Der Zirkel - Lizzy Fry - E-Book

Der Zirkel E-Book

Lizzy Fry

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Beschreibung

Magie ist real. Seit Jahrhunderten vererben Hexen ihre Kräfte an ihre Töchter weiter. Kräfte, die sie einsetzen, um anderen zu helfen, um ihre Mitmenschen zu heilen. Doch als in den USA ein neuer Präsident gewählt wird, ist von einem Tag auf den anderen nichts mehr wie es vorher war. Magie ist gefährlich, sagt er. Hexen müssen ins Gefängnis, sagt er. Es ist zu ihrem eigenen Schutz, sagt er. Frauen auf der ganzen Welt stehen mit einem Mal unter Generalverdacht, und die Sentinels, eine Spezialeinheit des Geheimdienstes, eröffnen eine neue Hexenjagd rund um den Globus. Gleichzeitig entdeckt eine junge Frau in England ihre Macht und führt alle Frauen – ob nun Hexe oder nicht – zu einer neuen Freiheit ...

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Das Buch

Jahrhundertelang gehörte Magie zum Alltag der Menschen. Ganz selbstverständlich wurde sie von der Mutter an die Tochter weitergegeben. Als mit Michael Hopkins ein neuer US-Präsident an die Macht kommt, ändert sich das politische Klima – statt als Heilerinnen verehrt, werden Hexen nun misstrauisch beäugt. Dann kommt es beim Zusammentreffen eines Hexenzirkels in Stonehenge zur Katastrophe: Die Magie gerät außer Kontrolle, zahllose Menschen sterben. Für Präsident Hopkins und seine konservative Partei ist dies ein willkommener Anlass, um eine neue Hexenjagd anzuzetteln. Weltweit werden magiebegabte Frauen von nun an verfolgt und eingesperrt. Eine von ihnen ist die junge Ärztin Adelita, die bis zu ihrer Verhaftung gar nichts von ihrer Gabe wusste und nun ihre Tage in einem texanischen Gefängnis fristet. Bis ihr eines Tages mithilfe des abtrünnigen Hexenjägers Ethan die Flucht gelingt. Zur gleichen Zeit entdeckt die britische Studentin Chloe Su ihre Macht und gerät prompt ins Visier der Behörden. Sowohl Chloe als auch Adelita kennen nur ein Ziel: den geheimen Hexenzirkel in Boscastle, England. Denn dort darf Magie noch praktiziert werden. Und dort beginnt der große Kampf um die Freiheit …

Die Autorin

Lizzie Fry ist das Pseudonym einer international erfolgreichen Schriftstellerin und Drehbuchautorin.

Aus dem Englischen

übersetzt von Beate Brammertz

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der englischen Originalausgabe: THE COVEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 09/2021

Redaktion: Lisa Scheiber

Copyright © 2020 by Lizzie Fry

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München,

unter Verwendung des Originalentwurfs von Charlotte Stroomer

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-26678-3V001

www.heyne.de

Für Laura,

Du bist die Eine.

Deine Tante L

Die Verkündigung der Elementaren

Wir sind alle Körner in der Erde.

Wir wurden vom Feuer getauft, vom Wasser des Lebens genährt, von der Luft gespeist.

Gemeinsam rufen wir die Eine an: Verbinde uns durch die Kette des Seins, und erlöse uns von den Fesseln, die uns knebeln.

ERSTER TEIL

PROLOG

Grünes Licht drang unter der Schlafzimmertür hervor.

Der Anblick ließ Li erst mitten in der Bewegung erstarren und dann zurückweichen, bevor der Wäschekorb, den sie in Händen hielt, auf den Boden polterte. Mit aller Macht wehrte sich ihr Verstand gegen die Erkenntnis. Sie hatte zu den Drei Göttinnen gebetet, dass dies niemals passieren durfte. Ihr Herzschlag donnerte in ihren Ohren, Panik stieg in ihr auf.

Der Tag, vor dem Li die Augen verschlossen hatte, war gekommen.

Bis zu diesem Moment war es ein völlig normaler Freitag im März gewesen. Li hatte die Betten abgezogen, wie immer am Ende der Woche, wenn Chloe gegen Mittag nach den letzten Vorlesungen vom College zurückgekehrt war. Wie üblich hatte Li ihre Tochter gefragt, wie ihr Tag gewesen sei, wie üblich hatte Chloe sie mit ihrer spöttischen Art abblitzen lassen. Li versuchte, über solchen Dingen zu stehen. Seit Chloes Pubertät etwa im Alter von vierzehn eingesetzt hatte, hatte das Mädchen unmissverständlich klargestellt, dass es keine Zeit für seine Eltern hatte. Mit neunzehn, nun fast zwanzig Jahren hätte sie solchen kindischen Machtspielchen entwachsen sein müssen, aber Li wusste, dass es nicht gänzlich die Schuld ihres einzigen Kindes war.

Als Li das grüne Licht sah, das sich auf dem Boden wie eine Flüssigkeit sammelte, wusste sie, dass es allein ihre war.

Angst krallte sich in ihr fest, gefolgt von Schuldgefühlen. Wie in einem Albtraum fühlten sich ihre Knochen betonschwer an. Sie zögerte, nicht in der Lage, den Arm zu heben, um die Tür aufzustoßen und das Zimmer zu betreten. Tränen zurückblinzelnd, die an ihren Lidern brannten, zog sie ihr Handy aus der Jeanstasche und drückte auf ihre Anrufliste. DANIEL war der erste Name, der dort erschien. Li traf im Alltag eigentlich nur zwei Menschen: Daniel und Chloe. Abgesehen von einem Dutzend Facebook- und Twitter-Followern, mit denen sie sich regelmäßig online austauschte, hatte sie im realen Leben kaum Freundschaften und arbeitete von zu Hause. Ihre Liebe fürs Reisen und ein Abschluss an einer britischen Universität vor zwanzig Jahren hatten dazu geführt, dass sie sich auf der anderen Seite der Welt ein Leben aufgebaut hatte. Zu spät erkannte sie, dass sie, wo es nun wirklich darauf ankam, isoliert und allein war.

Endlich gelang es Li, auf die Nummer ihres Mannes zu tippen und ihn anzurufen.

»Hi.« Daniels raue Stimme dröhnte in der Leitung.

»Du musst …«

Die Mailbox hatte sich eingeschaltet. Er hatte überhaupt nicht geantwortet. Die Nummer wegdrückend fluchte Li auf Mandarin, der Klang ihrer Muttersprache in ihren eigenen Ohren misstönend. Ihre Hände zitterten so stark, dass ihr fast das Handy entglitten wäre. Umständlich wählte sie erneut, während in ihrem Innern Wut und Angst aufeinanderprallten. Diesmal musste Daniel drangehen. Unbedingt. Allein konnte sie nicht damit fertigwerden. Nicht mehr. Sie würde ihm alles erklären.

Chloe hatte nie zu der Sorte Teenager gehört, die sich betrank oder Drogen nahm, deswegen hatte Li sich nie Sorgen gemacht, ihre Tochter könnte eines Tages schwanger nach Hause kommen. Gelegentlich hatte sie sich gewünscht, es könnte so einfach sein. Zumindest wären sie auf diese Weise gezwungen, ihren Problemen als Familie die Stirn zu bieten und gemeinsam eine Lösung zu finden. Doch Chloes ständig schwelender Zorn flammte scheinbar ohne Grund oder Ziel auf.

Im Lauf der Jahre hatte Li gesehen, wie Chloe immer und immer wieder buchstäblich vor Wut platzte. Bei diesen Tobsuchtsanfällen schrie Chloe vor unbeherrschter Frustration und schlug sich mit den Fäusten gegen den Kopf, als wollte sie sich das Gehirn aus dem Schädel prügeln. Ihre Hände verwandelten sich in Waffen, mit denen sie sich Gesicht und Arme zerkratzte. Li musste dann gewaltsam Chloes Hände wegreißen und sie ihrer Tochter an die Seiten pressen, bis sie beide in entsetztem Schweigen auf dem Boden zusammenbrachen und Chloe verstört gegen die Wand starrte, unfähig, ein Wort zu sagen. Das Mädchen blieb normalerweise mindestens eine Stunde in dieser Position liegen, manchmal sogar länger, wenn der Anfall besonders heftig war.

Jedes Mal, wenn Chloe tief in ihrem Innersten verschwand, fragte sich Li, ob sie jemals wieder den Weg zurückfinden würde. Li sah dann die Angst und Verwirrung in den Augen ihrer Tochter, fühlte sich jedoch außerstande, ihr zu helfen. Sie und Daniel hatten Chloe zu Psychiatern, Therapeuten und Neurowissenschaftlern geschickt. Die hatten sich Zweit-, Dritt-, Viertmeinungen eingeholt – bevor das Geld knapp geworden war. Sämtliche Spezialisten hatten Chloe gründlichen Tests unterzogen. Alle hatten Chloe einen einwandfreien Gesundheitszustand attestiert und ihre Zustände lediglich als »Wachstumsschmerzen« oder »Verhaltensauffälligkeiten« bezeichnet.

Li hatte diese Diagnosen mit Erleichterung aufgenommen, aber nicht, weil mit ihrem Kind alles in Ordnung war. Sie hatte immer gewusst, dass Chloe anders als andere war, und das von dem Moment an, als die Hebamme sie ihr auf die Brust gelegt hatte. Sie hatte gefühlt, wie sich etwas in den winzigen Muskeln ihrer Tochter rührte, so offensichtlich wie das Blut, das durch ihre Adern pulsierte.

Das Telefon klingelte und klingelte. Selbst durch den schmalen Spalt unter der Tür erkannte Li, dass das grüne Licht stärker wurde, spürte seine zunehmende Macht. Ihre panischen Gedanken blitzten durch ihren Verstand wie die unzähligen Reflexionen in einem Spiegelkabinett. Hatte sie wirklich geglaubt, dieser Tag würde nie kommen? Dass sie ihn auf ewig hinauszögern könnte?

