Der Zirkusprinz - Max Walter - E-Book

Der Zirkusprinz E-Book

Max Walter

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Beschreibung

Dies ist die Geschichte von Max, dessen Eltern und engste Verwandte unter merkwürdigen Umständen ums Leben kamen und über dessen Familie ein Geheimnis zu schweben scheint. Dieses Geheimnis verfolgt auch Max und nimmt immer stärker Einfluss auf sein Leben. Hätte er nicht seine Freunde, seine Tiere und den Zirkus gefunden, wer weiß, was aus ihm geworden wäre. Die Ausbildung und die Erfahrungen im Zirkus machen ihn immer stärker und wenn die Zeit gekommen ist, wird er sich der Entscheidung stellen müssen, ob er bereit ist, das dunkle Geheimnis seiner Herkunft zu lüften. Es ist eine Geschichte über Freundschaft, Treue, Mut, Toleranz und ein kleines bisschen auch von Liebe. Eine Abenteuergeschichte und Schatzsuche, die hoffentlich für alle Beteiligten gut ausgeht.

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Max Walter

Der Zirkusprinz

Copyright: © 2017 Max Walter

Lektorat: Erik Kinting / www.buchlektorat.net

Umschlag: Natascha Lay

Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net

Titelbild: © Nikita Chisnikov (shutterstock)

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Am Anfang war das Feuer

Die Tage im Jungenheim

Die Reise nach Spanien

Circus Magnifico

Die Tiere sind los

Diebe und Affen

Affentheater

Zwei Kampfhähne

Ralph stinkts

Katz und Maus

Mariano Ferraz

Verwandtschaft und andere Merkwürdigkeiten

Ein Tigerbaby und ein tierisches Geschenk

Milos Unfall

Neue Erkenntnisse

Tigertaufe

Zu Besuch bei Mariano

Max in Not

Ein neues Zuhause

Ein neuer Plan

Entführung und Gefangennahme

Eine Warnung

Akteneinsicht

Eifersucht und Versöhnung

Flucht und große Vorstellung

Aufbruch

Chantal und Joelle

Nasse Füße

Marc Luc und ein fürchterliches Getöse

Kapitel 1:

Am Anfang war das Feuer

Das Herz schlug Max schmerzhaft bis zum Hals. Vor ihm stand, zum Sprung geduckt, ein riesiger schwarzer Hund; das Fell gesträubt, die Zähne gefletscht. Das Bellen klang wie bösartiges Husten, die Eckzähne ragten gelb zwischen den Lefzen hervor, die Luft fuhr pfeifend aus den Nasenlöchern. Die blutunterlaufenen Augen ließen nicht von Max ab. Er war der Panik nahe, trotzdem hielt er dem Blick stand. Er wusste nicht, dass er das Tier damit nur noch mehr reizte. Jeden Augenblick erwartete er den Angriff. Seine Beine waren wie gelähmt, vom Rest des Körpers abgeschnitten. Seine Gedanken rasten im Kopf herum, fanden aber keinen Ausweg. Er war wie festgefroren, versteinert. Das schwarze Ungeheuer duckte sich noch tiefer, die Hinterläufe unter den Leib gezogen, bereit zum Sprung. Jede Sekunde konnte es …

Da ertönte ein scharfer Pfiff, es folgte ein lauter Ruf: »Harkan!«

Der Hund wurde sofort starr, wie von einer unsichtbaren Leine gehalten. Er schüttelte sich unwillig, bellte seinen Protest heraus, hätte die gestellte Beute offenbar gerne erlegt. Trotzdem wirkte er im Augenblick weniger bedrohlich, die geduckte, sprungbereite Haltung schien sich etwas zu lösen. Aber er ließ keinen Blick von Max. Misstrauisch beobachtete er ihn, jederzeit bereit, Max anzufallen. Er lechzte förmlich nach einem Grund oder auf den Befehl anzugreifen. Aber nichts geschah.

Der Mann, der jetzt schnell zwischen zwei großen Wohnwagen hervortrat, war nicht besonders groß. Sein dunkles, volles Haar glänzte in der Sonne. Mit starken Armen packte er den Hund am Halsband und zwang ihn auf den Boden. Er schien ein wenig außer Atem, als er mit halblauter Stimme auf das Tier einredete. Seine Stimme war ruhig und tief.

Der Hund hörte den Klang mit schief gelegtem Kopf und entspannte sich. Er fixierte nun nicht mehr ausschließlich Max, sondern sah unterwürfig auf seinen Herrn.

Dieser schaute sich Max genau an. Wie der Junge vor ihm stand! Als wolle er sich tatsächlich mit dem Hund anlegen und auf keinen Fall weichen. Er lächelte leicht, als er ihn so betrachtete. Die roten Haare, die schweißnass an seiner Stirn klebten, die grünen Augen, die zwar immer noch erschrocken waren, aber seinem Blick nicht auswichen. Die ganze Erscheinung gefiel ihm.

»Entschuldigung«, sagte er, »normalerweise ist Harkan sehr freundlich, aber er kennt dich nicht und da muss er natürlich aufpassen. Was machst du denn hier?«

Max atmete tief durch, die Anspannung fiel von ihm ab. Mit noch etwas unsicherer aber fester Stimme antwortete er: »Ich …«, er räusperte sich, »ich bin hier vorbeigelaufen und wollte mir die Wagen ansehen!«

Er deutete auf die großen Wohnwagen, die wie große Eisenbahnwaggons mit Gummireifen aussahen und bunt bemalt waren. Sie hatten Fenster wie Häuser und an manchen waren Fensterbänke mit Blumenkästen angebracht, in denen Töpfe voll bunter Blumen steckten. Es waren ungefähr zwölf Wagen, die auf dem großen Festplatz vor der Stadt abgestellt waren. Einige nutzten den Schatten der großen Kastanienbäume, um sich vor der grellen Mittagssonne zu verstecken, die anderen waren der Hitze schutzlos ausgeliefert. Mitten auf dem Platz hatten Männer damit begonnen, ein großes Zelt aufzubauen. Trotz der Gluthitze herrschte hier rege Betriebsamkeit. Unter dem Wagen, der ihnen am nächsten stand, lagen zwei Katzen, die träge in die Sonne blinzelten.

Der Mann mit dem Hund überlegte kurz und sagte dann auf seine ruhige Art. »Wenn du Zeit hast, zeige ich dir gern mein Zuhause.« Dabei lächelte er.

Max war überrascht und wollte schon freudig zustimmen, aber da fiel ihm ein, dass es schon sehr spät war. Nur zu gern hätte er den Vorschlag angenommen und sich ein wenig umgesehen, doch seine Vernunft siegte. Er hob bedauernd die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Ich muss gehen, sonst krieg ich mächtig Ärger!«

Der Mann mit dem Hund nickte verständnisvoll, griff in die Tasche und holte ein paar Eintrittskarten hervor. »Bist du allein oder hast du noch Geschwister?«

»Ich bin allein«, sagte Max.

»Na, dann kommst du eben mit deinen Eltern.«

»Meine Eltern sind tot!« Als Max das sagte, klang seine Stimme fast trotzig.

Der Mann zögerte. »Und bei wem wohnst du jetzt?« Betroffenheit klang aus seiner Stimme.

»Bei meiner Stiefmutter und ihrem Freund«, sagte Max und sah auf seine Fußspitzen.

Der Mann streckte ihm die Karten entgegen. »Hier sind drei Karten für dich. Du kannst mitbringen, wen du willst. Circus Aurelia, der größte Kleinzirkus der Welt. Freue mich, wenn wir uns wiedersehen! Mein Name ist André!«

Max nahm die Karten und bedankte sich. Er warf noch einen misstrauischen Blick auf den Hund, der jetzt André zu Füßen lag. »Vielen Dank, ich heiße Max, Max Roja. Ich komme bestimmt!«

»Vorstellung immer um neunzehn Uhr, steht auch auf den Karten!«, rief André hinter Max her, der sich nun mit schnellen Schritten entfernte.

Er hatte ganz schön Verspätung und machte sich nun ernsthaft Sorgen, ob die Begegnung mit dem Hund als Erklärung ausreichte oder ob ihn richtiger Ärger erwartete. Vielleicht gibt es Hausarrest, dachte er, dann würde er möglicherweise gar nicht zur Vorstellung gehen können. Plötzlich hatte er es noch eiliger und fing an zu rennen.

Zu Hause angekommen, rief er einen Gruß, warf schnell seine Schultasche unter die Garderobe und lief ins Bad, um sich die Hände zu waschen. Seine Stiefmutter legte darauf größten Wert.

Sie war eigentlich sehr nett, keine böse Stiefmutter wie im Märchen. Nein, seit dem Tod seines Vaters hatte sie ihn wie ihren eigenen Sohn angenommen und er hatte sie sehr gern.

An seine eigene Mutter konnte er sich nur sehr dunkel erinnern. Er war erst drei Jahre alt gewesen, als sie an einer schweren Krankheit starb. Sein Vater, der aus Spanien stammte, hatte sich von da an um ihn gekümmert, soweit ihm das neben seiner Arbeit möglich war. Er kam oft sehr spät nach Hause. Max machte das nichts aus, er konnte sich gut allein beschäftigen. Tagsüber war er im Kindergarten. Die nette Kindergärtnerin behielt ihn auch mal länger, wenn sich sein Vater bei einem Termin verspätete. Später wurde aus der Kindergärtnerin seine neue Mutter. Sein Vater fand sie nämlich auch sehr nett und die beiden heirateten.

