Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Wenige Wochen, nachdem er seinen ersten Fall übernommen hat, sieht sich Kommissar Uwe Jordan schon am Ende seiner Karriere. Zeugen wurden ermordet, Indizien vernichtet und Jochen Marburg, der Sohn eines der Opfer, verschwindet spurlos. Jordan wird suspendiert. Erst als sich die Staatsanwältin Mirjam Kaefer an ihn wendet und von Dossiers berichtet, die eine Verbindung zwischen der Loge 'Die Zitadelle des Lichts' und der Oldenburger Generalstaatsanwaltschaft belegen, beginnt Jordan erneut und auf eigene Faust zu ermitteln. Doch die Loge ist mächtig. Und so gerät er bald in ein Netz aus Korruption und organisierter Kriminalität. Er findet heraus, daß die Loge es auf eine Karte abgesehen hat, die sogenannte 'Steinerne Karte', die den Weg zum verschollenen letzten Teil des sagenumwobenen Templergeheimnisses weist. Marburg, der im Besitz dieser Karte ist, gerät zwischen die Fronten. Er flieht aus Oldenburg, um einem Auftragsmörder zu entkommen, der ihm die Karte abnehmen will. Doch sein eigentliches Ziel ist die Suche nach der jungen Frau, die er im 'Zirkus der Nacht' gesehen hat, einer Menagerie finsterer mittelalterlicher Typen. Der Hinweis auf einer sechzig Jahre alten Photographie führt ihn bis nach Flandern, wo er sich schließlich in einem bizarren, offenbar von Templern geführten, Sanatorium wiederfindet. Obgleich er bald schon her-ausfindet, daß sein Aufenthalt tödlich verlaufen wird, entscheidet er sich zu bleiben - denn auch die junge Frau lebt hier ...
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 1243
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
۞
Das am meisten verbreitete System vertiefender und weiterführender Grade ist das Hochgradsystem des Alten Angenommenen Schottischen Ritus (A.A.S.R.). Seine Mitglieder gewinnt er aus Brüdern, die aus regulären Freimaurerlogen kommen und den Meistergrad erreicht haben. Er beinhaltet folgende Grade:
Die Johannisgrade: 1° „Lehrling“ – 2° „Geselle“ – 3° „Meister“
Die Hochgrade:
Perfektionsgrade:
4° „Geheimer Meister“ – 5° „Vollkommener Meister“ – 6° „Geheimer Sekretär“ – 7° „Vorgesetzter und Richter“ – 8° „Intendant der Gebäude – 9° „Auserwählter Meister der Neun“ – 10° „Auserwählter Meister der Fünfzehn“ – 11° „Erhabener Auserwählter Ritter“ – 12° „Großmeister-Architekt“ – 13° „Meister des Neunten Bogens“ – 14° „Großer Auserwählter und Vollkommener Maurer“
Kapitelgrade:
15° „Ritter des Degens“ oder „ …des Ostens“ – 16° „Prinz von Jerusalem“ – 17° „Ritter vom Osten und Westen“ – 18° „Ritter Rosenkreuzer“
Philosophische oder Areopag-Grade:
19° „Groß-Pontifex“ – 20° „Großmeister aller Symbolischen Logen“ – 21° „Noachit“ oder „Preußischer Ritter“ – 22° „Ritter der Königlichen Axt“ oder „Prinz von Libanon“ – 23° „Oberster des Tabernakels“ – 24° „Prinz des Tabernakels“ – 25° „Ritter der Ehernen Schlange“ – 26° „Schottischer Trinitarier“ oder „Prinz der Gnade“ – 27° „Ritter-Kommandeur des Tempels“ – 28° „Ritter der Sonne“ – 29° „Ritter des Heiligen Andreas von Schottland“ – 30° „Ritter Kadosh“ oder „Ritter des Schwarzen und Weißen Adlers“
Konsistorialgrade:
31° „Großinspekteur-Inquisitor“ oder „Inquisitor-Meister“ –
32° „Prinz des Königlichen Geheimnisses“
Grad des Obersten Rates:
33° „Souveräner General-Großinspekteur“
۞
۞
"Der Prieuré de Sion steht ein Nautonier oder Großmeister vor. Er ist ipso facto der höchste Grad der Bruderschaft (Nautonier 9°). Nur ein Nautonier oder Großmeister kann einen anderen Nautonier oder 9° ernennen; es kann nur einen Nautonier geben, mit Ausnahme derjenigen, die die Honoris Causa 9° besitzen. Man kennt: Novices (Novizen), Ecuyers (Schildknappen), Chevaliers (Ritter), Commandeurs (Komture), Connétables (Konnetabeln), Sénéchaux (Seneschalle) – und den Nautonier (Steuermann). In einem jährlich stattfindenden Consistorium bestimmt die Bruderschaft über die Aufnahme neuer Mitglieder …"
Notiz des Buchhändlers Franz Marten, Oldenburg, Dienstag, 18. September 1984
۞
۞
ICH HABE DIE HOFFNUNG AUFGEGEBEN, SIE WIEDERZUSEHEN, ABER ICH HÄTTE IHR AUCH NIE BEGEGNET SEIN KÖNNEN, UND DAS WÄRE NOCH SCHLIMMER GEWESEN. ICH WÜNSCHTE, SIE WÄRE JETZT HIER UND HIELTE MICH AN DER HAND.
UMBERTO ECO: DAS FOUCAULTSCHE PENDEL, KAP. 35, HANSER 1988
۞
Jörg H. Kohn, Jahrgang 1962, wurde in Oldenburg geboren und studierte Wirtschaftswissenschaften in Wilhelmshaven. Seit 2011 lebt er in der Nähe von Rastede. 2017 erschien mit 'Der Zirkus der Nacht' sein erstes Buch, 2022 sein drittes Buch ‘1799 – Die Franzosenmorde'
Prolog: Les Amoureux
1. OLDENBURG, DONNERSTAG, 27. SEPTEMBER 1984
2. OLDENBURG, DONNERSTAG, 27. SEPTEMBER 1984
3. OLDENBURG, FREITAG, 28. SEPTEMBER 1984
4. Oldenburg, Donnerstag, 27. September 1984
5. Oldenburg, Samstag, 29. September 1984
6. Oldenburg, Sonntag, 30. September 1984
7. Oldenburg, Montag, 1. Oktober 1984
8. Oldenburg, Dienstag, 2. Oktober 1984
9. Oldenburg, Mittwoch, 3. Oktober 1984
10. OLDENBURG, DONNERSTAG, 4. OKTOBER 1984
11. OLDENBURG, FREITAG, 5. OKTOBER 1984
12. PARIS, FREITAG, 05. OKTOBER 1984
13. OLDENBURG, FREITAG, 05. OKTOBER 1984
16. METJENDORF BEI OLDENBURG, DIENSTAG, 18. SEPTEMBER 1984
17. BRUGGE, DIENSTAG, 18. SEPTEMBER 1984
18. BRUGGE, DIENSTAG, 18. SEPTEMBER 1984
19. BRUGGE, DIENSTAG, 18. SEPTEMBER 1984
20. DAMME, DIENSTAG, 18. SEPTEMBER 1984
21. BRUGGE, DIENSTAG, 18. SEPTEMBER 1984
22. BRUGGE, MITTWOCH, 20. SEPTEMBER 1984
23. SINT KATHELYNEN, GENT, SONNTAG, 23. SEPTEMBER 1984
24. SINT KATHELYNEN, DIENSTAG, 25. SEPTEMBER 1984
25. OLDENBURG, DIENSTAG, 25. SEPTEMBER 1984
26. NOCH EINMAL LESEN: SINT KATHELYNEN, FREITAG, 28. SEPTEMBER 1984
27. SINT KATHELYNEN, FREITAG, 28. SEPTEMBER 1984
28. SINT KATHELYNEN, SONNTAG, 30. SEPTEMBER 1984
29. SINT KATHELYNEN, SONNTAG, 30. SEPTEMBER 1984
30. SINT KATHELYNEN, SONNTAG, 30. SEPTEMBER 1984
31. SINT KATHELYNEN, SONNTAG, 30. SEPTEMBER 1984
32. SINT KATHELYNEN, MONTAG, 1. OKTOBER 1984
33. SINT KATHELYNEN, MONTAG, 1. OKTOBER 1984
34. SINT KATHELYNEN, MONTAG, 1. OKTOBER 1984
35. SINT KATHELYNEN, DIENSTAG, 2. OKTOBER 1984
36. SINT KATHELYNEN, DIENSTAG, 2. OKTOBER 1984
37. SINT KATHELYNEN, MITTWOCH, 3. OKTOBER 1984
38. SINT KATHELYNEN, Freitag, 5. OKTOBER 1984
39. SINT KATHELYNEN, SONNTAG, 7. OKTOBER 1984
40. SINT KATHELYNEN, MITTWOCH, 10. OKTOBER 1984
41. SINT KATHELYNEN, DONNERSTAG, 11. OKTOBER 1984
42. SINT KATHELYNEN, FREITAG, 12. OKTOBER 1984
43. SINT KATHELYNEN, DIENSTAG, 16. OKTOBER 1984
44. SINT KATHELYNEN, MITTWOCH, 17. OKTOBER 1984
45. BRUGGE, DONNERSTAG, 18. OKTOBER 1984
46. BRUGGE, DONNERSTAG, 18. OKTOBER 1984
47. BRUGGE, SAMSTAG, 20. OKTOBER 1984
48. BRUGGE, DONNERSTAG, 25. OKTOBER 1984
49. BRUGGE, MONTAG, 29. OKTOBER 1984
50. OLDENBURG, SAMSTAG, 06. OKTOBER 1984
51. OLDENBURG, SONNTAG, 07. OKTOBER 1984
52. OLDENBURG, DONNERSTAG, 11. OKTOBER 1984
53. Oldenburg, Dienstag, 30. Oktober 1984
54. BRUGGE, DONNERSTAG, 1. NOVEMBER 1984
55. BRUGGE, FREITAG, 02. NOVEMBER 1984
56. BRUGGE, SAMSTAG, 03. NOVEMBER 1984
57. BRUGGE, SAMSTAG, 03. NOVEMBER 1984
58. BRUGGE, DIENSTAG, 06. NOVEMBER 1984
59. BRUGGE, MITTWOCH, 07. NOVEMBER 1984
60. OLDENBURG, DONNERSTAG, 08. NOVEMBER 1984
Nachwort
Anhang 1: Ein kurzes Glossar
Anhang 2: Dramatis Personae (in alphabetischer Reihenfolge)
In den letzten Tagen wird es geschehen, so spricht Gott: Ich werde von meinem Geist ausgießen über alles Fleisch. Eure Söhne und eure Töchter werden prophetisch reden, eure jungen Männer werden Visionen haben und eure Alten werden Träume haben. Auch über meine Knechte und Mägde werde ich von meinem Geist ausgießen in jenen Tagen und sie werden prophetisch reden. Ich werde Wunder erscheinen lassen droben am Himmel und Zeichen unten auf der Erde: Blut und Feuer und qualmenden Rauch. Die Sonne wird sich in Finsternis verwandeln und der Mond in Blut, ehe der Tag des Herrn kommt, der große und herrliche Tag.
