Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Jochen 'Echo' Marburg, studiert in Köln Betriebswirtschaftslehre. An einem Abend im September 1984 bekommt er einen Anruf, der innerhalb weniger Wochen sein Leben verändert: Sein Vater, Taxifahrer in Oldenburg, soll sich in volltrunkenem Zustand totgefahren haben. Nach einem Gespräch mit dem jungen LKA Kommissar Jordan kommen Marburg Zweifel am Unfallhergang. Als er entdeckt, daß in das Haus seines Vaters eingebrochen wurde, beginnt er, die Ereignisse auf eigene Faust zu untersuchen. Ein Entschluß, der ihn in Lebensgefahr - und auch an den Rand des Wahnsinns - bringt. Er trifft auf eine junge Frau, deren Spur zu einem mysteriösen mittelalterlichen Zirkus führt, dem 'Zirkus der Nacht', der jedoch am nächsten Tag bereits wieder spurlos verschwunden ist. Statt dessen findet er in den Unterlagen seines Vaters eine fünfundsechzig Jahre alte Photographie, auf der er die junge Frau, die ihm nicht mehr aus dem Kopf geht, wiedererkennt. Erklärungen könnte ein Fremdenlegionär geben, der nicht nur das Geheimnis des Zirkus zu kennen scheint, sondern auch Marburgs Vater. Doch der Legionär schweigt beharrlich. Als Marburg schließlich herausfindet, daß sich alles um die Steinerne Karte dreht, ein Artefakt, das zum verschollenen Geheimnis des Templerordens führt, da ist es für ihn bereits zu spät. Denn auf der Suche nach einer Erklärung für den Tod seines Vaters ist er auf eben jene geheimnisvolle Karte gestoßen, die nicht nur der Templerorden für sich beansprucht, sondern auch der 'Russe', ein bezahlter Killer im Auftrag der mafiaähnlichen Loge 'Die Zitadelle des Lichts'
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 1107
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
„NON NOBIS DOMINE, NON NOBIS, SED NOMINI TUO DA GLORIAM!“ „NICHT UNS, O HERR, NICHT UNS, SONDERN DEINEM NAMEN GILT DIE EHRE.“
PSALM 115,1 LEITSPRUCH DER TEMPLER
Jörg H. Kohn, Jahrgang 1962, wurde in Oldenburg geboren und studierte Wirtschaftswissenschaften in Wilhelmshaven. Seit 2011 lebt er in der Nähe von Rastede. 2017 erschien mit 'Der Zirkus der Nacht' sein erstes Buch, 2018 mit 'Die Zitadelle des Lichts' sein zweites. 2022 folgte der historische Roman 'Die Schatten von Oldenburg'.
"Die Photographie": Asta & Johanne Nielsen, 1895, Asta Nielsen: Die schweigende Muse, S. 67, Kopenhagen 1945/46, Carl Hanser Verlag
1. DER NARR
2. DER TURM
3. DER TOD
4. DER GAUKLER
Ein ganz besonders provokatives Werk, zunächst privat gedruckt und dann in der Bibliothèque Nationale in Paris deponiert. In Le Serpent Rouge geht es um die Merowinger, die Ermordung von Dagobert II, eine verborgene Königsrasse, den Rosenkreuzer-Symbolismus, Astrologie und Maria Magdalena. Auf dem Umschlag stehen die Namen der Autoren: Louis Saint-Maxent, Gaston de Koker und Pierre Feugere.
Zwei Tage, nachdem dieses kleine Buch erschien, untersuchte die Pariser Polizei drei Fälle von erhängten Männern, bei denen die Umstände sowohl auf Selbstmord als auch auf Mord schließen ließen. Die Opfer hießen, natürlich, Louis Saint-Maxent, Gaston de Koker und Pierre Feugere.
Robert Anton Wilson: Das Lexikon der Verschwörungs-theorien, Frankfurt am Main, 2000 zu: Le Serpent Rouge, veröffentlicht in der Bibliothèque nationale de France im Jahr 1967
"4° 'Geheimer Meister', 6° 'Geheimer Sekretär', 16° 'Meister von Jerusalem', 25° 'Ritter der Ehernen Schlange' – Sehr undurchsichtig", sagte Stëin.
"Keineswegs." Marten schüttelte bedächtig den Kopf. "Das sind sehr verbreitete Freimaurer-Hochgrade nach schottischem Ritus."
"Ach so?"
Oldenburg, Samstag, 15. September 1984
OLDENBURG, DIENSTAG, 25. SEPTEMBER 1984
Da endlich hatte ich die wahre Bedeutung der Steinernen Karte erkannt. Die mäandernden Linien, die Punkte, die Abkürzungen. Sie stellten nicht das dichte Netz der Templerwege, Besitzungen und Komtureien des Ordens in Frankreich dar, sondern wiesen tatsächlich den Weg zum letzten der Zwölf Teile des Großen Geheimnisses, des allumfassenden und geheimen Plans der Tempelritter.
Dieser letzte, seit den Rosenkreuzern verloren geglaubte Teil der Karte zeigte Belgien, die burgundischen Niederlande, oder, wie es auf der Karte selbst vermerkt war, die Grafschaft Flandern.
Die Erkenntnis kommt zu spät. Wir haben alles verloren. Das Päckchen mit den Briefen und Namen der Geheimen Oberen, die Hinweise auf die Templer. Die Steinerne Karte. Und nicht zuletzt Jochen, Jochen Marburg, den wir Echo nannten, weil er für einige Monate ein – meiner Meinung nach – ebenso obskures wie psychedelisches Verhältnis zu der – meiner Meinung nach – ebenso obskuren wie psychedelischen Rockband Echo & the Bunnymen entwickelte, wobei es sich bei jenem Echo, dem Namensgeber der Band, eigentlich um einen Drum-Computer handelte. Ich glaube, das war im Sommer 1980. Echo, also Jochen, hingegen spielte seitdem E-Gitarre. Wenn ich sage spielte, dann weil ich nicht weiß, ob er es noch einmal tun wird. Er ist seit fünf Tagen spurlos verschwunden.
Die Nachricht, die er zurückgelassen hat, deutet freilich darauf hin, daß er noch am Leben ist. Oder dem Wahnsinn verfallen.
Ich suche Rosa, schrieb er auf einen kleinen Zettel. Ich weiß nun, wo sie ist, und ich werde sie finden. Entweder kehre ich mit ihr zurück oder gar nicht.
Ich hätte es wissen müssen, ich hätte ihn retten müssen. Seit dem Augenblick, an dem er diese verdammte Photographie in seinen Händen gehalten hatte, war er verändert. Damals hätte ich vielleicht noch etwas tun können, insistieren, versuchen, ihn zur Vernunft zu bringen. Möglicherweise mit Gewalt. Der Zweck heiligt bekanntlich die Mittel.
Nun ist er fort, verloren. Nach allem was in den letzten drei Wochen geschehen ist, habe ich wenig Hoffnung, daß er zurückkehrt.
Er wird Rosa nicht finden.
Die Photographie, deren Motiv – eine junge, dunkelhaarige Frau in der Schwesternuniform des Ersten Weltkrieges – er nachjagt, trug den Stempel der Photographischen Anstalt Carl W. Gasthuber, München, aus dem Jahr 1919. Darunter stand in schöner Mädchenhandschrift: Frage in der Rue de la Manticorenach mir, in der Stadt unseres Glückes. Ich werde warten bis Johanni. Rosa. Mai 1919.
Natürlich war mir und auch Echo klar, daß nicht er mit diesen Zeilen gemeint war. Und doch glaubte er, diese Frau gesehen zu haben, im Zirkus, dem Zirkus der Nacht, einem weiteren Hirngespinst, dem er in den letzten Tagen verfallen war. Ich habe diesen Zirkus nie gesehen.
Und wenn ich richtig nachrechne, so muß die Frau auf der Photographie weit über achtzig Jahre alt sein. Wenn sie überhaupt noch lebt.
Keine Frage, Echo hat sich auf den Weg zur Chymischen Hochzeit gemacht, die man ignorieren aber nicht leugnen kann. Wem dies kein Begriff ist, der lese das Büchlein des Johann Valentin Andreae, veröffentlicht 1616 zu Straßburg. Diese alchemistische Schrift schildert die Einweihungserlebnisse des Christian Rosenkreutz. Sie sind voller Allegorien auf die Templer, ihre Macht, ihre bevorstehende Rückkehr und den Großen Plan.
Er wird Rosa nicht finden.
Dafür werden SIE sorgen, denn SIE wollen nur die Karte. Und dann wird der zwölfte Bote sein Ziel erreicht haben…
Oh ja, es stimmt, ich hatte mich geweigert, an die Existenz okkulter Bünde zu glauben. Ich hatte gedacht, nach unserem ersten Treffen aussteigen zu können aus einer Geschichte, die so unglaubwürdig klang, daß ich keine Zeit darauf verschwenden wollte. Doch es war eine Geschichte, die niemanden, der auch nur von ihr gehört hat, aus ihren Klauen läßt.
Der alte Marten, in dessen Buchladen ich einige Zeit arbeitete, wußte von Anfang an, daß okkultes Wissen in den Geheimgesellschaften gehortet wird. Wenn man ihm glauben kann, dann sind sie die Verbindung der Templer zur profanen Welt. Ihre Aufgabe ist es, die Suche, mit der Johann Valentin Andreae vor fast dreihundert Jahren begonnen hat, fortzuführen. Die Suche nach dem zwölften Teil der Steinernen Karte, die das Große Geheimnis, den Großen Plan des Tempelritterordens, komplett macht und auflöst. An diesem Tag, wenn die Karte in ihre Hände fällt, kommt sie zurück – um Rache zu nehmen für den Verrat des Papstes, die Geldgier des Königs, für ihre Vernichtung: die Arme Ritterschaft Christi und des salomonischen Tempels zu Jerusalem.