Ein paar Jahre nach der Hochzeit nahm sein Vater eine besser bezahlte Arbeitsstelle an. Leider mussten sie deswegen umziehen, aber dafür hatten sie jetzt ein größeres Haus und Max sein eigenes Zimmer. Dumm war nur, dass er alle seine alten Freunde zurücklassen musste und neue Freunde hatte er hier noch nicht so richtig gefunden.

Vor etwas mehr als einem Jahr, also nicht lange, nachdem sie das neue Haus bezogen hatten, starb sein Vater bei einem Autounfall. Helga, seine Stiefmutter, konnte Max kaum trösten, eigentlich brauchte sie selbst Trost.

Die Lebensversicherung seines Vaters bezahlte das neue Haus und Helga erhielt eine Rente, von der sie beide leben konnten.

Seit ein paar Monaten wohnte Klaus bei ihnen, der neue Freund von Helga. Klaus war Polizist und Max fand ihn nicht übel. Immerhin hatte er ihm ein paar Griffe und Tricks beigebracht, mit denen er sich in der Schule auch gegenüber größeren Mitschülern Respekt verschaffen konnte.

Jetzt stand er in der Küche und schaute ungläubig auf den Ofen. Der Fleischkäse in der Pfanne war verkohlt. Eine Tasse stand auf dem Tisch, eine zweite lag zerbrochen auf dem Boden. Was war hier los? Wo war Helga? Sie achtete doch immer so sehr auf Pünktlichkeit. Wo war sie jetzt? Er rannte durch das ganze Haus, rief ihren Namen, aber niemand antwortete.

Max befiel plötzlich ein merkwürdiges Gefühl der Angst, dass sie ihn womöglich allein zurückgelassen haben könnte. Er beruhigte sich aber bald wieder, ging in sein Zimmer und machte seine Hausaufgaben. Helga würde sie bestimmt am Abend kontrollieren. Das merkwürdige Gefühl in seinem Bauch wollte aber einfach nicht weichen.

Als Max sein Matheheft endlich wegpackte, war es schon später Nachmittag. Die Sonne stand tief am Himmel und schien golden durch die Gardinen seines Fensters.

Er lief hinunter in die Küche und fand alles unverändert. Auf dem Herd standen noch immer die unansehnlichen Reste vom Fleischkäse, die Max jetzt kurzerhand in den Mülleimer beförderte. Die Scherben der zerbrochenen Tasse fegte er zusammen.

Er kochte sich Tee und holte ein Stück Marmorkuchen aus dem Küchenschrank. – Niemand konnte besseren Kuchen backen als Helga. Bei dem Gedanken an sie durchfuhr es ihn wieder ganz heiß. Wo war sie nur? Mit der Zirkusvorstellung würde es knapp werden, wenn sie nicht bald kam. Vielleicht könnten sie sogar zu dritt gehen, überlegte Max, er wollte die Gelegenheit aber auf keinen Fall verpassen. Die Karten hatten ihn ja genug Angstschweiß gekostet.

Die Zeit verging und es wurde halb sieben. Max entschied sich kurzerhand, allein in die Vorstellung zu gehen. Um 19.00 Uhr sollte sie beginnen und er hoffte, dass es nicht allzu spät werden würde. Möglicherweise könnte er ja auch vor Ende der Veranstaltung nach Hause gehen, überlegte er. Ärgerlich war nur, dass er bis jetzt noch niemandem von seinem Abenteuer erzählen konnte. Wo blieb bloß Helga? Er konnte jetzt nicht länger warten. Morgen gab es ja wieder eine Vorstellung und da würde er dann gern mit ihr zusammen hingehen. Es waren ja noch zwei Karten übrig.

Von Weitem sah er schon das runde Zirkuszelt. Fertig aufgebaut sah es noch viel größer aus, als er es in Erinnerung hatte. In Büchern hatte er schon Beduinenzelte gesehen – daran erinnerte er sich, als er das Zelt jetzt vor sich sah –, dieses Zelt war nur viel, viel größer. Der Hauptmast hielt die ganze Konstruktion und seine Spitze bildete den höchsten Punkt. In der leichten Brise des frühen Abends bewegten sich an ihr träge zwei lange schmale bunte Fahnen. Die Zeltplanen aus schwerem Leinenstoff wurden von mächtigen Tauen aufgespannt und umschlossen einen großen Innenraum. Alle Ecken und Kanten des Zeltes waren mit bunten Glühbirnen besetzt, die dem Zelt einen ganz besonderen Glanz verliehen. Ein bisschen wurde Max an Weihnachten erinnert, an den Weihnachtsbaum im Wohnzimmer. Er war fasziniert von diesem Anblick.

Über allem glänzte das hell beleuchtete Schild Circus Aurelia. Große Scheinwerfer beleuchteten den Platz vor dem Zelteingang und die ungeduldige Menschenschlange vor der Zirkuskasse. Max stellte sich ganz hinten an.

Langsam schoben sich alle an der Kasse vorbei. Ein Clown kam auf ihn zu, bunt geschminkt, in einem weißen glitzernden Anzug mit großen bunten Punkten. Der schwarze Hut auf seinem Kopf sah wie ein großer Kegel aus. Vor dem Bauch trug er eine Lade, die mit Popcorntüten gefüllt war. »Popcorn, Popcorn!«, rief er mit einer Stimme, die Max bekannt vorkam. Er kam näher.

»Popcorn? Nein.« Max schüttelte unsicher seinen Kopf.

Der Clown nickte ihm aber freundlich zu und sagte: »Schön, dass du kommen konntest! Bist du allein?« Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte er ihm eine Tüte Popcorn in die Hand »Gratistüte für besondere Gäste!«

Max hatte inzwischen André hinter der Maske erkannt, aber bevor er noch etwas sagen konnte, war der Clown schon weitergegangen und bot lautstark sein Popcorn an.

Max zeigte der Frau im Kassenhäuschen seine Karte.

Ein prüfender Blick über einer dicken braunen Hornbrille traf ihn. Die Augen schienen riesengroß und machten den größten Teil ihres rundlichen Gesichts aus. »Wo hast du die denn her?«, fragte sie verwundert, »die sind ja uralt.«

Max war von ihrer Körperfülle beeindruckt. Wie war sie nur in das enge Kassenhäuschen hineingekommen? Mutig holte er Luft, um zu einer Erklärung anzusetzen, doch im gleichen Augenblick hörte er die Stimme des Clowns hinter sich: »Geht schon in Ordnung!«

Die energische Frau blickte über Max hinweg, sah den Clown an und sagte kurz: »Na, gut!«, dann winkte sie Max durch.

Der Clown nahm Max bei der Schulter und schob ihn ins Zelt.

Max war überrascht. Der Raum war zu mehr als der Hälfte mit Sitzreihen angefüllt. Sie begannen fast ganz oben unter dem Zeltdach und senkten sich dann trichterförmig zur Manege ab. Jede Sitzreihe hatte eine eigene Farbe und am Anfang jeder Reihe steckte eine brennende Fackel. Auch rund um die Manege brannten Fackeln und tauchten sie in ein flackerndes Licht. Geheimnisvolle Schattenbilder zuckten über die Wände. Der Boden der Manege war mit Sägespänen eingestreut und große bunte Scheinwerfer warteten darauf, sie mit farbigen Lichtkegeln zu bewerfen.

Max wurde von André den Gang hinuntergeführt und in Reihe drei platziert. Die Zahl konnte er im Licht der Fackeln gut erkennen.

Von seinem Platz aus konnte er das ganze Zelt überblicken. Die Vorstellung war nahezu ausverkauft. Neben ihn setzte sich eine schmale Frau, die stark nach Parfüm roch. Sie versuchte, einen Jungen und ein Mädchen davon abzuhalten, sich gegenseitig Programmhefte auf den Kopf zu schlagen. Auf der anderen Seite wischte sich ein dickleibiger Mann den Schweiß vom geröteten Gesicht und Max sah, dass sein weißes Hemd unter den Armen total durchgeschwitzt war. Direkt vor ihm saßen vier Mädchen, die unablässig miteinander flüsterten und lachten.

Auf einmal ertönte ein lauter Tusch und wie von Zauberhand erloschen sämtliche Fackeln im Zelt, es war stockdunkel. Ein greller Lichtpunkt richtete sich auf den Eingang der Manege. Zwei rot uniformierte Lakaien schlugen den Vorhang zur Seite und mit schnellen Schritten trat eine Gestalt in Husarenuniform in die Mitte der Manege. Mit elegantem Schwung zog er den Hut vom Kopf und verbeugte sich tief. Es war der Zirkusdirektor und kein anderer als André, wie Max sofort feststellte.

Den Hut in der Hand, grüßte er lachend in die Runde und hieß das Publikum mit einer kurzen Ansprache herzlich willkommen. Max war beeindruckt und fragte sich, in welche Rollen André noch schlüpfen würde. Der Direktor verschwand im Manegengang und die Lakaien schlossen den Vorhang – aber nur, um ihn im nächsten Moment für eine Reiterin mit zwei Pferden wieder aufzureißen.