Erneut sprang die Mailbox an. Während Li wartete, bis die Ansage endete, wurde sie sich eines dröhnenden Summens hinter Chloes Schlafzimmertür bewusst. Das Brummen hatte die Intensität eines Flugzeugtriebwerks, dessen Lautstärke mit jeder Sekunde exponentiell zunahm. Li konnte es bis in ihr Innerstes spüren, es ging ihr durch Mark und Bein.

Schließlich, am anderen Ende der Leitung: Piep.

»Daniel? Oh, Daniel. Du musst sofort nach Hause kommen!«

Mit einem jähen Anflug von Mut, beflügelt von Fatalismus oder vielleicht dem fernen Trost, mit Daniels Anrufbeantworter verbunden zu sein, schob Li die Tür auf, um sich dem entgegenzustellen, was sie auf der anderen Seite erwartete. Bei dem folgenden Anblick fiel ihr das Handy aus der Hand.

Chloe hockte auf ihrem Bett, das Gesicht nach oben gewandt, die Augen glasig vor Konzentration. Sie saß im Schneidersitz da, die Handflächen wie erstarrt vor sich ausgestreckt, als wollte sie einen Ball auffangen. Grünes Licht schoss in einem Strudel aus ihren Händen. Sobald es die Decke berührte, kroch es wie ein lebendiges Wesen über den Verputz. Die Fensterscheibe ratterte in ihrem Rahmen, Bücher in den Regalen fielen um, ein Glas auf Chloes Nachttisch explodierte, spritzte Wasser und Glasscherben gegen die Wand. Li spürte, wie pure Macht, die ihre Zähne zum Klappern brachte, über den Boden auf sie zuströmte. Während sie entsetzt zu ihrer Tochter starrte, machte sich – neunzehn Jahre zu spät – eine Erkenntnis in Lis Gehirn breit.

Sie hatte auf ganzer Linie versagt, ihr kostbares Kind zu beschützen.

»Chloe! Chloe, sieh mich an!«

Lis Stimme wurde vom Lärm übertönt, der Chloe umhüllte. Die Luft wirbelte herum, wie direkt am Anfang eines Sturms. Obwohl die Entfernung von der Tür bis zu Chloes Bett nur einen guten Meter betrug, schwankte Li, als würde sie gegen Orkanböen ankämpfen, ihre Tochter kilometerweit entfernt. Der Geruch von Ozon, stark wie Chlor, griff Lis Nasenlöcher und Kehle an, während sie redete, ließ sie würgen und ihre Augen tränen. Trotzdem zwang sie sich, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Sie musste es schaffen. Sie musste versuchen, Chloe zu erreichen, sowohl physisch als auch psychisch, musste an das Mädchen herankommen, das jetzt tief in seinem Innern verloren war.

Li schaffte es zum Bett. Sie streckte den Arm aus, packte Chloe an der Schulter. »Chloe, Liebling, nicht! Ich werde dir alles erklären …«

Lis Worte blieben ihr im Hals stecken, als ihre Tochter den Kopf von dem Strudel aus grünem Licht wegdrehte. Entsetzt und starr vor Schock ließ Li ihre Hand von Chloes Schulter sinken. Die Augen ihrer Tochter waren schwarz und schimmerten wie der Panzer eines Käfers. Ohne Pupillen, ohne den kleinsten Fleck Weiß war der Blick, den Chloe ihrer Mutter zuwarf, bar jeder Menschlichkeit.

»Was hast du mir angetan, Mutter?«, zischte Chloe.

Das grüne Licht rollte wie eine Flutwelle auf Li zu.

1

Texas, USA

Das Bewusstsein kehrte wie ein Schnellzug zu Adelita zurück. In der einen Sekunde war sie ohnmächtig, in der nächsten wieder klar. Es gab nichts dazwischen.

Ihre Augen öffneten sich jäh, und die Realität überschwemmte ihre Sinne. Bis sie ihre Umwelt scharf sehen konnte, dauerte es etwas länger. Polyestervorhänge flatterten vor den Fenstern, dahinter huschte eine Silhouette vorbei. Draußen konnte Adelita das Summen eines Cola-Automaten hören und das Geräusch des Eisspenders. Sie lag auf einem Doppelbett mit fleckigem Laken, ein billiger Sperrholznachttisch daneben. Ohne nachzusehen, wusste sie, dass eine Bibel in der obersten Schublade liegen würde. Sie befand sich in einem billigen Hotel, irgendwo in einer Seitenstraße. Wie war sie hierhergekommen?

Adelita konnte nicht annähernd so schnell aufstehen, wie sie zu sich gekommen war. Bleierne Müdigkeit hatte sich um ihre Knochen gekrallt, ihre Beine waren unsäglich schwer. Ganz die Ärztin, untersuchte sie sich selbst. Ihre Arme und Beine waren zerkratzt und mit blauen Flecken übersät, mehrere Fingernägel waren blutig. Ein Zittern hatte ihre Hände und Schultern gepackt. Ihr Herz trommelte gegen ihren Brustkorb.

Sie drückte zwei Finger auf die Innenseite ihres Handgelenks: Ihr Puls war definitiv über hundert. Helle Punkte wirbelten vor ihren Augen, trotz der Düsternis im Zimmer. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie angenommen, eine zweitägige Sauftour hinter sich und jetzt einen gewaltigen Kater zu haben. Doch selbst trotz der blinden Flecken in ihrem Gedächtnis wusste Adelita, dass sie seit sehr langer Zeit keinen Schluck Alkohol mehr getrunken hatte. Was zum Teufel war ihr nur widerfahren?

»Verdammte Scheiße noch mal!«

Wer war das? Ihr Herz vollführte einen schmerzhaften, erschrockenen Salto in ihrer Brust. Die Stimme war männlich, ein tiefes Knurren, und kam aus dem angrenzenden Bad. Vom Bett aus konnte sie weder um die angelehnte Badezimmertür spähen, um den Besitzer der Stimme in Erfahrung zu bringen, noch erraten, zu wem sie womöglich gehörte. Mehrere Gesichter, hauptsächlich weiblich, blitzten in ihrem Kopf auf. Namen drifteten an die Oberfläche ihres Bewusstseins: Elinor … Maddie … Claire … Yukio. Sie war bei diesen Frauen gewesen, hatte sie gekannt. Aber woher? Wo? Gedanken schwirrten kreischend durch ihr Gehirn, während sie versuchte, sich zu konzentrieren, doch sie war zu erschöpft, um klar zu denken.

Adelita schwang die nackten Füße über den Rand des Betts und machte unbeholfen zwei, drei schwankende Schritte wie ein neugeborenes Fohlen. Hastig blickte sie sich im Zimmer nach etwas um, das sie als Waffe benutzen konnte. Sie musste nicht lange suchen, ein 1873er Colt Single Action Army lag auf dem billig aussehenden Sideboard, sein kalter Stahl glitzerte im matten Licht der Lampe. Adelita schnappte ihn sich und fühlte sich mit seinem Gewicht in ihren Händen gleich etwas besser. Ihr Vater hatte Colts bevorzugt, einen immer zusammen mit einer Schrotflinte unter der Theke seiner Bodega aufbewahrt. Ernesto Garcia hatte Adelita und ihren Schwestern eingebläut, dass Waffen in jedem zivilisierten Land verboten gehörten. Allerdings merkte er auch an, dass die Vereinigten Staaten kein bisschen zivilisiert waren. Es war Ernesto ein echtes Anliegen gewesen, dass alle seine Mädchen das Schießen erlernten.

Adelita überprüfte, dass die Waffe geladen war, und taumelte weiter zum Bad, um zu versuchen, einen flüchtigen Blick auf den Fremden dort drinnen zu erhaschen, bevor sie sich zu erkennen gab. Als sie verstohlen durch den Türspalt lugte, sah sie eine weitere Handfeuerwaffe, abgelegt im Waschbecken wie eine Dose Rasierschaum. Neben dem Wasserhahn, wo eigentlich die Seife hingehörte, stand eine geöffnete Flasche Jack Daniel’s, die zur Hälfte geleert war.

Ein weißer Mann saß auf dem Rand der Badewanne.

Er hatte ihr den Rücken zugekehrt, aber selbst im Sitzen wusste Adelita, dass er nicht besonders groß war, vielleicht einen Meter fünfundsiebzig, nur fünf Zentimeter größer als sie selbst. Der Mann trug kein T-Shirt, war schlank, aber breitschultrig. Sie konnte seine Rippen und die Muskeln zählen, die sich unter seiner Haut spannten. Was auch immer ihm an Größe fehlte, machte er mit seiner Stärke und Jugend wett. Knapp dreißig – gute zehn Jahre jünger als sie. Seine schwarze Hose war so tief nach unten gezogen, dass sein Hintern fast herausschaute. Ein schwarzes Hemd, reich bestückt mit goldenen Rangabzeichen an den Schultern, lag achtlos weggeworfen am Boden. Seine Stiefel, die neben der Toilette gelandet waren, glänzten wie frisch poliert. Seine blonden Haare waren kurz geschoren. Auch wenn er nur halb bekleidet war, haftete Blondie die unverwechselbare Aura des Militärs an.

Er war ein Sentinel.

Da drehte er sich weg, um die Verletzung an seiner Seite, oberhalb der Hüfte zu versorgen. Es sah wie eine Schusswunde aus, ein glatter Durchschuss. Er wollte sie selbst nähen, doch die Lage erschwerte es ihm. Dank all der Jahre, in denen Adelita sich in der Notaufnahme um Opfer von Schießereien gekümmert hatte, wusste sie, dass er Riesenglück gehabt hatte, auch wenn es ihm wahrscheinlich nicht so vorkam. Selbst kleinere Schusswunden taten verdammt weh. Nach einem weiteren Stöhnen schnappte er sich die Flasche Jack Daniel’s vom Waschbecken und nahm, eine Grimasse ziehend, einen großen Schluck.

