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In seiner Autobiografie schildert Oliver Sechting, Sozialpädagoge und Lebensgefährte von Rosa von Praunheim, nicht nur die Entwicklung und Ausprägungen seiner Ängste und Zwänge, sondern auch Erklärungs- und Bewältigungsversuche. Ein engagierter Erfahrungsbericht, der anderen Zwangserkrankten Hoffnung und Selbstbewusstsein vermittelt. Das Buch beginnt mit der humorvollen Schilderung einer gutbürgerlichen Kindheit im Beige-Grün der Endsiebziger Jahre, entwickelt sich über erste sexuelle Empfindungen und die damit verbundenen Ängste und Schamgefühle hin zu den ersten bedeutsamen Symptomen einer Zwangserkrankung, und dem vagen Verdacht, dass sie möglicherweise mit dem Tod des Vaters oder der verheimlichten Homosexualität zusammenhängen. Die Erkenntnis, dass die Zwänge kein Defizit, sondern eine Erkrankung darstellen und helfen, verschiedene Ängste zu regulieren, entlastet den Autor. Er sucht sich professionelle Hilfe, erlebt ein erfolgreiches Coming-out und entwickelt Bewältigungsstrategien, um trotz der Erkrankung ein erfülltes Leben anzustreben. Das Buch entstand unter Mitarbeit von Karen-Susan Fessel.
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Seitenzahl: 255
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Oliver Sechting mit Karen-Susan Fessel
Der Zahlendieb
Mein Leben mit Zwangsstörungen
Oliver Sechting
mit Karen-Susan Fessel
Der Zahlendieb
Mein Leben mit Zwangsstörungen
Balance erfahrungen
1.Auflage 2017
ISBN-Print: 978-3-86739-125-2
ISBN-PDF: 978-3-86739-901-2
ISBN-E-Pub: 978-3-86739-903-6
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© BALANCE buch + medien verlag, Köln 2017
Der BALANCE buch + medien verlag ist ein Imprint der Psychiatrie Verlag GmbH, Köln.
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne Zustimmung des Verlags vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden.
Lektorat: Karin Koch, Köln
Umschlagkonzeption und -gestaltung: GRAFIKSCHMITZ, Köln
unter Verwendung eines Bildes von André Krummel
Typografiekonzeption und Layout: Iga Bielejec, Nierstein
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Prolog
Das Wunschkind: Die Idylle
Ein gutbürgerliches Zuhause in Grün und Beige
Chaos und Ordnung
Die Entdeckung
… und ihre Folgen
Ein belauschtes Gespräch
Kein Grund zur Sorge
Ein neues Wort
Dirty Dancing
Das Krebsei
Der Junge: Die Zahlenhölle
Wie ferngesteuert
Veränderungen
Verlangen
Die innere Ordnung
Schwofen und schwärmen
Rebell ohne Grund
Die süßen Französinnen
Reize
Der Jugendliche: Der Diamantenschlucker
Ein Elefant auf der Wiese
Knäuel im Kopf
Licht in der Finsternis
Allein unter vielen
Abitur mit Hindernissen
Der Heranwachsende: Durch die Tage
Ohne Plan
Mit Hemd und Krawatte
Das erste Mal
Und noch ein erstes Mal
Schritte in die Szene
Raus mit der Sprache
Der Student: Neustart
Neue Wege
Der Geheimdienst hört mit
Die erste Diagnose
Berlin im zweiten Anlauf
Der Partymacher
Eine richtig gute Sache: Der Verein
Auf gutem Wege
Der Erwachsene: Aufstehen und weitergehen
Stolpersteine
Donnersturz
Ein Ende und ein Anfang
Achterbahn
Die zweite Diagnose
Neues Setting
Der Zahn der Zeit
Manische Suche
Alltagsflucht
Der Film
Noch ein Coming-out
Epilog
Oliver dankt
»Oliver! Mensch, wirklich, wir kommen viel zu spät. Bitte komm rüber!« Max winkt erneut. Er sieht verzweifelt aus, oder vielleicht verärgert. Ich kann es nicht unterscheiden; ich kann gar nichts unterscheiden, ich weiß nicht, was er denkt, was ich denke. Ich weiß nur, dass ich nicht über die Straße gehen kann. Ich kann nicht. Ich brauche eine 7. Unbedingt.
Aber es kommt keine.
Ich stehe da, die Arme vor dem Oberkörper verschränkt, und spüre, wie mir das Hemd mittlerweile am Rücken klebt. Schweiß tropft von meiner Stirn und bitterer Staub legt sich beim Atmen auf meine Zunge.
Ich kann nicht. Ohne eine 7 kann ich nicht. Ich kann einfach nicht.
Es war nicht immer so, aber es fing früh an. Bereits im Alter von 11 Jahren hatte mich ein Gefühl von Verrücktheit befallen. Die ersten Zwänge beschnitten mein Leben. Handlungen, die ich bei niemand anderem beobachten konnte. Mir war klar, dass sich etwas in mir entwickelte, das nicht der Norm entsprach und das ich aus Scham im Heimlichen auslebte.
Was mich dazu antrieb, war so stark und intensiv, dass ich nicht an eine Phase glaubte. Es fühlte sich so an, als ob es zu meinem Leben gehören sollte. Ähnlich dem Gefühl, als ich meine Sexualität entdeckt hatte.