Apostelgeschichte,2,17.
Echo schlug die Augen auf. Kälte und Feuer drangen in sein Bewußtsein. Er fror, zitternd, und spürte doch den nassen Schweiß auf seiner Stirn. Wo er war, das vermochte er auch nach langen Sekunden des Erwachens nicht zu sagen. Gewiß, da war das schmutzige Grau gekalkter Wände, niedrige Deckenbalken und ein kleines Fenster in einem Erker am Ende seines Bettes, das nur wenig Licht hereinließ. Staub tanzte in einem schmalen Sonnenstrahl und kalter Rauch eines längst erloschenen Feuers lag in Schichten in der Luft. Dann, plötzlich, wurde er sich der Frau bewußt, die im Schatten neben dem Fenster stand und regungslos hinaussah. Sie trug ein zweiteiliges Leinenkleid, olivgrau und weiß, und obgleich ihr Gesicht im Gegenlicht kaum zu erkennen war, obgleich erneut Traum und Erinnerung zu verschmelzen begannen, so glaubte er doch, sie schon einmal gesehen zu haben. War es nicht seine Frau gewesen, die es am Tage seines Aufbruchs in das Heilige Land getragen hatte? Jetzt, da sich seine Augen allmählich an das Halbdunkel der kleinen Kammer zu gewöhnen begannen, erkannte er auch die verwaschenen Brokatbordüren an den Säumen, den etwas abgestoßenen Ypsilongürtel aus Kreuzrautenplättchen, der viel zu locker um die Hüften der Frau hing, und das Dreieckstuch, das über ihren Schultern lag, von gutem Stoff, doch leidlich dünn und verblichen. Das dunkle Haar war eilig hochgesteckt und wurde nur unzureichend von einer grauen Bundhaube verdeckt.
Die Gewißheit überkam ihn mit aller Macht und mit einem unbändigen Glücksgefühl: Es war seine Frau, die dort stand, am Ende eines so langen Weges, der ihn aus dem Heiligen Land hierhergeführt hatte, mit dem fauligen genuesischen Handelsschiff über Malta bis nach Neapel, von dort aus in schier endlosem Marsch bis nach Gent, immer die Sehnsucht nach seiner Frau und das Fascis des Templerordens im Gepäck.
Seine Frau … Angst überkam ihn, jene Angst, die er schon so gut kannte, die Angst, daß alles, was er sah, nur eine weitere Gaukelei war, daß das Fieber – oder seine Sehnsucht – ihm ein weiteres Mal einen Streich spielten, daß der Traum, luzide oder nicht, nach ein paar Herzschlägen schon wieder verblassen konnte.
Die junge Frau wandte sich zu ihm um – sie hatte geweint, ganz offensichtlich, und war doch in diesem Augenblick so wunderschön, daß es ihm die Sprache verschlug. Echo zögerte einen ungläubigen, glücklichen Augenblick, dann wurde ihm bewußt, daß er etwas tun mußte, daß er etwas sagen mußte, wollte er den Traum festhalten. Er wollte aufspringen, seine Frau in den Arm nehmen, sie festhalten, umarmen und ganz sicher nie wieder loslassen!
Doch er konnte sich nicht bewegen, sein Körper reagierte nicht auf die Anweisungen des Kopfes. Es war, als wäre er gelähmt, gefangen in einem Kokon aus durchsichtiger Watte. Echo wollte schreien, rufen, die junge Frau zu sich holen, seine Frau, aber es war nur ein schwaches Ächzen, das über seine Lippen kam. Es reichte, um Rosa aufsehen zu lassen. Sie wandte sich ihm zu, sah ihn besorgt an und setzte sich an sein Bett. Mit sanfter Hand fuhr sie über seine Stirn. Dann griff sie in eine Schale neben seinem Bett, entnahm ihr ein nasses Tuch und wrang es aus. Vorsichtig tupfte sie seine Stirn damit ab. Sie sagte etwas, das er nicht verstand, und fuhr ihm durch das Haar. Warum konnte er es nicht hören, sie nicht verstehen? Was war mit ihm? Wo zum Teufel war er hier? Jede Anstrengung, sich zu bewegen, sie zu sich zu ziehen, sie zu umarmen, war vergebens. Es war, als läge eine Welt zwischen ihnen …
Die Tür der kleinen Kammer, in der sie sich befanden, öffnete sich. Ein Mann kam herein und sagte etwas. Rosa nickte stumm. Echo kannte den Mann, stämmig, mit kurzgeschorenem Haar. Er trug eine Gugel, aus Leder über dem Wams, abgetragen und rissig. Jöns, ging es ihm plötzlich durch den Kopf. Dies war der Mann, der mit ihm aus Akkon heimgekehrt war, Jöns …
Rosa erhob sich. Nein, geh nicht! Sie hörte ihn nicht, strich ihm nur ein letztes Mal über den Kopf, und wandte sich dann mit müdem, leerem Blick an Jöns. Sie wechselten ein paar Worte, Jöns nickte. Er hielt einen Becher in der Hand und setzte sich an ihrer statt an Echos Bett. Warum tat er das? Um Himmels willen, geh zur Seite! Laß sie jetzt nicht gehen! Rosa! Echo wollte schreien, wollte sie zurückhalten, und wußte doch, daß er es nicht konnte.
Die Tür fiel zu.
Jöns hielt den Becher an Echos Mund. Er sollte trinken. Eine heiße Flüssigkeit, Wein vielleicht, nur würziger. Echo wollte sie nicht, er wollte nicht trinken, er wollte aufspringen und Rosa nachlaufen! Er wollte …
Der erste Schluck schmeckte bitter, den zweiten spürte er nicht mehr, und dann legte sich Dunkelheit über ihn. Das Licht, das durch das kleine Fenster hereindrang, verblaßte und überließ ihn seiner Gleichgültigkeit und einer wohligen, warmen Dunkelheit, von der er wußte, daß sie ihn nicht mehr entkommen lassen würde …
Dunkelheit. Gleichgültigkeit.
Als Echo wieder erwachte, war es noch immer Nacht. Eine heruntergebrannte Kerze warf einen gelben, flackernden Schein auf das kleine Tischchen an seinem Bett. Ein Schachspiel stand darauf, seine Figuren warfen übergroße Schatten an die Wand. Daneben saß Jöns, der offenbar eingenickt war. Echo spürte eine seltsame Art der Leichtigkeit. Hatte der Trank am Ende doch gewirkt? Vorsichtig setzte er sich auf, ängstlich, seine Schwäche und Übelkeit könne zurückkommen.
Aber es war, als wäre die Krankheit und alle Last von ihm abgefallen. Euphorie überkam ihn. Vielleicht könnte er Rosa nun zurückholen? Er mußte sie zurückholen! "Jöns", rief er. Sein Knappe mußte ihm helfen! Und zwar schnell! Dann fiel sein Blick wieder auf das Schachbrett. Die Partie war unterbrochen, zahlreiche Figuren lagen neben dem Spiel. Der Schwarze Turm, ein Läufer und die Dame standen tief in den Reihen der weißen Figuren. Doch er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, gespielt zu haben. Aber mit wem sonst hätte Jöns diese Partie spielen sollen? Noch einmal rief er den Namen seines Knappen, diesmal etwas zaghafter. "Jöns?"
Der Mann seufzte. "Dein Knappe kann dich jetzt nicht hören", sagte eine kalte Stimme. Echo stockte der Atem, als er für einen Augenblick das maskenhafte Gesicht unter der Kapuze erkannte. Der Mann an seinem Bett war nicht Jöns! Ein leises Lachen erklang, dann wandte sich der Fremde ihm zu. Seine Augen sahen Echo aus tiefen Höhlen ebenso herausfordernd wie verschlagen an. "Er kann dich nicht hören", sagte er, "denn du bist in meinem Reich."
"Dann müßtet ihr der Graf von Flandern sein", erwiderte Echo, "denn ich bin in Flandern."
"Du bist tot", sagte der andere lapidar.
Echo starrte den Mann an, die Maske eines beliebigen Gesichts unter der ausladenden Gugel. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis er verstand, was der andere gesagt hatte. Und daß er es ernst meinte. Echo brauchte einen weiteren, langen Augenblick, um seine Fassung wiederzuerlangen. Es war nicht die Angst, tatsächlich tot zu sein, die ihn niederrang, es war die Trauer, die Trauer, Rosa nie wieder zu sehen. Eine Welle der Enttäuschung brach über ihm zusammen. Endlich fragte er mit aller verbliebenen Skepsis: "Wer seid ihr?"
