verleiht, dass man glauben könnte, sie rede über Hauswirtschaft oder anrechenbare Vorlesungsstunden. Überdies war sie, soweit man wusste, nie verheiratet gewesen und hatte in den sieben Jahren, in denen wir in beruflichem Kontakt zu ihr standen, keinen Hinweis darauf zugelassen, dass sie je einen Mann erkannt (im biblischen Sinn „erkannt“) hatte. Ihr würdevolles Auftreten hielt uns davon ab, direkte oder indirekte Fragen bezüglich ihrer Vergangenheit an sie zu stellen. Das Einzige, worüber wir völlig frei mit ihr zu diskutieren wagten, waren das Wetter, die Börsenkurse, Geschlechtsorgane, Orgasmen, Sodomie und Fellatio.

Das Restaurant war teuer und laut. Mit Ausnahme von Dr. Mann, dem jeder Trog recht war, wenn er nur Futter enthielt, hassten wir es und gingen nur hin, weil jedes andere Restaurant in akzeptabler Reichweite genauso teuer und laut war.

„Nur zehn Prozent unserer Testpersonen glauben, dass auf Masturbation die Strafe göttlicher Verdammnis steht“, sagte Dr. Felloni eben, als Jake und ich uns an den kleinen Tisch setzten. Sie berichtete offenbar über eine Versuchsreihe, die sie und ich gemeinsam durchführten. Sie nickte uns beiden Hinzugekommenen höflich zu, gestattete sich ein Lächeln und sprach weiter: „Dreiunddreißigeindrittel Prozent glauben, dass Masturbation mit dem Fegefeuer bestraft wird. Vierzig Prozent, dass es körperlich ungesund ist, zweieinhalb Prozent, dass damit die Gefahr des Schwangerwerdens verbunden ist, sieben …“

„Gefahr des Schwangerwerdens?“, unterbrach Jake sie und blickte von der Speisekarte auf.

„Wir stellen diese Folgemöglichkeiten überall zur Auswahl“, erklärte sie lächelnd, „also bei Masturbation, Küssen, Petting, vorehelichem und ehelichem heterosexuellem Verkehr, homosexuellem Petting und homosexueller Sodomie, und lassen die Testpersonen entscheiden, an welche Folgen bei welcher Praktik sie glauben. Gefahr der Schwangerschaft haben die Testpersonen nur bei Masturbation, Petting bis zum Orgasmus und bei heterosexuellem Verkehr als gegeben erklärt.“

„Alles schön und gut“, sagte Jake, „aber wozu sollen diese Prozentsätze dienen?“

„Unsere Fragestellung lautet: Aus welchen Gründen glauben Sie, dass sexuelle Erregung oder Befriedigung durch Gedanken, Lektüre, Ansehen von Bildern oder händische Betätigung ungut ist?“

„Lassen Sie sie auch Gründe dafür nennen, warum die Masturbation Vorteile hat?“, fragte Dr. Mann, während er sich mit einem Stück Semmel das Fett von der Unterlippe wischte.

„Natürlich“, erwiderte Dr. Felloni. „Eine Testperson kann, wenn sie für die Masturbation ist, unter sechs Begründungen wählen: 1. Es ist schön. 2. Es verschafft Erleichterung. 3. Es ist eine ganz natürliche Form, seine Liebe auszudrücken. 4. Es ist etwas, was man kennen sollte, um perfekt zu sein. 5. Es trägt zur Höherzüchtung der Rasse bei. 6. Man tut’s eben.“

Nach ihren letzten Worten brachen Jake und ich in Gelächter aus. Als wir uns beruhigt hatten, erklärte sie Jake, dass bei Masturbation nur die ersten beiden Gründe pro angegeben worden waren; mit Ausnahme einer Testperson, die angab, Masturbation sei Ausdruck der Liebe. Doch hatte Dr. Felloni in einem nachträglichen Interview festgestellt, dass die betreffende Testperson diese Wahlantwort in einem Anfall von Zynismus auf dem Fragebogen abgehakt hatte.