Göttingen ist eine mittelgroße, bei Studenten beliebte Stadt im südlichsten Zipfel Niedersachsens. Die Fußgängerzone wird von alten Fachwerkhäusern gesäumt, Kopfsteinpflaster ist auf den engen Gassen verlegt. Überall in der Stadt stehen große Universitätsgebäude; Heinrich Heine beschreibt Göttingen in seinem Reisebericht »Die Harzreise« als eine piefige und spießige Akademikerstadt, die am schönsten sei, wenn man sie von hinten sehe. In ihrer Mitte steht schamhaft und bescheiden das schöne Gänseliesel aus Bronze, das sich von jedem Doktoranden küssen lassen muss. Selbst ein Verbot konnte es vor klugen, klebrigen Zungen nicht bewahren. Wenn ich als Junge auf dem Brunnenrand saß, wusste ich nie, ob ich das Gänseliesel über mir bedauern oder beneiden sollte.
Am 5. Oktober 1975 wurde ich in diese beschauliche Idylle als einziges Kind meiner Eltern hineingeboren. Der Vietnamkrieg hatte gerade ein Ende gefunden, Elvis Presley lebte noch. Die Hippie-Ära war noch in voller Blüte, zog jedoch auch in musikalischer Hinsicht spurlos an meinem gutbürgerlichen Elternhaus in der Göttinger Vorstadt vorbei. Statt des wilden Gitarrensounds von Jimi Hendrix oder der rauchigen Stimme von Janis Joplin fand ich, als ich im Alter von 9 Jahren begann, mich für Musik zu interessieren, im Plattenschrank meiner Eltern größtenteils Alben des belgischen Schnulzen-Barden Adamo, Italo-Pop von Albano und Romina Power und diverse Erzeugnisse zeitgenössischen deutschen Schlagers. Aber zwischen den Gebrüdern Blattschuss und Nicole steckte immerhin eine Elvis-Presley-Platte, die ich rauf und runter spielte.
Ich schnitt mir Frotteestirnbänder aus dem Bademantelgürtel meines Vaters, setzte mir übergroße Sonnenbrillen meiner Mutter auf, zog mir aus dem Kleiderschrank meiner Eltern die wenigen Hemden und Blusen an, die nicht in Beige- oder Brauntönen gehalten waren, sang in einen langstieligen Holzkochlöffel und tanzte ausgelassen auf unserem grünen Wohnzimmerteppich herum. Zwischen Couch, Bauernmöbeln und Kamin hatte ich meine Bühne gefunden. Ich fühlte mich frei und großartig wie ein Rockstar. Manchmal schaute mir unsere Boxerhündin Dunja erstaunt dabei zu.
Dunjas Fell war beigefarben – die Farbe meiner 80er Jahre. Die Hosenanzüge meiner Mutter, unsere Wohnzimmercouch, unsere Tapeten, die Fliesen in unserem Badezimmer, unser Geschirr, der Anstrich unseres Hauses: Alles war beigefarben. Oft kombiniert mit Grün, wie unsere Badezimmerkeramik, unser Besteck oder das Efeu, das sich an unserem Haus heraufhangelte.
Ich wuchs also auf in einem bürgerlichen Eigenheimtraum aus Beige und Grün. Unser Haus stand in einer ruhigen Wohngegend, umgeben von anderen Einfamilienhäusern, in denen ebenso ruhige und gut situierte Familien lebten wie unsere.
Der einzige Unterschied war vielleicht, dass Religion bei uns keine Rolle spielte. Meine Mutter war zwar katholisch, mein Vater evangelisch aufgezogen worden, aber ich wurde nicht mal getauft, was Mitte der 70er Jahre in bürgerlichen Kreisen durchaus etwas Unkonventionelles hatte. Als Kind ärgerte ich mich tierisch darüber, dass ich keine Kommunionsgeschenke wie meine Freunde bekam. Besonders neidisch war ich auf einen Mini-Goldbarren, den mein gleichaltriger Cousin Moritz von meinen Eltern bekommen hatte. Ich konnte nur schwer verkraften, dass ich nicht auch aus Solidarität einen Goldbarren erhielt, und war ein paar Tage stinksauer auf meine Eltern. Schließlich waren sie es gewesen, die mich nicht hatten taufen lassen. Meine Eltern enttäuschten mich allerdings höchst selten – ich war ein Wunschkind, und sie versuchten stets, mir meine Wünsche zu erfüllen.
Als mein Vater von der Schwangerschaft meiner Mutter erfahren hatte, sie war 29 Jahre alt gewesen, er 4 Jahre älter, hatte er ihr einen großen Diamantring geschenkt. Er war Uhrmacher und Juwelier; sein Geschäft am Nabel der Göttinger Innenstadt hatte er von seinem Vater übernommen. Es war ein großer Laden mit angeschlossener Werkstatt; in den Auslagen funkelten Edelsteine, Gold und Silber. Ich hielt uns für steinreich, aber wir waren wohl eher das, was man unter wohlhabend versteht: ein eigenes Geschäft, ein eigenes Haus und genug Geld, um unseren Tisch reichhaltig zu decken und zwei- bis dreimal im Jahr in den Urlaub zu fahren.