"Ich bin Tod", erwiderte der andere mit einem Hauch von Wärme in seiner Stimme. "Aber die Menschen hier nennen mich den Schwarzen."
Echo nickte. So war es dann wohl. Er erinnerte sich an die Pesttoten, denen sie auf ihrem Weg durch Flandern begegnet waren, mit stark geschwollenen Beulen am Hals und verrenkten Gliedmaßen, an verlorene Dörfer, brennende Gräber … Die Pest. Hatte sie ihn nun also auch geholt?
"Ich habe viel zu tun", sagte der Schwarze. "Also füge dich. Komm mit mir. Du kannst dich bewegen, wie du festgestellt haben dürftest."
"Ich …" Echo versuchte, sich an das verblassende Bild von Rosa zu klammern. Durfte er sie wirklich nicht wiedersehen? "Ich bin noch nicht bereit …"
"Das sagen die meisten."
"Ich will meine Frau noch einmal sehen", sagte Echo ohne die geringste Verwunderung, Rosa seine Frau zu nennen.
Der Schwarze schwieg. Auch er schien müde zu sein, schien sich für einen Augenblick bewußt zu werden, daß die Aufgabe Menschen zu sammeln, in einer Ewigkeit nicht beendet sein würde – es kamen immer wieder neue. Dann, nach einer endlosen Weile, in der er sich der Monotonie seines Daseins bewußt wurde, wies er auf das Schachbrett, auf die angefangene Partie, die Weiß doch schon so bald zu verlieren schien. "Spiel", sagte er. "Wenn du mich besiegst, gewähre ich dir einen Wunsch. Setze aber ich deinen König matt, so wirst du mir im selben Augenblick folgen."
Ohne zu zögern willigte Echo ein. Er war kein guter Schachspieler, doch was blieb ihm anderes übrig als zu spielen und zu hoffen, daß der Tod sein Wort hielt. Er hatte im Heiligen Land gelernt, nicht aufzugeben. Eine Erfahrung, die ihm nur von Nutzen sein konnte. Vorsichtig wandte er sich dem Spielbrett zu, griff nach seiner Dame und führte sie aus der ersten Bedrängnis.
Der Tod führte ihr einen Reiter nach.
Echo überlegte. Er überlegte lange, und als er schließlich seine Dame um drei weitere Felder versetzte, hatte er eine vage Vorstellung, wie er seinen Gegner besiegen konnte.
Der Schwarze bedrängte weiterhin die weiße Dame, woraufhin Echo sie schließlich in eine so aussichtslose Position führte, daß er sie verloren geben mußte. Als der Tod sie mir einem abfälligen Grinsen vom Spiel stellte, führte Echo seinen verbliebenen Turm so an den Schwarzen König heran, daß er im Schach stand. Zwei Züge später und bevor die schwarze Dame ihm zu Hilfe kommen konnte, war er Schachmatt gesetzt. Der Schwarze wischte mit einem Aufschrei die verbliebenen Figuren vom Brett und sah Echo mit einem verächtlichen Blick an. "Du hast gewonnen", sagte er drohend und wenig anerkennend. "Doch du hast die dir anbefohlene Dame dafür geopfert, die junge Frau, die dir vertraute, die an dich geglaubt und auf dich gehofft hat. Das war sehr dumm von dir. Ich denke, du weißt das."
Echo starrte auf die weiße Spielfigur, die neben dem Schachbrett lag. Ein roter Fleck breitete sich auf ihrem Gewand aus. Nein, schrie er stumm, nein, das hatte er nicht gewollt! Rosa! Hatte er sie mit diesem Spiel wirklich verraten? Er atmete tief ein und schloß die Augen. Das war eine Finte, dachte er, die Finte eines schlechten Verlierers. "Ich", begann er mit gepreßter Stimme, "ich habe einen Wunsch frei. Gewährt ihn mir also. Und ich denke, ihr wißt, welcher Wunsch das ist." Er öffnete die Augen langsam wieder und sah in die Richtung des Schwarzen. Doch der Platz, an dem er gesessen hatte, war leer, Echo war allein in der kleinen Kammer. Allein mit zweiunddreißig auf dem Boden verstreuten Schachfiguren …
"Le Valet d'Épée", sagte die Frau mit dem weitfaltigen Kleid, "Der Bube der Schwerter. Er steht für einen heraufziehenden Streit." Sie lächelte spöttisch. "Vielleicht aber bedeutet diese Karte auch so viel wie Einsicht und Verstehen …"
"Die von mir aus juristischen Gründen versuchte Unterscheidung zwischen den von der Polizei als tödliche Unglücksfälle maskierten, anerkannt politischen Morden und den angeblichen standrechtlichen Erschießungen läßt sich danach nicht mehr aufrechterhalten. Beide fallen unter die Kategorie der politischen Morde."
Emil Julius Gumbel, Kommentar zu: Vier Jahre Politischer Mord, 1922, P. 120
1. OLDENBURG, DONNERSTAG, 27. SEPTEMBER 1984
Das Pilgerhaus hatte sich für eine kurze Zeit zum abendlichen Treffpunkt entwickelt. Eine Art Einsatzzentrale außerhalb des Ersten Polizeireviers für die, die nicht an die Geschichte des Leitenden Kriminalhauptkommissars glaubten, eine Geschichte, laut der er von dem jungen Studenten Jochen Marburg in dessen Wohnung angeschossen worden war.
Kriminalhauptmeister Jens Engholm gehörte dazu und Uwe Jordan. Vor ein paar Tagen war auch Bernd Voigt zu ihnen gestoßen, Kommissar im ersten Dezernat. Er war Skeptiker, zweifelte an allem, an Eilers Geschichte, an Echos Aussage, und daran, daß der Russe hier im kleinstädtischen Oldenburg aufgetaucht sein sollte. Aber er mochte den Leitenden nicht, und das einte sie. Fürs Erste.
Tatsächlich war Jochen Marburg, genannt Echo, seit jenem Vorfall mit Eilers spurlos verschwunden. Ein Umstand, der Jordan schwer auf der Seele lag. Nicht weil er an eine Flucht des Studenten glaubte, und damit an ein Schuldeingeständnis, sondern weil er befürchtete, daß ihm etwas zugestoßen sein könnte. Schließlich war er es gewesen, der Marburg hätte schützen sollen.
Und nun saß Kriminalkommissar Uwe Jordan, seit wenigen Wochen erst beim Landeskriminalamt Niedersachsen, an seinem Stammplatz in der Nähe des Zinktresens der Bar und starrte durch das Fenster hinaus auf die Straße. Der Tresen sollte eine Reminiszenz an das Restaurant am Ende des Universums darstellen, verfehlte diesen Zweck bei den meisten Gästen jedoch, trotz des großen Douglas Adams Porträts an der Wand. Auch der Pangalaktische Donnergurgler, gemäß dem Reiseführer Per Anhalter durch die Galaxis der beste Drink, den es im Universum gibt, führte in der Liste der meistbestellten Getränke nur ein klägliches Schattendasein. Das lag vielleicht auch daran, daß trotz aller Vorliebe des Besitzers für den viel zu früh verstorbenen Douglas Adams die Bar den kuriosen Namen Pilgerhaus trug. Wer erwartete hier schon galaktische Getränke?
Jordan war es gleich, ihm stand nicht der Sinn nach Literatur. Er war vor zehn Tagen suspendiert worden und sah mit jedem weiteren Tag, den er ohne Dienstmarke zubrachte, seine kaum begonnene Karriere ein Stück weiter den Bach runtergehen. Immerhin bekam er weiterhin seine Bezüge, eine Ausnahme, die er seinem Vorgesetzten, Kriminalhauptkommissar Berndes, zu verdanken hatte. Er fluchte leise. Eilers hatte die Disziplinarmaßnahme gefordert, weil Jordan in die Wohnung eines Tatverdächtigen eingedrungen war. Daß er bei diesem Einbruch belastendes Material gefunden hatte, schien sich auf Jordans Disziplinarstrafe ebensowenig auszuwirken wie der Umstand, daß der Tatverdächtige, Polizeimeisteranwärter Rainer Broscheit, ihn überwältigt, gefesselt und beinahe umgebracht hatte. Gesetz war eben Gesetz.
Leider hatte sich Broscheit mittlerweile erhängt, was die Klärung der Umstände weiter erschwerte.
Die Bedienung stellte das langerwartete Bier auf den Tisch und fragte, ob er etwas essen wolle. Jordan sah überrascht auf seine Armbanduhr und dann in das Gesicht der jungen Frau. Es war kurz nach sechs, beste Zeit für ein Abendessen, keine Frage, zumal er seit dem Frühstück nichts in den Magen bekommen hatte. Er schüttelte dennoch den Kopf. Nicht bevor Engholm hier war. Aber warum war er noch nicht hier? Schließlich hatte ihn der Hauptmeister schon am Nachmittag im Hotel angerufen und mitgeteilt, daß es Neuigkeiten gab. Wichtige Neuigkeiten im Fall Kerschenstein, eben jenem Fall Kerschenstein, der im Verlauf der Untersuchungen für Jordan zu einem Alptraum geworden war. Das LKA hatte ihn vor drei Wochen hierhergeschickt, um einen eindeutigen Fall von Selbsttötung zu untersuchen. Innerhalb von vierzehn Tagen waren fünf weitere Todesfälle, ein verschwundener Hauptzeuge, ein Kollege auf der Intensivstation und einer, der sich erhängt hatte, hinzugekommen. Eben Broscheit. Und wenn Engholm recht hatte, mußten sie noch zwei Morde in Frankreich mit einrechnen, die ebenfalls mit dem Mord an Kerschenstein zusammenhingen. Zuviel für Jordan, der zunächst die Enttäuschung darüber, nur einen Suizid untersuchen zu müssen, im Alkohol ertränkt hatte – und anschließend seine Überforderung.