Ich habe seine Warnungen als Spinnerei abgetan, als Historienmärchen, das in unserer heutigen Zeit keinen Platz hat.
Ich habe mich geirrt. Ich, nicht er.
Die Geheimbünde haben längst die Witterung aufgenommen, die Logen sind auf der Spur der Steinernen Karte.
Marten wußte um die Gefahr. Aber er hat sie einfach ignoriert. Vom ersten Augenblick an, da er von dem Päckchen mit der Karte, das Echo gefunden hatte, erfuhr, war er besessen von dem Gedanken, er könne den Templern ihren Teil am Großen Geheimnis streitig machen. Ein unsinniges Unterfangen, denn SIE sind überall.
Ich habe die ganze Nacht wachgelegen. Bei jedem noch so geringen Geräusch glaubte ich, SIE vor der Tür zu wissen. Wer SIE wirklich sind, kann ich nur vermuten. SIE waren schon in Frankreich hinter dem Päckchen her und sind seiner Spur bis zu uns nach Oldenburg gefolgt. Die Templer, die Logen, die Mafia selbst – sie alle suchen den zwölften Teil des Geheimnisses, sie alle sind gleichermaßen gefährlich.
Ich besitze die Steinerne Karte nicht, das nicht. Ich habe sie nur ein paarmal in der Hand gehalten. Ich habe sie gesehen, und das genügt wohl. Ich glaube, Echo hat sie mitgenommen. Oder sie wurde ihm abgenommen. Einerlei. SIE werden mir nicht glauben. SIE dulden keine Mitwisser.
Ich werde die Nachricht, die Echo zurückgelassen hat, den beiden Beamten übergeben, die seit Tagen nach ihm fragen. Mehr kann ich nicht tun. Sie geben vor, seine Spur verloren zu haben.
Stümper.
Aber wer weiß schon, ob sie überhaupt Polizisten sind? Der Kraken hat seine Arme überall, heißt es in den Berichten über die Mafia.
"Garçon, si ton destin exige une victoire,
N’oublie jamais ce nom: Camerone".
Camerone, Jean-Pax Mefret, 1981, Collection Combat
"Zum Ende des Dienstes in der Fremdenlegion
schließlich führt der Weg den Legionär ein letztes
Mal in das 1er R.E. (Erste Fremdenregiment), um
administrativ die Rückkehr ins Zivilleben vorzubereiten."
Entnommen: www.lalegion.de, eine "Internetseite
über die Französische Fremdenlegion", 1999
1. AUBAGNE, FRANKREICH, FREITAG, 24. AUGUST 1984
Jossele, kleiner Jossele. Worte, die so vertraut waren wie die Stimme, die zu ihnen gehörte. Und obwohl sie ihm im Kopf rumgeisterten seit er ein kleiner Junge war, mal mehr, mal weniger, konnte er beides doch keiner Begebenheit in seinem Leben zuordnen. Capitaine Jacques Morand wischte die Gedanken ein weiteres Mal mit einem Kopfschütteln fort. Er stand auf, strich sich automatisch glättend über die Uniform und ging zum Fenster. Ein ungeduldiger Blick auf die Armbanduhr. Sein Termin beim Patron war um zehn, nun war es drei Minuten nach. Der Colonel ließ ihn warten! Das wäre bei Leclercque, seinem Vorgänger, nicht passiert. Doch der war nun, wie man sich erzählte, in Paris. Wieder schweiften seine Gedanken ab. Dort unten auf dem breiten Paradeplatz stand das Ehrenmal der Legion, das Monument Aux Morts, verlassen in der Morgensonne. In Gedanken sah er sich dort noch stehen, am 30. April, dem Jahrestag der Schlacht von Camerone, der an jedem Standort der Welt, von jeder Einheit der Fremdenlegion gefeiert wird. Camerone, das ist für die Legion Sinnbild für Durchhaltewillen und Gehorsam – und zugleich ihr höchster Feiertag. Besonders natürlich hier, im Maison Mère, dem Mutterhaus der Legion in Aubagne, einige Kilometer östlich von Marseille. Morand, und das betrachtete er als die höchste Auszeichnung seiner Laufbahn, hatte als Offizier der ersten Compagnie dort unten vor allen Besuchern und angetretenen Legionären während der Zeremonie die üblichen Passagen aus der Geschichte der Schlacht vorgelesen. Eine Tradition und in der Tat eine Ehre, die im Rahmen der Feierlichkeiten nur verdienten Offizieren zuteil wurde.
Und jetzt? Jetzt war es vorbei, seine Dienstzeit, sein Leben – was für ihn im Augenblick das Gleiche war. Das schwarze Loch, in das er fallen würde, lag unüberwindbar und drohend vor ihm. Die feierliche Entlassung nach fast vierzig Dienstjahren. Was konnte schon sein, jenseits der Legion? Eine Antwort darauf hatte Morand in den letzten Jahren nicht gefunden, und das würde vermutlich auch so bleiben. Die Legion entließ ihn so feierlich, wie sie nur konnte: Auskleidung, Verabschiedung durch den Regimentskommandeur, ein letztes Gespräch mit dem Chef der Aufklärung, Überreichung des Veteranen-Abzeichens und dann raus aus der Kaserne. Er haßte den Gedanken, doch der Zeitpunkt war nun fast gekommen.
Die Tür des kleinen Vorzimmers öffnete sich, Colonel Pétain, der Kommandeur des Ersten Fremdenregiments, das seit je her hier in Aubagne beheimatet war, trat heraus, lächelte, als Morand sich zu ihm umwandte, und machte eine einladende Geste. Morand folgte ihr. Beide Männer waren in etwa gleich groß, sie trugen ihre Uniform mit Stolz, waren durchtrainiert, und ihr kurzgeschorenes, graumeliertes Haar ließ sie trotz des Altersunterschiedes von nahezu zwanzig Jahren, durchaus ähnlich aussehen. Morands Blick fiel im Vorbeigehen auf den Adjutanten hinter dem Vorzimmerschreibtisch. Für einen Augenblick beneidete er den jungen Soldaten um alles, was noch vor ihm lag.
Pétain setzte sich und bot Morand eine Zigarre an. Kopfschütteln. Nein, Zigarren waren nichts für ihn.
Mit einer lässigen Handbewegung schloß der Colonel die Zigarrendose und stellte sie wieder auf seinen Schreibtisch. "Nun Capitaine, keine zwei Wochen mehr, dann sind Sie frei." Was als Scherz gemeint war, löste bei Morand nur ein widerwilliges Lächeln aus. Er hatte geahnt, daß diese Mischung aus steifer Gutmütigkeit und Schadenfreude, die vor ihm saß, eine weitere Bewährungsprobe in seiner zu Ende gehenden Dienstzeit werden würde. Nein, er würde sich alles andere als frei fühlen. Morand sah seinen Vorgesetzten abwartend an. Pétain aber empfand gar keine Schadenfreude. Es war nicht sein erstes Gespräch dieser Art. Nur die Jungen waren froh, wenn sie ihre fünf oder zehn Jahre Legion hinter sich hatten. Mit Morand war das etwas anderes, er hatte fast vierzig Jahre gedient und war vor 15 Jahren zum Offizier befördert worden. Eine Besonderheit für einen Ausländer, da die Offizierslaufbahn in der Regel nur Franzosen vorbehalten war. "Was haben Sie jetzt vor?" fragte der Colonel und griff mit einem schmalen Lächeln nach Morands Stammakte. "Werden Sie fortgehen aus Frankreich?"
"Keine Ahnung." Der Capitaine zuckte mit den Schultern und dachte an seine Wohnung in Marseille, die er vor einigen Monaten, nach dem Einsatz im Tschad, und nachdem ihm endgültig klargeworden war, daß er den Rest seiner Dienstzeit hier in der Stammeinheit verbringen würde, gemietet hatte. Dann plötzlich wurde ihm bewußt, daß er sehr wohl einen Plan hatte, eine vage Idee, die sich im Laufe der letzten Monate immer mehr zu verfestigen schien. "Ich werde mich auf die Suche nach meinen Eltern machen", sagte er schließlich mit rauher Stimme. "Sie leben nicht mehr, da bin ich mir sicher. Aber irgendeinen Hinweis wird es ja wohl noch geben…"
"Die Morands…" murmelte Pétain und sah in die Akte. "Moerkerke", fragte er schließlich. "Wo ist das?"
Einen Augenblick mußte der Capitaine überlegen, denn das Elternhaus hatte er nicht gemeint. "Belgien", erklärte er sodann. "Ein kleiner Ort in der Nähe der Küste. Aber…"
"Ach ja, Sie sind ja Belgier!"
Morand schnaubte. "Nein", sagte er tonlos. Das hatte er auch einmal gedacht. "Ich bin Deutscher. Meine Eltern waren jedenfalls Deutsche…" Er überlegte einen Augenblick. Das, was er vorhatte, war keineswegs einfach. Er hatte lange darüber nachgedacht und war zu der Einsicht gelangt, daß sein Vorhaben, sich auf die Suche nach seiner Vergangenheit zu machen, nicht ohne die Hilfe der Legion zu bewerkstelligen war. Ob es ein Grabstein war oder irgendein sonstiger Hinweis auf seinen Vater, seine Mutter oder deren Familie. Er nahm an, daß keiner von ihnen das Dritte Reich überlebt hatte. Und die Legion verfügte über einen eigenen Geheimdienst, das Deuxième Bureau, das offiziell zwar in den französischen Auslandsnachrichtendienst eingegliedert worden war, zu dem der Colonel aber sicher noch Kontakt haben dürfte… "Ich brauche Ihre Hilfe", sagte er zu Pétain gewandt.