Meine Mutter hatte zwar Einzelhandelskauffrau gelernt, aber nie wirklich diesen Beruf ausgeübt und führte stattdessen ein klassisches westdeutsches Hausfrauenleben. Sie stattete unser Haus liebevoll und obsessiv mit ausgefeilter Dekoration aus. Körbe mit getrockneten Blumensträußen, Holzenten, Kunstfiguren, Tiffanylampen, Wohnzimmeruhren in den verschiedensten Ausführungen und Größen sowie teuer gerahmte Familienfotos standen und hingen dicht an dicht, so weit das Auge reichte. Obwohl mit den 80er Jahren auch moderner Kunststoff und Plastik Einzug in Beruf und Haushalt hielten, konnte man bei uns keinen einzigen Einrichtungsgegenstand aus diesen Materialien entdecken, ausgenommen unser efeugrünes Telefon, das wie damals üblich eine Scheibe zum Wählen hatte.
Die von meiner Mutter sorgsam inszenierten Dekorationsgegenstände durften von meinem Vater und mir möglichst nicht berührt und schon gar nicht verstellt werden, woran wir uns auch aus Angst vor der Ordnungs- und Reinlichkeitsmanie meiner Mutter weitgehend hielten. Dennoch saugte, schrubbte, polierte und wischmoppte sie die Wohnung dreimal wöchentlich von oben bis unten. Sie glich einer Naturgewalt, wenn sie ihren Lieblingshit »Das bisschen Haushalt … sagt mein Mann« mit ihrem Staubwedel ekstatisch dirigierte und kokett mitsang.
Ungefähr alle 3 Monate überkam meine Mutter ein Kreativitätsschub und unsere Einrichtung wurde umgestaltet. Möbel wurden gerückt, Bilder ausgetauscht und Holzenten umgesiedelt, bis eine ganz neue Wohnungskomposition gefunden war, die jedoch der vorausgegangenen auf gespenstische Weise ähnelte. Zur Erinnerung musste ich mit unserer Sofortbildkamera Fotos von der Einrichtung machen, bevor die neue Ordnung dem nächsten Kreativitätsschub zum Opfer fiel.
Ich fühlte mich sehr wohl in unserem Haus; nur farblich hätte ich gern ein wenig mehr Abwechslung gehabt. Vor allem wünschte ich mir Neonfarbe, denn ich liebte die leuchtenden Schriftzüge in kitschigen amerikanischen 80er-Jahre-Filmen wie »Flashdance« oder »Jumpin’ Jack Flash«. Allein schon das Wort Flash hörte sich nach Cola, Popcorn und Action an. Bei uns aber liefen meistens »Diese Drombuschs« oder »Die Schwarzwaldklink«. Auf unnachahmliche Weise fügten sich diese Fernsehserien vortrefflich in die Dekoration unseres Hauses ein. Nur »Das Traumschiff« brachte manchmal etwas Exotik in unser Wohnzimmer. Meine Mutter schwärmte für Sascha Hehn, der den Chefsteward Victor spielte. Ich hatte die Vorstellung, dass ihn alle Frauen bewunderten, und wünschte mir, später so auszusehen wie er, um meine Mutter stolz zu machen.
Hinterm Haus lag unsere Terrasse, die von einem weitläufigen und stets sorgfältig getrimmten Rasen umrahmt wurde. Enten und andere Tiere aus Terrakotta bevölkerten ihn wie die Arche Noah. Die Hauptzierde unseres Gartens war allerdings ein prachtvoller Kirschbaum, an dem mein Vater eine Schaukel für mich angebracht hatte, auf der ich gern saß, kleine Liedchen pfiff oder einfach nur vor mich hin träumte.
Im Sommer frühstückten wir gern draußen. Mein Vater legte großen Wert auf ungestörte Gespräche am Esstisch. Wenn er aber nicht dabei war, stellten meine Mutter und ich das Radio in der Küche so laut, dass wir es auf der Terrasse hören konnten. Gern legten wir auch Musik auf, am liebsten Nana Mouskouri, deren Lieder uns immer gute Laune machten. Zu ihrem Hit »Glück ist wie ein Schmetterling« wippte ich rhythmisch auf meinem Stuhl herum, während ich mit einem Perlmuttlöffel das perfekte Frühstücksei aufklopfte.
Neben Dekorieren und Putzen war Kochen die dritte Gottheit, die meine Mutter anbetete. Essen aus Konservendosen war bei uns genauso verpönt wie Plastik. Sogar unser Hund wurde mit Fleischknochen vom Rind, Innereien und Suppenfleisch mit Reis bekocht. Er bekam nur selten Dosenfutter vorgesetzt, das er dann demonstrativ widerwillig hinunterwürgte, obwohl es meine Mutter mit frischen Kräutern verfeinert hatte.
Für die Familie selbst gab es beste deutsche Hausmannskost: Rouladen, Braten, Schnitzel, Steaks, natürlich immer mit Salat- und Gemüsebeilage, Kartoffeln oder Reis und leckerer Sauce. Pommes frites gab es nur selten und natürlich in selbst gemachter Form. Wenn es mal schnell gehen musste, gab es Spaghetti bolognese oder Toast Hawaii. Aber auch nur dann, weil das in den Augen meiner Mutter keine vollwertigen Mahlzeiten waren.