Aber was hieß das schon – Überforderung? In gewissem Sinne war es genau umgekehrt. Die Morde – und dafür hielt er sie – waren von der Staatsanwaltschaft, seinen Vorgesetzten und dem lokalen Ermittlungsleiter bagatellisiert oder gar nicht als solche anerkannt worden. Unfall. Selbstmord. Alles war ruhiggeblieben, und schon gar keine Sonderkommission eingerichtet worden. Selbst die Kollegen von der Bundespolizei schienen seltsam desinteressiert als Engholm das Profil des Russen abfragte, einem aus der Sowjetarmee desertierten und international gesuchten Scharfschützen. Nicht einmal der Hinweis, daß die Beschreibung eines Zeugen genau auf dieses Profil paßte, hatte zu irgendeiner Reaktion des BKA geführt.
Und so tanzte der Mann ihnen auf der Nase herum. Er war stets schneller als sie und hinterließ keine verwertbaren Spuren. Im Gegensatz zu Broscheit. Der junge Polizeimeisteranwärter war mutmaßlich Mitglied des WERK, einer Loge, die auch unter dem Namen Zitadelle des Lichts bekannt war, und von der Jordan annahm, daß sie den Russen beauftragt hatte. Broscheit war IHR Mann fürs Grobe und hatte dabei einen oder zwei Fehler begangen, durch die Jordan auf seine Spur gekommen war. Bei einem ersten Verhör aber hatte er geschwiegen und zu einem zweiten war es nicht gekommen. Kurz darauf hatten Jordan und Engholm ihn erhängt in seiner Wohnung aufgefunden. Die Spur zu seinen Auftraggebern und vielleicht auch zum Russen war damit fürs Erste verloren.
Jordan nahm einen Schluck Bier und schloß die Augen. Auf demselben Niveau waren die gesamten Ermittlungen der letzten drei Wochen verlaufen. Seine Schuld, kein Zweifel. Beweismittel und Zeugen waren der Reihe nach verschwunden und er hatte sich lächerlich gemacht. Zwar war es Engholm schließlich gelungen, den Polizeipräsidenten zu überzeugen, daß mehr an der Sache dran war als ein paar vereinzelte Selbstmorde, daß alle Todesfälle zusammenhingen und daß Eilers, der Leitende Kriminalhauptkommissar, anscheinend immer wieder Spuren ignorierte. Aber den großen Durchbruch in den Ermittlungen hatte das nicht bedeutet, zumal sie keine Unterstützung mehr durch den Polizeipräsidenten hatten – Kolberg war seit ein paar Tagen verschwunden. Und mit ihm das Ergebnis der unter der Hand von einem befreundeten Arzt durchgeführten Obduktion, die ergeben hatte, daß Kerschenstein tatsächlich umgebracht worden war und sich nicht, wie es im offiziellen Bericht hieß, selbst erhängt hatte.
Die Aussage eines Taxifahrers hatte ergeben, daß Oberstaatsanwalt Vomdorff Kontakt zum Russen hatte. Der Russe aber war wieder untergetaucht und ein Nachweis daher nicht mehr zu führen.
Photos eines Kollegen der französischen Militärpolizei hatten Eilers zusammen mit dem Russen gezeigt. Ein Beweis, der dem Kriminalhauptkommissar das Genick gebrochen hätte, wenn, ja wenn nicht der Franzose mitsamt der Photos verschwunden wäre.
Zögernd war er zu der Erkenntnis gelangt, daß sowohl die Staatsanwaltschaft als auch einige der Kollegen der Kriminalpolizei in die Vorfälle verwickelt sein mußten. Ohne handfeste Beweise nützte ihm diese Erkenntnis allerdings nichts, zumal der Loge so viele Einflußreiche Personen aus den Justizbehörden und sogar der Politik angehörten, daß Jordan selbst mit handfesten Beweisen nichts gegen sie würde unternehmen können. So in etwa jedenfalls war Lohmanns Einschätzung. Lohmann, Journalist aus Hannover und Studienfreund Jordans, hatte ihn erst auf die Spur des WERK gebracht.
Jordan leerte sein Bierglas und preßte die Lippen zusammen. Ermittlungen, dachte er bitter. Ermittlungen durfte er ja nicht einmal mehr führen! Aber sollte er nach Hause fahren und warten? Sollte er seine Suspendierung als Warnung akzeptieren und Eilers und Vomdorff ihr schmutziges Geschäft weiterführen lassen? Für einen Augenblick war er geneigt, eben das zu tun, zu hoffen, daß es ihn rehabilitierte, wenn er den Mund hielt und das tat, was seine Dienststelle von ihm erwartete.
Dann schüttelte er langsam den Kopf. Genau das würde er nicht tun. Und schon gar nicht, bevor er nicht wußte, weshalb all diese Menschen hatten sterben müssen. Denn ein Motiv, den Grund, die Ursache für das, was geschehen war, hatten sie bisher trotz allem noch nicht gefunden … Gut, es gab ein Päckchen, Kerschensteins Päckchen, hinter dem der Russe herzusein schien. Und mit ihm die Loge. Aber was beinhaltete es?
Jordan bestellte ein zweites Bier. Die Dämmerung hatte eingesetzt und auf den Tischen wurden kleine Kerzen angezündet. Engholm ließ weiterhin auf sich warten. Zugegeben, er hatte jetzt andere Aufgaben, war mit Papierkram eingedeckt worden und in andere Fälle involviert. Wenn es stimmte, was er erfahren hatte, war Eilers seit zwei Tagen kommissarischer Leiter des Präsidiums, und damit hatten Engholm und Voigt den Rest ihrer Handlungsfähigkeit verloren. Der Fall Kerschenstein war per Anweisung faktisch geschlossen.
Zum wiederholten Mal fragte sich Jordan, was er tun sollte.
Und zum wiederholten Male war Unsicherheit die einzige Antwort, die er hatte.
Die Tür öffnete sich, der Vorhang des Windfangs blähte sich und Engholm trat herein. Der Hauptmeister sah sich um, dann fiel sein Blick auf Jordan. Er wirkte abgekämpft und müde. "Was ist mit dir los?" fragte er, als er an den Tisch trat, seine Jacke über einen der Stühle hängte und sich Jordan gegenüber setzte. "Immer noch nüchtern?"
Jordan verzog den Mund und sah verlegen auf sein zweites Bier. Es stimmte vermutlich, in den letzten drei Wochen hatte er immer wieder zuviel getrunken. Viel zu viel. Aber jetzt war er suspendiert und konnte trinken so viel er wollte! "Wo warst du?" fragte er zurück.
Engholm seufzte. "Kolberg ist immer noch nicht zum Dienst gekommen. Eilers kostet sein neues Amt selbstverständlich so richtig aus. Er packt uns voll mit Arbeit, unsinnige Arbeit. Und er achtet darauf, daß Voigt und ich uns nicht über den Weg laufen." Der Hauptmeister lächelte gequält. "Da habe ich keine Zeit, mich um gescheiterte Existenzen wie dich zu kümmern …"
"Idiot", brummte Jordan und winkte die Bedienung heran. "Du hast aufregende Neuigkeiten versprochen", nahm er den Faden wieder auf, nachdem sie etwas zu essen bestellt hatten.
"Ich war bei Stëin", begann Engholm langsam. Jordan hatte den Eindruck, daß es nicht das war, was der Hauptmeister eigentlich sagen wollte. Doch er nickte nur und schwieg abwartend. "Er …" Engholm zögerte, seltsam unkonzentriert. "Nach mehr als einer Woche", begann er schließlich erneut, "kommt er damit raus, daß Marburg vorhatte nach Brugge zu fahren."
"Nach … wohin?"
"Brugge." Mit gespieltem Großmut fügte er hinzu: "Das liegt in Belgien."
Jordan sah den Hauptmeister irritiert an. "Das weiß ich! Was will er denn da?"
"Nun, wenn ich Stëin richtig verstanden habe, sucht er eine Frau."
"Eine Frau? Wie …" Jordan verstand gar nichts mehr. Hatte Engholm getrunken? Nein, vermutlich nicht. Dann besann er sich auf das Wesentliche: "Er lebt also?"
"Das scheint wohl so …" Engholm suchte etwas in seiner Hemdtasche und schob seinem Kollegen schließlich einen Zettel hin. Ich suche Rosa, stand darauf. Ich weiß nun, wo sie ist, und ich werde sie finden. Entweder kehre ich mit ihr zurück oder gar nicht.
"Rosa?"
Engholm zuckte mit den Schultern. "Stëin sagte, sie sei in Brugge. Mehr wußte er auch nicht. Zumindest hat er nicht mehr gesagt."
"Wer ist diese Rosa?"
"Ich weiß es doch nicht."
"Ja aber …" Jordan sah Engholm entgeistert an. "Dann laß uns hinfahren und ihn noch einmal vernehmen!"
"Du solltest das tun", erwiderte Engholm matt. "Ich habe auch noch ein Privatleben."
"Ein Privatleben? Aber du wolltest doch …"
Engholm schüttelte den Kopf. "Das ist vorbei, Uwe. Ich kann nicht mehr. Ich bin am Ende. Ich habe auch schon ohne das WERK oder den Russen einen Zehnstundentag. Kerschenstein ist tot und Marburg lebt. Mehr interessiert mich im Augenblick nicht."
Jordan war perplex. Das klang nicht nach Engholm. Nicht nach dem Engholm, den er kannte, der mit einer Nachricht an den Zentralrat der Juden die Untersuchungen zu Kerschensteins Tod erst ins Rollen gebracht hatte. Aber der Hauptmeister schien es aus irgendeinem Grunde, den Jordan noch nicht kannte, ernst zu meinen, und so beschloß er, nicht weiter nachzufragen. Das Essen kam. Sie schwiegen sich an. Nachdem er seinen Teller halb geleert hatte, legte Engholm sein Besteck zusammen, tupfte seinen Mund mit der Serviette ab und erhob sich. "Ich muß nach Hause", sagte er. "Frank wartet." Es schien, als wolle er noch etwas hinzufügen, eine Erklärung, einen Plan, wie sie weiter vorgehen sollten. Doch es folgte nur ein schwaches Sei vorsichtig, Uwe … Dann wandte er sich ab und ging hinüber zum Zinktresen, um zu zahlen. Jordan starrte ihm hinterher, unfähig, etwas zu sagen oder gar seinem Kollegen hinterherzulaufen. Wieso Frank? fragte er sich im nächsten Augenblick. Wer war Frank?