Jake wandte sich mir zu und sagte: „Ich verstehe nicht, warum ihr euch überhaupt noch mit so etwas befasst. Solche Studien betreiben die Soziologen seit Jahrzehnten. Das ist doch völlig abgegrast.“

Dr. Felloni nickte höflich, wie sie immer tat, wenn jemand etwas äußerte, was als Kritik ausgelegt werden konnte. Und je heftiger jemand kritisierte, desto heftiger pflegte sie zu nicken.

„Aber unser Plan, den eigentlichen Wert der ausgefüllten Fragebögen durch nachher durchgeführte genaue persönliche Unterredungen mit den Testpersonen zu ermitteln, ist doch ein wichtiger weiterer Schritt.“

„Mein Gott, Sie werden Stunden und Stunden damit verbringen, um etwas zu beweisen, was sonnenklar ist: nämlich dass Tests mit Wahlantworten nicht verlässlich sind.“

„Ja, aber vergiss nicht, wir haben ein Forschungsstipendium erhalten“, warf ich ein.

„Na und? Warum habt ihr es nicht für etwas Originelleres, Lohnenderes beantragt?“

„Wir wollten ein Forschungsstipendium kriegen“, antwortete ich ironisch.

Jake schenkte mir den Ich-kann-durch-dich-hindurch-sehen-Blick und lachte.

„Etwas Originelleres oder Lohnenderes ist uns nicht eingefallen“, fügte ich, ebenso lachend, hinzu, „so entschlossen wir uns eben zu diesem.“

Dr. Felloni warf tadelnde Blicke und nickte, beides heftig.

„Ihr werdet tolle Dinge entdecken. Etwa, dass ehelicher Sexualverkehr mehr gebilligt wird als vorehelicher“, sagte Jake, „oder dass Homosexuelle die Homosexualität billigen oder dass …“

„Unsere Ergebnisse“, sagte Dr. Felloni ruhig, „können entgegen alle Erwartungen ausfallen. Es kann sein, dass wir bei den genauen Befragungen feststellen, dass die Testpersonen ihre Haltungen und Erfahrungen falsch einschätzen und falsch darstellen und dies auch bei früheren Experimenten so war, ohne dass es jemand merkte.“

„Sie hat recht, Jake. Ich gebe zu, die ganze Sache sieht wie ein Riesenflop aus und kann zum Beweis des längst Bewiesenen führen. Aber es muss nicht so sein.“

„Es wird“, sagte Dr. Mann.

„Was wird es?“, fragte ich.

„Es wird zum Beweis von längst Bewiesenem führen und zu nichts anderem.“ Zum ersten Mal sah er mich voll an. Seine Wangen waren gerötet, entweder vom Wein oder vom Ärger.

„Und?“

„Warum also verschwenden Sie Ihre Zeit? Renata könnte das Ganze auch ohne Ihre Hilfe schaffen.“

„Es ist ein unterhaltsamer Zeitvertreib. Ich träume oft davon, solche Experimente zu parodieren, indem ich mit entsprechender Ausschmückung verrückte Ergebnisse veröffentliche. Sie wissen schon, etwa in der Art: ,Fünfundneunzig Prozent der amerikanischen Jugend glauben, dass die Masturbation ein besserer Ausdruck von Freundschaft und Liebe ist als der Geschlechtsverkehr.‘“

„Ihr Experiment ist auch ohne jede Ausschmückung eine Parodie“, sagte Dr. Mann.

Es trat Stille ein.

„Unser Experiment“, sagte Dr. Felloni endlich und unterstrich ihre Worte mit heftigem Nicken, „wird neue Einsichten liefern in die Zusammenhänge zwischen dem Sexualverhalten, seiner Duldung und dem Grad charakterlicher Festigkeit.“

„Ich kenne Ihren Brief an die Esso-Stiftung“, sagte Dr. Mann.

„Ich kenne ein Mädchen, noch nicht einmal zwanzig“, ging Jake auf ein anderes Thema über, ohne mit der Wimper zu zucken, „die könnte uns allen hier geistig was vorgeben. Sie wusste einfach alles, der kam die Klugheit zu den Ohren raus. Es war nur noch eine Frage von Wochen und es wäre mir bei ihr der entscheidende Durchbruch gelungen. Aber sie ist tot.“

„Sie ist tot?“, fragte ich.