Der Colonel reagierte nicht sofort. Scheinbar regungslos überflog er die folgenden Seiten von Morands Stammakte, bis zu jener verblichenen Kopie, die seltsamerweise einen Stempel mit deutschem Reichsadler aufwies. Er machte ein Fragezeichen daneben. Es stimmte also offenbar, Morand war tatsächlich Deutscher. Er legte die Akte vor sich auf den Tisch. Na und wenn schon, dachte er. Die Deutschen stellten seit je her den größten Teil der Fremdenlegionäre. Pétain lächelte gezwungen und rief sich Morands letzte Worte wieder ins Gedächtnis. "Hilfe?" fragte er. "Wobei?"
"Bei der Suche nach meinen Eltern."
"Die Adresse in Belgien?" fragte Pétain, krauste die Stirn und warf einen Blick auf die Akte. Im selben Moment wurde ihm klar, daß Morand nicht Moerkerke meinte.
Bevor Morand etwas antworten konnte, klingelte das Telefon. Der Colonel machte eine entschuldigende Geste und nahm ab. "Was ist?" Er lauschte einige Sekunden in den Hörer. "Das Deuxième Bureau?" fragte er überrascht. Dann, mit einem Seitenblick auf den Capitaine, fügte er hinzu: "Nein, nicht hier", sagte er knapp, "ich komme rüber…" Mit einem Seufzer stand Pétain auf, bedeutete Morand zu warten und verließ das Büro. Als die Tür ins Schloß fiel, beugte sich Morand vor und griff über den Tisch nach seiner Stammakte. Er blätterte sie nur kurz durch, ohne zu wissen, weshalb. Vielleicht war es Pétains Notiz, die ihn neugierig gemacht hatten, vielleicht auch nur der Drang zu lesen, was die Legion über ihn wußte.
Einsatzbefehle, Lehrgangszeugnisse, Beurteilungen – auf den ersten Blick nur gute – machten den Großteil der Unterlagen aus. Dann stieß er auf eine abgegriffene, blasse Seite, auf der ein deutscher Reichsadler prangte, eine Geburtsurkunde, seine Geburtsurkunde, die Geburtsurkunde, die ihn vor dreiundvierzig Jahren dazu getrieben hatte, von zu Hause fortzulaufen. Dahinter noch ein Dokument, ebenfalls auf Deutsch, und ein Brief. Er las seinen Vornamen, zugegeben, Jacques war kein seltener Name, aber es war zweifelsfrei seiner. Die Legion wußte Bescheid. Er hatte es nie erwähnt, also hatten sie Erkundigungen eingezogen über ihn. Er zuckte mit den Schultern und blätterte weiter. Lieber Claes, las er, bitte nimm dich in tiefster Christenpflicht dieses Kindes an… Claes, so hieß sein Vater. Sein Adoptivvater. Morand zögerte, blätterte zurück zur Geburtsurkunde. Sein Deutsch war gut genug um das Wichtigste entziffern zu können. Seine Mutter, so stand es in dem entsprechenden Feld, war Rosa Kerschenstein. Das wußte er, denn er kannte diese Urkunde, und sah plötzlich wieder das Wohnzimmer des kleinen Bauernhauses vor seinen Augen, den schweren Eichenschrank, in dessen Schubladen er eines Tages diese Urkunde gefunden hatte. Dreiundvierzig Jahre war das nun her. Der Vater, so stand es dort, war unbekannt…
Er hatte keine Zeit mehr, weiterzulesen, vor der Tür ertönte Pétains Stimme und Morand schob die Akte wieder zurück. Als der Colonel eintrat, wandte Morand sich um und fragte geistesgegenwärtig: "Etwas Dringendes?"
"Natürlich", erwiderte Pétain knapp und warf einen Blick auf seinen Schreibtisch. Morand war klar, daß die Akte nicht exakt an der Stelle lag, von wo er sie aufgenommen hatte, doch der Colonel setzte sich, ohne eine Bemerkung darüber zu verlieren. Und schließlich war es ja auch seine Akte. "Das Deuxième Bureau", sagte Pétain statt dessen. "Wenn die Geheimniskrämer uns nicht mindestens einmal am Tag belästigen können, sind sie nicht zufrieden…" Er klappte mit einer raschen Bewegung die Akte zu, legte die Fingerspitzen zusammen und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Die Luft war drückend, schon um diese Zeit, der Ventilator an der Decke rotierte leise summend, ansonsten war es still im Büro des Colonels. Morand versuchte sich einzureden, daß es mittlerweile und nachdem er über vierzig Jahre nicht mehr mit seinen Eltern – mit den Morands – gesprochen hatte, völlig gleichgültig war, von wem er abstammte. Wozu brauchte er jetzt noch Wurzeln? Vergeblich.
Der Colonel wandte den Blick von Morand zum Fenster. Plötzlich schien er sich an den eigentlichen Grund dieses Gesprächs zu erinnern. "Capitaine", begann er und lenkte seinen Blick wieder auf sein Gegenüber. "Sie haben eine beachtliche Dienstzeit hinter sich. Ihrer Akte kann ich nichts wirklich Negatives über Sie entnehmen. Nicht zuletzt deshalb bedaure ich es, daß Sie das Regiment – daß Sie die Legion – nun bald…"
"Ich brauche Ihre Hilfe", unterbrach ihn Morand. "Ich möchte noch einen Blick in meine Akte werfen". Er ertrug dieses Standardgewäsch nicht. Nichts wirklich Negatives bedeutete, daß seine gelegentlichen Eigenmächtigkeiten und Auseinandersetzungen mit Vorgesetzten in der Vergangenheit Eingang in diese Mappe gefunden hatten. Natürlich hatten sie das. Aber das interessierte ihn nun nicht mehr, das war vorbei. Jetzt wollte er wissen, ob die Legion ihm helfen konnte. Ein letztes Mal. Vater unbekannt, das hatte er ein Leben lang mit sich herumgetragen. Irgendwo aber mußte es doch einen Hinweis geben!
"Es tut mir leid, Morand", erwiderte Pétain ein wenig verärgert darüber, in seinem Standardmonolog unterbrochen worden zu sein. "Derlei Unterlagen sind nicht für den Legionär bestimmt. Sie enthalten zum Teil Geheimnisse und sind nur für den Dienstgebrauch…"
"Ich bin kein Legionär, ich bin Offizier!" fuhr Morand seinen Vorgesetzten an. Er war aufgestanden, hatte sich vorgebeugt und war drauf und dran, sich die Akte zu nehmen. Pétain sah ihn nur scharf an, blieb aber unbewegt auf seinem Sessel sitzen. "Sie werden bald sehr viel Zeit haben", erwiderte Pétain betont ruhig. "Zeit, um nachzudenken, wie Sie Ihre Karriere hätten gestalten können, wenn Sie nicht so häufig Ihrer Unbedachtheit nachgegeben hätten. Dienen heißt Disziplin, das gilt für uns alle." Er seufzte und versuchte es mit einem versöhnlichen Lächeln. "Im Augenblick sind Sie noch Angehöriger der Legion. Wie Sie wissen sollten, bedeutet das absolute Gehorsamspflicht. Auch als Offizier. In diese Akte kann ich Ihnen keinen Einblick gewähren."
Morand setzte sich. "Finden Sie etwas über meine Eltern heraus", sagte er ruhig. Er versuchte, es wie eine Bitte klingen zu lassen, was vermutlich mißlang.
"Ihre Eltern?" Pétain hob die Augenbrauen.
"Ja." Morand wies auf seine Stammakte. "Da drin ist ein Hinweis auf meine Mutter. Was ist aus ihr geworden? Lebt sie noch? Wenn nicht, wo ist sie abgeblieben? Irgend etwas in der Richtung. Das Deuxième Bureau ist gewöhnlich recht gut darin, derartige Dinge herauszufinden. Helfen Sie mir, dann sind Sie mich los…"
Pétain verdrehte die Augen. Natürlich hatte der Capitaine die Gelegenheit genutzt und einen Blick in seine Akte geworfen! Warum hatte er sie auch liegenlassen? "Hören Sie", begann er unschlüssig. "Ich habe keinen…" …Einfluß auf das Deuxième Bureau, wollte er sagen. Doch Morand unterbrach ihn: "In zwei Wochen ist es aus", brummte er, "Dann bin ich ein Niemand, kein Offizier mehr, kein Nichts. Ich will wissen, woher ich komme, das ist alles. Helfen Sie mir. Mehr will ich ja nicht…"
Pétain nahm die Akte vom Tisch und blätterte sie ein weiteres Mal durch, doch sie enthielt keinen weiteren Hinweis auf die Frau in der Geburtsurkunde. Rosa Kerschenstein, das klang jüdisch, dachte er. Einen Augenblick lang sah er den Capitaine nachdenklich an. Dann nahm er ein Blatt Papier aus einer der Schreibtischschubladen, notierte einen Namen und eine Telefonnummer darauf und reichte es Morand. "Ich kann nichts für Sie tun", sagte er leise. "Eine offizielle Anfrage hätte keinen Zweck, das Bureau akzeptiert derartige Ersuchen nicht. Erst recht nicht, da Ihre Akte seit einiger Zeit als geheim eingestuft ist."
Morand wollte etwas sagen, doch der Colonel hob die Hand und fuhr fort: "Ich habe Ihnen die Nummer meines Vorgängers aufgeschrieben, Colonel Leclercque. Vielleicht kennen Sie ihn noch? Er ist als Verbindungsoffizier nach Paris versetzt worden. Rufen Sie ihn an. Vielleicht kann er Ihnen helfen, unter der Hand gewissermaßen…"
Morand verzog den Mund und stand auf. Eine freundliche Absage nannte man das wohl. Nun gut, dann war er eben auf sich gestellt. In den letzten Tagen würde er nicht mehr in Frage stellen, was er in drei oder vier Jahrzehnten mehr oder weniger erfolgreich verinnerlicht hatte. Er nickte, wandte sich um und ging zur Tür. "Capitaine Morand", sagte er rhetorisch, drehte sich noch einmal um und führte flüchtig die Hand zur Stirn, "ich melde mich ab!"