Gleichgültig.
Ja, es war Engholm gewesen, der vor ein paar Wochen alles losgetreten hatte. Vielleicht ein anderer Engholm. Seine anonyme Nachricht an das Büro des Zentralrats der Juden hatte erst das LKA auf den Plan gerufen und damit für Jordans Einsatz gesorgt. Der Hauptmeister war einer der Beamten gewesen, die den alten Kerschenstein in seiner Wohnung erhängt aufgefunden hatten. Im Gegensatz zur offiziellen Version hatte er damals nicht an eine Selbsttötung des neunundachtzigjährigen Juden geglaubt. Warum hatte er nun plötzlich jedes Interesse an der Aufklärung der Todesumstände verloren? War es die Loge? fragte sich Jordan, nachdem er einige lange Augenblicke vor sich hingestarrt hatte. Er schob den Teller von sich. Ihm war der Appetit vergangen. Wurde Engholm etwa von der Loge bedroht, vom WERK, von der Zitadelle des Lichts? Das – und nur das – würde seinen unerwarteten Rückzug erklären.
Nach und nach drängten sich Jordan weitere Fragen auf: War die Spur nach Brugge überhaupt echt oder nur ein Ablenkungsmanöver? Wer war diese Frau und war Marburg ihr tatsächlich hinterhergefahren? Immerhin hatten sie sein Auto bis heute nicht gefunden. Ein Beweis dafür, daß er noch lebte, war beides nicht.
Jordan fühlte sich unbehaglich, alleingelassen und plötzlich auch beobachtet. Ruckartig wandte er seinen Kopf zum Fenster, doch dort war nur der schwache Schein der Straßenlaterne in der mittlerweile vorangeschrittenen Dämmerung zu sehen. Ich werde nach Hause fahren, überlegte er, von Selbstmitleid getrieben, zurück nach Hannover. Und ich werde warten, bis Berndes meine Suspendierung aufhebt. An disziplinarrechtliche Maßnahmen oder gar ein Strafverfahren wegen des Einbruchs bei einem Kollegen mochte er überhaupt nicht denken. Kriminalhauptkommissar Berndes, Jordans Vorgesetzter, hatte bei ihrem letzten Gespräch versucht, optimistisch zu klingen. Es war ihm nicht recht gelungen, und das Flämmchen der Zuversicht, das er bei seinem jungen Mitarbeiter entfacht hatte, war längst wieder erloschen.
Jordan stand auf, zahlte und ging, allerdings nicht ohne sein Bierglas leergetrunken zu haben.
Das Telefon neben dem Bett klingelte, schrill und viel zu laut. Jordan haßte Telefone am Bett. Es gab kaum eine miesere Art geweckt zu werden als durch einen Anruf mitten in der Nacht. Er wagte einen Blick auf die Uhr – es war tatsächlich erst kurz vor vier. Widerwillig nahm er ab. "Ja?"
"Komm zum Bahnhof", sagte Engholm, der ebenso müde klang wie ungeduldig.
"Jetzt? Warum?"
"Weil wir vermutlich Le Brizec gefunden haben."
"Ich bin sofort da", murmelte Jordan und legte auf. Er setzte sich auf den Rand des Bettes und fluchte. Es war erst drei Tage her, daß sie sich mit Le Brizec, einem Sous-Lieutenant der französischen Police Militaire, getroffen hatten. Auch er suchte nach einem Mörder, dem Mörder zweier Offiziere der Fremdenlegion, und seine Spur hatte ihn von Marseille nach Oldenburg geführt. Zu Kerschenstein. Genaugenommen war er auf der Spur eines gewissen Dimitri Romanow, mittlerweile besser als der Russe bekannt. Le Brizec hatte ihnen Photos gezeigt auf denen der Russe – Romanow war nur einer von vielen Namen, die er benutzte – im Gespräch mit einem Mann war, der offensichtlich aus Deutschland kam. Und er war mehr als überrascht, als er feststellte, daß Engholm und Jordan beide Männer kannten: Es war eindeutig Eilers, der Erste Kriminalhauptkommissar und Vorgesetzte Engholms, der in trauter Zweisamkeit mit dem Auftragsmörder zu sehen war. Das wird ihm das Genick brechen, hatten sie beim Anblick der Photos gedacht. Eilers hatte sich mehr als verdächtig benommen in den letzten Wochen, und doch hatten sie ihm eine Verbindung zur Loge nicht nachweisen können. Mit diesen Aufnahmen würde sich das ändern, sie belegten einen direkten Zusammenhang zwischen den Männern. Und der war gewiß nicht dienstlich.
Aber es war vermutlich gesundes Mißtrauen gewesen, das dafür gesorgt hatte, daß Le Brizec ihnen die Bilder nur im Austausch gegen die Akte Kerschenstein hatte überlassen wollen. Der Franzose interessierte sich für alles, was sie bisher über den alten Mann herausgefunden hatten. Er vermutete, daß die Ursache für die Morde bei Kerschenstein lag. Irgendwo dort. Er hatte den Russen bis nach Deutschland verfolgt, bis nach Oldenburg, doch es waren die Hintergründe, die er nicht verstand. Warum hatte der Russe die Offiziere getötet und in wessen Auftrag? Von der Akte Kerschenstein hatte sich der Militärpolizist eine Antwort erhofft.
Um die Photographien zu bekommen hatte Engholm gleich am nächsten Tag heimlich eine Kopie der Akte für den Franzosen angefertigt.
Nur leider war der Franzose nicht zum nächsten Treffen gekommen.
Und nun war er tot?
Eine halbe Stunde später traf er am Unfallort ein. Auf den Gleisen stand ein Güterzug, daneben, auf einem schmalen Weg, ein Leichenwagen, doch offenbar hatte der Gerichtsmediziner noch nicht sein Einverständnis zum Abtransport der Leiche gegeben.
"Dies ist die Strecke nach Wilhelmshaven", erklärte Engholm als Jordan zu ihm trat. Dann wies er in die andere Richtung, auf einen Bahnübergang in etwa fünfhundert Meter Entfernung. "Dort scheint er vom Zug erfaßt und bis hierher mitgeschleift worden zu sein. Der Lokführer hat nur einen Schemen gesehen und gebremst, aber es war natürlich zu spät. Wir werden ihn morgen befragen, er steht noch unter Schock. Die Identität der Leiche ist noch ungeklärt …"
Jordan wies auf den Leichensack, in dem er Le Brizec vermutete. "Ich dachte, es ist …"
Engholm unterbrach seinen Kollegen mit einer Handbewegung und bedeutete ihm zu schweigen.
"Hatte er die Photos bei sich?" fragte Jordan dennoch, wenngleich flüsternd.
Der Hauptmeister schüttelte den Kopf. "Wie es aussieht, hatte er gar nichts bei sich. Aber die Leiche ist ziemlich übel zugerichtet und es ist dunkel. Vielleicht finden wir ja noch etwas …"
"Übel zugerichtet?" Jordan verzog das Gesicht. "Durch den Unfall?"
"Ja was dachten Sie denn?" Ein Mann im dunklen Trenchcoat richtete sich auf. Er hatte im Schatten der Diesellokomotive neben der Leiche gekniet. Erst jetzt erkannte Jordan Doktor Kolbe, den Gerichtsmediziner. "Oder erwarten Sie, daß bei einem Zusammenstoß diese Zweihunderttonnenlok den Kürzeren zieht?"
Engholm sah zu dem stählernen Koloß hinauf. Es war eine Lokomotive der Baureihe V200. "Einundachtzig Tonnen", korrigiert er den Doktor müde.
"Wie bitte?"
"Ich dachte", mischte sich Jordan ein, "daß der Mann auch vor den Zug gestoßen sein könnte. In diesem Fall müßte man Hämatome …"
"Heute nacht nicht mehr", schnitt Kolbe ihm das Wort ab. "Morgen vormittag sehe ich mir den Mann mal genauer an. Aber große Hoffnung, bei dem Zustand der Leiche noch etwas zu erkennen, machen Sie sich mal nicht." Mit einer Handbewegung gab er die Leiche zum Abtransport frei. "Ich werde Ihren Vorgesetzten dann über meine Untersuchungsergebnisse informieren. Guten Abend. Ich meine – guten Morgen!" Damit wandte er sich ab. "Hämatome!" wiederholte er lachend, "Hämatome …" Er schüttelte den Kopf und kniete sich hin, um seine Instrumententasche zu verschließen. Jordan wollte etwas sagen, überlegte es sich dann angesichts seiner Situation aber anders. "Wir müssen herausfinden, wo er übernachtet hat", flüsterte er Engholm zu.
Der Hauptmeister nickte zaghaft und schob seine Hände tiefer in die Taschen seines Mantels. Laut sagte er: "Wir gehen erst einmal von einem Unfall aus. Vermutlich war der Mann zu Fuß unterwegs und ist vor den Zug gelaufen …"
"Was?"
Engholm schob Jordan zurück zu den Einsatzfahrzeugen. "Verflucht nochmal!" zischte er, als sie außer Hörweite der Kollegen und vor allem des Gerichtsmediziners waren. "Wann begreifst du endlich, daß der Fall Kerschenstein offiziell abgeschlossen ist?"
"Ja und?" zischte Jordan. "Dann wird Le Brizecs Tod dies ändern!"
"Nein."
"Nein? Aber du hast doch …" Jordan zögerte. Er war zu müde, um zu verstehen.