„Fiel von der Williamsburg-Brücke in den East River. Ich gebe zu, ich muss ihren Fall als einen der zwei oder drei möglichen Fehlschläge meiner Karriere ansehen.“

„Schauen Sie, Tim“, wandte ich mich wieder an Dr. Mann, „ich schließe mich Ihrer Meinung an, dass unser Experiment am Rande des Unsinns entlangläuft, aber was soll man in einer absurden Welt anderes tun, als sich der Strömung anzuvertrauen?“

„Ihre metaphysischen Spekulationen interessieren mich nicht.“

„Oder meine wissenschaftlichen. Vielleicht ist es besser, ich rede nur mehr vom Börsengeschäft.“

„Also jetzt hört auf, ihr beiden“, sagte Jake. „Seit Luke die Abhandlung über ,Taoismus, Zen und Psychoanalyse‘ geschrieben hat, tut Tim so, als hätte Luke sich der Astrologie in die Arme geworfen.“

„Wenn’s wenigstens die Astrologie wäre“, sagte Dr. Mann und blickte kalt zu mir herüber. „Die begnügen sich damit, wichtige Dinge vorherzusagen. Bei Zen lässt man sich ins Nirwana treiben und lässt die Gedanken und persönlichen Bemühungen zu Hause.“

„Man lässt sich nicht ins Nirwana treiben“, sprang ich ihm bei. „Das Dahintreiben ist das Nirwana.“

„Reinste Theorie“, sagte Dr. Mann.

„Wie alle guten Theorien.“

„Aktien von Cold und von General Motors sind in diesem Monat durchschnittlich um zwei Punkte pro Woche gestiegen“, sagte Dr. Felloni nickend.

„Jaah“, sagte Jake. „Und Sie werden sehen, Waste Products Inc., Dolly’s Duds und Nadir Technology gehen auch in die Höhe.“

Dr. Mann und ich sahen einander immer noch an, er mich mit geröteten Wangen und kalt blickenden Augen, ich ihn mit einem Ausdruck, der heitere Gelöstheit anzeigen sollte.

„Meine Aktien stehen in letzter Zeit ziemlich tief “, sagte ich.

„Sie pendeln sich auf ihren wahren Wert ein“, gab er zurück.

„Aber vielleicht erholen sie sich wieder.“

„Dahintreibende erholen sich nicht.“

„O doch“, sagte ich. „Sie verstehen nur Zen nicht.“

„Ein wahrer Segen für mich“, sagte Dr. Mann.

„Sie haben Ihr Essen, lassen Sie mir mein Zen und meine Sexexperimente.“

„Oh, Scheiße“, sagte Jake. „Wollt ihr beide jetzt endlich Ruhe geben. Tim, Sie sitzen da wie ein fetter Buddha und attackieren Lukes Buddhismus. Und Luke …“

„Schon recht“, sagte Dr. Mann. Er saß jetzt so steif da, als dies sein plumper Körperbau ihm erlaubte. „Entschuldigen Sie, Luke. Die Suppe war kalt und ich musste mich an etwas abreagieren.“

„In Ordnung“, sagte ich. „Ich möchte mich auch entschuldigen. Mein Martini war gewässert und ich musste kontern.“

Die Kellnerin kam an den Tisch, und Jake wollte den Nachtisch bestellen, doch Dr. Felloni blickte in die Runde und sagte laut:

„Mein Aktienpaket ist in den letzten drei Monaten um vierzehn Prozent im Wert gestiegen, obwohl der Aktienmarkt im Ganzen zwei Prozent tiefer steht.“

Für den Rest des Mittagessens verlief die Unterhaltung in den Niederungen.

5 Nach dem Mittagessen zahlte ich mein Scherflein beim Parkplatzwächter und fuhr durch den Regen zum Spital. Ich fuhr einen Rambler. Meine Kollegen hatten Jaguars, Mercedes, Cadillacs, Corvettes, Porsches, Thunderbirds und – jene, die sich gelegentlich in den Slums herumtrieben – Mustangs. Ich fuhr einen Rambler. Das war momentan mein schöpferischster Beitrag zur Psychoanalyse in New York City.