Pétain ließ ihn gehen. Er war unzufrieden mit sich und dem Gespräch. Das war unprofessionell, das konnte er besser. Ihm war klar, daß Morand vielleicht mehr hätte erwarten können. Schließlich ging es nicht um militärische Geheimnisse. Aber die Papiere unterlagen tatsächlich einer strengen Geheimhaltungsstufe, und damit alles, was mit ihnen zusammenhing. Also hatte er richtig gehandelt.
Mißmutig und unzufrieden betrachtete er die alten Dokumente, seufzte und klappte alles wieder zu. Paris dachte sich alle Augenblicke etwas Neues aus, um die Truppe zu nerven. Die Stammakte eines altgedienten Offiziers auf den Index zu setzen – das allerdings war wirklich neu. Pétain steckte die Mappe in einen Umschlag, verschloß ihn, verließ sein Büro und gab sie seinem Adjutanten. "Geben Sie gut darauf acht", sagte er mit spöttischem Unterton. "Das Deuxième Bureau holt die Akte noch heute nachmittag raus…"
Der junge Adjutant nickte. "Oui, mon Colonel."
C'est une leçon par la suite.
Quand ILS se reproduiront,
Car ILS ne sont pas à ses derniers masques,
Congédiez-les brusquement,
Et surtout n'allez pas les chercher dans les grottes,
Mais chercher ma tombe telle que j'ai chercha ça:
La tombe de la croix et des roses.
Rosa, Rue de la Manticore, Bruges, May 1919
2. MARSEILLE, FRANKREICH, SAMSTAG, 25. AUGUST 1984
Leclercque setzte sich mühsam auf das dunkle Ledersofa und legte den Telefonhörer auf. Schmerzen zogen durch seinen Rükken, ruiniert für die Legion in Indochina, im Kongo und Gott weiß wo. Daran hatten auch die letzten Monate hinterm Schreibtisch im Hauptquartier der Direction Générale de la Sécurité Extérieure nichts mehr geändert. Den Posten als Verbindungsoffizier beim französischen Auslandsnachrichtendienst hatte er Ende Februar bekommen, überraschend schnell, und so dankbar er zunächst gewesen war, nach Élises Tod aus Marseille fortzukommen, so abgeschoben fühlte er sich bereits nach wenigen Wochen. Überflüssige Besprechungen, Telefonate und sinnloser Schreibkram – über Langeweile hatte er sich in Paris nicht beklagen können, aber sinnvoll erschien ihm die Arbeit beileibe nicht. Und mal ehrlich: Stabsoffiziere, die nie einen Einsatz geleitet hatten, Attachés, Minister, Präfekten – nein, das war nie seine Welt gewesen. Tatsächlich war er hier nach all den Jahren, die er als Kommandeur des Ersten Fremdenregiments in Aubagne gedient hatte, in eine Sinnkrise geraten, die der nach dem Tod seiner Frau in nichts nachstand. Auch die Beförderung zum Colonel hatte daran nichts geändert. Er vermißte die Legion, vermißte sein Fremdenregiment, vermißte Marseille. Paris minderte die Trauer um seine Frau nicht im geringsten. Vielleicht besaß er deswegen noch die kleine Wohnung, die er zusammen mit Élise in der Nähe des Marseiller Hafens und nur eine halbe Stunde von der Kaserne in Aubagne entfernt, gekauft hatte. Hier wollten sie die gemeinsame Zeit nachholen, die ihnen die Legion nur allzuselten gelassen hatte.
Manchmal, wenn er nachts wach lag, fragte er sich, warum das Commandement ihn so plötzlich versetzt hatte. Abgeschoben, war dann seine bevorzugte Wortwahl, oder ausrangiert. Natürlich war die Begründung gewesen, daß seine langjährigen Leistungen durch den Posten in Paris gewürdigt und gekrönt werden sollten.
Unfug. Er ahnte, daß es nur Phrasen waren. Zugegeben, er hatte sich verändert, damals, als ihm klargeworden war, daß Élise die nächsten Wochen im Krankenhaus nicht überleben würde, er hatte Urlaub gebraucht, Zeit, um mit sich und der Situation fertig zu werden, Zeit, die sie ihm gegeben hatten. Dann eine kurze Notiz, die Einberufung in das Commandement de la Légion Etrangère, den Legionsstab, wo ihm ganz kameradschaftlich das Angebot gemacht wurde, die letzten Monate bis zu seinem Ausscheiden als Verbindungsoffizier nach Paris zu gehen. Ein Angebot von dem er ahnte, daß es keines war – die Vorschläge der Legion waren in der Regel Befehle.
Leclercque nahm an. Nicht zuletzt, weil die nach Élises Tod verwaiste und nunmehr triste Wohnung in Marseille ihn dazu drängte. Verkaufen hatte er das Appartement mit dem wunderbaren Blick auf den Yachthafen und den unzähligen Erinnerungen aber ebenfalls nicht. Und das war gut gewesen, denn er bereute es längst fortgegangen zu sein. So oft es ging, fuhr Leclercque zurück nach Marseille, weil er es in Paris nicht aushielt.
Die Wochen vergingen in einem Gefühl von Auflösung, stets auf der Flucht, und doch gewiß, nie anzukommen. Élise war tot und nichts würde sie ihm zurückbringen. Als Leclercque sich zu fragen begann, wie er die Einsätze der letzten dreißig Jahre gemeistert hatte, erfolgreich und mit geringem Blutzoll der ihm anvertrauten Männer, stets als Soldat und Offizier aus Überzeugung, als er sich zu fragen begann, wieso diese Kaltblütigkeit jetzt nicht mehr funktionierte und wie lange er diesen Gecken in Paris noch etwas vormachen wollte – gerade da kam der Anruf, Morands Anruf.
"Ich brauche Ihre Hilfe, mon Colonel." Der Mann mit der rauhen Stimme war unmittelbar zur Sache gekommen, nachdem Leclercque sich gemeldet hatte. Hilfe… Es dauerte einen Augenblick, bis er die Stimme einem Gesicht und das Gesicht einem Namen zuordnen konnte. Er seufzte. "Lassen Sie die Förmlichkeiten, Morand. Ich gehöre nicht mehr zur Truppe. Wie sollte ich Ihnen jetzt noch helfen können?" Leclercque wunderte sich ein wenig über seine Schroffheit. Klang da etwa Verbitterung durch? Sollte er sich nicht freuen, etwas von seinem Regiment zu hören? Von seinen Leuten? Er dachte nach. Jacque Morand war etwa ein Jahr zuvor zum Ersten Fremdenregiment nach Aubagne versetzt worden, und es war absehbar, daß es für ihn die letzte Station in seiner Karriere sein würde. Nach fast vierzig Dienstjahren mußte der Capitaine nun kurz vor seiner feierlichen Entlassung stehen. Leclercque erinnerte sich an Apelle, Briefings, ein kurzes Gespräch anläßlich seiner Verabschiedung, bei denen er Morand begegnet war, einem stämmigen, nicht allzugroßen Mann, vielleicht einen Meter siebzig, und wenn seine Augen einmal Milde und Lebensfreude ausgedrückt hatten, so mußten diese Eigenschaften im Verlauf seines Legionärsdaseins verlorengegangen sein. Übriggeblieben waren ein wacher, stets irgendwie melancholischer Blick und zahlreiche Narben in einem einstmals sicher attraktiven Gesicht.
Als Morand nichts entgegnete, sah er sich gezwungen, nachzufragen: "Worum geht es denn?"
Es dauerte ein paar weitere Sekunden, bis der Capitaine sich regte. Ein Räuspern, dann begann er zu erzählen, langsam, präzise, in ruhigen Worten, von seiner Absicht, mehr über seine Vergangenheit zu erfahren, jetzt endlich, nach all der Zeit. Über seine wirkliche Abstammung, die er jahrzehntelang verdrängt und doch stets mit sich herumgetragen hatte, von seinem Abschied und der Leere, die damit einhergehen würde. Er erzählte von seinem Gespräch mit Colonel Pétain und davon, daß seine eigene Stammakte als geheim eingestuft worden war.
"Wenn Pétain Ihnen nicht helfen kann, dann kann ich es erst recht nicht", erklärte Leclercque, doch es klang eher wie eine Vermutung.
"Andersrum", brummte Morand. "Wenn Sie es nicht können, wer dann? Pétain fühlt sich an die Anweisungen des Commandements gebunden…"
"Ach, und Sie glauben, daß ich…"
"Ich brauche nur ein paar Hinweise, nichts Schlimmes, vielleicht ein paar Adressen. Was steht über meine Familie in den Akten. Lebt einer von ihnen noch, irgend sowas…"
"Warum sollte ich das tun?"
"Weil Sie mit Leib und Seele Offizier der Legion sind."
Einen Augenblick lang war Leclercque perplex, von der Antwort ebenso überrascht wie getroffen. Natürlich war Morand einer seiner Männer und das Maß an Loyalität gegenüber seinem neuen Arbeitgeber in Paris im gleichen Maße geschrumpft wie er sich zur Legion zurückwünschte. Aber was wußte schon der Capitaine davon?
"Sagt Ihnen der Name Kerschenstein etwas?" Morand hatte den Namen bisher nicht erwähnt. Warum dies einen Unterschied machen sollte, vermochte er nicht zu sagen. Er folgte nur seiner Intuition.
"Kerschenstein…" Leclercque zögerte. Eine Erinnerung, vage nur und durchzogen von zahlreichen anderen, machte sich in ihm breit. Er kannte den Namen, aber wieso konnte er ihn nicht zuordnen? Und wieso bekam er dennoch eine Gänsehaut, wenn er ihn hörte? "Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann", hörte er sich plötzlich sagen. "Rufen Sie mich in ein paar Tagen wieder an…" Mechanisch legte er den Hörer auf, starrte vor sich hin, kopfschüttelnd. Er hatte plötzlich ein Bild von Élise vor Augen, unbeschwert und jung…
"Nach deren Exempel soll auch die politische Ordnung in Europa von uns hergestellt werden, wenn dasjenige wird eingetreten und geschehen sein, das vorausgehen soll, und wenn unsere Posaune mit hellem Schall und großem Geschrei öffentlich erschallen wird."