"Ich habe dich angerufen, weil ich dachte, Le Brizec hat die Photos bei sich. Ich habe aber keine gefunden, deshalb müssen wir anders vorgehen. Genaugenommen hatte er gar nichts bei sich. Es war also jemand schneller. Daß es sich um Le Brizec handelt, ist unzweifelhaft. Er hat den gleichen Anzug getragen wie bei unserem Treffen." Engholm achtete auf so etwas. "Doch irgend jemand möchte die Identität des Franzosen vertuschen, und er hat ganze Arbeit geleistet. Deshalb sollten wir – und vor allem du – vorsichtig sein und so tun, als würden wir den Toten nicht kennen. Niemand außer uns weiß, daß wir mit dem Franzosen gesprochen haben. Das ist im Moment noch unser Vorteil. Oder zumindest dein Vorteil. Du bist jetzt auf dich allein gestellt. Frag nicht, warum. Mir sind die Hände gebunden. Sollten wir etwas rausfinden, werde ich dich informieren. Aber es dürfte klar sein, daß Kolbes Untersuchung ergeben wird, daß es keine Fremdeinwirkung gab. Versuche herauszufinden, in welchem Hotel Le Brizec übernachtet hat. Verdammt, das hätten wir längst tun sollen!"
"Ich hatte auf ein Treffen mit ihm gehofft …"
Engholm sah den Kommissar skeptisch an. "Nach drei Tagen noch?" Er lachte auf. "Daß da etwas nicht stimmte, war klar, als er sich am nächsten Vormittag nicht gemeldet hatte. Im übrigen gab es heute abend noch eine Neuigkeit: Kolberg wurde suspendiert …"
"Der Polizeipräsident?" Jordan war schockiert. Ohne Kolbergs Unterstützung waren sie aufgeschmissen.
"Eben der", fuhr Engholm fort. "Und Eilers soll zum Polizeirat befördert worden sein. Er vertritt Kolberg kommissarisch bis auf weiteres. Solange er Dienststellenleiter ist, wird es keine weiteren Untersuchungen in Sachen Kerschenstein geben."
Jordan fluchte. War das der Grund für Engholms Zurückhaltung? "Zum Polizeirat?" murmelte er. "Wie geht das denn?"
"Wer Freunde im Ministerium hat, der braucht keine Lehrgänge …" meinte Engholm, schlug Jordan auf die Schulter und wandte sich zum Gehen.
Jordan überkam sofort wieder das Gefühl des Alleingelassenwerdens. Mußte er jetzt etwa selbst entscheiden, was zu tun war? "Warte", rief er Engholm in die Dunkelheit hinterher. "Bist du dir wirklich sicher? Ich meine, mit Le Brizec?"
Engholm blieb stehen und tat ein paar Schritte zurück. "Das sagte ich doch: Er trug denselben Anzug", erklärte er leise. "Außerdem habe ich habe Le Brizecs Ring wiedererkannt. Er ist es, da besteht kein Zweifel …"
Jordan legte sich aufs Bett und löschte das Licht. Er versuchte nachzudenken, was ohne das gewohnte Hotel-Bier gar nicht so einfach war. Aber damit mußte nun Schluß sein. Le Brizec war tot und mit ihm ihre beste Spur. Mehr noch, Eilers war zum Leiter des Präsidiums avanciert. Kommissarisch oder nicht, er war nun der Chef, die Exekutive der Loge. Jordan war entsetzt, daß es Seilschaften gab, die einen Polizeipräsidenten zu Fall bringen konnten und einen der IHREN in ein Amt, für das er überhaupt nicht qualifiziert war. Das WERK oder die Zitadelle des Lichts – er mußte offenbar noch viel lernen.
Es wurde allerhöchste Zeit, daß er etwas unternahm.
Nach einem hastigen Frühstück ließ sich Jordan an der Rezeption die Gelben Seiten geben. Er fand dreiundzwanzig Hotels in Oldenburg und der direkten Umgebung. Oldenburg und umzu, wie sie hier sagten. Er schrieb sich die Adressen heraus und setzte sich, von plötzlicher Panik befallen, in den Ascona. Wer auch immer Le Brizec zum Schweigen gebracht hatte, würde auch dessen Hotelzimmer auf den Kopf stellen. Er mußte sich beeilen.
Da Jordan keine Photographie des Sous-Lieutenants hatte, mußte er ihn in jedem Hotel erneut beschreiben. Dies und das Fehlen jeder Ortskenntnis bei der Suche nach den dreiundzwanzig Hotels ließen den Vormittag ebenso schnell wie ergebnislos vergehen. Niemand hatte in dieser Woche einen französischen Gast beherbergt und nirgendwo war ein Gast abhanden gekommen.
Eher beiläufig und der Vollständigkeit halber fragte Jordan bei seiner Rückkehr am frühen Nachmittag auch in der Rezeption des Hotel Heide, in dem er seit ein paar Tagen wieder wohnte. Jordan hatte den Franzosen hier noch nicht gesehen, deshalb war er sicher, daß die Frage überflüssig war. Doch anstelle eines kategorischen Neins überlegte die Frau am Empfang. Ja, da sei ein Ausländer gewesen, ein junger Mann, und den Akzent seines Englischs könnte man durchaus als Französisch bezeichnen.
Jordan fluchte stumm wegen seines Patzers. "Er hat hier übernachtet?" wiederholte er ungläubig.
"Oh nein." Die Hotelangestellte schüttelte vehement den Kopf. "Nein, ich habe ihn wieder fortgeschickt …"
"Wieder fortgeschickt?" Jordan faßte es nicht. Wie konnte die Welt derart ungerecht sein! Die Photos, die Beweisstücke hätten in greifbarer Nähe sein können! "Wieso?"
"Weil", erklärte die junge Frau mit professionellem Lächeln, "wir kein freies Zimmer hatten."
Jordan verzog den Mund und fluchte erneut. Dann nickte er und wandte sich um. Wohin konnte Le Brizec dann gegangen sein? Wo hatte er übernachtet?
"Übrigens sind Sie heute schon der Zweite, der mich danach fragt."
"Der Zweite?" Jordan sah die junge Frau überrascht an.
"Ja. Scheinbar auch ein Ausländer, aber eher mit russischem Akzent. So ein blonder, großer Mann." Sie hielt die Hand hoch, um anzuzeigen, wie groß. "Sah nicht schlecht aus. Ich habe ihm gesagt, daß ich den Franzosen zur Pension Steenken geschickt habe und …"
"Wo ist die denn?" unterbrach Jordan die Rezeptionistin. Die schob schmollend die Unterlippe vor. Dann aber notierte sie die Adresse und reichte dem Kommissar den Zettel. "Danke", sagte sie vorwurfsvoll an Jordans Statt, als dieser wortlos das Hotel verließ und zu seinem Auto lief.
Der Begriff Pension war sichtlich übertrieben. Es handelte sich um ein gewöhnliches Stadthaus, allerdings am Rande Oldenburgs. Jordan war auf seinem Weg hierher an der Universität vorbeigekommen und ahnte, daß die Pension im Grunde eine Studentenherberge war. Jetzt, in den Semesterferien, schienen nur wenige Zimmer vermietet zu sein, weshalb der vom Hotel weitervermittelte Franzose sicherlich willkommen gewesen war. Jordan zeigte der Vermieterin seinen Ausweis, den er im Gegensatz zur Polizeimarke behalten hatte, und ließ sich von ihr auf Le Brizecs Zimmer führen. "War heute schon jemand hier?" fragte er. "Ich meine …"
Doch die Vermieterin hatte ihn verstanden. Sie nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf. "Der nette französische Herr war nicht hier, falls Sie das meinen. Scheinbar die ganze Nacht nicht." Sie lächelte so verständnisvoll und anzüglich, daß Jordan ihr den tragischen Tod ihres Gastes lieber verschwieg. "Aber vor einer halben Stunde war so ein seltsamer Mann hier", fuhr sie fort, "so ein Blonder. Ich glaube, das war ein Russe. Er sprach so komisch."
Jordan verzog den Mund. Wirklich überrascht war er nicht, daß der Russe schneller gewesen war. Einen Augenblick lang stellte er sich vor, wie es andersherum gewesen wäre. Hätte er den Russen in der Pension überraschen und verhaften können? Wohl kaum. Gegen einen professionellen Killer hatte er keine Chance. Zumal seine Waffe zusammen mit der Dienstmarke bei seinem Chef im Schreibtisch lag. Er grinste bitter und machte sich daran, das Zimmer zu durchsuchen. Le Brizecs Sachen waren immerhin noch da, eine Reisetasche, Wäsche, Hemden, Waschzeug. Nach einem Hinweis auf die Identität des Offiziers suchte er allerdings vergeblich, keine Papiere, Ausweise, Begleitschreiben. Immerhin fand er die Uniform eines Sous-Lieutenant, und das war für den Moment Beweis genug. Hatte der Russe auch die Photos gefunden? Jordan wandte sich zur Vermieterin um, die noch immer in der Zimmertür stand. "Hat Monsieur Le Brizec Ihnen etwas zur Aufbewahrung gegeben?" fragte er, obwohl er die Antwort schon kannte. "Einen Umschlag oder so etwas?"
Die Frau schüttelte den Kopf. "Das hat der andere Mann auch schon gefragt."
Sieh mal an, dachte Jordan. Dann weiß Romanow also von den Photos? Ob er sie gefunden hatte? Dann hätte er vermutlich nicht gefragt. Er sah sich um, sah noch einmal in die Schränke und durchwühlte die Reisetasche und das Bett.
Nichts. Seine Suche war erfolglos.
Dann kam ihm ein Gedanke. "Was für ein Auto hatte Le Brizec eigentlich?" fragte er vorsichtig.
"Das Auto", überlegte die Vermieterin. Dann nickte sie. "Das war beige."
War das alles? Jordan sah sie auffordernd an.