Adelita stieß die Tür mit ihrem nackten Fuß auf. »Wer zum Teufel sind Sie?«

Sie hob genau in dem Moment die Waffe, als er sich zu ihr umdrehte. Beim Anblick seines Gesichts stieg unwillkürlich eine Flut von Erinnerungen in ihr hoch und hämmerte auf ihre Sinne ein.

Der blonde Sentinel rannte direkt auf sie zu.

Sie ließ die Waffe sinken, während sie schwankend nach dem Türrahmen des Badezimmers griff, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Das Gefühl, im Schnellvorlauf zu stecken, als würde sie sich in Überschallgeschwindigkeit zwischen zwei Daseinsebenen hin- und herbewegen.

Im Badezimmer trat Blondie einen Schritt vor.

»Nicht!«

Adelita stieß die Warnung zu spät aus, obwohl der Mann sich nicht auf die Waffe stürzte. Seine rauen Hände packten sie an der Hüfte, hielten sie aufrecht. Bildblitze peitschten durch ihr Gehirn:

Ihre Faust, die wie ein Leuchtturm glühte.

Blondie, der von einem Strahl weißen Lichts in die Brust getroffen wurde und niedersank, als wäre er ein Rammbock.

Adelita stieß den Mann von sich weg und hob wieder die Waffe, den Finger auf dem Abzug. Da bemerkte sie die Rinnsale von getrocknetem Blut aus Blondies Ohr, seine aufgeplatzte Lippe. Adelita taumelte leicht, als eine Erkenntnis sich in ihrem Bewusstsein breitmachte.

»Das habe ich Ihnen angetan.«

Blondie nickte.

»… Ich war im Gefängnis.«

»Genau. Our Lady of Nazareth, Texas.«

Adelita lachte über sich selbst, als es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. »Das ist ein Gefängnisausbruch. Ich bin nicht Ihre Geisel, Sie sind meine!«

Blondie verzog das Gesicht. »Nicht ganz.«

»Was soll das heißen?«

»Wäre ich wirklich Ihre Geisel, glauben Sie nicht, ich hätte mich nicht einfach aus dem Staub gemacht, als Sie geschlafen haben, und wäre mit einem Haufen Sentinels zurückgekommen?«

Adelitas übermüdeter Verstand zählte zwei und zwei zusammen. Er hatte recht.

»Ich bin also geflohen … und Sie sind mitgekommen.«

»Yep.«

Blondie ging einen Schritt von ihr weg, schwankte – ob vom Bourbon oder vor Schmerz, das konnte Adelita nicht sagen. Sichtlich erschöpft stützte er sich mit beiden Händen am Waschbecken ab. Warum sollte ein Sentinel zusammen mit einer Hexe aus einem Hochsicherheitsgefängnis fliehen? Er war ein freier Mensch. Am Ende seiner Schicht hätte er einfach aus dem Gefängnis spazieren können. Er müsste nicht hier sein, bei ihr.

»Keine Bewegung.« Adelita zwang einen drohenden Unterton in ihre Stimme.

Doch Blondie fing ihren Blick im Badezimmerspiegel auf. »Sie und ich wissen beide, dass Sie mich nicht erschießen werden. Apropos, vielen Dank.«

Adelita starrte zurück, überrumpelt. »Äh … keine Ursache?«

Sie beobachtete im Spiegel, wie sie die Pistole sinken ließ, und bemerkte jäh, dass sie nur in Unterwäsche dastand, so gut wie nackt war. Ihn schien es nicht zu stören, selbst nur halb bekleidet zu sein. Sie hätten ein Ehepaar auf einem Low-Budget-Roadtrip sein können. Einem, bei dem sie das Bewusstsein verloren hatte und er angeschossen worden war. Zwischen ihnen beiden war eine Vertrautheit, die Adelita nicht erklären konnte. Doch es gab eine Sache, die sie unbedingt wissen musste.

»Wo verdammt noch mal ist meine Kleidung?«

Der Sentinel hob beide Hände, diesmal in gespielter Kapitulation. »Dafür kann ich nichts. Sie haben Ihre Gefängnissachen auf dem Beifahrersitz ausgezogen und aus dem Fenster geworfen.«

Adelita ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen. Es klang tatsächlich wie etwas, das sie womöglich getan hatte. Sie hatte das kratzige Material ihrer Uniform gehasst, ebenso den Umstand, dass ihre purpurne Farbe sie als eine Hexe von den Frauen in Orange abhob, den »Goodys«. Abgeleitet von der altertümlichen Ansprache »goodwife« war dies nun die Bezeichnung für Nichthexen. Wie auch immer man es drehte und wendete, war das Wort ein völlig unzutreffender Name für die Gefangenen, mit denen sie zusammen eingesperrt gewesen war. In Our Lady hatte sie Seite an Seite mit Mörderinnen und brutalen Gangmitgliedern gelebt. Adelitas einziges Verbrechen war ihr starker magischer Stammbaum, ihre Existenz an sich gewesen.

»Was ist das Letzte, woran Sie sich erinnern?«

Blondie schnallte sich den Gürtel wieder zu und setzte sich zurück auf den Badewannenrand. Bevor Adelita eine Antwort geben konnte, löste ihr Gehirn das Rätsel. Unzusammenhängende Geräusch- und Bilderfetzen blitzten vor ihrem geistigen Auge auf. Im Staub des Gefängnishofs, unter der gnadenlosen Sonne von Texas: ein Kieselstein, in dem eine Schicht Quarz durchschimmerte. Adelita, die nicht glauben konnte, was sie da sah, denn immerhin wurde das Gefängnis täglich nach Kristallen abgesucht, nur für alle Fälle. Verstohlen hatte sie ihn aufgehoben.

»Para ti, Madre«, hatte Adelita in ihre geschlossene Hand geflüstert.

Für dich, Mutter.

Dann barst weißes Licht von der Kraft eines Blitzes aus ihrer Faust.

Ihr Blick begegnete dem des Sentinel. »Sie haben den Kristall absichtlich für mich im Gefängnishof versteckt?«

Er nickte wieder. Schuldig im Sinne der Anklage.

»Woher wussten Sie, dass es funktionieren würde?«

Er zuckte mit den Achseln. »Wusste ich nicht. Ich hatte es nur gehofft.«

»Ich hätte es auch allein geschafft, irgendwann von dort auszubrechen. Irgendwie.«

»Ich weiß.« Er grinste sie an. »Ich wollte den Prozess nur ein wenig beschleunigen … Irgendwie gefällt mir Ihr Temperament.«

Adelitas Stirn zog sich argwöhnisch zusammen. »Warum? Was versprechen Sie sich von alldem?«

Blondie nahm einen weiteren Schluck von seinem Jack Daniel’s und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Ich habe es satt, auf der falschen Seite zu stehen.«

Adelita ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen, während sie auf seiner nackten Brust die Sentinel-Tätowierung musterte, eine Abbildung der Erde als Pupille in einem Auge, kreisförmig eingeschlossen von dem lateinischen Wahlspruch Si vis pacem, para bellum. Wer den Frieden sucht, bereite den Krieg vor. Und genau so sahen Leute wie er die Welt: schwarz und weiß, gut und böse, gewinnen und verlieren. Er hatte auf der Gewinnerseite gestanden. Irgendwann im Lauf der Zeit hatte er wohl seine Meinung geändert.

»Wir sollten unsere Sachen packen.«

»Wohin gehen wir?«

»Lassen Sie das fürs Erste meine Sorge sein.«

Adelitas Verstand schwirrte durch alles, was geschehen war, suchte nach Erklärungen. Was könnte sie jetzt tun? An wen könnte sie sich wenden? Ihr fiel nichts ein. Sie besaß kein Geld. Keine Kleidung. Ihr Gesicht wäre längst auf allen Fernsehkanälen, höchstwahrscheinlich gab es einen Tötungsbefehl für sie. Würde sie zurück nach Our Lady gebracht werden, wäre ihr nächstes Ziel Hof B, wo sie die lästigen Hexen wegsperrten. Allein bei dem Gedanken drehte sich ihr der Magen um: Sie konnte nicht zurück. Sie würde niemals zurückkehren; etwas in ihr wusste, dass sie eher sterben würde. Es war eigenartig – und irritierend –, dass dieser Kerl ihr allem Anschein nach helfen wollte. Sie konnte sich keinen Grund ausmalen, warum ein Sentinel in einer Strafvollzugsanstalt vorsätzlich eine Hexe aus dem Gefängnis befreien sollte. Ihr blieb nichts weiter übrig, als ihn beim Wort zu nehmen. Zumindest vorerst.

»So geht das nicht.« Adelita zeigte auf die ausgefransten Stiche an seiner Seite. »Lassen Sie mich mal. Ich bin Ärztin – oder war es zumindest mal.«

Blondie grinste sie an. »Echt?«

Adelita spürte, wie Verärgerung durch sie hindurchpeitschte. »Warum überrascht Sie das so?«

»Sie sind ganz schön ausgekocht für eine Studierte. Ich habe Sie auf den Überwachungskameras im Gefängnis beobachtet. Sie haben sich dort drinnen von niemandem rumschubsen lassen.«

»Weil Frauen nur das Eine sein dürfen, ja?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

Blondie blieb auf dem Rand der Badewanne sitzen, während Adelita sich neben ihn kniete. Jedes Mal, wenn sie einen seiner dilettantischen Stiche auftrennte, verzog er schmerzgepeinigt das Gesicht. Es war eine Weile her, seit sie als Assistenzärztin in einem der hektischsten Krankenhäuser New Yorks gearbeitet hatte – zwei Jahre lang, bis sie als fertig ausgebildete Ärztin praktiziert hatte –, doch es kam alles zu ihr zurück, als hätte sie nie etwas anderes getan. Ohne Vorwarnung schnappte sie sich die Bourbonflasche und goss einen Schwall Alkohol auf die Wunde. Blondie jaulte wie ein Chihuahua auf und rammte mit zusammengebissenen Zähnen die Faust gegen das Waschbecken.