Im vollen Galopp flog sie bis zur Manegenmitte und parierte dort ihren herrlichen Schimmel. Erst kurz vor den ersten Sitzreihen kam sie an der Absperrung zum Stehen. Das Pferd stieg auf die Hinterhand, ruderte mit den Vorderhufen durch die Luft, blähte die Nüstern und rollte mit den Augen. Besucher der ersten Reihe duckten sich erschrocken zur Seite. Die Reiterin rutschte augenblicklich vom blanken Pferderücken und verbeugte sich tief, während das Pferd noch auf der Hinterhand stand und bedrohlich mit den Vorderhufen durch die Luft ruderte. Mutig trat sie vor das Pferd und zwang es, Schritt für Schritt auf der Hinterhand langsam rückwärts zu gehen. Dabei hätte sie jeden Moment von den wirbelnden Vorderhufen getroffen werden können. Erst in der Mitte der Manege durfte das Tier wieder auf alle vier Hufe zurückfallen. Sie tätschelte die Nüstern des Tieres und belohnte es. Begeistert klatschten die Zuschauer, während sich die Reiterin verbeugte.

Im nächsten Moment schwang sie sich auf das zweite Pferd, einen Rappen. Er war lässig in die Manege getrabt und stand nun neben dem Schimmel. Mit heftigem Schenkeldruck trieb sie das Tier an. Sie ritt ohne Sattel. Plötzlich kniete sie auf dem Rücken des Pferdes und drückte sich in den Kopfstand hoch. In dieser Position ritt sie einmal um die Manege, dann ließ sie sich in die normale Reithaltung zurücksinken.

Kaum saß sie auf dem Rücken, sprang sie auch schon mit einem Satz vom Pferd. Kurz federten die Füße auf dem Boden auf, dann schnellte sie über den Pferderücken zur anderen Seite des Tieres. Dort setzte sie mit den Fußspitzen auf – gerade lang genug, um Schwung zu holen. Im nächsten Augenblick flog sie wieder zurück. Mit den Händen in die Mähne des Hengstes gekrallt, schnellte sie jetzt wieder und wieder von einer Flanke des Tieres auf die andere. Schließlich landete sie in der Hocke auf dem Rücken des Pferdes, richtete sich auf und ritt, mit weit ausgebreiteten Armen frei stehend, eine Runde im Trab. In der Mitte der Arena sprang sie mit einem Salto vom Rücken des Tieres und verbeugte sich.

Kaum den Applaus abwartend, warf sie sich mit einem einzigen wilden Satz wieder auf den Rücken des Schimmels und trieb ihn sofort zu scharfem Galopp an. Der Schwarze stand jetzt quer vor dem Ausgang und versperrte den Weg. Zwei Mal jagte der Weiße mit seiner wilden Reiterin um die Manege. Dann änderte sie plötzlich die Richtung und galoppierte direkt auf den versperrten Ausgang zu. Die Reiterin presste sich so an den Körper des Tieres, dass sie ein Teil ihres Pferdes zu werden schien. Ein riesiger Satz des Schimmels, ein Aufschrei der Zuschauer und schon flogen Pferd und Reiterin über den Rücken des Schwarzen. Der Weiße landete auf den Vorderhufen. Der Manegenboden erzitterte unter der Wucht des Aufpralls. Der Schwung trieb Pferd und Reiterin durch den Ausgang. Auf den Rängen fühlte man fast körperlich, wie das Tier unter der Hand der Reiterin sämtliche Muskelfasern bis zum Zerreißen spannte, die Hufe tief in den weichen Boden grub, um die Wucht des Sprungs abzufangen. Nach ein paar Galoppsprüngen kamen sie zum Stehen.

Die Reiterin wendete das heftig am Zügel zerrende Tier und ritt unter großem Beifall und bewundernden Pfiffen zur Manegenmitte, rutschte vom Rücken und verbeugte sich tief. Dann nahm sie den Rappen am Zügel und schwang sich wieder auf den Schimmel. Unter dem Beifall der Zuschauer verließen sie die Manege.

Max war begeistert. So etwas Aufregendes hatte er noch nie gesehen und genau wie die anderen um ihn herum klatschte er begeistert in die Hände. Wenn er nur auch so reiten könnte!

Eine bunte Gestalt stolperte auf die Bühne und fesselte wieder seine Aufmerksamkeit: weiß geschminktes Gesicht, rote Nase, weite Hosenbeine, große Schuhe … Die Schuhe hatte er nicht richtig gebunden und stolperte nun immer wieder über die langen bunten Schnürsenkel. Er ruderte wild mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Ihm folgte ein riesiger, schwarzer Hund.

Max erkannte sofort Harkan, dem er letztendlich die Eintrittskarten zu verdanken hatte. Der Clown konnte nur André sein. Der Hund stieß den Clown nun von hinten an und brachte ihn zum Stolpern. Er fiel aber nicht, sondern drehte sich um und drohte mit dem Finger. Der Hund senkte den Kopf bis auf den Manegenboden und legte eine Pfote über die Augen. Die Leute lachten. Der Clown wendete sich dem Publikum zu und verbeugte sich tief. Da stürzte der Hund von hinten heran und versetzte ihm einen mächtigen Stoß gegen das Hinterteil. Der Clown verlor das Gleichgewicht, schlug einen Purzelbaum und blieb liegen. Schwanzwedelnd lief der Hund auf ihn zu und leckte ihm mit seiner großen langen Zunge quer übers Gesicht. Laut schimpfend sprang der Clown auf und drohte dem Hund mit der Hand. Der trollte sich davon, als ob ihn das alles nichts anginge.

Umständlich zog der Spaßmacher ein riesiges, kariertes Taschentuch aus seiner Hose und trocknete damit sein Gesicht ab. Er schien nicht zu bemerken, dass ihm eine große Bratwurst aus der Tasche gerutscht war. Der Hund hatte das aber sofort gesehen, kam mit schnellen Sprüngen an und schnappte sich die Wurst. Der Clown versuchte, den Hund aufzuhalten, und rannte ihm nach, stolperte aber über die großen Schuhe und fiel hin. Bewegungslos blieb er liegen. Hilfsbereit und schuldbewusst kam der Hund mit der Wurst im Maul näher, um seinem Herrchen zu helfen. Der wurde plötzlich wieder lebendig, schnappte sich die Wurst aus dem Maul des Hundes und aß sie vor dessen verdutzten Augen auf. Durch die Reihen zog sich ein langes »Iiiiihhh!«, worauf sich der Clown freundlich und ausgiebig bedankte. Er verbeugte sich immer wieder und schien gar nicht aufhören zu können. Von der Seite kam der Hund, stellte sich neben sein Herrchen und hob das Bein …! Die Leute lachten und applaudierten dem Hund. Der Clown wollte Harkan verjagen, lief ihm nach, stolperte und bekam ihn nur am Schwanz zu fassen. Das starke Tier lief weiter Richtung Bühnenausgang und schleifte den Clown mit hinaus. Das sah so ulkig aus, dass die Zuschauer kräftig lachten und begeisterter Beifall aufkam.

Schlagartig ging das Licht aus.

Ein einzelner, schwacher Scheinwerfer flammte auf und beleuchtete einen Mann in schwarzer Uniform. Er hatte einen Säbel umgeschnallt und zog einen schmalen, langen Wagen hinter sich her, der rundum mit brennenden Fackeln besetzt war. Die Manege wurde in ein gespenstisch flackerndes Licht getaucht.

Der Unheimliche zog kurz den Hut und öffnete den Wagen, der einem Sarg nicht unähnlich war. Darin schien ein Mensch zu liegen. Die Umrisse erkannte man in dem wenigen Licht nur sehr vage. Plötzlich leuchtete der Wagen fluoreszierend von innen und langsam, ohne eine einzige Bewegung zu machen, schwebte die Person heraus. Etwa zwei Meter stieg sie über den Wagen, drehte sich in eine stehende Position und sank dann langsam nach unten, bis die Füße den Boden berührten.

Der Mann in Uniform schien erst jetzt die Gestalt in seinem Rücken zu bemerken. Er wirbelte herum, die Klinge des Säbels blitzte durch die Luft und schnitt die Gestalt in zwei Teile. Der Schrei der Getroffenen und der Aufschrei des Publikums vermischten sich.

Max war bis ins Mark erschrocken.

Plötzlich begann der abgetrennte Oberkörper zu zucken und bewegte sich. Er kroch auf seinen Unterleib zu. Wie durch ein Wunder vereinigten sie sich und die Gestalt sprang auf.

Das Licht wurde heller, ein Scheinwerfer erfasste die Person und man erkannte, dass es sich um ein junges Mädchen handelte, welches in dunkle, wehende Gewänder gehüllt war. Die Zuschauer waren begeistert. Unglaublich, das hatte man nicht erwartet. Der geheimnisvolle Mann verbeugte sich und schien für ein paar Augenblicke den Jubel zu genießen. Als er sich aufrichtete, hatte er plötzlich in jeder Hand ein Messer.