J. V. Andreae: Confessio Fraternitatis, 1614, Diederichs, 1984, P. 84
3. MARSEILLE, FRANKREICH, SAMSTAG, 25. AUGUST 1984
Die Mittagssonne schien durch die nur halb zugezogenen Vorhänge und machte aus der kleinen Wohnung beinahe einen Brutkasten. Der laue Wind, der vom Meer herüberwehte, vermochte dagegen nichts auszurichten. Durch das Fenster drangen die fernen Geräusche des Marseiller Hafens und mischten sich mit dem monotonen Ticken der Biedermeier Portaluhr – eine Gefühlsduselei, die seit Jahren auf dem Kaminsims stand. Leclercque sortierte unkonzentriert Kleider, Schuhe, Bücher, ohne wirklich zu wissen, was er mit Élises Sachen anfangen sollte. Der Anruf des Capitaines am Vormittag ging ihm nicht aus dem Sinn, und so hatte er sich darangemacht, das immer wieder aufgeschobene anzugehen. Zaghaft und unschlüssig begann er aufzuräumen, Élises Sachen auszusortieren und in Kartons zu verstauen.
Im nachhinein mußte er zugeben, daß ihm Morands Anruf sogar geschmeichelt hatte. Soldaten waren nur selten Poeten, aber wenn man zwischen den Zeilen lesen konnte, dann blitzte hier und da durchaus mal Anerkennung auf. Nun gut, er würde ihm helfen.
Während der folgenden tristen Stunden zwischen Kleiderkartons, Papieren und Stapeln noch zu sortierender Bücher, ging Leclercque in Gedanken die Liste der Männer im Legionsstab durch, die ihm vertrauenswürdig erschienen – und ihm noch einen Gefallen schuldeten. Zum Glück gab es davon einige.
Am sinnvollsten erschien es ihm, Raimond Girardeaux anzurufen. Er war Adjudant-Chef im Stab des Deuxième Bureau, einer Unterabteilung des Auslandsnachrichtendienstes innerhalb der Legion. Girardeaux, ein ruhiger Mittfünfziger mit kurzen, dunklen Haaren, einem anachronistisch wirkenden Oberlippenbärtchen und schmalen, müde wirkenden Augen, war mit Leclercque zusammen im Tschad und in Zaire gewesen, bevor sie beide im Abstand von wenigen Monaten von den Fallschirmjägern zum Ersten Fremdenregiment nach Aubagne wechselten. Girardeaux, der die Kommandoeinsätze nicht mehr ertrug, wußte, daß Leclercque dabei seine Hände im Spiel gehabt hatte und war ihm noch heute dankbar.
Sie verabredeten sich für den Abend des darauffolgenden Tages und trafen sich am Marseiller Yachthafen bei Pierre, Leclercques Lieblingsbistro. Nach kurzer, korsisch zurückhaltender Begrüßung – sie stammten beide von der Mittelmeerinsel – überreichte der Adjudant-Chef Leclercque betont unauffällig eine Kopie der Stammakte Morands.
"Was ist mit diesem Morand?" wollte der Colonel wissen. Er sah sein Gegenüber fragend an und legte die Akte auf den Tisch.
"Mit Morand ist nichts, mon Colonel", erwiderte Girardeaux und wies etwas nervös auf die Kopien. Daß sie auf dem Tisch lagen, schien ihm unangenehm zu sein. "Abgesehen davon, daß er manchmal etwas aufbrausend ist und in zehn Tagen entlassen wird."
"Gibt es einen Grund, daß Pétain ihm keine Akteneinsicht gewährt?"
"Das muß er doch gar nicht."
Leclercque sah den Adjutant-Chef fordernd an. "Girardeaux! Verkaufen Sie mich nicht für dumm." Dann zwinkerte er seinem Gegenüber zu. "Morand hat ihn danach gefragt. Offenbar hat er etwas in der Akte entdeckt, das er sich genauer ansehen will. Ist das schlimm?"
Der andere seufzte. "Der Colonel hat Anweisungen", sagte er schließlich gedämpft. "Ich weiß nicht, was an dieser Akte nicht stimmt, mir scheint überhaupt nichts Besonderes darinzustehen. Dennoch ist sie vor einigen Tagen ganz plötzlich als très secret défense eingestuft. Allein die Möglichkeit, daß Ihr Capitaine einen Blick hineingeworfen haben könnte, könnte Pétain in ziemliche Schwierigkeiten bringen."
"Na, er muß es ja niemandem sagen", entgegnete Leclercque lächelnd.
Girardeaux blieb ernst. "Nehmen Sie die Kopien mit und verlieren Sie zu niemandem ein Wort darüber. Wenn bekannt wird, daß es ein Duplikat gibt, dann bin ich geliefert…"
Leclercque, der die Mappe bereits aufgeschlagen hatte, nickte, klappte sie verstohlen wieder zu und ließ sie neben sich auf dem Stuhl verschwinden. "Die Akte ist das eine", sagte er und dachte an Morands Anruf. "Ich möchte, daß Sie noch etwas für mich herausfinden. Morand ist auf der Suche nach seinen Wurzeln, seiner Vergangenheit. Sie kennen das ja, eine Art Zivilkoller oder so. Er will unbedingt seine Eltern finden, die vor oder während des Krieges verschwunden sind."
"Lassen Sie mich raten – er meint nicht die Morands?"
"Er erwähnte den Namen Kerschenstein."
"Er hat die Akte gelesen?"
"Pétain hat ihn ein paar Minuten damit alleingelassen", erwiderte Leclercque mit einem schmalen Grinsen.
"Wie unvorsichtig." Girardeaux verdrehte die Augen. "In der Akte finden sich tatsächlich Hinweise auf eine Rosa und einen Jacob Kerschenstein", gab er schließlich zu. "Und ich vermute, daß dies der Grund für die Klassifizierung als geheim ist."
"Jacob Kerschenstein? Aber warum? Ist der Mann beim Mossad?" Leclercque sah den Adjutant-Chef mit hochgezogenen Augenbrauen an. Die Einstufung als très secret défense war gewöhnlich militärischen Informationen vorbehalten.
"Beim Israelischen Geheimdienst? Glaube ich nicht. Der Mann ist neunzig." Girardeaux krauste nachdenklich die Stirn. "Andererseits wäre es eine durchaus plausible Erklärung…"
"Und er war ja nicht immer neunzig", fügte Leclercque hinzu.
"Nein…" Girardeaux verzog den Mund. "Ich kann das überprüfen", bot er an. "Zumindest kann ich es versuchen."
Leclercque nickte dankbar. "Ich muß wissen, was es mit dieser Geheimniskrämerei auf sich hat."
"Ich kann nichts versprechen", erwiderte der Adjutant-Chef. "Das Deuxième Bureau ist in dieser Angelegenheit nur Befehlsempfänger…"
"Was soll das heißen? Hat das Ministerium hat die Anweisung gegeben?"
"Ja."
"Wer?"
Girardeaux lächelte und zuckte mit den Schultern.
Macht nichts, dacht Leclercque. Das war im Augenblick auch nebensächlich. "Rosa Kerschenstein", sagte er statt dessen leise und versuchte, sein Gegenüber mit einem väterlichen Blick zu motivieren. "Versuchen Sie, auch über sie etwas herauszufinden. Morand ist einer von uns. Er hat vierzig Jahre seinen Kopf für Frankreich riskiert. Ich finde, jetzt könnte Frankreich etwas davon zurückgeben."
"Sie wissen, wie es ist, wenn man sich mit dem Staat anlegt?"
Leclercque nickte ohne den Blick von Girardeaux zu wenden.
"Also gut…" Der Adjutant-Chef sah seinen ehemaligen Vorgesetzten ergeben an. "Ich werde tun was ich kann."
Leclercque bedachte ihn mit einem wohlwollenden Blick. "Ich weiß, Girardeaux", entgegnete er leise. "Und ich danke Ihnen! Wenn ich etwas für Sie tun kann –"
"Non non, mon Colonel", erwiderte der Adjudant-Chef mit einem entschiedenen Kopfschütteln und stand auf. "Ich tue das gerne. Es ist mir ein Vergnügen, Ihnen behilflich sein zu können. Nur… in diesem Fall…" Er zögerte, dann fügte er knapp hinzu: "Ich kann Ihnen nichts versprechen."
"Ich weiß. Ich verlasse mich auf Sie."
"Geben Sie mir zwei Tage Zeit." Mit einem kurzen, gezwungenen Lächeln wandte er sich ab und war nach wenigen Augenblikken im geschäftigen Treiben auf dem Quai de Rive Neuve, der am alten Hafen entlangführte, verschwunden. Leclercque sah ihm nach. "Passen Sie auf sich auf", sagte er leise.
"Verdammt nochmal", entfuhr es Leclercque. Es war völlig unverständlich! Bis spät in die Nacht hinein hatte er an seinem geschwungenen, nur von einer kleinen messingfarbenen Tischleuchte erhellten, Schreibtisch gesessen. Erst jetzt, als die Portaluhr Mitternacht schlug und die von See her wehende Brise die Wohnung soweit abgekühlt hatte, daß ihn sogar ein wenig fröstelte, legte Leclercque die Akte aus der Hand. Er seufzte, fuhr sich durch das kurze, seitliche Haar und streckte sich. In der Akte fand sich eine Heiratsurkunde, die besagte, daß eine geborene Rosa Liebkind die Frau von Jacob Kerschenstein war. Datiert auf neunzehnhundertachtzehn. Und eine Geburtsurkunde. Datiert auf neunzehnhundertneunzehn, beides nach seiner Meinung absolut kein Grund für irgendwelche Geheimhaltungsauflagen. Viel zu lange her. Und Girardeaux hatte recht. Der Rest der Papiere war ebenfalls unauffällig. Leclercque hatte in seinem Berufsleben zahllose Stammakten gesehen, erstellt oder bearbeitet und wußte, welche Informationen brisant waren und welche nicht. Diese waren es nicht. Sein Blick fiel auf zwei Zahlenkombinationen, vielleicht Aktenzeichen, die handschriftlich vermerkt auf der ersten Seite der Mappe standen. Er konnte sie nicht zuordnen und legte die Mappe kopfschüttelnd fort. Was versprach Morand sich davon, nach Menschen zu suchen, die er nie zuvor gesehen hatte? Würde er selbst es tun, wenn er seine Eltern nie kennengelernt hätte?