Manchmal wagte sich meine Mutter an fremdländische Rezepte heran: chinesische, thailändische, indische. Sie hatte aber einen Trick, der das Essen am Ende so deutsch schmecken ließ wie Kohlrouladen.
Zum Nachtisch servierte uns meine Mutter Früchtequark, Pudding, Mousse au Chocolat mit Vanillesauce oder eine andere selbst gemachte Süßspeise. Am Wochenende wurde stets gebacken; im Dezember gab es Plätzchen ohne Ende, Weihnachten Gans oder Ente, Silvester Raclette oder Fondue. Den gesamten Winter über war unser Haus erfüllt mit einem Duft aus Gebäckaromen und Früchtepunsch. Das alljährliche Weihnachtswunder war, dass ich nicht wie ein Hefeteig auseinanderging.
Im Grunde verlebte ich eine Bilderbuchkindheit, es fehlte mir an nichts. Tagsüber kümmerte sich meine Mutter liebevoll um mich, und wenn mein Vater abends von der Arbeit nach Hause kam, nahm er sich noch Zeit, um mit mir zu spielen. Mein Kinderzimmer war vollgestopft mit Spielzeug. Lego-Raumschiffe, Playmobil-Piraten, Ritterfiguren und Matchbox-Autos sorgten dafür, dass es keine freien Stellen in Regalen und auf dem Boden gab. Man konnte sich nur tänzelnd in meinem Zimmer fortbewegen. Sogar meine Mutter kapitulierte davor, so etwas wie Ordnung in mein Zimmer zu bringen. Nur unsere Boxerhündin Dunja jagte manchmal wie eine wild gewordene Infanterie durch meine Spiellandschaft, wenn ich vergessen hatte, die Tür zu schließen. Es war ein grausames Gemetzel, Lego-Leichen, wohin man sah.
An den Wochenenden machten wir Ausflüge und Unternehmungen, in den Ferien verreisten wir. Es ging vorzugsweise in etwas bessere Hotels am Gardasee oder an der italienischen Mittelmeerküste, stets in Strandnähe. Meine Eltern bauten dort riesige Sandburgen mit mir, und meine Mutter versuchte sich in Wasserski, zum Amüsement meines Vaters, der alles mit seiner Super-8-Kamera dokumentierte. Es war eine große Herausforderung für meine Mutter, gleichzeitig auf ihre Haltung und den Sitz ihrer Frisur zu achten.
Wenn mein Vater geschäftlich bedingt zu sehr eingebunden war, fuhr ich mit meinem Cousin Moritz und dessen Eltern in den Urlaub; zum Baden nach Teneriffa oder mit einem gemieteten Wohnmobil zum Angeln nach Irland oder Schweden.
Moritz und seine Eltern wohnten im Haus direkt neben uns. Ein Gartentürchen verband die beiden Grundstücke. Tante Thea, die jüngere Schwester meiner Mutter, und ihr Mann Reinhold besaßen mehrere Möbelhäuser in Göttingen und Umgebung. Onkel Reinhold war meines Erachtens noch reicher als mein Vater, weil er einen Mercedes fuhr und mein Vater »nur« einen BMW. Diese Wertung hatte ich von meinem Autoquartett übernommen.
Wenn meine Eltern ausgingen, übernachtete ich stets bei Moritz. Das mochte ich nicht, weil ich sehr an meinen Eltern hing und vor allem Angst um meine Mutter hatte, wenn sie abends nicht zu Hause war. In den Urlauben mit Moritz machte ich mir allerdings keine Sorgen; ich bildete mir einfach ein, dass meine Mutter Tag und Nacht zu Hause wäre und sehnsüchtig auf mich wartete. Was sonst sollte sie auch tun?
Meinen Vater hielt ich für so übermächtig, dass ihm eigentlich gar nichts passieren konnte. Diese Überzeugung war stärker als meine Vernunft. Wenn mein Vater zum Beispiel mit seinem Auto zu einer Uhrenmesse in eine andere Stadt fuhr, war ein Unfall theoretisch zwar möglich, aber praktisch ausgeschlossen. Da war ich mir ziemlich sicher.
Neben Tante Thea gab es auch noch Tante Paula, die jüngste der 3 Schwestern, die als Kindergärtnerin arbeitete und uns oft besuchen kam. Ich fand sie interessant, weil sie ganz anders auftrat als meine Mutter und Tante Thea. Sie trug oft rot gefärbte Haare, riesige Ohrringe, Leggings im Tiger- oder Leopardenlook und über dem Bauchnabel zusammengebundene Blusen mit fetzigen Motiven.
Auch zu meinen Großeltern mütterlicherseits hatte ich einen engen und guten Kontakt, der allerdings weniger wurde, als sie von Göttingen nach Frankfurt am Main zogen. Von meiner Oma väterlicherseits wurde ich einmal in der Woche mit meiner Leibspeise, Kartoffelpuffer mit Apfelmus, verwöhnt. Ich liebte es, in ihren Schränken und Schubladen rumzustöbern, weil fast alles darin alt war und geheimnisvoll wirkte. Ich fühlte mich jedes Mal wie auf einer Schatzsuche. Ich betrachtete auch gern die in Silber gerahmten Schwarz-Weiß-Fotos von meinem Opa, der bereits vor meiner Geburt verstorben war.