Ich fuhr quer durch Manhattan und über die Queens-borough Bridge auf die Insel im East River hinüber, wo sich das State Hospital befindet. Die uralten Pavillons machten bereits einen tristen, abbruchreifen Eindruck. Manche schienen verödet. Drei brandneue Komplexe, mit blitzenden Stahltraversen und heitergelblichem Anstrich, die man zwischen die alten, hässlichen Pavillons hineingesetzt hatte, ließen das Ganze wie eine Hollywood-Kulisse erscheinen, vor der gleichzeitig zwei Filme: „Meine Mutter war eine Schizophrene“ und „Gefängnisrevolte“, abgedreht wurden.

Ich begab mich direkt in den Aufnahmepavillon, eines der alten, niederen, vom Alter geschwärzten Gebäude, das nach verlässlicher Quelle nur mehr durch die siebenunddreißig Lagen des blassgrünen Anstrichs in Zimmern und Gängen des Hauses zusammengehalten wurde. Dort hatte man mir einen kleinen Raum zur Verfügung gestellt, wo ich jeden Montag- und Mittwochnachmittag mit hierfür ausgesuchten Patienten meine Sitzungen abhielt. Die Patienten waren aus zwei Gründen hier: Erstens, weil ich sie mir ausgesucht hatte, zweitens, weil sie gerade in Behandlung standen. Gewöhnlich hatte ich zwei Patienten, mit denen ich mich zweimal wöchentlich je eine Stunde beschäftigte.

Einen Monat zuvor war einer meiner Patienten mit einer zweieinhalb Meter langen Holzbank auf einen Krankenwärter losgegangen. Fünf Leute mussten ihn bändigen, wobei er drei Rippenbrüche, zweiunddreißig Rissquetschwunden und einen Eingeweidebruch davontrug.

An seiner Stelle rekommandierte mir Dr. Mann einen siebzehnjährigen Jungen, bei dem sich erste Anzeichen religiösen Wahns zeigten.

Er neigte dazu, sich für Jesus Christus zu halten. Ob nun Dr. Mann der Meinung war, alle Christen seien Masochisten, oder ob er dachte, der Junge wäre gut für mein geistiges Wohl, blieb unklar.

Mein zweiter Patient war Arturo Toscanini Jones, ein Neger, der sich aufführte, als wäre er Mitglied der Black-Panther-Bewegung, den man auf eine winzige Insel ausgesetzt hatte, auf der es von weißen Jägern mit schussbereiten Gewehren nur so wimmelte. Meine Schwierigkeit bei ihm bestand darin, dass seine Sicht der Welt in höchst realistischer Weise nach dem ausgerichtet war, was sein bisheriges Leben ihm beschert hatte. Unsere Sitzungen verliefen im Allgemeinen in wortloser Stille, denn Arturo Toscanini Jones hatte weißen Jägern sehr wenig zu sagen.

Jones war Student am City College von New York gewesen und hatte seine Prüfungen stets mit Auszeichnung bestanden. Bis er im dritten Jahr in eine Versammlung der Jungen Konservativen zwei Handgranaten schmiss. Normalerweise hätte man ihm dafür eine ausgiebige Gefängnisstrafe aufgebrummt. Aber seine bisher aufgetretenen „geistigen Störungen“ (Marihuana, LSD, ein „Nervenzusammenbruch“ im zweiten Studienjahr, wobei er während einer politischen Vorlesung den Professor mit obszönen Schimpfworten bedachte) und die Tatsache, dass die beiden Handgranaten nicht mehr Schaden anrichteten, als das Porträt von Barry Goldwater zu zerfetzen, brachten ihm stattdessen einen Aufenthalt im State Hospital ein. An jenem Nachmittag beschloss ich, etwas aus mir herauszugehen, um vielleicht ein Gespräch in Gang zu bringen.

„Mr. Jones“, begann ich, nachdem die ersten fünfzehn Minuten der Sitzung unter völligem Schweigen verstrichen waren, „warum glauben Sie, dass ich Ihnen nicht helfen kann oder helfen will?“

Er sah mich heiter-verächtlich von der Seite an. „Das lehren mich meine Erfahrungen“, sagte er.