Kerschenstein…
Leclercque sah nachdenklich hinaus auf das Meer – oder auf den Punkt in der Dunkelheit, an dem der Leuchtturm auf der Île du Planier alle fünf Sekunden mit einem Lichtkegel das Fahrwasser markierte. Für einen Augenblick glaubte er, sich an den Namen zu erinnern.
Dann war der Augenblick vorbei.
"Guten Abend Colonel!" Die Begrüßung fiel gewohnt herzlich aus, zwei Küsse auf die Wange, ein vertrauliches Händeschütteln, dann geleitete Pierre Leclercque an seinen Lieblingsplatz unter dem Vordach der Terrasse. "Ah, Moment, ich habe etwas für Sie", sagte der Wirt noch bevor Leclercque sich setzen konnte. Er verschwand im Inneren des Bistros und kehrte keine Minute später wieder zurück, in der einen Hand ein Glas Pastis Orange, in der anderen einen Briefumschlag.
"Was ist das?"
"Das hat ein Herr gestern für Sie abgegeben", erwiderte Pierre. "Ich glaube, es war der, mit dem Sie vor ein paar Tagen hier waren..."
"Girardeaux", murmelte Leclercque und sah zur Uhr. Es war kurz vor sechs. Warum brachte er den Umschlag nicht gleich selber mit? Er nahm einen Schluck Pastis und öffnete den Umschlag. Ein mit Schreibmaschine beschriebenes Blatt kam zum Vorschein. Es enthielt eine Art Lebenslauf Kerschensteins, zusammengestellt vom Deuxième Bureau, das diesem Mann anscheinend eine besondere Bedeutung zumaß, eine Bedeutung, die sich Leclercque noch immer nicht erschloß. Girardeaux hatte das Papier offenbar nur kopiert. Leclercque sah sich um. Der Adjutant-Chef war noch nicht in Sichtweite. Also lehnte er sich zurück und las: Kerschenstein war im Januar 1895 in Oldenburg geboren worden. Oldenburg – das mußte irgendwo im Norden Deutschlands sein. Dann folgte eine Zusammenfassung des Lebenslaufes: aufgewachsen als Sohn jüdischer Eltern, während des Krieges als Freiwilliger an der Westfront, Kriegstrauung im Sommer 1918, die Armut im Nachkriegsdeutschland nie so richtig überwunden, 1939 deportiert nach Esterwegen, später registriert im KZ Buchenwald. Kurz vor Kriegsende nach Dachau transportiert, wo er fünfundvierzig befreit wurde. 1947 bis 1950 Zivilangestellter der Britischen Rheinarmee, Dienst in einer britischen Denazification Unit, der Public Safety Special Branch, unter Captain Graham Willard…
Graham Willard! Leclercque traute seinen Augen nicht. Aber ein Irrtum war ausgeschlossen. So viele Captains mit diesem Namen gab es nicht in der britischen Armee. Vor seinen Augen zeichnete sich das Bild eines smarten jungen Offiziers mit flachsblondem Haar, typisch britischem Oberlippenbärtchen und lachenden Augen, denen, soweit er sich erinnerte, keine Frau hatte widerstehen können. Kein Zweifel, er kannte diesen Willard, Graham, sie waren befreundet gewesen, damals, waren es noch lange danach gewesen, eine Freundschaft, die im Nachkriegsdeutschland begonnen hatte, als Leclercque und Willard in den Alliierten Denazification Units ihrer Sektoren tätig gewesen waren, und die später aus seltenen Besuchen und sporadischen Telefongesprächen bestanden hatte, bis… Leclercque dachte nach. Bis zu jenem Sommer, in dem ihre Freundschaft ein abruptes Ende nahm. Er verdrängte den Gedanken sofort wieder.
Im Grunde war es ohnehin völlig übertrieben, von Freundschaft zu sprechen. Aber in einem Leben, das kaum eine normale Beziehung, eine Ehe oder ein Familienleben zuließ, war selbst der sporadische Kontakt zu einem Menschen, den man mochte, schon ein intimer Bund. Und jetzt dämmerte ihm auch, in welchem Zusammenhang er den Namen Kerschenstein bereits gehört hatte – es war Graham, der damals immer wieder von einem Kerschenstein erzählt hatte, einem deutschen Juden, der sich durch das Aufspüren untergetauchter SS-Offiziere einen Namen gemacht hatte.
Leclercque betrachtete das Blatt ein wenig enttäuscht. Über Rosa war nichts vermerkt und Kerschensteins Vita endete neunzehnhundertfünfzig. Das war wenig, weniger als er vom Deuxième Bureau erwartet hatte. Aber vielleicht hatte Girardeaux heute noch mehr für ihn. Ein weiterer Blick zur Uhr, es war mittlerweile zwanzig nach sechs. Wo blieb der Mann?
Girardeaux kam nicht. Um sieben bestellte sich Leclercque zu seinem vierten Pastis, eine Bouillabaisse. Das hatte er ohnehin vorgehabt. Doch er genoß sie nicht, sondern schlang sie und die mitgelieferten Baguettestückchen nervös herunter, wobei er angestrengt darüber nachdachte, wie er an einem Freitagabend Kontakt zu dem Adjutant-Chef aufnehmen konnte, um herauszufinden, was geschehen sein mochte.
Eine halbe Stunde später war er wieder zu Hause, besorgte sich von der Telefonauskunft Girardeaux' Nummer und rief an. So einfach würde er sich nicht abspeisen lassen. Ein paar Zeilen und eine Adresse ohne jeden weiteren Kommentar, das war nicht die Arbeitsweise, die er von Girardeaux gewohnt war. Nach einer endlos scheinenden Zeit nahm jemand den Hörer ab. Ein paar weitere Sekunden vergingen, dann erklang eine Frauenstimme: "Ja?"
Leclercque nahm an, daß es sich um Frau Girardeaux handelte und fragte sie nach ihrem Mann. Sie protestierte nicht. "Ich dachte, er wäre bei Ihnen, Monsier", antwortete sie. In ihrer Stimme klang Unsicherheit und Angst mit.
"Bei mir?" Leclercque bekam augenblicklich ein schlechtes Gewissen. Hatte er sich vielleicht in der Zeit vertan? Wartete der Adjutant-Chef am Ende gerade bei Pierre? "Ich war vor fast zwei Stunden mit Ihrem Mann am Hafen verabredet", erwiderte er vorsichtig. "Aber er ist nicht gekommen…"
"Nein, nein, nicht heute", korrigierte ihn Madame Girardeaux. "Er ist gestern abend zu Ihnen gefahren. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen…"
"Gestern abend?" wiederholte Leclercque überrascht. "Aber da war ich gar nicht in Marseille… Und seitdem ist er fort?"
"Ja…" Sie seufzte einmal. "Ich mache mir Sorgen, Monsieur le Colonel…"
Leclercque räusperte sich. "Er ist beim Deuxième Bureau", versuchte er die Frau zu beruhigen. "Der Job bringt es manchmal mit sich, unerwartet verreisen zu müssen."
"Er ist bisher nie fortgeblieben ohne mir etwas zu sagen…" antwortete sie tonlos. "Nie…"
Nein, vermutlich nicht, dachte Leclercque, der wußte, daß die Frau damals einer der Gründe für Girardeaux' Versetzungswunsch war. Eine düstere Ahnung beschlich ihn, daß etwas mit dem Adjutant-Chef nicht in Ordnung war, etwas das über die Vermutung, Girardeaux könnte wegen einer Indiskretion Ärger bekommen haben, weit hinausging. "Ich werde mich erkundigen", versprach er. "Ich werde mich erkundigen, und sobald ich etwas in Erfahrung gebracht habe, lasse ich es Sie wissen..." Leclercque machte Anstalten aufzulegen, überlegte es sich ganz plötzlich anders und fügte noch hinzu: "Machen Sie sich keine Sorgen!" Doch Madame Girardeaux hatte bereits eingehängt.
Nachdenklich und mit langsamem Nicken legte Leclercque den Hörer auf das Telefon. Geheim oder nicht, er mußte seine Kontakte spielen lassen…
Ohne das Adreßbuch zu Rate ziehen zu müssen, wählte er die Nummer des Deuxième Bureau in Aubagne. Vergeblich. Als nächstes versuchte er es in Paris, im Hauptquartier der Direction Générale. Die aber, die ihm seiner Meinung nach hätten Auskunft geben können, waren auch hier nicht mehr erreichbar. Leclercque hinterließ eine Nachricht, knallte den Hörer auf die Gabel und fluchte. Einige Minuten blieb er so sitzen, starrte regungslos in die Dämmerung, die allmählich von dem großen Wohnzimmer Besitz ergriff und überlegte, was er tun könnte. Nichts war seine Antwort. Nichts außer warten…
Plötzlich hatte er einen Gedanken vor Augen, eine Erinnerung, die sich nicht sofort wieder verflüchtigte, das Bild von einer Nachricht, handschriftlich, auf grauem Papier. Leclercque erhob sich mit einem unterdrückten Stöhnen, lief zum Wohnzimmer, sah sich unschlüssig um und begann, zunächst langsam, dann immer hektischer, in den Schubladen und Regalen der Schrankwand zu suchen. Irgendwo mußte es noch Briefe von Graham geben, uralt, aus den Fünfzigern wahrscheinlich, Élise hatte so etwas ja immer aufbewahrt, und in einem dieser Briefe stand tatsächlich etwas über eben diesen Kerschenstein, da war er sich ganz sicher. Leclercque suchte im Wohnzimmer, im Schlafzimmer und schließlich wieder im Wohnzimmer, und erst als er die kleine Zigarrenkiste in der Hand hielt, wußte er, daß er am Ziel war.