Zu Moritz hatte ich ein brüderliches Verhältnis; wir spielten viel miteinander, zankten uns aber auch gelegentlich. Mit meinen Freunden vermied ich Streitereien, weil ich Angst hatte, sie dadurch zu verlieren. Ein Bruder bleibt jedoch ein Bruder, egal wie oft man streitet. Jedenfalls verließ ich mich auf dieses Familienprinzip.
Mein bester Freund war Tobias, der von allen Tobi genannt wurde. Als wir älter wurden und cool sein wollten, fing er an, seinen Spitznamen mit einem »y« am Ende zu schreiben, was ich bis heute boykottiere. Ich finde ein »i« am Ende einfach netter.
Wie alle meine Freunde kam Tobi aus einer gutbürgerlichen Familie. Auf dem Schulhof wurden wir deshalb auch die »Ärzte-Boys« genannt, obwohl Tobi der einzige Arztsohn war. Ich kannte ihn seit der ersten Klasse, hielt ihn aber am Einschulungstag für ein Mädchen, so wie er mich auch.
Wenn ich mir heute Fotos von früher ansehe, kann ich das nicht mehr nachvollziehen. Damals habe ich diese Annahme vor allem an seinen etwas längeren Haaren festgemacht.
Ich selbst hatte auch längere, hellblonde Haare und meine großen blauen Augen unterstrichen mein weiches Aussehen. Da ich Mädchen doof fand, war ich enorm beleidigt, wenn ich für eins gehalten wurde.
Als ich mitbekommen hatte, dass Tobi ein Junge war, wollte ich unbedingt mit ihm befreundet sein und bestand darauf, einen Kurzhaarschnitt zu bekommen. Fortan teilten wir eine Schulbank.
Ich fand Tobi hübsch. Als ich noch gedacht hatte, dass er ein Mädchen wäre, war mir das nicht aufgefallen. Darüber geredet habe ich mit niemandem, denn es schien ein unausgesprochenes Gesetz zu sein, dass Jungen oder Männer das andere Geschlecht hübsch zu finden haben. Allerdings dachte ich nicht viel darüber nach, weil Tobis Aussehen keine größere Bedeutung für mich hatte.
Er war lustig und schlagfertig, ein richtiger Entertainer. Er war immer modisch gekleidet, sah frech und selbstbewusst aus. Seine braunen Haare fielen ihm in einem langen Pony bis vor die Augen, und er musste sie ständig zur Seite herausstreichen. Meine Mutter fand ihn »kess«. Das sagte sie ansonsten nur über Jungs, die im Fernsehen auftraten.
Wir verabredeten uns nahezu jeden Tag. An den Wochenenden übernachtete er bei mir oder ich bei ihm. Wir spielten mit Star-Wars-Figuren, gingen schwimmen, fuhren mit den Fahrrädern herum, böllerten das ganze Jahr über mit Silvesterknallern, gingen mit Erbsen-Blasrohren auf Katzenjagd oder vertrieben uns anderweitig die Zeit. Ich kann mich nicht erinnern, dass uns jemals langweilig war.
Ich hatte liebevolle Eltern, ein schönes Zuhause, einen Cousin direkt nebenan, der für mich wie ein Bruder war, und einen besten Freund. Ich war in der Schule beliebt und schrieb gute Noten. Mein Leben verlief wie in einem Hanni-und-Nanni-Roman für Jungs. So vergingen die ersten 10 Jahre meines Lebens unbeschwert und ohne nennenswerte Katastrophen.
Wie viele andere Jungs auch war ich ein recht unordentliches Kind und musste zum Aufräumen meines Zimmers regelrecht gezwungen werden. In meinem Chaos gab es aber kleine Bereiche, die ich ordentlich hielt. Wenn jene Ordnung durcheinanderkam, war ich nach kurzer Zeit so genervt, dass ich sie wiederherstellte. Es ging mir dabei nicht um Ordentlichkeit, sondern um eine spezielle Ordnung, die mir richtig erschien. Diese konnte sich mit klassischen Ordnungsprinzipien decken, wie zum Beispiel dem Sortieren meiner Stifte nach Farben.
Meist aber war ein spezielles Gefühl ausschlaggebend, dass manche Dinge einfach zusammengehören und andere nicht. Deshalb konnte es vorkommen, dass ein bestimmter gelber Stift bei den roten Stiften einsortiert werden musste. Irgendwann landete dieser gelbe Stift wieder bei den anderen gelben, weil das spezielle Gefühl weggegangen war. Ich sprach mit niemandem über diesen Tick, weil er mir unangenehm war und auch nicht erzählenswert erschien.
Instinktiv wusste ich, dass dieser Tick nichts mit meiner allgemeinen Spiel- und Sortierfreude gemein hatte, eher mit dem Fugentreten, das ich im Alter von 6 oder 7 Jahren eine Weile mit großem Elan ausgeübt hatte. Wenn ich mit meiner Mutter in der Innenstadt einkaufen war, sprang und tänzelte ich neben ihr herum, um auf keinen Fall auf die Ritzen zwischen den Steinplatten zu treten, mit denen die Göttinger Fußgängerzone gepflastert war. Meine Mutter und ich fanden das lustig, manchmal spornte sie mich dabei sogar an. Wenn ich die Regel, die Ritzen nicht zu berühren, verletzt hatte, überkam mich ein seltsames Gefühl, das aber keine weitere Bedeutung hatte. Das Fugentreten hielt nur kurz an, dann verschwand es fürs Erste wieder.