Die Klingen flogen auf das Mädchen zu. Sie schien entsetzt zu sein, wich einen Schritt zurück und entging damit nur knapp den flirrenden Klingen, die sich gerade dort in den Boden bohrten, wo vor wenigen Wimpernschläge noch ihre Füße waren. Dem Werfer schienen jetzt die Messer aus den Händen zu wachsen. Das Mädchen wich immer weiter zurück, doch immer mehr Dolche folgten ihren schnellen Füßen und bohrten sich in den Sand. Nur ihrer Geschicklichkeit und Schnelligkeit war es zu verdanken, dass die Klingen sie verfehlten.

Plötzlich sprang sie wie eine Katze mit einem Satz auf den Wagen und schloss blitzschnell den Sargdeckel. Der letzte Dolch bohrte sich zitternd in das Deckelbrett. Wieder klatschten die Zuschauer begeistert. Der unheimliche Werfer verbeugte sich lässig, das Mädchen sprang wieder aus dem Wagen und fasste ihn bei der Hand. Beide verbeugten sich und zogen Hand in Hand den Wagen aus der Manege.

Max war begeistert. Er klatschte, bis ihm die Hände wehtaten. Plötzlich spürte er eine Bewegung an seinen Füßen. Es war Harkan, der schwarze Hund. Mit seinen großen dunklen Augen schaute er Max an, als wolle er ihn auffordern mitzukommen.

Zwei Clowns traten auf. Einer von ihnen versuchte, auf einer Stange zu balancieren, aber der andere störte ihn ständig dabei.

Max wurde dauernd von dem Hund abgelenkt, der seine Nähe zu suchen schien und sich eng an seine Beine drückte. Max hatte immer noch Respekt vor ihm. Vorsichtig streichelte und kraulte er ihm den Hals. Das schien Harkan zu gefallen und auch Max mochte es, mit seinen Fingern durch das dicke Fell zu pflügen. Ein Pelz wie bei einem Bär, dachte er. Dann versuchte er, seine Aufmerksamkeit wieder auf die Clowns zu lenken, die sich gerade mit Wasserkübeln bespritzten. Seine Hand ruhte zwischen den Ohren des Hundes. Dem gefiel das sehr. Er legte den Kopf zurück und leckte Max mit seiner kalten Zunge über die Hand. Max war darauf nicht vorbereitet und erschrak darüber dermaßen, dass er ruckartig von seinem Sitz hochfuhr. Dabei musste er wohl versehentlich Harkan auf den Schwanz getreten sein. Mit einem Jaulen sprang der Hund auf und schoss schnurstracks in die Manege. Dort rannte er den Clown um, der gerade seinem Partner beim Balancieren auf dem Seil assistieren sollte. Beide Clowns fielen ungeschickt zu Boden. Schimpfend standen sie wieder auf.

Die Zuschauer klatschten und fanden die Szene lustig, es schien ja zum Programm zu gehören. Die Clowns verneigten sich natürlich sofort, aber der Größere von beiden drohte mit dem Finger Richtung Max und schnitt dabei eine komische Grimasse.

Max hob entschuldigend die Schultern und schüttelte den Kopf. Der kleine Clown sah das und rannte sofort auf ihn zu. Er packte Max zuerst am Ohr, dann an der Schulter und zog ihn aus der Zuschauerreihe in die Manege. Max war ganz verlegen und wollte gerade seine Unschuld beteuern, als ihn ein Eimer eiskaltes Wasser traf. Der Große hatte es über ihm ausgegossen. Max rang nach Luft. Die Zuschauer waren begeistert und klatschten laut. Der Kleine packte Max, warf ihn sich wie einen Mehlsack über die Schultern und trug ihn zum Bühnenausgang hinaus.

Das Publikum johlte, der Kleine klopfte Max auf die Schulter, nahm ihn bei der Hand und zog ihn wieder in die Manege. Dort verbeugten sich alle drei und bedankten sich für den Applaus. Das machten die Clowns so geschickt, dass Max‘ Verlegenheit niemandem auffiel. Er war pudelnass und ziemlich aufgeregt, als sie ihn endlich gehen ließen.

Hinter der Manege empfing ihn eine Frau in buntem Kostüm und nahm ihn überschwänglich in die Arme. Sie bemerkte sofort, dass er durch und durch nass war. Schnell ließ sie Handtücher und eine Decke bringen.

Sie schob ihn in eine Ecke der Garderobe. »Mein Junge, was haben sie denn mit dir gemacht?« Dabei rubbelte sie seinen Kopf mit dem Handtuch ab, dass Max fast schwindelig wurde. Nun erkannte er sie, es war die Frau von der Abendkasse. Hinter der dicken Hornbrille blickten ihre Augen besorgt. Sie zog ihm das nasse Hemd aus, die Hose war noch einigermaßen trocken. Dann frottierte sie ihm den Rücken trocken und wiederholte dabei immer wieder: »Jesus, Jesus, was haben sie denn mit dir gemacht?« Ein paarmal drückte sie ihn dabei an sich, dass er kaum Luft bekam. Es war ihm aber nicht unangenehm. Als er einigermaßen trocken war, legte sie ihm eine bunte Decke um die Schultern.

Max hatte das Gefühl, alles roch streng nach Pferd oder einem anderen Tier, aber wenigstens war er das nasse Hemd los. Plötzlich fiel ihm Helga ein. Er musste schleunigst nach Hause, wahrscheinlich war sie schon in Sorge um ihn.

So schnell entkam er der fürsorglichen Frau aber nicht: »Wie heißt du denn?«

Er nannte seinen Namen, war jetzt aber schon sehr unruhig.

»Ich bin Frau Muschak!« Irgendwie schien sie seine Unruhe zu spüren. »Musst du nach Hause?«, fragte sie.

»Ja, es ist höchste Zeit! Sie warten bestimmt schon auf mich!«

Die Schlussfanfare und der Applaus der Zuschauer waren inzwischen längst verhallt.

»Daran sind nur die dummen Clowns schuld«, brummte Frau Muschak und bemühte sich, mit einem großen Kamm die wilde Mähne von Max in Form zu ziehen. »Du hast einiges verpasst! Komm halt morgen noch mal!«, dabei sah sie prüfend auf die Frisur von Max.

Sie schien mit sich und ihrem Werk zufrieden zu sein, drehte sich um, öffnete die Zelttür und rief: »Siliah, komm schnell!«

Kurze Zeit später trat ein fröhliches Mädchen in den Raum. Max erkannte die schlanke Gestalt sofort, es war die Reiterin von vorhin. Sie blies die Luft aus dem Mundwinkel und beförderte damit eine Strähne ihres krausen Haares aus dem Gesicht. Neugierig betrachtete sie Max.

»Siliah, sieh dir das an, wir brauchen ein trockenes Hemd für Max. Tonio und Bandero haben ihn ganz nass gemacht. So geht das nicht! Zuschauer sind Gäste und gehören nicht in die Manege. Hol ihm ein sauberes Hemd von Armando, das müsste ihm passen«, und zu Max gewandt: »Du kannst es morgen zurückbringen. Wir sehen dich doch noch mal bei uns?«

»Klar.« Max nickte und sah Siliah nach, die gerade im Zelt verschwand.

Keine fünf Minuten später stand sie wieder da und gab Max freundlich einen schwarzen Pulli. »Ich habe in der Eile nichts Passenderes gefunden, aber der passt doch sicher auch, oder?« Max nickte, sah sich den Pulli an und fand ihn sogar besser als sein Hemd.

»Wo wohnst du?«, fragte Frau Muschak. Max nannte die Adresse, aber damit konnte sie nichts anfangen. »Also, ungefähr fünfhundert Meter von hier.«

Frau Muschak nickte. »Bandero soll kommen«, sagte sie zu Siliah, »Aber pronto!« Ihr Ton ließ keinen Zweifel zu, ihr war es ernst.

Es dauerte nicht lange, und Siliah kehrte mit Bandero zurück, einem schmalen, aber durchtrainierten Jungen, etwa im Alter von Max. Im Gegensatz zu Max war er kleiner, aber sein Körper schien beim Laufen zu federn. Sein gebräuntes Gesicht mit den aufmerksamen Augen machte einen offenen Eindruck. Irgendwie schien es, als wolle er gleich anfangen zu lachen, aber er beherrschte sich.

»Haben wir einen Gast?«, fragte er schelmisch.

Frau Muschak blickte ihn scharf an. »Ja, einen Gast, einen Besucher, den ihr Clowns ganz nass gemacht habt.« Sie betonte dabei das Wort Clown so stark, dass es wie ein Schimpfwort klang. Banderos Gesicht verzog sich noch mehr, er konnte ein Lachen kaum noch unterdrücken. »Hat geregnet, hat geschüttet«, brach es aus ihm heraus. »Aber er hat angefangen, er hat den Hund geschickt …«

»Quatsch!«, sagte Frau Muschak. »Seit wann spielen die Zuschauer mit?«

»War aber ein guter Erfolg«, mischte sich jetzt der größere der beiden Clowns ein, der gerade durch die Tür sah und den letzten Satz mitbekommen hatte.

»Ja, war gut. Die Leute haben gejubelt, das sollten wir öfter machen.«

»Wie … soll ich jeden Abend einen Besucher trocken reiben, ihr zwei Schlitzohren? Schaut, dass ihr euch abschminkt, esst was und dann seht nach den Tieren!«

Der Große verschwand.