Er öffnete den Deckel, blätterte durch Briefe und Postkarten verschiedenster Herkunft und hielt schließlich den feldgrauen Umschlag in der Hand, von dem er wußte, daß er Willards Brief enthielt. Ein Lächeln flog über sein Gesicht, zufrieden, melancholisch, nachdenklich. Vermutlich war er dort an jenem Tag gelandet, an dem er und Élise ihre Sachen gepackt hatten, um nach Marseille zu ziehen. Vor nicht viel weniger als dreißig Jahren – Élise, die junge Frau eines jungen Offiziers und er, eben jener junge Offizier, der das Angebot angenommen hatte, als Leutnant der französischen Armee zur Legion d' Etrangère zu wechseln, nur für ein paar Jahre, nur der Karriere wegen. Aus den paar Jahren waren dreißig geworden.
Er starrte abwesend auf den Briefumschlag. Élises Tod war nicht überraschend gekommen, das ganz gewiß nicht. Die Diagnose auf Unterleibskrebs hatte Monate zurückgelegen und ihnen Zeit gegeben, sich neben aller verbleibenden Hoffnung auf das Unvermeidliche einzustellen. Dennoch hatte Élises Tod Leclercque aus der Bahn geworfen, hatte einen anderen Menschen aus ihm gemacht, verschlossener vielleicht, gereizter und zugleich dünnhäutiger.
Ein Jahr war vergangen, in dem er immer wieder versucht hatte, abzuwägen, ob er aufhören sollte, den Dienst quittieren, zugeben, daß er nie wieder zu seiner alten Form zurückkehren würde, oder ob die darauffolgende Einsamkeit nicht alles nur noch schlimmer machen würde. Élise war sein wahres Leben gewesen, hatte zu ihm gestanden, als er monatelang fort war, Kommandos oder Einsätze von denen er ihr oft genug nicht einmal hatte erzählen dürfen. Sie mußte zahlreiche Umzüge und seine Launen ertragen, Einsamkeit und Traumata, die er nicht hatte ablegen können wie seine Uniform.
Deshalb, und nur deshalb, hatte er nicht lange gezögert, als das Angebot aus Paris kam.
Die Einsicht, daß er nicht vor sich selbst fliehen konnte, kam erst später mit der Erkenntnis, daß er sich in Paris noch einsamer fühlte als in Marseille. Und als er sich schließlich entschlossen hatte, Élises Sachen durchzugehen, um zu entscheiden, was er behalten wollte – behalten mußte, weil er es nie übers Herz bringen würde, sich von allzu persönlichen Dingen, Schmuck, Briefen, Büchern zu trennen – und was er Élises Schwester schicken konnte, weil der Anblick ihrer Kleider immer wieder die sinnlose Hoffnung hervorrief, sie sei nur kurz fortgegangen, da tat er auch dies unter Schmerzen, die er, der so viele Menschen im Kampf hatte sterben sehen, nicht für möglich gehalten hatte.
Er hatte sich Zeit gelassen, und es waren Wochen vergangen, bis er einigermaßen zuversichtlich war, daß er nicht nur die Trauer um Élise sondern auch seinen Job als Regimentskommandeur hinter sich lassen konnte.
Dann war Morands Anruf gekommen...
Leclercque seufzte und betrachtete den Umschlag, den er immer noch in der Hand hielt. Sein Blick blieb am Adressaten hängen und er zog die Augenbrauen hoch. Der Brief war nicht von sondern an Graham Willard gesandt. Seltsam, hatte er doch gedacht, daß Graham ihnen damals geschrieben hatte…
Aber nein, nein, es stimmte, er erinnerte sich vage an jenen Abend, an dem ein junger englischer Lance Corporal auf der französischen Kommandantur vorstellig geworden war, um ihm den Brief zu übergeben. Graham hatte ihm aufgetragen, alles, was im Stab nach seiner Abreise noch an privater Post eintrudelte, an Leclercques Adresse zu überbringen – und es hatte einige Fräuleins gegeben, die ihn vermißten. Nun ja, Abreise – Willard hatte ein neues Kommando bekommen, damals, er war zu den Royal Engineers nach Zypern versetzt worden, das im Begriff gewesen war, sich gegen die britische Kolonialherrschaft aufzulehnen. Ein ziemlich überraschendes Kommando, das er innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatte antreten müssen.
Langsam zog Leclercque den Brief aus dem Umschlag und entfaltete ihn. Nur ein paar Zeilen in kleiner, hakeliger Schrift standen auf dem Papier:
Bad Oeynhausen, 18. Februar 1950
Nein Graham, ich habe ihn natürlich nicht getötet. Ich kenne den Mann ja gar nicht! Ich kann das mit dem Messer nicht erklären. Du kennst doch die deutsche Justiz –
Ich brauche Deine Hilfe, andernfalls kriege ich Merbach nie!
Bitte tue was Du kannst.
Jacob Kerschenstein
Ein recht kurzer Brief, dessen Bedeutung sich Leclercque dennoch nicht so ganz erschloß. Es handelte sich offensichtlich um eine Antwort, Willard wußte also Bescheid über Kerschensteins Probleme mit der deutschen Justiz. Ob er ihm hatte helfen können? Diesen Brief jedenfalls hatte er nicht bekommen. Zwischen Briefdatum und Poststempel lagen fast zwei Monate – ein Indiz dafür, daß der Brief zurückgehalten worden war. Willard war zu diesem Zeitpunkt ohnehin längst in Akrotiri gewesen, einem westlich von Limassol gelegenen, britischen Militärstützpunkt auf Zypern. Was dann passierte und warum der Brief bis heute in der kleinen Kiste verschwunden war, daran konnte er sich nicht erinnern. Hatte Élise ihn vielleicht sogar dort versteckt?
Wie auch immer, es gab nur einen, der ihm hier weiterhelfen konnte: Graham Willard. Aber Graham und er hatten sich – Leclercque mußte überlegen – zehn, nein, elf Jahre nicht mehr gesehen. Adresse und Telefonnummer befanden sich mittlerweile auf einem der hinteren Plätze in Leclercques Notizbuch – er hoffte, daß beides noch aktuell war…
Und sie führten Jesus zu dem Hohenpriester,
dahin zusammengekommen waren alle Hohenpriester und Ältesten und Schriftgelehrten. Petrus aber
folgte ihm nach von ferne bis hinein in des Hohen-
priesters Palast; und er war da und saß bei den
Knechten und wärmte sich bei dem Licht.
Markus, Kapitel 14 Vers 53, 54
4. MARSEILLE, FRANKREICH, MITTWOCH, 29. AUGUST 1984
Am nächsten Morgen nahm Leclercque kurzentschlossen den Hörer in die Hand und wählte die Nummer, die er in seinem Adreßbuch gefunden hatte, beginnend mit der Vorwahl für Warmingham, einem kleinen Ort südlich von Manchester, in den Willard vor vielen Jahren gezogen war. Einzig mit der Absicht, nach seiner Pensionierung dort Rosen zu züchten, wie er damals beteuert hatte. Rosen! Willard! Leclercque mußte lachen. Und noch während er lachte, drängte sich die Erinnerung an den Sommer in sein Bewußtsein, in dem er Willard das letzte Mal gesehen hatte, in dem er mit Élise, Willard und dessen Freundin, an deren Namen er sich nicht mehr erinnerte, im Mittelmeer segeln war. Und in dem sie gelacht und getrunken hatten, durch die Kneipen Marseilles gezogen waren und Pläne für das nächste Jahr gemacht hatten. Bis zum heutigen Tag war daraus nichts geworden, und dabei würde es auch bleiben; Élise war tot, Grahams Freundin verschwunden und er selbst hatte nach dem, was damals geschehen war, nie wieder das Bedürfnis gehabt, mit Graham zu sprechen.
Sollte er also nicht lieber auflegen?
Im selben Augenblick wurde das leise Tuten von der Stimme des Engländers unterbrochen, der sich in der bekannten, ruhigen und sonoren Weise meldete. Zu spät! Aber was sagte man nach über zehn Jahren? Wie führte man etwas fort, das es vielleicht gar nicht mehr gab, eine Freundschaft, die vor langen Jahren in die Brüche gegangen war? Leclercque versuchte es mit: "Was machen die Rosen?" Daß es etwas mißmutig klang, bemerkte er nicht.
Willard, der einige Sekunden brauchte, bis er verstanden hatte, wer ihn da anrief, erwiderte ebenso unwirsch: "Die sind doch längst vertrocknet. Es war Lissy's verdammter Job, sich um die Mistdinger zu kümmern…"
Lissy, richtig, das war ihr Name. "Seit wann ist sie fort?" formulierte Leclercque seine Schlußfolgerung.
"Nach meiner Pensionierung hat sie's genau einen Monat ausgehalten. Dann hat sie ihre Sachen gepackt."
Leclercque überlegte, ob er Mitleid zeigen sollte – und ob es ihm und Élise nach seinem Abschied von der Legion ähnlich ergangen wäre; doch der Gedanke war müßig, Élise war tot. "Wie geht es dir?" fragte er statt dessen.
Willard brummte abschätzig. "Du hast doch nicht angerufen, um dir das Selbstmitleidsgewäsch eines alten Mannes anzuhören."
"Und wenn doch?"