»So viel zum Thema, ein harter Kerl zu sein.«

»Ich habe nie behauptet, ein harter Kerl zu sein.«

Adelita grinste, während sie den Faden wieder in die Nadel fädelte. »Ich werde kleine, saubere Stiche machen, also wird es ein wenig dauern. Vielleicht wollen Sie lieber auf ein Stück Holz oder sonst was beißen, Debilucho.«

Sein Gesicht im Spiegel war blass und ausgezehrt. »Ich halte nicht viel von der Art, wie Sie mit Kranken umgehen.«

»Und ich halte nicht viel von Ihrer Erste-Hilfe-Ausrüstung. Sie wissen schon, dass Jod viel billiger als Bourbon ist, oder?«

Grinsend fing sie seinen Blick im Spiegel über dem Waschbecken auf, doch die Ungezwungenheit zwischen ihnen verpuffte jäh, als sie sich ihre Lage vor Augen hielt. Dieser Fremde war ein Sentinel – oder war es zumindest früher einmal gewesen –, also einer der Männer, die für die Wendung verantwortlich waren, die ihr Leben genommen hatte.

Als würde er ihre plötzliche Anspannung spüren, warf Blondie ihr ein gepresstes Lächeln zu. »Übrigens, ich heiße Ethan.«

»Adelita.«

Sie wusste nicht, was hier gespielt wurde. Ihre Mutter hatte ihr und ihren Schwestern von klein auf eingeschärft, bei weißen Männern Vorsicht walten zu lassen, und aus eigener Erfahrung wusste Adelita, dass es stimmte. Ihre Gefälligkeiten hatten stets ihren Preis.

Sie konzentrierte sich wieder aufs Nähen.

2

Exeter, Devon, UK

Daniel Su musste nach Hause. Sofort.

Er funktionierte wie auf Autopilot, sein Körper reagierte automatisch. Als er Lis Nachricht abhörte, hatte es ihm die Kehle zugeschnürt. Li wäre sicher außer sich vor Wut, wenn er endlich als Back-up auftauchte, um sich gemeinsam mit ihr um ihr launisches Kind zu kümmern. Daniels übliche Methode war, sich so gut wie möglich aus der Schusslinie zwischen seiner Frau und seiner Tochter zu halten, aber es klang, als würde ihm das heute um die Ohren fliegen.

Während Daniel zu seinem Auto auf dem Universitätsparkplatz hastete, fragte er sich, was Chloe diesmal gesagt oder getan hatte, dass Li am Telefon so aufgelöst klang. Er wusste nur, dass es etwas wirklich Schlimmes gewesen sein musste. Wie viel Zeit war vergangen, seit Li ihn angerufen hatte? Fünf Minuten? Zehn? Zwanzig? Daniel hatte keine Ahnung. Panik hatte sein Zeitgefühl völlig durcheinandergebracht.

Schließlich fand Daniel sich neben seinem Wagen wieder. In seiner nervösen Art klopfte er sich mit der Handfläche die Taschen ab, suchte durch den Stoff nach den Autoschlüsseln. Sie waren da. Gott sei Dank! Obwohl er Professor für Theologie war (oder vielleicht gerade deshalb), glaubte Daniel an keinen Gott, das hatte er noch nie. Es war nur etwas, das er sagte. Die Sentinels bestanden darauf, dass allein ihre puritanische Version von Jesus Christus der einzig wahre Gott war. Das Triumvirat – die Drei Göttinnen – waren verboten.

Als er in sein Auto stieg, glitten Daniels Augen zur Uhr auf dem Armaturenbrett. Es war fast Viertel vor sechs. Chloe hatte freitags nur bis mittags Vorlesungen, und Li arbeitete von zu Hause. Sie mussten beide daheim sein. Das war schon mal etwas. Daniel war ein äußerst introvertierter Mensch, und Chloes öffentliche Zusammenbrüche empfand er als das Schwierigste. Er ertrug die urteilenden Blicke der Fremden nicht oder, noch schlimmer, ihre mitleidvollen, abgewandten Mienen. Glücklicherweise war das im Lauf der Jahre nur wenige Male vorgekommen.

Mit beiden Händen am Lenkrad, die Knöchel weiß vor Anspannung, raste Daniel in seinem kleinen Auto den Hügel hinab, der über Exeter thronte. Während er am Wald vorbeirauschte, der zum Universitätsgelände gehörte, blaffte er seinem Handy den Befehl »Li anrufen« zu, bevor ihm dämmerte, dass er das Telefon nicht bei sich hatte. In seiner Panik hatte er es im Büro vergessen – zusammen mit seiner Geldbörse und den Notizen für das Sachbuch, an dem er schrieb. Als er sich dem Checkpoint näherte, der die Straße in Richtung der Großen Aula abriegelte, stieg er auf die Bremse.

Die Schranke war nie unten, aber jeder verlangsamte das Tempo und blieb stehen, bevor er die Erlaubnis zum Weiterfahren bekam. Es war die feine, britische Art. Normalerweise hatte am Checkpoint der Universität von Exeter nur ein Sentinel Dienst, aber heute waren es zwei. Der erste war Mitte fünfzig und offensichtlich kein Berufssoldat. Sein Gesicht war mit den Jahren schlaff und desinteressiert geworden, eine ausladende Wampe hing über seiner schwarzen Uniformhose. Der andere war viel jünger, kaum dreißig. Er war dünn und wirkte brutal, mit weit aufgerissenen Augen, die wie die einer Katze aufmerksam hin und her huschten. Daniel fiel die rote Binde an seinem Oberarm auf: ein angehender Sergeant, höchstwahrscheinlich darauf bedacht, sich zu profilieren.

Daniel kurbelte sein Fenster herunter und wollte schon sein Umhängeband mit dem Ausweis zücken, um von dort wegzukommen und nach Hause zu düsen. Es war ihm endlich gelungen, einen Teil der Panik zu besänftigen, die in seiner Brust hämmerte. Doch von ihrem erhöhten Aussichtspunkt aus starrten beide Sentinels auf einen Punkt in der Ferne, jenseits der Stadt. Nicht mehr nur verärgert und genervt, sondern nun außerdem verängstigt, drehte Daniel sich auf seinem Sitz zur Seite, um aus dem Beifahrerfenster in Richtung Exeter weiter unten zu blicken.

Inmitten der Stadt erhob sich eine schwarze Rauchsäule senkrecht in die Höhe. Eine Bombe? Gewiss nicht im verschlafenen Exeter. Aber dort war sie, überlebensgroß, ein dunkles Kräuseln gen Himmel.

Genau dort, wo Daniel und seine Familie wohnten.

»O nein«, hauchte er.

Daniel hatte sein ganzes Leben in der akademischen Welt verbracht, war noch nie auch nur ansatzweise in einer Situation gewesen, in der es um Leben und Tod gegangen wäre. Doch in diesem Moment wusste er instinktiv, dass seine Familie in größter Gefahr schwebte. Er drückte das Gaspedal durch.

Das Kreischen der Reifen und der Puls, der in seinem Kopf hämmerte, überdeckten alles. Daniel bekam die Rufe des Sentinel hinter sich nicht mit, genauso wenig wie den jüngeren Soldaten, der sein Vergehen über Funk weiterleitete. Seine Konzentration war zum Reißen gespannt. Das Fenster auf der Fahrerseite war noch offen. Er hörte keine Sirenen. Was auch immer geschehen war, konnte nicht vor allzu langer Zeit passiert sein. Oder vielleicht bedeuteten die Haushaltskürzungen in den Provinzen, dass der Rettungsdienst einfach ewig brauchte. Daniel hoffte inständig, dass die erste der beiden Möglichkeiten stimmte.

Er raste durch Exeter, nahm Abkürzungen und Nebenstraßen, um die Staus während des Feierabendverkehrs zu umfahren. Als er der Quelle des schwarzen Rauchs immer näher kam, beeinträchtigten der zunehmende Verkehr und die wachsende Anzahl an Gaffern sein Vorwärtskommen. In letzter Sekunde wich er in der Nähe des Gefängnisses von Exeter mehreren Fußgängern aus, dann wiederum vor der Moschee. Eine Gruppe älterer Männer in langen Thoben drohte ihm wütend mit den Fäusten, als er sich gezwungen sah, scharf auf die Bremse zu steigen. Daniel winkte ihnen nicht entschuldigend zu, sondern bog einfach in die nächste Straße ein, in Richtung des Odeon-Kinos.

Zeit war zu einem dehnbaren Begriff geworden, zog sich in die Länge und schnalzte dann ohne Vorwarnung zurück. Obwohl sich jede Sekunde wie eine ganze Stunde anfühlte, musste Daniel nur einmal blinzeln und war schon an seinem Ziel angekommen. Sein Verstand bäumte sich auf, als er in die kurze Sackgasse bog, in der Li, Chloe und er wohnten, seit Chloe zwei Jahre alt war. Ihr Haus war das letzte in der Straße, das begehrteste in einem Halbkreis aus neu gebauten Bilderbuch-Backsteinhäusern mit Fenstereinfassungen aus hellem Sandstein.