Max horchte auf. Er liebte Tiere sehr, durfte sich aber bisher kein eigenes Tier halten. »Tiere?«, fragte er.

»Jaja, aber du musst jetzt nach Hause, es ist schon spät! Deine Eltern warten bestimmt schon. Hoffentlich bekommst du keine Schwierigkeiten.«

Max erschrak. Daran hatte er gar nicht mehr gedacht. Also nickte er eilig, warf die Decke von sich und wollte den Pulli ausziehen, den ihm das Mädchen gebracht hatte. »Lass mal!«, sagte Frau Muschak, »Behalt ihn ruhig an, dein Hemd ist noch ganz nass! Bring ihn morgen zurück. Und«, sie wandte sich an Bandero, den kleinen Clown, »du gehst mit Max nach Hause und erklärst seinen Eltern, wieso sein Hemd so nass ist!«, sagte sie streng.

»Och, immer ich!« Er blickte auf Max und sagte: »Das kann er doch selber.«

»Nix, du gehst mit, ich will keinen Ärger mit den Leuten aus der Stadt! Du hast deinen Spaß gehabt.«

Bandero brummte etwas, das wohl heißen sollte: Muss mich umziehen und abschminken.

Frau Muschak hatte sehr gute Ohren und sagte nur: »In fünf Minuten!«

Bandero verschwand eilig.

Die fünf Minuten waren wohl gerade vorbei, als Bandero wieder eintrat und Max fragend ansah. »Auf geht’s!«, sagte er.

Frau Muschak rief über die Schulter: »Nimm den Hund mit!« Er war Bandero gefolgt und sah Max aufmerksam an.

Max verabschiedete sich freundlich und gab auch Siliah zum Abschied die Hand. Sie schien etwas verlegen. So viel Förmlichkeit war sie nicht gewohnt.

Max wollte sich noch bedanken, aber Bandero rief den Hund zu sich und das war auch für Max das Zeichen zum Aufbruch. Er hob nur noch kurz die Hand, winkte den beiden zu und lief dann schnell hinter Bandero und dem Hund her.

Vor dem mächtigen Tier hatte er immer noch großen Respekt. Harkan schien ihn immer aus den Augenwinkeln zu beobachten. Dabei zeigte er aber keine Feindseligkeit, sondern nur eine gewisse Wachsamkeit.

»Wie heißt du?«, fragte Bandero plötzlich. Das klang nicht unfreundlich, einfach nur interessiert.

»Max, ich heiße Max!«

»Schön, und wo wohnst du?«

»Nicht weit von hier.« Max zeigte in die Richtung.

»Könnte ruhig ein bisschen weiter sein«, sagte Bandero und lachte leise. »Je früher ich zurück bin, je mehr Arbeit.«

Max sah ihn von der Seite an. »Hast du noch viel zu tun?«, fragte er. Bandero sah ihn erstaunt an. »Viel zu tun? Na klar! Die Tiere müssen gefüttert und gepflegt werden, das Zelt muss ich sauber machen, die Manege kehren und Harkan«, er schaute auf den Hund neben sich, »Harkan muss auch noch Fressen kriegen. Ja, und morgen kommt Lehrer Meier und ich hab noch nicht alle Matheaufgaben!«

Max blickte Bandero an. »Wieso Matheaufgaben? Musst du auch in die Schule?«

»Na klar, Schule! Aber nicht in so ein Haus, der Lehrer kommt zu uns«, sagte Bandero stolz. »Und kann er nicht zu uns kommen, weil wir auf Reise sind, dann macht Anna mit uns Schule!«

»Wer ist Anna?«, fragte Max.

»Na, du hast sie doch gerade gesehen. Sie hat dich abgetrocknet. Meine Mutter!«

»Sie hat mich nicht abgetrocknet«, Max fühlte sich wie ein kleiner Junge, »das konnte ich schon selber!«

»Und jetzt?« Bandero stand still und blickte zusammen mit Harkan auf Max.

»Wohin?«

»Ach so, nach links die Straße entlang und vorne rechts!«

Sie liefen stumm weiter. Max überlegte, was seine Stiefmutter sagen würde. War sie überhaupt schon zurück? Komisch, so etwas wie heute Nachmittag, das war noch nie vorgekommen.

Sie bogen rechts in die Straße ein, alles war dunkel!

Max war es gewöhnt, dass ihr Haus hell erleuchtet war. Seine Stiefmutter liebte das Licht, es mache ein Haus einfach freundlicher, meinte sie. Deswegen hatten sie auch nie die Fensterläden geschlossen und meistens waren die Gardinen zurückgezogen. »Wir haben nichts zu verbergen«, sagte sie gerne.

Die Nachbarn waren anderer Meinung. Alle Häuser um sie herum waren spätestens nach Einbruch der Dunkelheit dicht, die Gardinen zu, die Rollläden unten, sodass kein Lichtstrahl nach außen dringen konnte.

Heute aber war auch ihr Haus dunkel. Im fahlen Licht der Straßenlaterne sah er, dass die Rollläden oben waren, aber kein Licht fiel auf die Straße. Das Haus, das er eigentlich gerade wegen dieser Wärme mochte, lag schwarz und abweisend vor ihnen.

»Du hast Glück, niemand zu Hause, da kriegst du auch keinen …« Bandero wollte Ärger sagen, aber er verstummte plötzlich und packte Max am Arm. Harkan streckte den Kopf nach vorn und knurrte leise.

Auch Max hatte den kurzen Lichtstrahl in einem der Zimmer gesehen und war ebenfalls erstarrt. »Da ist jemand«, sagte er.

»Vielleicht deine Mutter oder dein Vater?«, fragte Bandero ohne den Blick vom Haus zu nehmen.

»Nein«, Max schüttelte den Kopf, »die machen immer Licht.«

Harkan knurrte, als spürte er die Anspannung der Jungen.

Im Schatten einer großen Hecke näherten sie sich vorsichtig. Plötzlich sahen sie, wie eine dunkle Gestalt das Haus verließ. Dicht hinter ihr folgte eine zweite, aber kräftigere Gestalt. In der Dunkelheit waren die Gesichter nicht zu erkennen. Die hintere Person schien einen Behälter zu tragen, vielleicht einen Kanister. Der Schmächtige zündete sich jetzt eine Zigarette an. Die Jungen vernahmen ein paar Wortfetzen und leises Lachen. Dann sahen sie, wie der Raucher nach ein paar kurzen Zügen die Zigarette in hohem Bogen durch die offene Haustür warf. Sofort war im Hausflur ein heller Schein zu sehen. Die beiden dunklen Gestalten entfernten sich schnell, bevor der Lichtschein noch ihre Gesichter erreichte.

Max wollte loslaufen, doch Bandero hielt ihn fest. Harkan knurrte und fletschte die Zähne in Richtung des Hauses.

»Bleib hier! Still!«, sagte Bandero halblaut.

Im gleichen Augenblick hörten sie ein Motorrad. Es fuhr aus der Garageneinfahrt, bog auf die Straße ein und entfernte sich schnell. Weder der Fahrer noch der Beifahrer sahen zurück. So sahen sie auch die beiden Jungen nicht, die sich tief in den Schatten der Hecke duckten.

Schon loderten Flammen aus allen Fenstern des unteren Stockwerks und auch aus dem oberen Stock schlug das Feuer aus den Fensteröffnungen.

Max und Bandero waren wie versteinert. Vor allem Max hatte helles Entsetzen gepackt. Er wollte auf das brennende Haus zulaufen, aber Bandero hielt immer noch seinen Arm umklammert. Auch auf seinem Gesicht stand Fassungslosigkeit geschrieben.

Max wollte seinen Arm aus der Umklammerung befreien, da hörten sie Stimmen und aufgeregte Rufe. Nachbarn hatten zwischenzeitlich das Feuer entdeckt und kamen aufgeregt auf die Straße.

Eine Frau sah die schattenhaften Umrisse von Max und Bandero, die gerade noch vom Feuerschein erreicht wurden. Sie rief den Umstehenden etwas zu. Alle drehten sich um und sahen in ihre Richtung. Max und Bandero erschraken – man würde doch nicht etwa sie für die Brandstifter halten? Heiß stieg Max das Blut in den Kopf, die Füße fingen fast von allein zu rennen an. Der Hund folgte. Bandero reagierte ebenfalls und rannte, was das Zeug hielt, hinter den beiden her. Sie hörten laute Stimmen und wildes Rufen hinter sich und hatten das Gefühl, es komme näher.

Max bog nach links zum Spielplatz ab, dahinter war ein kleines Waldstück, dort wollte er sich verstecken. Sie erreichten den Spielplatz, aber die Stimmen wurden lauter. Sie konnten sie nicht abschütteln. Max überlegte fieberhaft, wo sie sich verstecken könnten. Der Wald erschien jetzt doch zu weit entfernt, die anderen schienen gute Läufer zu sein. Wieder zurück zu den Wohngebieten! Da gab es bessere Verstecke.

»Da runter!«, rief er Bandero zu, »Komm, da runter!«

Bandero folgte sofort. Der Hund rannte neben den beiden her. Zwischen den Häuserwänden hallte der Klang ihrer Schritte.