Ich war ein sehr fantasievolles und verspieltes Kind, hatte aber wenig konkrete Interessen und fast gar keine richtigen Hobbys, anders als zum Beispiel mein Cousin Moritz, der mit großer Begeisterung Lego-Technik-Sets zusammenbaute, gern Bücher las oder enthusiastisch mit seinem Chemiebaukasten herumexperimentierte. Auch für das Musizieren konnte ich mich nicht erwärmen. Mit 6 Jahren hatte ich zwar eine grüne Blockflöte bekommen, setzte sie aber nur als Knüppel gegen meine Stofftiere ein, wenn ich schlecht gelaunt war und mich abreagieren wollte.
Alle Versuche meiner Eltern, mich für eine Sportart zu begeistern, scheiterten kläglich. Von Judo über verschiedene Ballsportarten bis Tischtennis probierte ich alles Mögliche aus, hielt aber nie länger als 3 Monate durch. Spätestens dann brachte ich meine Eltern mit Weinkrämpfen, Wutanfällen und vorgetäuschten Verletzungen dazu, mich wieder aus dem Verein zu nehmen.
Die Idee meiner Eltern, dass es helfen könnte, wenn ich zusammen mit Tobi Sport machen würde, ging ebenfalls nicht auf. Unsere Eltern meldeten uns in einem Leichtathletik-Verein an. Da sich aber Tobis Interesse für Sport auf Tischtennisrundlauf in den Schulpausen beschränkte, stachelten wir uns gegenseitig zum Schwänzen an. Statt zum Training zu gehen, kauften wir uns Panini-Sammelbilder am Kiosk, versteckten uns auf einem nahe gelegenen Spielplatz und klebten unser Fußball-WM-Heft von 1986 voll. Besonders faszinierend fand ich die Bilder von den mexikanischen Stadien. Wir waren regelrecht süchtig nach den kleinen Bilderpäckchen und saßen mit unseren Aufklebern zittrig wie Junkies im Gebüsch. Der Schwindel flog auf, als wir von einer Freundin meiner Mutter beobachtet und verpfiffen wurden. Eher enttäuscht als sauer gaben meine Eltern endlich ihre Versuche auf, mich an Sport zu gewöhnen.
Das einzige Hobby, das mir wirklich gefiel, war, Briefmarken zu sammeln – dafür auf eine exzessive Weise. Die ersten Marken hatte ich im Alter von 5 oder 6 Jahren von meiner Oma väterlicherseits geschenkt bekommen. Es waren ausländische Marken mit Strohblumenmotiven, die ich mochte, weil sie mich an unsere Wohnzimmerdekoration erinnerten. Die Marken klebten noch auf Briefumschlägen. Mein Vater zeigte mir, wie man sie in einer Schale mit warmen Wasser ablöste und trocknete.
Mein Interesse wurde dankbar registriert, und ich bekam von meinem Vater und Verwandten ständig neue Marken geschenkt. Manche waren bereits abgelöst, andere noch unbenutzt. Das fand ich besser, weil ich sie direkt in mein großes, in grünes Kunstleder gebundenes Sammelalbum einsortieren konnte.
Ich sortierte die Briefmarken nach Ländern, innerhalb der Ländergruppen allerdings nicht nach Motiven, Ausgabejahr oder aufgedrucktem Wert, sondern nach einem eigenen, sich mir intuitiv aufdrängenden Prinzip: Die Farb- und Größenkombinationen der Marken mussten für mich ein harmonisches Bild ergeben. Das bedeutete, dass ich eine neue Marke nicht einfach in eine bestimmte Reihe einsortieren konnte, sondern gegebenenfalls alle Marken auf einer Seite umsortieren musste, bis sie mit der neuen Marke wieder ein ausgewogenes Gesamtbild ergaben. Das passierte nicht immer, aber es kam oft vor und kostete viel Zeit.
Wenn ich keine neuen Marken zum Ablösen oder Einsortieren hatte, sah ich mir gern meine Sammlung an, immer und immer wieder. Meine Briefmarkensammlung zu betrachten, verschaffte mir ein Glücksgefühl und löste eine tiefe Zufriedenheit mit mir und meinem Leben aus. Ich mochte auch das Gefühl von Kontrolle über meine Sammlung und so füllte sich ein Album nach dem anderen.
Mit der Zeit gewannen die Alben eine immer größere Bedeutung für mich; ich hütete sie wie einen Schatz und überlegte mir sogar Rettungsaktionen für verschiedene Schreckensszenarien.
In der Göttinger Bundeswehrkaserne fand einmal wöchentlich eine Übung statt. In der ganzen Stadt heulten dann die Sirenen los. Eine davon stand auf dem Dach des Nachbarhauses, ihr Geheul drang schrill und laut in mein Zimmer. Immer wenn sie ertönte, sah ich die Horrorbilder eines Krieges vor mir. Meine größte Angst galt dabei meinen Eltern, die zweitgrößte unserem Hund, die drittgrößte meiner Briefmarkensammlung. Ich kam auf die Idee, die wichtigsten Alben in einem Rollkasten aufzubewahren, den ich auf der Flucht hinter mir herziehen könnte. Dieser Rettungsplan beruhigte mich etwas.