Die Szenerie vor ihm wirkte jetzt nicht mehr so idyllisch. Als Daniel um die Ecke bog, war das Erste, was ihm auffiel, dass jedes Fenster in unmittelbarer Umgebung geborsten war. Überall lagen Glasscherben herum: auf dem Asphalt der Fahrbahn, der Betondecke des Bürgersteigs, dem Rasen in den Gärten. Im Licht der späten Nachmittagssonne funkelten die Splitter wie tödliches Konfetti. War eine Bombe hochgegangen? O nein. O Gott, nein! Daniel hörte das Jaulen mehrerer Autoalarmanlagen. Es war ein ohrenbetäubender Lärm, doch kein Besitzer kam herbeigerannt.

Stattdessen standen sie wie erstarrt vor ihren Häusern, mitten auf der Straße, die Augen starr nach vorne gerichtet.

Es gab weder zerbrochene Ziegel noch sonstigen Bauschutt. Dennoch weigerte sich Daniels Gehirn, das zu verarbeiten, was er gerade sah, genau wie alle anderen, die um ihn herum standen.

Ein Wirbel aus schwarzen Wolken wurde von der Stelle ausgespuckt, an der Daniels Einfamilienhaus gestanden hatte. Der Strudel drehte sich wie ein Korkenzieher um die eigene Achse, immer und immer weiter; es ergab keinen Sinn. Unter dem dunklen Rauch war von Daniels Zuhause nichts mehr übrig. Sein Haus war einfach … weg.

Daniels Nasenlöcher blähten sich, als er den starken Geruch von Magie wahrnahm. Grünes Licht umhüllte sein Grundstück wie eine tödliche Kugel. Er konnte ihre Macht mehr spüren als hören: Sie donnerte durch seinen Körper wie ein Düsentriebwerk. Ihre Energie drängte nach oben, riss den blauen Himmel entzwei. In der Nähe seiner früheren Küche brodelte der Asphalt, und kochender Teer ließ Dampffontänen in die Höhe schießen. Ein unvereinbares Bild von Li an der Spüle stieg in Daniels Bewusstsein an die Oberfläche. Seine Frau beobachtete Kühe und Schafe, die hinter dem Haus auf den saftig grünen, englischen Feldern grasten, und erfreute sich an dem blühenden, frischen Land, das sich so eklatant von der heißen, schwülen Riesenmetropole Peking unterschied, wo sie aufgewachsen war.

Daniels Körper drohte aufzugeben und in sich zusammenzusacken, während sein Bewusstsein weiterhin seinen katastrophalen Verlust einzuordnen versuchte. Wo war Chloe? War sie wie üblich in ihrem Zimmer gewesen? Die Einfahrt war geborsten, als hätte ein Erdbeben sie geteilt. War seine Tochter in dem Schlund verschwunden? In seiner Mitte, tief in dem Spalt, hatte sich Stein verflüssigt, glühend wie Lava. Daniel wimmerte bei dem Gedanken, dass sein Mädchen verbrannt sein könnte. Schmerz durchbohrte seinen Solarplexus wie Elektrizität.

Ein weiteres Grollen kam von dem qualmenden Wirbelwind, der sämtliche Umstehende nach hinten taumeln ließ, endlich wurden sie aus ihrer Starre gerissen.

»Zurück!«, schrie jemand.

Während alle anderen rückwärts stolperten, ertappte Daniel sich dabei, wie er in Richtung Haus stürmte. Es war ein aussichtsloses Unterfangen: Er war kein unverwundbarer Superheld. Seine heißgeliebte Familie war im Innern des Hauses zu Asche verkohlt. Er spürte einen Schwall intensiver Hitze auf seinem Gesicht, der drohte, seine Augenbrauen zu versengen, und seine verräterischen Füße stoppten die Bewegungen seines Körpers, scheinbar gegen seinen Willen. Er konnte keinen Zentimeter näher gehen.

Dann, ohne Vorwarnung, erstarb der donnernde Zyklon aus Hitze und Rauch. Er blies sich nicht selbst aus. Stattdessen schien er rückwärts zu laufen wie eine alte VHS-Kassette, die zurückgespult wurde. Die Stelle, an der Daniels Haus gestanden hatte, klärte sich unaufhaltsam, während das Chaos aus Qualm und Macht immer kleiner wurde. Schließlich verschwand es gänzlich.

Direkt in den Körper eines jungen Mädchens.

Die Menschenmenge reckte die Hälse: mitten in der Luft schwebend, eine Silhouette. Das Phänomen trotzte jedem physikalischen Gesetz, aber nicht mehr als das, was sie zuvor bereits gesehen hatten. Die Gestalt zeichnete sich dunkel gegen die untergehende Sonne ab, doch Daniel erkannte sie sofort. Er kannte sie, seit er die Hand auf den sich wölbenden Bauch seiner Frau gelegt und die winzigen Bewegungen von Armen und Beinen im Innern gespürt hatte.

»Chloe!«

Fassungslosigkeit platzte aus Daniel wie der Zyklon der Zerstörung, der bis eben hier gewütet hatte. Der Professor raste auf seine Tochter zu und umrundete geschickt den Spalt in der Einfahrt, die jäh abgekühlt war.

Falls Chloe ihren Vater hörte, gab sie es nicht preis. Sie sah nicht mehr wie seine Tochter aus. Wie vielen Teenagern war Chloe ihr Äußeres sehr wichtig: Sie schaute täglich Make-up- und Haar-Tutorials. Jetzt waren ihre Haare völlig zerzaust, ihr Gesicht starrte vor Dreck. Aber mehr als alles andere waren es ihre Augen: Sie blickten Daniel an, als wäre er ein Fremder. Seine Tochter wirkte so bedrohlich, ihr Gesicht dunkel vor Wut. Daniels Schritte wurden langsamer, zögerlicher, eingeschüchtert von der Gestalt, die vor ihm schwebte.

»… Chloe?«

Seine Tochter sank wie eine Seifenblase nach unten. Als ihre Füße auf festen Boden trafen, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Ihre Mimik sackte in sich zusammen, ihre Augen verdrehten sich. Ihr Körper erschlaffte, und sie fiel wie eine viktorianische Lady nach einem hysterischen Anfall in Ohnmacht. Daniel fing sie gerade noch rechtzeitig auf und sank mit ihr in den Armen auf die Knie. Eine Erinnerung an Li, die den Sturz ihrer Tochter gebremst hatte, als Chloe nach einem ihrer früheren Wutausbrüche das Bewusstsein verloren hatte, stieg in ihm auf. Da sprang unvermittelt sein Selbsterhaltungstrieb an und stoppte den Gedanken. Über Li durfte er nicht nachdenken.

Noch nicht.

Stattdessen zog Daniel seine Tochter an seine Brust und wiegte sie sanft, als wäre sie ein Baby. Er konnte kaum reden oder auch nur verarbeiten, was gerade geschehen war. Sein geschocktes Gehirn wunderte sich über den kalten Boden unter ihnen, der Sekunden zuvor noch gekocht hatte. Er war noch nicht bereit, die Verbindung zu ziehen, was dies bedeutete.

Die zuschauende Menschenmenge hingegen war ihm um Längen voraus, und die Erkenntnis breitete sich rasend schnell in der Gruppe aus, die sich um Daniel und Chloe geschart hatte. Selbst wenn das verbotene Wort nicht ausgesprochen wurde, so war Sprache hier nicht notwendig. Daniel sah, wie sich die Wahrheit in ihren Augen widerspiegelte, während sie einander ansahen, und ihr Blick dann zurück zu dem katatonischen Mädchen in seinen Armen glitt. Sie alle hatten das Haus gesehen, mit der Kugel aus grünem Licht: Erdmagie.

Hexe.

Chloe war eine Elementare.

3

Exeter, Devon, UK

Exeter hatte zumindest die Güte, einen Flughafen zu besitzen, weshalb die Reise von Sentinel Agent Jake Pembroke nicht ganz so viel Zeit wie befürchtet beanspruchte. Der Privatjet setzte nach einem ereignislosen Flug zur Landung an, und wenige Augenblicke später befand er sich auf britischem Boden.

Der Anruf in der Sentinel-Zentrale des Orchid Towers in New York folgte kurz nachdem die Hitzewelle von den Satelliten der Operation Safeguard entdeckt worden war. Noch in derselben Stunde war Jake in der Luft gewesen. Als der erste Bericht im Hauptquartier eintrudelte, war er bei dem Gedanken, nach Exeter fahren zu müssen, stinksauer gewesen. Nachdem ihm gedämmert hatte, dass er nach Exeter im gottverdammten England fliegen musste, hatte heiß glühender Zorn ihn gepackt. Doch die Nummer eins der Sentinels Uno, hatte keinesfalls abwarten wollen. Herrgott, Uno wartete niemals auf einfach gar nichts und spuckte so leichtfertig Befehle aus, wie die meisten Menschen atmeten.

»Ich zähle auf Sie, Scourge«, hatte Uno ihn über die interne Leitung angeherrscht.

Stolz durchflutete Jakes breite Brust, wie immer, wenn er die Sonderbehandlung spürte, die Uno ihm zuteilwerden ließ. Scourge: Ein Mensch oder eine Sache, die großen Ärger oder Leid hervorruft. Rücksichtslos Vergeltung an all jenen zu üben, die es verdienten, war die Lebensaufgabe des Scourge, und niemand verdiente es mehr, bestraft zu werden, als Hexen. Sie waren toxische Miststücke, unnatürliche, tickende Zeitbomben, die nur darauf warteten zu explodieren. Der Scourge wäre erst zufrieden, wenn die Hexenbedrohung gänzlich vom Angesicht der Erde gebannt war.

»Es ist die Eine, das weiß ich einfach.«

»Die Satellitenbilder sind nicht eindeutig, Boss.« Er hütete sich davor, Unos Euphorie anzustacheln. Wenn er sich ebenfalls der Spekulation hingab, dass es die Eine war, es sich im Nachhinein jedoch als ein außergewöhnlich warmer Fleck Erde herausstellte, würde Uno durchdrehen, und es wäre der Kopf des Scourge, der dann rollen würde.