Max bog in eine kleine Gasse ein, rannte zwischen zwei Häusern hindurch und sah eine offene Stalltür. Die Jungen schlüpften hinein und zogen die Tür hinter sich zu.

Beide waren völlig außer Atem und konnten nicht sprechen. Bandero hielt dem Hund die Schnauze zu, draußen waren Stimmen zu hören. Es kam den beiden wie eine Ewigkeit vor, bis sie sich entfernten und es wieder ruhig wurde.

Die Jungen konnten in dem wenigen Licht, das durch die Ritzen der Bretter drang, nicht viel vom Inneren des Stalles erkennen. Max hatte plötzlich ein sehr mulmiges Gefühl. Waren sie wirklich allein? Da waren doch Geräusche zu hören. Beide lauschten angestrengt in die Dunkelheit. Bandero hielt immer noch den Kopf des Hundes fest an sich gepresst und drückte mit seiner Hand auf die Schnauze des Tieres.

Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Sie sahen die Umrisse von einem Verschlag, dahinter stand etwas, das wie ein Trog aussah. Vor ihnen schälten sich aus dem Dunkel des Stalls die Umrisse eines großen Wagens. Er schien den Raum bis zur Rückwand auszufüllen. Wieder hörten Sie ein Rascheln und der Hund knurrte.

»Wahrscheinlich Mäuse oder Ratten! Wir müssen raus, sonst kann ich den Hund nicht mehr halten und er bellt.«

Max nickte stumm. Seine überreizten Sinne registrierten jedes Geräusch. Sein Atem hatte sich beruhigt. Er horchte nach draußen auf die Straße. Die Stimmen hatten sich verloren. Die wenigen Fenster, die neugierig geöffnet worden waren, hatten sich wieder geräuschvoll klappernd geschlossen. In der Dunkelheit schien er alles viel intensiver wahrzunehmen. Er hatte plötzlich Brandgeruch in der Nase. Wieder hörten sie Schritte und Rufe, aber sie schienen sich diesmal nicht um sie zu kümmern, sondern liefen neugierig die Straße hinauf zur Brandstelle.

Sirenen waren jetzt zu hören, wieder öffneten sich Fenster, eine Haustür schlug zu, als sich Leute eilig in Richtung des Feuerscheins auf den Weg machten.

Max überlegte fieberhaft, alles drehte sich in seinem Kopf. Ihr Haus brannte. Wo war seine Stiefmutter? Seine Hausaufgaben? Wie sollte er morgen zur Schule gehen? Er hatte kein Bett mehr, nichts! Alles im Feuer! Wer waren diese Männer, die das Haus angezündet hatten?

Plötzlich spürte er, wie Bandero seinen Arm schüttelte. »Wir müssen weg! Die finden uns hier noch!«

Max nickte nur.

»Wir müssen getrennt zurück zum Zirkus!« Der Kopf von Bandero schien wieder zu funktionieren. »Hast du gehört? Zum Zirkus!«

Max fühlte in der Dunkelheit den Blick von Bandero auf sich gerichtet.

»Wir gehen getrennt. Ich mit dem Hund, du allein«, wiederholte Bandero.

Bei dem Gedanken, allein durch die Stadt laufen zu müssen, an all den Leuten vorbei, fühlte sich Max unwohl. »Aber …!«

»Es muss sein, sonst fallen wir auf! Wenn sie jemand suchen, dann zwei Jungen mit Hund. Du allein fällst gar nicht auf. Hast du gehört?«

Max hatte verstanden. Bandero schien alles im Griff zu haben. Er ließ jetzt auch den Kopf des Hundes los. Der sah ihn an und gab keinen Laut von sich.

Sie öffneten die Stalltür und traten langsam und vorsichtig hinaus. Wortlos zeigte Bandero die Straße hinunter, in die Richtung, die Max einschlagen sollte. Er wollte oben an der Brandstelle vorbei. Max erschrak bei dem Gedanken, dass Bandero entdeckt werden könnte. Es gab aber wohl keine andere Möglichkeit. Bevor er noch etwas sagen konnte, hatte die Dunkelheit Bandero schon verschluckt.

Max folgte der Straße nach unten. Nur noch wenige Leute begegneten ihm, die meisten waren wohl oben und sahen der Feuerwehr bei der Arbeit zu.

Wieder rasten die Gedanken durch Max‘ Kopf, aber er zwang sich, ruhig zu bleiben. Der Plan, zurück zum Zirkus zu laufen, war gut. Er wusste ja auch nicht, wohin er sonst gehen sollte. Er irrte durch die Stadt. Immer wieder war er mit seinen Gedanken beschäftigt und in der Dunkelheit konnte er die Gegend nicht genau erkennen. Im Schein der Straßenlaternen sah alles ganz anders aus.

Alles drehte sich in seinem Kopf. Was wollten die Männer, woher kamen sie und wo war seine Stiefmutter? Langsam stieg ein furchtbarer Gedanke in ihm hoch, war sie vielleicht tot? War sie im Haus verbrannt? Hatte sie auf ihn gewartet und hatten die Männer sie deswegen erwischt? War es seine Schuld?

Erst jetzt merkte er, dass er die ganze Zeit gerannt war. Plötzlich sah er am Ende der Straße die hellen Lichterketten eines Zirkuswagens. Obwohl ihm der Zirkus fremd war, überkam ihn beim Anblick der warmen Lichter ein Gefühl der Erleichterung.

Bandero erwartet ihn schon am Kasseneingang. »Gut, dass du da bist, ich habe mir schon Sorgen gemacht.«

Dass sich Bandero um ihn sorgte, war für Max wie eine Umarmung.

»Was sollen wir jetzt machen?«

»Wir gehen zu meinen Leuten, denen fällt schon was ein.« Er deutete dabei auf die Gruppe von Zirkusleuten, die zwischen den Wohnwagen stand und auch den Feuerschein beobachtete. Der Brand und die Sirenen der Feuerwehr hatten die Leute aus ihren Wagen gelockt.

André und Frau Muschak standen etwas abseits. Bandero steuerte mit Max auf sie zu.

»Was machst du denn? Warum seid ihr beiden wieder hier? Du solltest doch Max nach Hause bringen!« Frau Muschak blickte streng über ihren Brillenrand auf Bandero.

»Wir müssen mit euch sprechen«, sagte Bandero und blickte von Frau Muschak zu André und wieder zurück.

»Was soll das? Was habt ihr angestellt?« Frau Muschaks Blick schien das Gesicht von Bandero abzutasten, als wolle sie aus seiner Mimik lesen.

»Kommt, wir gehen in den Wagen«, sagte André ruhig. Er spürte wohl, dass es sich um etwas sehr Ernstes handeln musste.

Sie betraten den bunten Wohnwagen über die Holzbohlentreppe an der Stirnseite. Die drei Stufenbretter knarrten, als sie nacheinander hinaufstiegen. Aus der Gruppe der Zirkusleute, die immer noch zusammenstanden, folgten ihnen fragende Blicke, doch André warf den anderen nur einen freundlichen Gutenachtgruß zu.

Max staunte nicht schlecht, als er durch die Holztür ins Innere des Wohnwagens trat. Er stand inmitten einer ordentlich aufgeräumten Küche. Unter dem linken Wagenfester, das von einer bunten Gardine eingerahmt wurde, drückten sich eine Spüle, ein Herd und ein kleiner blauer Schrank eng zusammen. An der Stirnseite war der Raum durch eine Wand mit einer schmalen Schiebetür abgetrennt. Die Wand war übervoll mit Bildern, die wohl André und die übrigen Künstler des Zirkus zeigten. Rechts neben der Tür befand sich ein schmaler Schrank, davor vier kleine zierliche Stühle um einen dunklen Tisch, der eng an der Seitenwand stand, direkt unter dem rechten Wagenfenster.

André deutete auf die Stühle. Max und Bandero setzten sich. Max war es nicht entgangen, dass hinter ihnen Frau Muschak eingetreten war.

André fragte: »Haben wir etwas zu trinken für die beiden?«

Sie nickte stumm, öffnete den Kühlschrank, der direkt hinter ihr an der Eingangstür stand und holte eine Flasche Saft heraus.

Max betrachtete intensiv das Gesicht von André Seine Hoffnungen ruhten jetzt auf ihm, er wünschte sich eine Lösung all seiner Probleme. Vielleicht war ja alles nur ein Albtraum und er würde gleich wach werden.

In seinem Kopf jagten sich wieder die Gedanken: Wo war Helga und wo war Klaus? Würde man ihn und Bandero der Brandstiftung verdächtigen? Die Frau hatte sie gesehen und könnte sie wiedererkennen. Musste er ins Gefängnis? Wenn Helga weg war, hatte er auf dieser Welt niemanden mehr. Der Gedanke schnürte ihm die Kehle zu, er wollte ihn nicht aussprechen, ja nicht einmal denken.

»Und was sagst du dazu?«, frage ihn André.

Max steckte so tief in seinen Gedanken, dass er weder bemerkt hatte, dass Frau Muschak ihm ein volles Saftglas hingeschoben hatte, noch dass Bandero bereits die Sache mit dem Brand und den zwei Männer erzählt hatte. Auch die Frau hatte er erwähnt und dass sie sie wohl beide gesehen hatte und nun wahrscheinlich verdächtigte.