Irgendwann war meine Briefmarkensammlung so umfangreich, dass ich manchmal nicht mehr genau wusste, welche Marken ich besaß. Dann überkam mich ein seltsames Gefühl, und der Gedanke, dass sich die Marken, an die ich mich nicht erinnern konnte, aufgelöst hätten, ließ mich nicht mehr los. Diese Vorstellung erschien mir absurd, aber nicht ausgeschlossen. Sie quälte mich vor allem, wenn ich nicht zu Hause war und meine Sammlung nicht überprüfen konnte.
Ich fing an, die Marken jedes Landes zu zählen und mir einzuprägen. Solange ich alle Marken im Gedächtnis hatte, davon war ich überzeugt, würde keine verschwinden können. Bei den fast 40 Alben, die ich mit 10 Jahren mein Eigen nannte, war das kaum zu schaffen, aber mein Gedächtnistraining half mir, die irrationalen Befürchtungen zu verdrängen.
Dieser Tick irritierte mich manchmal, nahm aber keinen übermäßigen Raum in meinem Leben ein, hatte ich meines Erachtens doch eine Lösung gefunden, wie ich mit ihm ganz gut umgehen konnte. Phasenweise spielte er gar keine Rolle.
Mit 11 Jahren erlosch mein Interesse an Briefmarken sozusagen über Nacht, meine Alben verschwanden in Plastiktüten verpackt im Keller. Und mit ihnen ein Stück Kindheit.
»He, was ist das denn?«, Tobi zog die Brauen hoch, während er ein Buch aus dem Bücherregal seiner Eltern zog. Wir waren allein bei ihm zu Hause und vertrieben uns die Zeit damit nachzusehen, ob seine Eltern etwas Spannendes in ihren Regalen stehen hatten. Und jetzt war Tobi fündig geworden.
»Zeig mal her!«
Tobi zog das Buch ganz heraus und drehte es so, dass wir beide das Cover betrachten konnten. Es war knallgelb, nur 4 Wörter standen in schwarzen und roten Großbuchstaben darauf: AMENDT SEX FRONT MÄRZ. Er schlug das Buch hastig auf.
»Wow«, flüsterte Tobi fasziniert, und auch ich hielt den Atem an, als uns ein nacktes Mädchen entgegenlächelte. Ein paar Seiten weiter war ein nackter Junge zu sehen, der ungeniert seine Genitalien zur Schau stellte, dann kam eine Fotoreihe, die einen erigierenden Penis zeigte.
Ich spürte, wie mein eigener Penis steif wurde, und beugte mich etwas vor, damit Tobi nichts davon mitbekam. Aber ihm ging es offenbar genauso, wie ich nach einem schnellen Blick in seinen Schritt bemerkt hatte.
»Geil«, sagte er und sah mich auffordernd an. »Komm, zeig mal, wie das bei dir aussieht!« Tobi deutete auf den erigierten Penis auf der Abbildung.
Ich holte tief Luft, schlagartig war mir heiß geworden. »Nee, ich weiß nicht …«
Aber Tobi grinste abenteuerlustig und knuffte mich in die Seite. »Los, komm, wir gucken beide mal!« Er warf das Buch auf den Boden, öffnete sich die Jeans und zog sie mitsamt seiner Unterhose herunter.
Wir waren beide vor Kurzem 11 Jahre alt geworden und noch nicht in der Pubertät; Tobis kahle Hoden und sein Penis waren noch nicht sonderlich weit entwickelt. Dennoch fühlte ich mich bereits jetzt, ohne dass etwas passiert war, nicht mehr unschuldig. Instinktiv wusste ich, dass diese Situation eine Wegmarke war. Nur in welche Richtung sie wies, das war mir in diesem Moment noch nicht klar.
Tobi sah mich abwartend an und nahm seinen Penis zwischen Daumen und Zeigefinger, um daran zu reiben. Auf zittrigen Beinen ließ ich ebenfalls meine Hosen herunter.
Das gleißende Licht der Januarsonne schien von hinten durch die nur halb geöffneten Jalousien ins Zimmer, und die Kuckucksuhr, die sich Tobis Eltern spaßeshalber aus ihrem letzten Schwarzwaldurlaub mitgebracht hatten, tickte leise, als wir beide uns dicht voreinander stellten und unsere Pimmel verglichen. Mir war furchtbar heiß, und das Blut stieg mir in den Kopf.
»Kuckuck«, tönte es plötzlich, und der kleine Holzvogel sah neugierig aus seiner Uhr heraus. Wir erschraken und mussten im nächsten Moment laut lachen. Ich war erleichtert, dass sich die Spannung kurz löste, und Tobi bückte sich, um weiter in dem Buch zu blättern.
»Oh, guck mal, hier steht, wie man …« Er hob das Buch auf und hielt es mir hin; es war eine Art Anleitung zur Selbstbefriedigung. Tobi überlegte nicht lang. »Also, guck mal Olli, so muss man die Hand drumlegen …« Er blinzelte mir zu und begann, sich zu befriedigen. Nach einem Moment tat ich es ihm gleich.