»Seit fast drei Monaten gab es bei unserem Spezialprojekt keinerlei Entwicklungen.« Unos Zorn verursachte ein Rauschen in der Leitung. »Und es ist schon fast doppelt so lange her, dass ich einen neuen Halo auf einer Kristallhexe gesehen habe.«

Der Scourge genoss seine Sonderstellung als Günstling der Nummer eins viel zu sehr, um das aufs Spiel zu setzen. Außerdem liebte er seinen Job, Punkt, aus. Wie die meisten gottesfürchtigen, puritanischen Männer hatte er keine Zeit für Frauen mit magischen Kräften. Er wollte die Ungläubigen zermalmen wie der Racheengel Azrael. Mit einem Halo und einem Leuchtstab in der Hand fürchtete der Scourge Trägerinnen von Magie nicht mehr so sehr, wie er es noch vor fünfundzwanzig Jahren getan hatte. Vor einer Frau würde er nie wieder Angst haben.

»Ich fliege noch heute Abend los, Boss.«

Am Flughafen von Exeter drehte der Scourge den Kopf auf seinem Stiernacken herum, dehnte sich und genoss das Knacken in seinen Schultern. Wie immer spürte er das Einsetzen eines Jetlags: die Kopfschmerzen, Trommelschläge hinten in seinem Schädel, das Zwicken seines Magens, während Säure dort hin und her schwappte. Verärgerung bahnte sich einen Weg durch die Fasern seiner Muskeln.

Auf der Landebahn wartete eine Frau auf ihn. Sie war groß, Mitte vierzig und wäre vor zehn Jahren wohl als attraktiv durchgegangen. Die Frau stand breitbeinig wie ein Mann da, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Sie war auch wie einer gekleidet: Anzug, Hemd und Krawatte. Der Scourge wusste, selbst ohne fragen zu müssen, dass sie von der Regierung war. Ihr Gesichtsausdruck war reserviert, aber wachsam. MI6. Oder vielleicht MI5. Den Unterschied konnte er sich nie merken – nicht dass es eine Rolle spielte. Es gab nur eine einzige Sicherheitsbehörde, die heutzutage wirklich von Bedeutung war: die Sentinels.

Rasch hielt sie ihm einen Ausweis unter die Nase. »Sir. Ich bin Agentin Stephanie Ripley. Ich bin hier, um Ihren Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten und Ihnen die volle Unterstützung der britischen Regierung zuzusichern, wie es das Protokoll der Safeguard-Initiative verlangt.«

Der Scourge konnte nicht glauben, dass sie hier drüben Goodys im Sicherheitsdienst zuließen, aber die Inselaffen hatten schon immer Ärger bedeutet. Ginge es nach dem Scourge, hätte er nicht nur jegliche Hexerei samt der dazugehörenden Mythen und Legenden verboten. Er hätte dafür gesorgt, dass alle Frauen auf der ganzen Welt zu Hause blieben, wo sie hingehörten. Mit einem Baby im Bauch.

In dem Verlangen, sein Gegenüber zu verunsichern, ließ der Scourge den Blick an ihrem Körper auf und ab gleiten. »Das wette ich.«

Ripley reagierte nicht, sondern sah ihm einfach in der passiv-aggressiven Art der Briten fest in die Augen. Sie hätte zumindest den Anstand haben können, eingeschüchtert zu wirken. Dann hätte er wenigstens ihre Aufmerksamkeit gehabt. Sie sollte ihn fürchten und begehren, vorzugsweise in dieser Reihenfolge. Der Scourge war fast fünfzig, jedoch in der körperlichen Verfassung eines viel jüngeren Mannes. Er war knapp einen Meter neunzig groß und wog hundertfünfzehn Kilogramm, ein menschlicher Sattelschlepper im unverkennbaren dunklen Anzug, den alle Sentinel-Agenten trugen. Er besaß hohe Wangenknochen, blaue Augen und silbriges Haar, entsprach dabei nicht dem klassischen Schönheitsideal, sondern war eher eine auffallende Persönlichkeit. Frauen hatten ihm vor langer Zeit verraten, dass er ein echter Womanizer war.

»Wo zum Teufel sind meine Sentinel-Agenten?«

Die Miene der Frau war weiterhin unerträglich ausdruckslos. »Exeter besitzt weniger als einhundertdreißigtausend Einwohner, Sir. Das Umland knapp noch einmal so viel. Gemäß der Übereinkunft der Safeguard-Initiative mit unserer Regierung gibt es einen Sentinel pro fünfzigtausend Zivilisten.«

Der Scourge überschlug die Zahlen im Kopf. Da der Jetlag ihn mit der Wucht eines Schnellzugs traf, stellte es sich als schwieriger heraus, als er zugeben wollte. »Augenblick mal. Es gibt nur fünf Sentinels in diesem gottverdammten Drecksloch?«

»Ja, Sir. Sie sind alle bereits vor Ort in der Hitzezone.« Ripleys Eisprinzessinnen-Fassade bekam einen kleinen Riss, als sie hinzufügte: »Zusammen mit unseren Agenten und der Polizei.«

Die unterschwellige Botschaft lautete: Wir wollen und brauchen dich hier nicht, Yankee.

Der Scourge blickte sich auf dem Flugplatz um, während die britische Agentin ihn von der Landebahn führte. Vereinzelt waren ein paar Flugzeuge geparkt, und es gab ein kleines Gebäude mit einer breiten Glasfront und dem riesigen Schild EXETER INTERNATIONAL AIRPORT davor. Der Nachthimmel schien sich hinter der asphaltierten Startbahn in alle Ewigkeit zu erstrecken, ohne jegliche Lichtverschmutzung. Er schätzte, dass sie von Feldern umgeben waren. Angewidert rümpfte er die Nase: War das etwa Kuhdung? Herrgott noch mal! Sie waren wirklich am Arsch der Welt.

Er versuchte, sein erschöpftes Bewusstsein auf die Worte der britischen Agentin zu lenken, als sie in den schnittigen schwarzen Bentley kletterten, der bereits auf sie wartete. Der Scourge mochte Autos; zumindest die bekamen die Briten hin. Während er das Innere des Wagens begutachtete und den neuen Ledergeruch einatmete, schwadronierte die Frau ungerührt weiter.

»Es steht alles hier drinnen, Sir«, beendete Ripley schließlich ihre Ausführungen und reichte ihm eine Mappe mit Dokumenten.

Seufzend nahm er sie aus ihrer ausgestreckten Hand entgegen. Die Briten liebten ihre Zettelwirtschaft. Er blätterte die Akte durch. Weitere alarmierende Statistiken. In den vergangenen zwanzig Jahren war die Einwohnerzahl der weißen Briten und Iren in Exeter gesunken. Ganz im Gegensatz dazu war die der chinesischen Bevölkerung und anderer asiatischer Ethnien um erstaunliche vierhundert Prozent gestiegen. Die Welt ging wirklich den Bach runter.

Der Scourge schleuderte die Mappe neben sich auf die Rückbank, als der Wagen nach kurzer Fahrt langsam zum Stehen kam. Sie hatten ihr Ziel erreicht. Es war bis vor Kurzem eine völlig banale britische Straße gewesen, gesäumt von schicken Häusern der gut situierten Mittelschicht. Jetzt erinnerte sie eher an einen Kriegsschauplatz voller zerbrochenem Glas, das überall auf dem Asphalt herumlag, und Rauch, der wie Gewitterwolken darüber hing.

»Es wird folgendermaßen ablaufen.«

Der Scourge genoss es, dass Ripley ihn ungläubig anstarrte. Offensichtlich hatte sie noch nie die Anstandsdame für einen ranghohen Sentinel-Agenten gespielt. Es war nicht viel, aber es war ein kleiner Sieg, den der Scourge in vollen Zügen auskostete.

»Das Fehlen von echtem Engagement der britischen Regierung bei diesem Fall wurde zur Kenntnis genommen. Ich werde in der Sentinel-Zentrale in der amerikanischen Botschaft anrufen und ein angemessenes Truppenkontingent meiner Leute verlangen. Sobald sie eintreffen, werden Sie Ihre Beamten und Agenten abrufen. Sie werden nicht versuchen, die Sache hinauszuzögern, zu behindern oder auch nur verdammt noch mal in meine Nähe kommen. Verstanden?«

Ripleys Blick glitt zu ihren Schuhen. »Sir.«

Der Scourge grinste. Endlich. »Braves Hündchen.«

Selbstbewusst bugsierte er seinen eindrucksvollen Körper aus dem Fahrzeug und ließ Ripley, die etwas in ihr Funkgerät murmelte, allein zurück. Vor dem Auto sah er nun auf einen viel kleineren und schmaleren Grünschnabel von einem Sentinel-Agenten hinab.

»Barnabas Carter, Sir. Sentinel-Agent 905 der 42. Infanteriedivision.«

Carter salutierte mit unverkennbarer Begeisterung auf Art der Sentinels. Er war ein Jungspund. Noch dazu ein Rekrut, wie das verräterische rote Band an seinem Arm zu erkennen gab. Doch der Scourge wusste sofort, dass eine verwandte Seele vor ihm stand. Das sah er in seinen Augen. Der Junge hatte eine unbeugsame, entschlossene Aura, eine, die dem Scourge verriet, dass Carter auf seinem Weg die Karriereleiter hinauf alles tun würde. An seinem Kragen steckte sogar ein metallenes Abzeichen der Neuen Puritaner: zwei schlagende Fäuste, die im Licht der Scheinwerfer aufleuchteten. Carter erinnerte den Scourge an sich selbst, als er bei den Sentinels angefangen hatte.