»Wo sind deine Eltern?«, fragte André ruhig.

Max antwortete, mühsam beherrscht, dass er bei seiner Stiefmutter und deren Partner lebte.

André nickte, er erinnerte sich an das Gespräch mit Max am Nachmittag. »Habt ihr die beiden nicht beim Haus gesehen?«, fragte er.

Max schüttelte den Kopf und registrierte die Besorgnis im Gesicht von André.

Der wollte wissen, wann Max seine Stiefmutter zum letzten Mal gesehen hatte.

Max berichtete von der zerbrochenen Tasse auf den Küchenboden und dem verkohlten Essen auf dem Herd, aber seine Stiefmutter hatte er zum letzten Mal gesehen, als er das Haus verließ, um in die Schule zu gehen.

Frau Muschak, die ebenfalls am Tisch saß, schien sich auch sehr ernste Gedanken zu machen. An den Sorgenfalten auf der Stirn von André sah man, dass er intensiv nachdachte und Lösungen suchte. Er blickte die beiden Jungen prüfend an, so als wollte er sich versichern, dass ihre Geschichte wirklich der Wahrheit entsprach. Es war einfach unglaublich.

Schließlich erhob er sich entschlossen, sah Frau Muschak an und sagte: »Der Junge kann heute Nacht nirgends hin, er schläft bei uns. Ich gehe zur Brandstelle und versuche etwas herauszubringen. Bandero und Max, ihr geht ins Bett!« Dann wandte er sich direkt an Max und sagte in ruhigem, fast väterlichem Ton: »Max, ich weiß nicht, was da los ist, aber die zwei Männer, die ihr beobachtet habt, machen mir Sorgen! Zur Polizei möchte ich dich auch nicht bringen, eine Nacht auf der Wache ist nicht lustig. Bei der Polizei werden wir uns morgen melden. Meine Frau macht dir eine Luftmatratze zurecht, du schläfst bei Bandero! Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus!« Er sah die beiden aufmunternd an, warf Frau Muschak, die offensichtlich seine Frau war, noch einen kurzen Blick zu und verließ den Wagen.

Die erhob sich. »Bandero, du hast gehört, was dein Vater gesagt hat. Hol die Luftmatratze. Max, du hast heute Abend sicher noch nichts gegessen, oder? Ich mach dir gleich ein paar Brote.«

Bandero lachte schon wieder und freute sich auf die Nacht mit Max. Das war eine Abwechslung nach seinem Geschmack. Mit einem Freund zusammen im Wohnwagen schlafen, fand er richtig toll.

Max war noch nicht ganz überzeugt, er kannte die Leute ja eigentlich gar nicht.

Max biss gerade in sein Brot, das dick mit Wurst belegt war, als es an der Tür kratzte und sie wenig später aufsprang. Herein kam Harkan.

»He, Harkan«, sagte Bandero und klatschte auf seine Schenkel. »Komm her!«

Folgsam drückte sich der Hund an Bandero, schaute dabei aber neugierig auf Max. Inzwischen kannten sie sich. Harkan hatte Max schon als neues Mitglied der Familie ausgemacht.

Max nahm eine Scheibe Wurst von seinem Brot und hielt sie vorsichtig dem Hund entgegen. Er hatte keine Angst, aber doch eine gewisse Sorge, dass der Hund seine Finger erwischen könnte.

Harkan sah auf Bandero und als dieser nickte, nahm er die Wurstscheibe am unteren Rand aus den Fingern von Max. Fast sah es so aus, als wolle er keinesfalls die Finger von Max berühren.

»Brav!«, sagte Bandero, »Du kannst ihn streicheln, er akzeptiert dich jetzt.«

Max streckte ihm noch eine Scheibe Wurst entgegen, nach der Harkan auch sofort schnappte. Fast hätte Max erschrocken zurückgezogen, aber er beherrschte sich und als Harkan ihn ansah, fuhr er ihm ganz sanft mit der Hand über den Nacken und wieder bewunderte er das dichte Fell.

Harkan wich nicht aus, es schien ihm zu gefallen. Max kraulte seinen Hals und spürte die Wärme, die von dem Hund ausging. Er hatte seinen Kopf auf die Vorderpfoten gelegt, seine Augen ruhten entspannt auf Max. Er schien die Nähe des Jungen zu mögen.

»Na, das finde ich jetzt auch mal gut!«, sagte Bandero zu Max. »So schnell hat er noch mit niemandem Freundschaft geschlossen!«

Max lächelte, der Hund lenkte ihn von seinen trüben Gedanken ab. Er aß nebenbei sein Brot, nicht ohne Harkan ab und zu noch ein Stückchen Wurst zu gönnen. Frau Muschak hatte es sehr gut gemeint und der Belag reichte eigentlich für mehrere Brote.

Harkan sah ihn mit seinen schwarzen Augen dankbar an. Solche Leckerbissen gab’s nicht jeden Tag.

Frau Muschak und Bandero wollten allerhand von Max wissen und er erzählte und erzählte, da wurde die Tür geöffnet und André betrat den Raum.

»Hatte ich mich nicht deutlich ausgedrückt?«, fragte er. »Ich dachte, ihr beiden seid längst im Bett. Jetzt aber zack, zack!«

Max und Bandero sahen ihn nur erwartungsvoll an, wusste er etwas Neues? Das Gesicht von André verriet nichts dergleichen und so zogen sich die beiden Jungen zurück.

Bandero sprang in sein Bett und Max schlüpfte in den Schlafsack, der auf der Luftmatratze lag. Frau Muschak hatte ihm ein T-Shirt von Bandero als Nachthemd gegeben und bestand darauf, dass er die neue Zahnbürste benutzte, die sie ihm an das kleine Waschbecken gelegt hatte.

Max schlief schlecht ein, dauernd quälten ihn düstere Gedanken. Er machte sich große Sorgen. Schließlich schlief er unruhig. Im Bett über ihm schnarchte Bandero leise. Er hörte aber nicht mehr, was André leise mit seiner Frau besprach.

Er erzählte ihr, dass man an der Brandstelle eine männliche Leiche entdeckt hatte. Es wurde nach zwei Jungen mit einem Hund gesucht, die am Brandort gesehen wurden.

Die beiden redeten noch lange miteinander, endlich gingen auch sie vorsichtig an den schlafenden Jungen vorbei in ihren Schlafbereich.

Kapitel 2:

Die Tage im Jungenheim

Am nächsten Morgen erwachte Max früh. Die ersten Sonnenstrahlen, die durch die Wagenfenster schienen, hatten ihn geweckt. Bandero schlief noch, darum stand Max geräuschlos auf.

Frau Muschak stand schon am Herd und machte das Frühstück. Sie hatte eine bunte Bluse und weite blaue Hosen an. Darüber hatte sie eine altmodische Schürze gebunden. Ihr Gesicht war durch die Arbeit leicht gerötet und ihre Augen blickten durch die dicke Brille freundlich auf Max.

»Na, wie war die erste Nacht im Zirkuswagen?«, fragte sie gut gelaunt, »gut geschlafen?«

Max war kein Frühaufsteher und murmelte nur leise: »Weiß nicht!« Inzwischen war auch Bandero aufgestanden.

»Vor dem Frühstück waschen«, rief Frau Muschak den beiden zu und Bandero brummte unwillig.

Das Frühstück war nicht unbedingt nach dem Geschmack von Max: Haferbrei! Aber wenn man Hunger hat, schmeckt auch Haferbrei, musste er zugeben.

»Tja, was machen wir nun mit dir?«, fragte André, der den Wagen betreten hatte und seiner Frau einen flüchtigen Kuss auf die Wange drückte. Er sah die beiden Jungen an. »Ich denke, wir müssen zur Polizei.«

Max erschrak. Polizei, das klang wie Gefängnis und Max spürte Angst in sich aufsteigen.

Bandero sah seinen Vater an. »Das kann doch nicht sein. Womöglich behalten sie ihn und halten uns noch für die Brandstifter.«

Max war Bandero dankbar. Er fühlte, dass er auf seiner Seite stand.

»Ich möchte zu meiner Stiefmutter zurück!«, sagte er, »nicht zur Polizei!«

»Das wäre auch der richtige Weg«, sagte André, »wir wissen aber leider nicht, wo sie ist.«

Frau Muschak mischte sich ein: »Max könnte ja vorübergehend …« Sie unterbrach sich, als sie sah, wie entschlossen André war.

»Nein! Max muss wieder in geordnete Verhältnisse!« Zu Max gewandt sagte er: »Vor der Polizei brauchst du keine Angst zu haben, die ist auf deiner Seite. Außerdem verlassen wir schon in drei Tagen den Platz, wir können dich nicht einfach mitnehmen!« Er drehte sich um und wollte den Wagen verlassen, aber er zögerte. Es schien, als ob ihm die Entscheidung schwergefallen war. »Ich füttere die Tiere noch, dann gehen wir!«, damit trat er durch die geöffnete Tür nach draußen.

Bandero blickte verlegen zur Seite, als Max ihn ansah und stumm um Unterstützung bat.

»Du kannst Max den Zirkus zeigen«, sagte Frau Muschak zu Bandero, räusperte sich und schob die beiden sanft nach draußen.