"Ein Peugeot, glaube ich", setzte sie zögernd nach. "Naja, jedenfalls ein Franzose. So wie der Fahrer …" Sie kicherte.
Jordan versuchte, wohlwollend zu lächeln. Die Beschreibung traf vermutlich auf einige tausend Fahrzeuge hier in der Gegend zu. "Das Kennzeichen haben Sie sich nicht zufällig gemerkt?"
"Glauben Sie, ich stehe am Fenster und notiere mir Autokennzeichen?" fuhr sie auf. "Halten Sie mich für so jemanden?"
Jordan verneinte pflichtschuldig. Er sah sich noch einmal hastig um, und als er sicher war, nichts übersehen zu haben, bedankte und verabschiedete er sich.
Nachdenklich kehrte er zum Auto zurück. Sie hatten versucht, über Broscheit und Eilers an die Loge zu kommen. Beides war fehlgeschlagen. Broscheit war tot und Eilers war über jeden Zweifel erhaben, da außer Engholm und ihm selbst niemand von dem Treffen zwischen dem Hauptkommissar und dem Russen wußte. Das reichte nicht, ihnen fehlten einfach die Beweise, und Eilers Position war stärker denn je, da der Polizeipräsident offensichtlich Jordans Schicksal teilte und gestern abberufen worden war. Nun saß Eilers auf seinem Platz.
Im Grunde blieb nur noch eine Möglichkeit. Der Russe war nach wie vor in der Stadt. Ihn mußte er finden. Wenn der Russe Eilers belastete, war alles gewonnen. Für ein paar Sekunden war Jordan stolz auf seinen Einfall. Dann fragte er sich, wie sie das anstellen sollten.
Lohmann, schoß es ihm durch den Kopf. Der Journalist wußte mehr, als er bei ihrem letzten Gespräch zugegeben hatte. Lohmann wollte ihnen nicht helfen, weil er Angst hatte. Aber er kannte die Loge, das WERK, hatte Staatsanwalt Vomdorff belastet – freilich ohne gegen ihn aussagen zu wollen – und hatte bei seinen Recherchen herausgefunden, daß die Xanos – eine Art Personalvermittlungsunternehmen – als Geldwäscherin für die Loge fungierte. Lohmann mußte ihnen noch einmal helfen.
Der Ascona sprang nicht an, was Jordan mit einem Fluchen quittierte. Er stieg aus, holte einen Hammer aus dem Kofferraum, öffnete die Motorhaube und gab dem Anlasser ein paar Schläge. Das hatte bisher immer geholfen. Er startete erneut und der Motor sprang an. Etwas unsicher, ob er sich darüber freuen sollte, fuhr Jordan zurück zu seinem Hotel. Der Wagen lief, das war gut, aber er war vor einer Woche erst in der Werkstatt gewesen. Weil er nicht anspringen wollte …
Zurück im Hotelzimmer wählte Jordan Engholms Nummer. Er kannte die Büronummer im Ersten Revier mittlerweile auswendig und brauchte nicht zu überlegen. Doch der Hauptmeister nahm nicht ab. Jordan sah zur Uhr. Es war kurz nach drei. Vielleicht war er rausgefahren, auf Streife, unterwegs irgendwo in der Stadt. Die Frage, ob Le Brizecs Auto mittlerweile gefunden worden war, blieb somit jedenfalls unbeantwortet.
Als nächstes wählte er Lohmanns Nummer. Um diese Zeit natürlich die Redaktionsnummer der Allgemeinen. Doch der Anschluß war offenbar umgeleitet, denn nach wenigen Sekunden hatte er nicht den Journalisten, sondern die Zentrale an der Leitung. "Herr Lohmann arbeitet seit heute nicht mehr bei uns", sagte eine freundliche Frauenstimme. "Kann Ihnen vielleicht jemand anderes weiterhelfen?"
"Nein", erwiderte Jordan überrascht, "nein, ich glaube nicht …" Er legte auf. Lohmann arbeitete nicht mehr für die Hannoversche Allgemeine? Was zum Teufel war da passiert? Seinen Arbeitgeber hatte der Journalist bestimmt nicht wechseln wollen, da war sich Jordan sicher. Nicht freiwillig …
Was also war vorgefallen?
Jordan nahm den Telefonhörer wieder auf und versuchte es mit Lohmanns Privatnummer. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, das Gefühl die Kontrolle über das zu verlieren, was er gerade tat. Das Gefühl alleingelassen zu sein. Für ein paar Sekunden verschwand es, als Harald Lohmann sich meldete. "Was ist passiert?" fragte Jordan ohne weitere Begrüßung. "Warum bist du nicht mehr bei der Allgemeinen?"
Lohmann seufzte. Nach einer Weile sagte er "Laß mich in Ruhe …"
"Hat es etwas mit dem WERK zu tun?"
Lohmann schwieg.
"Oder mit der Xanos?" bohrte Jordan weiter. "Mit deinen Recherchen?"
"Ich weiß nicht, welche Recherchen du meinst", erwiderte Lohmann schwach. "Ich muß jetzt auflegen. Ich bin beschäftigt …"
Beschäftigt? dachte Jordan. Du bist gerade entlassen worden! "Ich brauche deine Hilfe!" sagte er statt dessen, hastiger und flehentlicher als beabsichtigt. Schließlich war Lohmann doch auf seiner Seite, er war auf der Spur der Loge, war es zumindest gewesen, er hatte Kontakte und war ebenso Einzelkämpfer wie er selbst, jetzt, da er seine Dienstmarke abgegeben hatte.
"Es tut mir leid …" Mehr schien Lohmann nicht herausbringen zu können. Ohne ein weiteres Wort legte er auf.
Einen Augenblick lang starrte Jordan ungläubig auf den Telefonhörer. Dann hängte auch er ein. Enttäuschung machte sich einmal mehr in ihm breit. Und ganz allmählich die Erkenntnis, daß hier etwas geschah, gegen das er nicht ankam, nie ankommen würde, weil er zu klein war, zu unerfahren, zu ahnungslos im Umgang mit einer Loge, die ihrerseits genau wußte, wie sie mit ihren Feinden umzugehen hatte.
Und Lohmann? War das wirklich Harald Lohmann, der da gesprochen hatte? Jedenfalls nicht der, den er kannte, der, den nichts auf dem Kreuzzug für den Sozialismus hatte aufhalten können.
Jordan sah auf die Uhr. Es war bereits nach vier. Ratlos ließ er den Blick im Hotelzimmer umherschweifen. Seine von Mißerfolgen geplagte Stimmung sank vollends auf den Nullpunkt. Das Pilgerhaus, dachte er unwillkürlich, das Pilgerhaus mochte den Tag vielleicht noch retten …
Nichts wird die Welt je [von uns] zu sehen bekommen, denn unsere [geistigen Fundamente] nehmen ihren Anfang an dem Tag, da Gott sprach: Fiat, und sie enden, wenn er sprechen wird: Pereat. Gottes Uhr schlägt alle Minuten, während unsere kaum ganze Stunden anzeigt.
Johann Valentin Andreae: Fama Fraternitatis, 1614, Diederichs, 1984, P. 63
2. OLDENBURG, DONNERSTAG, 27. SEPTEMBER 1984
Marten hatte die Zeitung verflucht. Nun gut, die Nordwest-Zeitung war nur ein regionales Blatt mit einem äußerst eingeschränkten Blick fürs Wesentliche, mehr Parteiorgan als seriöse Recherche! Er hatte sie angerufen, hatte von seinem Fund erzählt, von der Steinernen Karte und ihrer Bedeutung für die Geschichtsschreibung der letzten Jahrhunderte. Doch der zuständige Redakteur hatte einen Bericht rundheraus abgelehnt. Die Steinerne Karte erschien ihm nicht interessant genug für seine Leser. "Und der Überfall?", hatte Marten gefragt, "der Strick um meinen Hals?" "Darüber berichten wir natürlich", war die Antwort. Und süffisant hatte er hinzugefügt: "Sobald wir die Informationen von der Pressestelle der Kripo bekommen." Elf Tage war es her, daß Marten in seinem kleinen Buchladen überfallen worden und nur knapp – dank Stëins Hilfe – mit dem Leben davongekommen war. Die beiden Männer, die ihn überfallen hatten, waren wegen der Karte gekommen, wegen der Steinernen Karte. Sie hatten sie zwar nicht gefunden, aber Marten wußte nun, wie wertvoll sie war, und zwar nicht nur in historischem Sinne. Er hätte es sich denken können, hätte es wissen sollen, daß es für SIE kein Spiel war: Die Karte führte zum Reichtum und zur Macht, vor allem zur Macht, der Templer.
Danach war Ruhe eingekehrt, die zerschlagene Schaufensterscheibe hatte Marten ersetzen lassen, von einem befreundeten Glaser. Bei ihm konnte er anschreiben lassen. Ein wenig Kundenzuwachs hatte der Überfall immerhin gebracht. Die Leute waren neugierig, natürlich, eine eingeschlagene Scheibe war immer noch etwas Besonderes. Aber einige kauften auch. Und so hielt er seinen kleinen Buchladen offen, brachte es nicht übers Herz, endgültig zu schließen, und hatte im Gegenteil sogar etwas mehr zu tun. Beschäftigung war gut. Auf Stëin verzichtete er dabei notgedrungen, der eingesparte Lohn für seine langjährige Aushilfe, würde dazu beitragen, das Geld für das Schaufenster zusammenzusparen. Der Pflasterstein, mit dem sie eingeworfen wurde, lag auf dem Tresen neben der Kasse. Wen es interessierte, dem erzählte er davon, das war seine Art, die Angst, daß SIE wiederkommen würden, zu verdrängen. Zuweilen ging das ganz gut.