»Rühren, Soldat. Nun, was zum Teufel haben Sie angestellt, um hier draußen im Nirgendwo zu landen?« Der Scourge konnte nicht widerstehen, sein Gegenüber zu triezen, um zu sehen, was dabei herauskam.

Carter zuckte nicht einmal mit der Wimper, was der Scourge ihm hoch anrechnete. »Gottes Wege sind unergründlich, Sir.«

»Wohl wahr, mein Junge. Was haben Sie für mich?«

»Ich denke, es wäre am besten, Sie sehen es sich selbst an, Sir.«

»Verstanden!«

Carter wollte ihn außen herum führen, doch der Scourge marschierte einfach quer durch die Polizeiabsperrung. Mit dem Greenhorn im Schlepptau ignorierte er die versammelte Menschenmenge. Zumindest hatten sie daran gedacht, Flutlichter aufzustellen, während Techniker in ihren Schutzanzügen arbeiteten. Noch mehr von Ripleys unfähigen Agenten flatterten herum wie kopflose Hühner. Herrgott noch mal! Kein Wunder, dass diese Insel von ihrem Premium-Nachkömmling, den Vereinigten Staaten, gerettet werden musste. Mal wieder.

Der Scourge erreichte das Ende der Sackgasse. Die Häuser waren aus rotem Ziegel und Sandstein erbaut, die Fassaden ansprechend gestaltet, einladend. Die britische Version der schicken Vorstadtneubauten in den USA. »Was soll ich mir hier ansehen?«

»Das ist alles, Sir. Das Haus ist im wahrsten Sinne des Wortes verschwunden.«

Pembrokes Gehirn kam in Fahrt. »Heilige Scheiße!«

Der unbewegte Blick des Scourge glitt über die Leere, die das Haus am Ende der Sackgasse hinterlassen hatte. Einen Moment lang ließ er den geschmolzenen Asphalt, den Spalt auf dem Bürgersteig und das, was höchstwahrscheinlich einmal die Einfahrt gewesen war, auf sich wirken. Der Schlund reichte etwa drei Meter in die Tiefe. Der Scourge kniete sich nieder und berührte den Boden mit zwei Fingern. Wie erwartet war er vollständig erkaltet. Ein Erdbeben hätte für die Verwüstung verantwortlich sein können.

Außer dass jedes Grundschulkind wusste, dass es in England keine Erdbeben dieser Stärke gab.

Der Scourge hatte angenommen, dies hier sei ein weiteres sinnloses Unterfangen. Jetzt spürte er einen Anflug von Erregung in seiner Brust. Vielleicht hätte er der Nummer eins nun doch noch etwas über ihr »spezielles Projekt« zu berichten.

Carter war atemlos. »Augenzeugen behaupten, hier sei ein Mädchen gewesen. Inmitten der Verwüstung, aber die Kleine sei kein bisschen verletzt gewesen. Als hätte sie das alles verursacht.«

»Sie wollen mir weismachen, ein Mädchen ist für das alles hier verantwortlich?«

Der Scourge spürte, wie seine Erregung in Übelkeit umschlug. Es war hinlänglich bekannt, dass Unfälle passierten, wenn Elementare in die Pubertät kamen und gleichzeitig die weibliche Magie einschoss. Dies passierte für gewöhnlich im Alter zwischen neun und fünfzehn. Doch bei bisherigen Ausbrüchen war es nur zu Verbrennungen von Umstehenden gekommen oder kleineren Überflutungen, Stürmen und Geysiren, vielleicht dem ein oder anderen unbedeutenden Steinschlag oder winzigen Wirbelsturm. Nichts im Vergleich zu dem hier.

Carter zog sein Notizbuch zurate. »Nein. Augenzeugen berichten, es war Chloe Su, die in diesem Haus wohnt. Sie ist neunzehn Jahre.«

Der Scourge spürte, wie sein mulmiges Gefühl allmählich abflaute. Es gab nur eines, was er mehr hasste als Elementare, und das waren Elementare, die noch Kinder waren. Es war fast unmöglich, sie zu kontrollieren, da sie schlichtweg über kein logisches Denkvermögen verfügten. Leider sahen Otto Normalverbraucher in ihnen Kinder und keine potenziellen Waffen. Der Scourge hoffte weiterhin, dass Hexenkinder einmal in die Safeguard-Verordnung aufgenommen werden würden. Präsident Hopkins hatte, sobald er 2016 an die Macht gekommen war, die Präventivschlag-Gesetze verabschiedet, die eine Inhaftierung von Kristallhexen und ihren volljährigen Legacys forderten. Nicht alle Safeguard-Länder hatten zugestimmt, Legacys einzusperren, doch die meisten unterstützten den Plan der Sentinels, Kristallhexen von der Magie, die durch ihre Adern floss, zu »heilen«, indem sie in Engelshöhlen geschickt wurden. Was für ein Pech, dass die Behandlung nicht funktionierte, aber die Leute zu Hause mussten das ja nicht wissen.

»Ihre Eltern?«

»Ihr Vater wurde vor dem Haus gesichtet. Von ihrer Mutter fehlt jede Spur, höchstwahrscheinlich ist sie …« Carter sah zu der Stelle, wo früher das Haus gestanden hatte, und suchte nach dem passenden Wort: »Verschwunden.«

Der Scourge erhob sich wieder. »Wo ist das Mädchen jetzt?«

»Weg. Der Vater hat es in seinem Auto fortgebracht, noch bevor die Sentinels vor Ort waren.« Carter machte eine verächtliche Handbewegung in Richtung der britischen Beamten, als wären sie zu nichts zu gebrauchen.

»Wann ist das passiert?«, erkundigte sich der Scourge, immer noch unfähig, den Blick von der aufgerissenen Erde zu lösen.

»Gegen achtzehn Uhr.«

Der Scourge drehte das Handgelenk und starrte auf das Ziffernblatt seiner Uhr. Es war kurz vor vier Uhr am frühen Morgen. Seine Flüchtigen hatten zehn Stunden Vorsprung.

»Da wäre noch etwas, Sir.« Carter nickte zu dem weißen Zelt, das in der Nähe errichtet worden war. Im Gegensatz zu seinem britischen Pendant zierte dieses das Symbol der Sentinels: ein riesiges, wachsames Auge, seine Pupille ein Globus. »Eine Kristallhexe war am Tatort und hat ihnen bei der Flucht geholfen.«

Der Scourge klatschte in seine fleischigen Hände. »Tatsächlich?«

Der Sentinel vor dem weißen Zelt stand in Habachtstellung, sobald der Amerikaner dort ankam. Die Körpersprache seines Untergegebenen knisterte vor Besorgnis, als er erkannte, dass es der Scourge war. Sein Ruf eilte ihm voraus, selbst hier draußen am Arsch der Welt.

»David Moore, Sir. Sentinel Agent 657.«

Der Scourge schürzte verächtlich die Lippen. Er hatte keine Lust, mit Moore zu sprechen, einem fetten Sesselfurzer mit Bierbauch. Die Versetzungen von Sentinels erstreckten sich über lange Zeiträume, manchmal bis zu zwei oder drei Jahre. Moore hatte den weichen Körper und das Auftreten eines Menschen, der sich hatte gehen lassen. Ein schimmernder Goldring steckte an der linken Hand des Beamten. War er etwa losgezogen und hatte eine dieser englischen Hinterwäldlerinnen geheiratet? Das könnte als ein Verbünden mit dem Feind erachtet werden.

»Ich gehe davon aus, dass die Kristallhexe nach Edelsteinen abgesucht wurde?«

Kristallhexen kanalisierten ihre Magie durch ausgewählte Kristalle und Edelsteine, daher der Name. Sie besaßen keine angeborenen Talente wie ihre elementaren Schwestern. Stattdessen mussten sie jahrelang lernen, um ihre andernfalls brachliegenden Mächte zu wecken, aber manchmal übertrumpfte harte Arbeit eine natürliche Begabung, und sie konnten ebenso gefährlich wie Elementare sein. Es wäre töricht, nicht auf der Hut zu sein.

»Natürlich, Sir.«

Der Scourge schlug die Zeltplane auf und duckte sich, gefolgt von Carter, hindurch. Im Innern konnte er kaum aufrecht stehen, doch das spielte keine Rolle. Mitten im Zelt saß eine große Frau, die Beine gespreizt, die Hände mit Kabelbindern vor sich gefesselt. Lethargie haftete ihr an, fast schon völlige Apathie. Der Kopf der Kristallhexe war auf ihre Brust gesackt, ein Spuckefaden tropfte von ihrem schlaffen Mund auf ihr üppiges Dekolleté. Der Grund ihrer Unpässlichkeit: der Sentinel-Halo um ihren Schädel. Sein Licht blinkte in einer steten Abfolge von links nach rechts, grün wie Smaragde auf einem tödlichen Diadem.

»Rita Morrison, eine Nachbarin.« Carter las aus seinem Notizbuch vor. »Gefasst am Bahnhof St. Davids in Exeter, bei ihrem Fluchtversuch.«

»Gute Arbeit, Rekrut.« Der Scourge hockte sich neben die teilnahmslose Frau. Ihre Augen waren ausdruckslos und trüb. Sie wirkte nicht ansprechbar. »Es ist erschreckend, wie viele von diesen Kristallschlampen es schaffen, unerkannt zu bleiben.«

Der Scourge schnalzte mit dem Finger, und Carter reichte ihm den Regler des Halos. Es war eine kleine Fernbedienung mit mehreren Knöpfen. Die zwei Haupttasten waren rot und grün, mit einem weiteren, winzigen gelben Knopf in der Mitte. Ohne zu zögern, drückte der Scourge mit dem Daumen auf den grünen Knopf.