„Wenn neunzehn Weiße Ihnen einen Tritt gegen die Eier gegeben haben, dann muss das nicht heißen, dass es der zwanzigste auch tun wird.“

„Stimmt“, sagte er. „Aber der Bruder, der diesem Charlie begegnet und sich nicht seine Hände vor die Eier hält, ist ein blödes Arschloch.“

„Stimmt auch. Aber reden könnte er doch.“

„Nee, Sir! Wir Nigger reden mit den Händen. Das ist so, Sir! Wir sind sehr physisch, wissen Sie.“

„Dann haben Sie also bisher beim Reden nie die Hände gebraucht.“

„Mann, ich bin doch ein Weißer! Haben Sie das nicht gewusst? Ich arbeite für die CIA und untersuche, ob die ,Nationale Vereinigung für schwarzen Fortschritt‘ nicht geheime Kontakte zu den Negern hat.“ Er zeigte mir die blitzenden Zähne, und in seinem Blick lag Belustigung oder Hass.

„Das ist etwas anderes“, sagte ich. „Dann werden Sie Verständnis dafür haben, dass auch ich getarnt bin. Mann, ich bin ein Schwarzer! Haben Sie das nicht gewusst? Ich arbeite für …“

„Sie sind kein Schwarzer, Rhinehart“, unterbrach er mich schroff. „Wenn Sie einer wären, würden wir es beide wissen, und nur einer von uns wäre hier.“

„Nun gut, ob schwarz oder weiß, ich möchte Ihnen gerne helfen.“

„Als Schwarzer würde man Sie nicht lassen, als Weißer können Sie’s nicht.“

Ich fiel in Schweigen, und er schwieg ebenso. Die restlichen fünfzehn Minuten verbrachten wir damit, den schrillen, in regelmäßigen Abständen wiederkehrenden Schreien eines Mannes in einem Nachbarpavillon zu lauschen.

Nachdem Mr. Jones gegangen war, starrte ich aus dem Fenster in den Regen hinaus, bis mir eine hübsche kleine Schwesternelevin die Mappe mit der Krankengeschichte von Eric Cannon brachte und mir mitteilte, sie würde dessen Angehörige zu mir führen. Als sie wieder draußen war, dachte ich einige Sekunden lang über das sogenannte P-Phänomen nach. Darunter versteht man die Tendenz der Ärzte, hinter der gestärkten Schwesternbluse das vollbusige P-Profil zu vermuten.

Eric Cannon, das ging aus dem minutiösen Bericht hervor, war ein moderner Wolf im Schafspelz. Vom fünften Lebensjahr an zeigte der Junge Zeichen von Frühreife und geistiger Zurückgebliebenheit. Obwohl der Sohn eines lutherischen Geistlichen, stritt er mit seinen Lehrern, schwänzte die Schule, folgte weder den Eltern noch den Lehrern und war mit neun zum ersten Mal, seither weitere fünf Male, von zu Hause durchgebrannt. Die letzte Episode lag erst neun Monate zurück. Damals verschwand er für sechs Wochen, bis man ihn in Kuba aufgegriffen hatte. Mit zwölf begann er es besonders auf Priester abgesehen zu haben, und diese neue Seite an ihm gipfelte darin, dass er sich überhaupt weigerte, ein Gotteshaus zu betreten.

Ebenso weigerte er sich, zur Schule zu gehen. Man hatte bei ihm Marihuana gefunden. Und ganz zuletzt hatte man ihn im letzten Moment daran gehindert, sich vor dem Gebäude der Einberufungszentrale von Brooklyn öffentlich zu verbrennen.

Pastor Cannon, sein Vater, schien ein guter Mensch im herkömmlichen Sinn zu sein: ein konservativer, beherrschter Verteidiger des Bestehenden. Und sein Sohn rebellierte, hatte psychiatrische Behandlung abgelehnt, wollte nicht arbeiten, wohnte nur dann zu Hause, wenn es ihm passte. So hatte der Pastor beschlossen, ihn ins Queensborough State Hospital zu bringen.

„Dr. Rhinehart.“ Die hübsche kleine Elevin stand plötzlich neben mir. „Darf ich Sie mit Pastor Cannon und Mrs. Cannon bekannt machen?“

„Sehr erfreut“, sagte ich automatisch und hatte auch schon die plumpe Hand eines Herrn mit Honigmiene und dichtem grauem Haar ergriffen.