Als wir gemeinsam onanierten, durchzuckte es mich wie Elektrizität. Ich spürte, dass es mir dabei nicht nur um mich ging; auf eine bislang unbekannte Weise fühlte ich mich von Tobi angezogen. Ohne mich vorher bewusst mit Homosexualität beschäftigt zu haben, war es mir sonnenklar: Ich mochte Jungs. Ich war hin- und hergerissen, fand dieses Erlebnis beängstigend, aber zugleich auch schön und aufregend. Eines wusste ich jedoch ganz genau: Es darf niemand davon erfahren! Niemals!
Mitte der 80er Jahre war das Thema Homosexualität bei Weitem nicht so gegenwärtig wie heute, geschweige denn so selbstverständlich, wie es manchmal in den Medien den Anschein hat. Im Gegenteil, der Paragraph 175 des Strafgesetzbuches, der Sex zwischen Männern reglementierte, existierte noch, und es war die Zeit, als die Angst vor Aids eine reißerische Schlagzeile nach der nächsten produzierte. Aids, so die landläufige Meinung in diesen ersten, unaufgeklärten Jahren, bekämen nur Schwule und Junkies, Aids wäre die gerechte Strafe für ihren sündigen Lebensstil. Nicht nur in den USA, unter der reaktionären Ägide von Präsident Ronald Reagan, herrschte Hysterie, sondern auch in Deutschland gab es etablierte Politiker wie Peter Gauweiler, der Menschen mit Aids in Lager stecken wollte. Die Homosexuellen, die sich gerade mithilfe der in den 70ern neu formierten Schwulenbewegung eine gewisse, wenn auch brüchige Toleranz erkämpft hatten, sahen sich einer neuen Diskriminierungswelle ausgesetzt.
Als 11-Jähriger verfolgte ich die politische Diskussion über Aids und Homosexualität nicht. Ich wusste nur, dass es Schwule gibt und Homosexualität als etwas Schlimmes und Verwerfliches galt. Es hieß, dass Schwule pervers seien, weil sie ihre Schwänze in Männerärsche stecken. Nicht nur andere Kinder fanden das ekelhaft, sondern vor allem Erwachsene. Ansonsten sprachen sie nie so explizit über Sexualität, sondern von Bienchen und Blümchen.
Ich hatte gar nicht das Bedürfnis, meinen Pimmel in den Po eines Jungen zu stecken. Diese Vorstellung erschien mir allerdings eher kurios und seltsam als abartig, genauso wie Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau.
Ich für meinen Teil fühlte mich einfach zu Tobi hingezogen, wollte viel Zeit mit ihm verbringen und Spaß haben. Ich wollte ihn aber auch berühren – und gern genauso wie an diesem viel zu schnell vergangenen Januarnachmittag im Wohnzimmer seiner Eltern.
Ab sofort schämte ich mich für diese Gefühle. Ich hatte Angst, als pervers zu gelten. Ich konnte meine Homosexualität zwar nach außen verbergen, aber innerlich nicht unterdrücken. Einerseits wünschte ich mir meine Empfindungen weg, aber andererseits fühlte es sich unglaublich toll an, wenn ich an einen Jungen dachte, den ich attraktiv fand.
Neben ein paar Jungs in meinem Alter – in der Schule, in der Nachbarschaft, im Schwimmbad – schwärmte ich für David Hasselhoff aus der Fernsehserie »Knight Rider«. Er entsprach meinem männlichen Ideal: attraktiv, stark, mutig, abenteuerlustig und eins mit seinem Auto. So ähnlich sah ich auch meinen Vater.
Auch mit Tobi sprach ich nicht über meine Empfindungen. Ich spürte, dass er sich nur für seinen Pimmel interessierte, Mädchen waren für ihn noch kein Thema. Zu meiner Freude, die jedoch immer mit zwiespältigen Gefühlen vermischt war, wiederholten wir auf seine Initiative hin das gemeinschaftliche Onanieren in regelmäßigen Abständen. Es ging ihm dabei lediglich um seine Befriedigung und darum, dieses Erlebnis mit einem Freund zu teilen, wie ein Abenteuer. Mehr war da nicht.
Das Leben in meinem Hanni-und-Nanni-Roman wurde komplizierter. Bei Hanni und Nanni gab es überhaupt keine Schwulen. In meinem Leben gab es auch keine Schwulen. Ich war allein.
Ich schämte mich, der Sohn meines Vaters zu sein, den ich sehr bewunderte. Er war groß, kräftig, wirkte überlegen, versorgte und beschützte uns. Es imponierte mir, dass er als junger Mann bei der Luftwaffe gedient hatte, Fallschirmspringer und Kapitän einer Wasserhandballmannschaft der Bundeswehr gewesen war.
Schwule waren vom Hörensagen ganz anders: weich, ängstlich, unsportlich, so wie ich. Und dementsprechend ergab es plötzlich Sinn, dass ich keinen Fußballsport mochte, ein sogenanntes Mama-Kind war und viel weinte. Manche nannten mich einen Mäkelfritzen, weil ich bestimmte Lebensmittel wie Käse nicht aß.