Max mochte Bandero, er war gern mit ihm zusammen. Kaum waren sie um die Wagenecke gebogen, stand Harkan vor ihnen und wich Max nicht mehr von der Seite. Von ihm ging keinerlei Bedrohung mehr aus, trotzdem brachte ihn das kräftige Tier fast aus dem Gleichgewicht, als es sich so mächtig an seine Beine drängte. Max musste gegen seinen Willen lachen und auch Bandero grinste. Er nahm Harkan am Halsband und die drei gingen Richtung Hauptzelt. Sie traten durch einen Zeltspalt. Alles sah bei Tageslicht viel nüchterner aus. Im Gegensatz zu gestern, als das Fackellicht das Zeltinnere geheimnisvoll ausleuchtete, kam es Max heute Morgen eher wie eine kleine Sporthalle vor. Es roch nach dem Schweiß von Tieren und Menschen.

Sie waren nicht die Einzigen im Zelt. In kleinen Gruppen standen einige Artisten und Arbeiter beieinander. In den Sitzreihen machten sich eine Frau und ein Mann an einem der Klappsessel zu schaffen. Keiner der Anwesenden hatte vom Eintreten der Jungen Notiz genommen.

Ihnen am nächsten übte ein Jongleur mit Messern, die er blitzschnell in die Luft warf und wieder auffing. Max zählte fünf Klingen, die der Mann umherwirbelte.

Bandero ging auf ihn zu, blieb aber in ausreichendem Abstand stehen. »Hallo Cetin!«, grüßte er und Max erkannte in ihm den Mann, der gestern die schwarze Uniform getragen hatte und so unglaublich mit den Messern umgehen konnte. »Das ist Max, er hat heute bei uns übernachtet.«

Cetin fing alle seine Messer mit der linken Hand und streckte Max die rechte zur Begrüßung entgegen. »Bist du unser neuer Zauberlehrling?«, fragte er.

Bandero beeilte sich, die Sache aufzuklären.

Zwischenzeitlich hatten auch die anderen die Anwesenheit von Max mitbekommen und Bandero stellte die Hinzugekommenen vor: »Siliah, mit der Pferdedressur, Halef und Sarah, unsere Akrobaten am Seil. Torentino, unser zweiter Chef, er stellt das Programm zusammen.«

Max konnte sich die Namen so schnell nicht merken, aber er hatte ein gutes Gedächtnis für Gesichter. Besonders auffallend war Torentino, ein braungebrannter älterer Mann, aber mit sehr kräftiger Statur. Max machte eine schmerzhafte Erfahrung, als er den kräftigen Händedruck von Torentino erwiderte. An ihm schien trotz seines Alters alles aus Muskeln zu bestehen. Er hatte schlohweiße Haare, die er zu einem Zopf geflochten hatte, der schwer in seinem Nacken hing.

»Wie geht es dir? Alles in Ordnung?«, fragte er Max mit einer tiefen, ruhigen Stimme.

Max nickte nur und sah dann zu den anderen, die einen Kreis um ihn gebildet hatten.

»Wo sind deine Eltern? Sie sind doch nicht etwa …?« Siliah sprach nicht weiter.

Max sah sie nur an und zuckte mit den Schultern.

Das schlanke Mädchen im Trainingsanzug blickte ihn schuldbewusst an. Sie merkte, dass ihre Frage unpassend war und Max aufgewühlt hatte. Bevor noch weitere Fragen von den Umstehenden kommen konnten, hob sie den Kopf, strich sich eine vorwitzige Haarsträhne aus dem Gesicht und sagte schnell: »Soll ich dir meine Pferde zeigen?«

Max nickte dankbar. Er war froh, dass er das Zelt wieder verlassen konnte und ihm weitere Fragen erspart blieben. Im Moment waren es einfach zu viele Menschen für ihn.

Er folgte Siliah und Bandero, der sich ebenfalls schnell von der Gruppe verabschiedet hatte. Sie liefen auf zwei Wagen zu, die ein wenig abseits standen. Die Wagen waren wie Ställe ausgebaut und die Rampen vor den breiten Doppeltüren führten direkt in das angrenzende Wiesenstück.

Dort grasten vier wunderschöne Pferde, die Siliahs ganzer Stolz waren. Es waren zwei Schimmel und zwei Rappen, die sich bei ihrem Anblick sogleich näherten. Sie streichelte eins nach dem anderen und hatte nichts dagegen, dass die beiden Jungs es ihr gleich taten.

Die Pferde schienen das zu mögen. Aus großen Augen betrachteten sie die Zweibeiner. Dann blähten sie die Nüstern, warfen abwechseln die Köpfe hoch und scharrten mit den Hufen.

Max verstand, dass das eine Aufforderung zum Spielen war. Siliah schlüpfte gewandt zwischen den Seilen durch und saß im nächsten Moment auf dem größeren der beiden Schimmel.

Sie ritt ohne Sattel und Zaumzeug, ihre Hände hielten sich an der Mähne des Tieres fest. Genau wie in der Vorstellung, fuhr es Max durch den Kopf, als sie angaloppierte. Sie ritt das Rund der Koppel ab und die drei anderen Pferde folgten ihr.

»Sieht ja toll aus«, sagte Max.

Bandero nickte. »Sie ist unsere beste Reiterin.«

Vor den beiden Jungen parierte Siliah den Schimmel durch und sprang mit einem Satz vom Rücken. Leicht außer Atem lehnte sie sich an den Zaun.

Sie sah Max an. »Willst du auch mal?«

Er lachte. »Ich kann nicht reiten!«

»Das lernst du ganz schnell«, sagte Bandero verschmitzt, »probier’s mal.«

Max sah zweifeln Bandero und das Mädchen an. Die Idee war ihm nicht geheuer, kneifen wollte er aber auch nicht. »Na gut.« Er bückte sich unter den Seilen durch.

Siliah und Bandero gaben ihm beim Aufsteigen Hilfestellung. Max krallte seine Hände in die Mähne des Tieres und versuchte, die richtige Sitzposition auf dem Rücken des Schimmels zu finden, aber das war einfacher gesagt als getan. Das Pferd bewegte sich unruhig, Siliah hielt den Kopf und sprach beruhigend auf das Tier ein. Max wollte auf keinen Fall vom Pferd fallen, aber der Rücken war so glatt …

Der Schimmel lief langsam los, Siliah war neben ihm und hielt ihn fest, doch Max rutschte immer mehr zur Seite. Schließlich verlor er jeglichen Halt und hing, nur noch an die Mähne geklammert, an der Seite des Tieres. Dem Schimmel wurde die Sache zu bunt, er machte ein paar schnelle Schritte zur Seite und Max plumpste zu Boden.

Siliah stand sofort besorgt neben ihm, Bandero hingegen lachte aus vollem Hals.

Max rappelte sich gleich wieder hoch und beantwortete Silias besorgten Blick mit: »Nichts passiert!« Er lachte etwas verlegen.

Siliah hatte den Schimmel schnell beruhigt, er stand wie ein Lämmchen vor den beiden und schaute unbeteiligt in die Runde.

»Na, wenn das kein guter Abstieg war!«, lachte Bandero noch immer.

Siliah gab ihm einen Stoß in die Seite, dass er nach Luft schnappte. »Unfair!«, schimpfte er lachend und rang weiter nach Luft.

»Das war’s wohl mit der ersten Reitstunde!«, sagte Max und die beiden anderen lachten wieder und nickten.

»Das müssen wir noch üben!«, sagte Siliah und Bandero grinste, »aber die Stilnote, die Stilnote …«

Zum ersten Mal hatte Max das Gefühl, aufgenommen zu sein. Er war sich nicht ganz sicher, aber irgendwie hing es mit der Art von Siliah zusammen. Sie zeigte keine Schadenfreude, war nett und offen. Ja, sie behandelte ihn, als ob sie sich schon lange kennen würden und das gefiel ihm. Klaus sagte immer, wenn ihm jemand sympathisch war: Mit dem kannst du Pferde stehlen! Max musste grinsen, dieser Spruch passte hier wie die Faust aufs Auge. Er wollte gar nicht wissen, was Siliah sagen würde, wenn er mit ihr Pferde stehlen wollte.

Bandero riss Max aus seinen Gedanken, er zeigte nach hinten.

André rief sie zu sich: »Bin jetzt fertig, wie können gehen!« Bandero sah, dass Max gar nicht wohl in seiner Haut war und rief zurück: »Müsst ihr wirklich …?«

Doch André beachtete ihn nicht und sagte zu Max: »Komm, das muss sein. Wir müssen herausfinden, wo deine Leute sind und was passiert ist.«

Max nickte. Er verabschiedete sich von Bandero und Siliah und lief zum Wagen zurück, um sich auch von Frau Muschak zu verabschieden. Sie gab ihm sein Hemd wieder, das sie getrocknet und gebügelt hatte. Max zog es an und ließ dafür den schwarzen Pulli zurück. Sie umarmte ihn nochmals auf ihre herzliche Art. André rief zur Eile. Max winkte Bandero und Siliah kurz zu, dann machten sie sich Richtung Stadt auf den Weg.

Am letzten Wagen angekommen, sprang plötzlich Harkan auf Max zu und verstellte ihm den Weg. Er bellte nicht, sondern schien ihn zum Spielen auffordern zu wollen.