Rita atmete schwer ein. Der Nebel in ihren Augen löste sich auf, und sie konzentrierte sich auf die zwei Sentinels vor sich. Vielleicht hatte ihr Unterbewusstsein bereits mitbekommen, wo sie sich befand, denn es dauerte keine zwei Sekunden, bis ihr Verstand gleichzog. Rasender Zorn legte sich auf ihr Gesicht.

»Ihr Schweine!« Sie würgte einen Schleimklumpen hoch und spuckte ihn auf den Schuh des Scourge.

Der Sentinel reagierte nicht. Während seiner Zeit als Agent hatte er genügend Kristallhexen verhört, um zu wissen, wie mit ihnen umzugehen war. Er drückte zweimal kurz hintereinander auf den roten Knopf der Fernbedienung. Die grünen Lichter des Halos flackerten gelb auf, als Stromschläge direkt in den Schädel der Hexe fuhren. Rita kreischte auf und griff sich mit den verbundenen Händen an den Kopf. Der Schmerz verebbte allmählich, und sie plumpste bäuchlings nach vorne. Schwer atmend stützte sie sich auf den Handflächen ab.

»Das waren nur einhundert Millijoule. Tausenddreihundertfünfzig sind tödlich.« Der Scourge lächelte, doch es lag keine Heiterkeit darin.

Mühsam hob Rita den Kopf. Sie war immer noch wütend, aber der Scourge war hocherfreut, endlich auch Angst in ihren Augen zu lesen. Er drehte die Fernbedienung um, damit sie die Anzeige sah, die hoch bis fünfzehnhundert Millijoule reichte. Der Scourge wartete ab, bis die Hexe verstand.

»Sind Sie jetzt bereit, unsere Fragen zu beantworten, Rita?«

Sie schürzte die Lippen, als wollte sie vermeiden, dass Worte heraussprudelten. Der Scourge entschied sich, ihr eine weitere Gelegenheit zur Kooperation zu bieten. Immerhin war er kein Monster.

»Erzählen Sie mir von dem Mädchen. Was ist sein Element? Ich schätze Feuer. Vielleicht aber auch Luft, wenn sie das Haus einfach verschwinden lassen konnte?«

Ritas Blick war dunkel vor Zorn. »Ich. Weiß. Es. Nicht.«

»Sie lügt«, erklärte Carter, während er das kleine, ledergebundene Notizbuch in seiner Hand konsultierte. »Andere Augenzeugen haben zu Protokoll gegeben, dass sie grünes Licht gesehen haben, das um das Haus herum emporstieg.«

Der Scourge schnalzte mit der Zunge, als wäre er enttäuscht von Rita. Grüne Flammen bedeuteten Erde, die gefürchtetste Art aller Elementarhexen. Er drückte erneut auf den roten Knopf. Bei dem folgenden stärkeren Stromschlag schrie Rita auf, ruderte wild mit den Armen, und ihre Augen verdrehten sich, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Der Sentinel löste den Finger vom Knopf, doch er ließ Rita keine Zeit, sich zu erholen, bevor er sie mit weiteren Fragen bombardierte.

»Wussten Sie, dass das Mädchen eine Elementare ist? Hat ihre Mutter es Ihnen vielleicht verraten?«

Rita holte mehrmals tief Luft. »Nein, ich kannte sie nur flüchtig.«

Carter fiel ihr ins Wort, seine Verärgerung offenkundig. »Eine weitere Lüge. Sie haben fast zehn Jahre gegenüber, auf der anderen Straßenseite, gewohnt.«

Der Scourge warf Carter einen warnenden Blick zu, bevor er seine nächste Frage stellte.

»Ich glaube Ihnen nicht. Ich denke, Sie haben alle in einem Hexenzirkel zusammengesteckt – Sie, das Mädchen, seine Mutter. Wie viele gibt es sonst noch hier, in Exeter?«

»Das habe ich doch schon gesagt. Keine.«

Der Scourge beugte sich näher hinab. Er wusste, dass er einschüchternd war, denn sie zitterte heftig. Tränen rannen ihr die geröteten Wangen hinab.

»Haben Sie Töchter und Enkelinnen, Rita? Wie sieht es mit Schwestern, Nichten aus?«

Sie blieb standhaft. »Nein. Nur einen Sohn. Unverheiratet. Keine Kinder. Gelobt seidie Göttin.«

Für seinen Geschmack konnte der Scourge immer noch zu viel Trotz in der alten Schachtel erkennen. Sie musste es ebenfalls gespürt haben, denn Rita grinste ihn schief, mit blutigen Zähnen an. Die Kristallhexe hatte sich auf die Zunge gebissen, als er ihr elektrische Impulse durch den Körper gejagt hatte.

»Vergessen Sie nicht, Rita, die Sentinels haben hier Gerichtshoheit, selbst auf englischem Boden. Ihre Leute können Sie nicht retten.«

Die Frau schwieg weiterhin. Der Scourge sog die Luft zwischen den Zähnen ein. Das hier war eine Sackgasse. Er hatte noch nie verstanden, warum diese Heiden so schrecklich stur waren. Erkannten sie denn nicht, dass sie auf keinen Fall gewinnen konnten? Er gab ihr eine allerletzte Chance.

»Ihre Hilfe würde den Ausschlag geben, ob Sie den Rest Ihrer Jahre in einem britischen Hexengefängnis irgendwo in der Pampa … oder zu einer unserer hochmodernen Engelshöhlen drüben in den USA abgeschoben werden.«

Der Scourge ergötzte sich am Anblick der alten Vettel, der die Augen fast herausfielen. Dank der britischen Regenbogenpresse musste sie von den amerikanischen »Engelshöhlen« gehört haben. Mit Halos schachmatt gesetzte Hexen wurden in den USA unter viel schlimmeren Bedingungen als in Europa eingesperrt. Britische Gefängnisse, die eher an Wellnessoasen erinnerten, waren dafür bekannt, Kristallhexen mit Samthandschuhen zu behandeln. Verdammt noch mal, hier verhafteten sie nicht einmal Legacys, außer sie engagierten sich »aktiv in einer Terrorgruppe«. Es war fast so, als hätten die Inselaffen nie von dem alten Sprichwort gehört: Vorbeugen ist besser als heilen. Arschlöcher!

Da begegnete Rita seinem Blick, das Kinn trotzig nach vorne geschoben. »Ich bin nicht allein, ich bin mit allen verbunden. Mutter, führe und beschütze mich …«

»Oh, Rita!« Der Scourge seufzte, als er hörte, wie sie mit ihrem bescheuerten Kristallhexengebet begann. Die alte Schachtel war ein hoffnungsloser Fall. Er drückte zweimal in kurzer Abfolge auf den Knopf.

Rita schüttelte sich vor Schmerz, schaffte es aber noch zu keuchen: »Ich opfere mich dem Licht!«

Der Scourge presste erneut auf den roten Knopf.

Die Rede von Präsident Michael Hopkins zu seiner Amtseinführung nach dem Attentat auf Dr. Miriam Stone, April 2016 (Transkript)

Dies sind dunkle Zeiten. Dass ich überhaupt auf diesem Podium stehe, wurde nur durch einen katastrophalen Verlust ermöglicht. Ich danke meiner Vorgängerin, Dr. Miriam Stone, für ihre Opfer. Sie hat alles gegeben – selbst ihr Leben –, um Frieden zwischen Männern, Goodys und Hexen zu bringen. Wir waren nicht immer einer Meinung, was der beste Weg ist, dieses Ziel zu erreichen …

(Laute ZWISCHENRUFE. Sentinels eilen herbei, Hopkins scheucht sie zu ihren Plätzen auf der Bühne hinter ihm zurück.)

Nein, nein, das ist nur recht und billig. Niemand wird behaupten, dass ich ein großer Fan ihrer Methoden war. Es wäre eine Lüge, etwas anderes vorzugeben. Und es gibt eines, das ich niemals tun werde, nämlich, euch anzulügen. Nicht jetzt, wenn so viel auf dem Spiel steht und all die Arbeit auf uns wartet …

(JUBEL von der Menschenmenge)

Ich habe unseren Heiland um Hilfe gebeten. Neue Puritaner wie ich glauben an Logik, daran, das Unnötige abzustreifen und den Kern der Wahrheit bloßzulegen. Im Laufe meiner Gespräche mit Unserem Herrn, Jesus Christus, ist mir klar geworden, dass wir unter Dr. Stones Amtszeit gleichgültig geworden sind. Wir haben Hexen geglaubt, als sie uns weismachen wollten, sie seien friedvolle Wesen. Selbst nachdem die Anhänger des Verfluchten Lichts in unser Leben getreten sind und uns zeigten, dass Hexerei staatlich sanktionierter Terrorismus war und über Massenvernichtungswaffen verfügte, hielten wir uns zurück und glaubten meiner Kollegin vom linken Flügel, Ms. Geraldine NDeritu, und ihrer Horde Legacys, als sie uns vorwarfen, wir seien voreingenommen oder engstirnig.

(Zustimmendes STIMMENGEWIRR, ein paar entmutigte ZWISCHENRUFE)

Unsere letzten Hochrechnungen legen nahe, dass fünfzig Prozent der Frauen eine Form von Magie besitzen …

(AUFKEUCHEN in der Menschenmenge)

Ja, ja, ich weiß. Diese Zahl ist beängstigend. Aber habt keine Angst, meine Freunde und Anhänger, wir müssen standhaft bleiben. Wir dürfen nicht vergessen, dass bei dem Großteil dieser fünfzig Prozent die Magie nicht angeboren ist. Es sind bloß weibliche Traditionen: Glückszauber, Schutzbeschwörungen und das Segnen von Häusern. Es gibt sogar eine Handvoll Männer, die sich an diesen unnatürlichen Praktiken beteiligen …

(Entrüstete SCHREIE aus der Menschenmenge: »SCHLAPPSCHWÄNZE!«)