Die Steinerne Karte der Templer führte der Legende nach zu jenem Großen Geheimnis, das der Orden mit in sein jähes Grab genommen hatte, als er zu Beginn des vierzehnten Jahrhunderts, vom Papst verraten und aufgelöst und vom französischen König verfolgt, in den Untergrund ging. Die Legenden, die sich um das Geheimnis, den Schatz und die Macht rankten, sprachen von einem verlorenen Teil, ohne den das Geheimnis nicht zurückgefunden werden konnte. Und dieser verlorene Teil, da war sich Marten ganz sicher, hatte vor ihm gelegen, hatte zu einem Päckchen gehört, das der junge Marburg gefunden hatte, wenn man das so sagen konnte. Denn es schien eine regelrechte Jagd gewesen zu sein nach eben diesem verschollenen Teil des Großen Plans. Der junge Marburg, Stëins Freund, war nun schon seit Tagen verschwunden, und mit ihm das Päckchen, die Steinerne Karte, die Hoffnung, auf ein wenig wissenschaftlichen Ruhm, den die Veröffentlichung der Karte für Marten mit sich gebracht hätte.
Er hätte den Laden schließen können.
Hätte ein Buch schreiben können.
Hätte …
Mittlerweile war er froh, mit dem Leben davongekommen zu sein. Aber war er das? Wußten SIE, daß er die Karte gar nicht mehr besaß – oder würden SIE ein zweites Mal kommen?
Marten seufzte, zog etwas am Türgriff, um den Schlüssel drehen zu können – denn die Tür klemmte seit zwanzig Jahren –, zog den Schlüssel ab und machte sich auf den Heimweg. Es war spät geworden, aber der Tag hatte sich gelohnt. Viele Buchbestellungen und auch einiges aus dem Bestand hatte er verkaufen können. Morgen mußte er das Geld zur Bank bringen.
Er lief zu Fuß, über den Theaterwall und dann die Gartenstraße hinunter, am Schloßgarten entlang. Es waren nicht mehr als zwei Kilometer nach Hause, und die Bewegung tat ihm gut. Die Dämmerung hatte eingesetzt, beschleunigt durch die tiefhängenden Wolken und den Nieselregen, der am späten Nachmittag eingesetzt hatte. Marten zog den Hut etwas mehr ins Gesicht.
Ein Fahrzeug stand am Straßenrand, ein Japaner, Mazda oder irgend so was. Marten nahm es nur flüchtig wahr, doch es fiel ihm auf, denn dort wo das Auto stand, so halb auf der Straße und im Halteverbot, hätte es nicht stehen dürfen. Ein Bus hupte, Marten sah sich um, der Wagen fuhr weiter. Wer darin saß, konnte er nicht erkennen, es interessierte ihn auch nicht. Er wollte nach Hause.
Der Regen wurde stärker, Marten ging schneller, bog in den Marschweg ein, an dem das Haus lag, in dem er eine kleine Zweizimmerwohnung gemietet hatte. Nur noch hundert Meter und er war im Trockenen. Noch im Laufen zog er den Schlüssel aus der Tasche. Als er wieder aufsah, stockte er, zögerte ungläubig für einen Augenblick, denn dort stand wieder der Mazda, direkt vor seiner Tür. Zufall, versuchte er sich einzureden, und lief weiter, stieg die Treppen zum Eingang hinauf und steckte den Schlüssel in das Schloß der Haustür, hastig, nervös. Er wagte einen Blick zurück zur Straße. Die Türen des Wagens wurden geöffnet und zwei Männer stiegen aus.
"In sechs Trübsalen wird er dich erretten, und in sieben wird dich kein Übel anrühren."
Hiob, Kap. 5, 19
3. OLDENBURG, FREITAG, 28. SEPTEMBER 1984
Vage Erinnerungen an das Pilgerhaus durchzogen Jordans schmerzgeplagten Kopf. Und immer wieder der eine lächerlicher Name: Pangalaktischer Donnergurgler. Wodka, Gin, Rum, Likör, Grenadine … Er wußte, aus welchen fragwürdigen Inhaltsstoffen der Cocktail bestand. Daran, wer ihm das Getränk auf seinen Tisch gestellt hatte und wie viele Gläser Bier dem vorausgegangen waren, erinnerte er sich allerdings nicht. Jordan wälzte sich auf die andere Seite, weg vom hellen Sonnenlicht, das durch das Zimmerfenster hereinflutete, zog sich die Bettdecke über den Kopf und gab sich seiner Übelkeit hin.
Wenig später klingelte das Telefon. Warum nur, dachte er. Warum habe ich das Ding nicht längst aus dem Fenster geworfen? Oder den Stecker herausgezogen? Oder den Hörer danebengelegt? Er meldete sich mit einem unverständlichen Gemurmel. Doch Engholm erkannte ihn natürlich. Ohne Begrüßung und ohne auf Jordans Zustand einzugehen, berichtete er von einer Vermißtenmeldung.
Nachdem sie aufgelegt hatten, stand Jordan auf und wankte ins Badezimmer. Auch nach zwanzigminütiger Dusche fühlte er sich nicht wesentlich besser. Irgend etwas blockierte sein Denkvermögen. Vermutlich der Donnergurgler. Nur mit Jeans und T-Shirt bekleidet setzte er sich aufs Bett und vergrub das Gesicht in den Händen, was seinem Kreislauf etwas mehr Stabilität verlieh. Daß Engholm ihn trotz des Abstands, den er zu den Kerschenstein-Untersuchungen genommen hatte, immer wieder mit Informationen versorgte, bewies zweifellos sein noch vorhandenes Interesse. Und daß seine Zurückhaltung an jemand anderem liegen mußte.
Jordan fragte sich plötzlich, ob es nicht vielleicht sogar gefährlich für Jens war, immer noch den Kontakt zu ihm zu suchen. Er hielt es auch nicht für ausgeschlossen, daß das WERK ihn bedrohte und letztlich für Jordans Isolierung sorgte. Würde er am Ende Le Brizecs Schicksal teilen? Lag es nun am Alkohol oder an seiner Sturheit, irgendwie schreckte ihn der Gedanke nicht ab.
Leise stöhnend richtete Jordan sich auf. Er versuchte sich zu konzentrieren. Engholm hatte nicht viel gesagt, nur schnell und knapp die Ereignisse der letzten Nacht durchgegeben. Eine Frau hatte am Abend die Notrufzentrale angerufen und einen Einbruch in der Nachbarwohnung gemeldet. Eine Streife war innerhalb von zehn Minuten vor Ort gewesen und konnte die Aussage der Frau insoweit bestätigen, daß die Wohnungstür nicht verschlossen und die Wohnung selbst durchsucht worden war. Augenscheinlich hatte es einen Kampf gegeben. Alles in Allem kein außergewöhnlicher Vorfall für eine Nachtstreife, doch der Mieter war ein gewisser Franz Marten, der Besitzer eines kleinen Buchladens am Rande der Innenstadt, und sie wußten mittlerweile, daß Marten eine der letzten Personen war, die Jochen Marburg vor seinem Verschwinden gesehen hatten. Marburg und Stëin hatten sich an jenem Abend in dem Buchladen aufgehalten, als Marten zum ersten Mal überfallen wurde. Hierbei war es bei einer zerbrochenen Schaufensterscheibe geblieben. Zwei Tage später war der Buchhändler nur durch das geistesgegenwärtige Eingreifen seines jungen Gehilfen vor dem Tod durch den Strick bewahrt worden. Was die Täter gesucht hatten, darüber schwieg sich Marten aus. Die Kasse jedenfalls war es nicht gewesen, denn in ihr fehlte nichts. Und nun war Marten selbst verschwunden …
Jordan zwang sich, aufzustehen. Es war an der Zeit Hauke Stëin, dem Dritten im Bunde, einen Besuch abzustatten. Vielleicht war er nach dem Verschwinden des Buchhändlers etwas gesprächsbereiter.
Jordans Frühstück fiel spartanisch aus. Sein Magen war einfach noch nicht aufnahmebereit. Der Kaffee aber tat ihm gut, obgleich er nach dem ersten Schluck einmal mehr Engholms starken Bürokaffee vermißte.
Ich weiß, ich darf noch nicht wieder fahren, dachte er, blinzelte ein paarmal, um den Schleier aus den Augen zu kriegen, und öffnete die Tür seines Opel Ascona. Zum Haus der Stëins war es nicht weit, was also sollte schon passieren?
Es passierte nichts. Auch nicht, als Jordan vor der Haustür stand. Niemand öffnete auf sein Klingeln hin. Er sah sich um und überlegte. Fuhr Stëin nicht auch ein Opel Coupé? So wie Marburg? Einen Opel Commodore? So ein Wagen stand hier in der Straße nicht. Wo also war der Junge? Jordan stieg die Treppe zur Straße hinunter und kehrte zu seinem Auto zurück. Nicht, um zurückzufahren ins Hotel, sondern um ein gebogenes Stück Metall aus dem Handschuhfach zu fingern, eines, das er nicht mehr benutzt hatte, seit in seinem Wohnblock Sicherheitsschlösser eingebaut worden waren. Die Haustür der Stëins hatte keines.
Es dauerte nicht lange und Jordan hatte die Tür geöffnet. Später machte er seinen nicht unerheblichen Restalkoholgehalt dafür verantwortlich, überhaupt in das Haus der Stëins eingedrungen zu sein. Jetzt aber stand er im Treppenhaus und drückte die Klinke der Wohnungstür herunter. Die Tür gab nach und öffnete sich. Jordan trat ein und versuchte ein zaghaftes Hallo, das jedoch wie erwartet unbeantwortet blieb. Nach kurzem Zögern fielen auch die letzten Bedenken von ihm ab, er zuckte mit den Schultern und sah sich in der Wohnung um. Aber war es nicht eine Situation wie diese gewesen, die ihm die Suspendierung eingebracht hatte? Sollte er es nicht mittlerweile besser wissen? Auf dem Küchentisch stand ein voller Kaffeebecher, daneben ein Ascher mit einer Handvoll Zigarettenkippen darin. Instinktiv faßte Jordan an seine linke Hemdtasche und holte die Camel-