Willard lachte leise. "Das wäre dann sehr nett von dir", sagte er schließlich. "Aber was willst du wirklich? Hat Élise dich auch verlassen?"
Leclercque preßte die Lippen zusammen. "Ja", sagte er schließlich. "Sie ist tot."
Die scheinbar endlose Stille, die nun folgte, wurde beendet durch einen leisen Fluch. "Ich bin ein Arschloch, oder?"
"Ja." Einen Augenblick lang dachte Leclercque darüber nach, ob er die alte Geschichte wieder aufwärmen und den Engländer zur Rede stellen sollte. Was ist gewesen damals, zwischen dir und Élise?
Er ließ es sein. Darum ging es heute nicht.
Willard schnaubte. "Es tut mir…"
"Sagt dir der Name Kerschenstein noch etwas?" unterbrach ihn Leclercque schroff. Er hatte keine Zeit, um den heißen Brei herumzureden.
Verwirrtes Schweigen folgte. Dann ein Seufzen. "Also deswegen rufst du an. Wegen alter Geschichten… Was ist mit Kerschenstein?"
"Das will ich von dir wissen. Du hast ihn einmal gut gekannt."
"Gut gekannt ist absolut übertrieben", brummte Willard und fügte nach einigem Zögern hinzu: "Das ist so lange her. Ich glaube nicht, daß ich dir da weiterhelfen kann…"
Leclercque verzog den Mund. Es war eine unsinnige Idee gewesen, Graham anzurufen. Jetzt aber aufzugeben, wäre genauso dumm. Er versuchte es noch einmal: "Weißt du, was aus ihm geworden ist? Lebt er noch? Hast du ihn je wiedergesehen?"
Willard antwortete nicht sogleich, er schien zu überlegen, und Leclercque ließ ihm Zeit. Es war ein Alte-Männer-Gespräch, jedem Satz gingen Sekunden des Abwägens voraus. "Ich bin nicht gut in solchen Dingen", brummte der Engländer schließlich. "Ich habe mich nie wieder gekümmert. Das ist allein meine Sache. Warum willst du das wissen?"
"Das ist eine lange Geschichte, Graham. Kerschensteins Name taucht in der Stammakte eines Offiziers meines alten Regiments auf. Er will mehr über den Mann wissen, offensichtlich ist er sein Vater. Aber aus irgendeinem Grund macht das Ministerium einen ziemlichen Aufstand um die Akte, mittlerweile ist sie sogar als streng geheim eingestuft. Und ich vermute, es hat etwas mit diesem Deutschen zu tun."
"Sein Vater? Du meinst, Kerschenstein hat einen Sohn?" Willard lachte. "Dann ist es nicht mein Kerschenstein." Er sprach den Namen Körschenstien aus.
"Doch, Graham, es ist derselbe Mann. Er hat bis Neunzehnhundertfünfzig für dich gearbeitet. Und möglicherweise einen Menschen umgebracht. Das Ministerium…"
"Unsinn!" unterbrach Willard den Franzosen. "Das… nein, das kann nicht sein! Und außerdem war ich Neunzehnhundertfünfzig schon in… na irgendwo anders eben."
"Akrotiri", ergänzte Leclercque ruhig. "Und kurz zuvor hat er dir einen Brief geschrieben, in dem er seine Unschuld beteuert. Du wußtest also, daß er wegen Mordes angeklagt war."
Willard seufzte. "Das ist alles so lange her. Ein halbes Menschenleben oder mehr. Ich kann dir mit diesem Kerschenstein nicht helfen. Laß uns ein anderes Mal weitersprechen, im Augenblick habe ich es ziemlich eilig."
Leclercque ließ es sein. Sie verabschiedeten sich ohne ein weiteres Wiedersehen oder Wiederhören zu verabreden und legten auf. Was sollte er nun tun? Graham war keine Hilfe gewesen, gleichgültig, ob er sich nicht erinnerte oder nicht erinnern wollte.
Aber seine Neugier war geweckt. Was war so besonderes an diesem Kerschenstein, daß allein schon seine Existenz geheimgehalten werden sollte?
Das einzige was er Morand bis jetzt anbieten konnte, war ein Lebenslauf, der in den Fünfzigerjahren endete. Zusammen mit einem über dreißig Jahre alten Brief ein karges Ergebnis für einen Geheimdienst, den er einmal für ähnlich effizient wie den CIA gehalten hatte.
Er mußte Girardeaux finden.
Und er hoffte, daß Willard es sich anders überlegen und noch einmal anrufen würde.
Doch der Anruf kam nicht. Es wurde Abend, ohne daß etwas geschah. Statt dessen rief er selbst in der Kaserne an und verabredete sich mit Morand für Samstagabend. Und um das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden, schlug er sein Lieblingsbistro vor, direkt am Hafen. Dort war immer etwas los und sie waren trotzdem unter sich. Schließlich konnte er den Capitaine nicht gut zu sich nach Hause bestellen. Wie sah denn das aus?
Der TGV Marseille – Paris benötigte gut drei Stunden, um von der Küste zur Hauptstadt oder zurück zu gelangen. Leclercque sah auf die Uhr und stellte zufrieden fest, daß er bei Pierre noch etwas zu essen bekommen würde. Manchmal befürchtete er, die Leute könnten ihn für eingefahren halten. Doch im nächsten Augenblick wischte er derartige Bedenken vom Tisch. Er saß eben gerne bei Pierre, sah auf den Hafen und träumte von einer Yacht. Von seiner Yacht, die er nie besitzen würde. Elise war begeistert gewesen vom Segeln, vom Wasser, von der Freiheit. Ohne sie war all das nichts mehr wert.
Er sah aus dem Fenster und beobachtete die Landschaft, sie flog nur so vorbei, und das war auch gut so. Nach fast einem Jahr regelmäßigen Pendelns war auch diese Aussicht längst langweilig geworden. Die Direction Générale de la Sécurité Extérieure hatte nicht zurückgerufen. Keiner seiner Kontakte dort hatte sich gemeldet, und ebenso verschlossen hatte sich das Deuxième Bureau in Aubagne gezeigt, das ihn sogar abgewiesen hatte, ihn, den ehemaligen Kommandeur des Ersten Fremdenregiments! Also war er kurzerhand nach Paris gefahren, um in Erfahrung zu bringen, was mit Girardeaux geschehen war.
Verschwunden, hatte es mit ernster Miene geheißen. Girardeaux sei seit Montag nicht mehr in der Dienststelle gesehen worden, zu Hause ebensowenig. Es fehle jede Spur von ihm. Am Mittwoch wurde die Police National verständigt, die Landesweit nach ihm suchte.
Verschwunden. Warum hatten sie ihm das nicht am Telefon gesagt?
Und nun?
Leclercques vage Befürchtung, das Verschwinden des Adjutant-Chefs könnte mit ihm, mit seiner Frage nach Kerschenstein, zu tun haben, wurde während der Rückfahrt zur drückenden Gewißheit. Der zeitliche Zusammenhang und die Notiz, die er bei Pierre abgegeben hatte, schlossen alles andere aus.
Aber was war geschehen? Er mußte sich jemandem anvertrauen. Pétain fiel ihm ein, sein Nachfolger. Solange auch nur die Möglichkeit bestand, daß Girardeaux noch lebte, vielleicht untergetaucht war, konnte er auf Geheimniskrämerei keine Rücksicht nehmen.
Doch Pétain war nicht mehr in der Kaserne. Und auch Morand, mit dem er nun so schnell wie möglich sprechen wollte, war nicht erreichbar. Was für ein vertaner Freitag, dachte Leclercque. Er sah auf die Uhr. Noch sechzehn Stunden bis zu seinem Treffen mit dem Capitaine.
Tiens, voilà du boudin, voilà du boudin, voilà du
boudin, pour les Alsaciens, les Suisses et les Lorrains,
Pour les Belges y en a plus, pour les Belges,
y en a plus, ce sont des tireurs au cul.
Le Boudin, Marschlied der Fremdenlegion
5. MARSEILLE, FRANKREICH, SAMSTAG, 01. SEPTEMBER 1984
Die Woche war Morand lang geworden. Aus der Alltagsroutine, der Ausbildung und den regimentsinternen Dienstabläufen herausgenommen, flossen die Tage zäh und langweilig dahin. Vor zwei Tagen hatte Leclercque angerufen und sich mit ihm verabredet, und nun saß er im Chez Pierre, vermutlich dem Stammbistro des Colonels, ebenso neugierig wie mißmutig und hungrig. Die Mittagszeit war lange vorüber, nicht nur nach seinen Maßstäben, und der Quai de Rive Neuve am alten Hafen Marseilles war in einen Zustand trägen Abwartens verfallen – die windgeschützten Terrassen der Cafés waren kaum besetzt, Bedienungen in der üblichen Uniform – schwarze Hose, weißes Hemd, schwarze Weste –, standen angelehnt und gelangweilt in den Eingangstüren und schienen die Sommersonnenstrahlen in sich aufzusaugen, bevor am Abend Bootsbesitzer, Touristen und die örtliche Hautevolee das Viertel wieder bevölkerten.
Auch mit fünfundsechzig Jahren war Morands Körper noch durchtrainiert, seine Augen tiefliegend und dunkel, die Haare kurz und grau, wenngleich die Spuren des Alterns auch ihn nicht ausgespart hatten. Besonders das vergangene Jahr relativer Ruhe in Aubagne, in der Kaserne, hatte ihn müde gemacht, hatte an ihm gezehrt und ihm mehr als deutlich gemacht, daß die ganz großen Abenteuer nun wohl vorüber waren. Tatsächlich hatte er keinen der Einsätze der letzten Jahrzehnte als Abenteuer aufgefaßt, ganz bestimmt nicht. In den meisten Fällen war es nur um das schlichte Überleben gegangen. In allen anderen vermutlich nur darum, nicht zurück zu müssen, zurück nach Hause. Zurück in die Vergangenheit.