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Sofia ist glücklich - doch dieses Glück wird bald getrübt. Sofia ist inzwischen neunzehn Jahre alt und glücklich mit Armando, ihrem »Mondjungen«, verheiratet. Doch dann gerät ihre Welt erneut ins Wanken, als sich Armando so seltsam zu verhalten beginnt. Henning Mankells Jugendbuch-Afrika-Trilogie erstmals als eBook!
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Seitenzahl: 197
Henning Mankell
Der Zorn des Feuers
Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Es sind zehn Jahre vergangen, seit ich zum ersten Mal von dem afrikanischen Mädchen Sofia erzählt habe. Das Buch hieß »Das Geheimnis des Feuers« und es handelte davon, wie Sofia bei einer entsetzlichen Minenexplosion ihre Schwester Maria und ihre beiden Beine verlor. Sofia und Maria waren noch ziemlich klein und liefen einen Pfad entlang. Dabei ist Sofia aus Versehen auf eine Mine getreten, die ihren Körper zerstörte und Maria tötete.
Einige Jahre später schrieb ich ein zweites Buch über Sofia und ihre Familie. Es hieß »Das Rätsel des Feuers« und handelte davon, wie Sofia sich zum ersten Mal in ihrem Leben verliebte. Aber auch von der Verzweiflung über den Tod ihrer Schwester Rosa, die an Aids starb.
Damals habe ich versprochen, ein drittes Buch über Sofia zu schreiben.
Seitdem sind fünf Jahre vergangen. Das ist eine lange Zeit. Aber es ist viel geschehen, in meinem Leben und auch in Sofias Leben. Erst jetzt habe ich gespürt, dass es an der Zeit ist, ein weiteres Buch über sie zu schreiben.
Entstanden ist eine Geschichte, in der sich Wahrheit und Erfindung mischen. Alles, was ich erzähle, ist wirklich passiert, jedoch nicht ganz genau so, wie ich es beschreibe. Auf diese Weise entstehen Geschichten häufig. Sofias Leben fließt mit dem Leben anderer Menschen zusammen und das Schicksal des einen wird mit dem des anderen vermischt.
Diese Geschichte habe ich Sofia laut vorgelesen. Wir haben einige Male an einem Lagerfeuer in milden afrikanischen Nächten zusammengesessen. Sie hat mir zugehört und jetzt erzähle ich die Geschichte auch dir, der du das Buch in der Hand hältst …
Henning Mankell
(2007)
Sofia läuft durch die Dunkelheit. Sie hat große Angst und muss so schnell laufen, wie sie kann. Sie weiß nicht, wovor sie wegläuft, weshalb sie Angst hat oder wohin sie läuft. Hinter ihr ist etwas Gefährliches, etwas Grausames, das näher und näher kommt.
Sie läuft durch die Nacht. Sie ist allein und voller Angst …
Sofia lag mit geschlossenen Augen da, während sie über den entsetzlichen Traum nachdachte. Sie hatte ihn nach dem schweren Unfall geträumt, bei dem Maria gestorben war und sie selbst ihre Beine verloren und schwere Verbrennungen erlitten hatte. Jetzt zuckte sie zusammen und öffnete die Augen, als erwachte sie tatsächlich aus einem Traum. Als wäre sie in eine vergangene Zeit zurückversetzt worden. Sie warf einige Zweige auf das Feuer. Seit dem Unfall waren zehn Jahre vergangen. Damals war sie neun Jahre alt gewesen, jetzt war sie fast zwanzig.
Es war schon spät. Normalerweise schlief sie längst um diese Zeit. Aber an diesem Abend war es ihr unmöglich. Hinter ihr in dem kleinen, braunen Haus aus Ziegelsteinen schlief der Rest ihrer Familie. Sie hörte das schwere Schnarchen ihrer Mutter Lydia und eines der Kinder, das im Traum wimmerte.
Sofia saß auf einer Bastmatte am Feuer. Auf der anderen Seite der Flammen lag, den Kopf auf den Pfoten, ihr Hund Lokko mit geschlossenen Augen. Wenn Sofia sich bewegte oder ein Insekt an seiner Schnauze vorbeiflog, schlug er die Augen auf und schaute sie an.
Manchmal fand Sofia es genauso faszinierend, in die Augen des Hundes zu sehen, wie direkt in die zuckenden Flammen des Feuers zu starren, aus dem sich knisternde Funken lösten und in der Nacht verschwanden. Lokkos Augen waren wie die Öffnungen zu dunklen Höhlen, in denen sich Aufregendes und Seltsames verbarg. In den Flammen des Feuers tanzten Erinnerungen und Gedanken an das, was vor langer Zeit geschehen war …
Das Dorf um sie herum schlief. Weit entfernt hörte sie ein Kind weinen. Sie lauschte. Es klang, als wäre das Kind krank. Vielleicht hatte es Fieber, vielleicht etwas anderes.
Das Weinen versetzte ihr einen Stich. Jetzt, da sie selbst zwei kleine Kinder hatte, wusste sie, dass es der Ausbruch einer bösen Krankheit sein konnte, wenn ein Kind anfing zu weinen. Es musste nicht so sein, aber man konnte ja nie wissen. Sie hatte allzu viele Kinder sterben sehen, am Fieber, an Durchfall oder Malaria. Arme Leute wie sie, die in diesem Dorf lebten, konnten nie sicher sein, dass es einen Arzt gab, der ihnen helfen würde, oder dass sie genügend Geld hatten, um die nötigen Medikamente zu kaufen.
Sie lauschte wieder. Jetzt war das Kind verstummt. Sofia zog mit einer Krücke einige Holzscheite zu sich heran und schob sie ins Feuer. Lokko sah sie an.
»Ist das nicht schön?«, flüsterte sie. »Die Flammen hüpfen und tanzen, genau wie ich früher, bevor ich meine Beine verlor. Ich habe getanzt wie die Flammen.«
Lokko sah sie mit seinen großen Augen an.
»Ich möchte wissen, was du denkst«, sagte Sofia. »Wenn du nur eine Minute zu mir sprechen und mir erzählen könntest, was in deinem Kopf vor sich geht.«
Sie legte die Krücke in den Sand und lehnte sich gegen den Holzschemel, der ihren Rücken stützte. Noch einmal lauschte sie in die Dunkelheit. Aber das Kind, das eben noch geweint hatte, war nun endgültig verstummt.
Wie ist das alles so geworden?, dachte sie. Ich bin selbst einmal ein kleines Kind gewesen. Und plötzlich bin ich erwachsen. Was bedeutet es eigentlich, kein Kind mehr zu sein?
Sofia schloss die Augen und kehrte in Gedanken in die Vergangenheit zurück. Es war, als gäbe es in ihrem Gehirn einen gut ausgetretenen Pfad. Häufig ging sie diesen Pfad entlang und mit jedem Tag, den sie lebte, wurde der Pfad etwas länger. So würde es weitergehen, bis sie alt war und so müde, dass der Pfad ihr zu lang werden würde. Dann würde sie keine Kraft mehr haben, den ganzen, langen Weg in Gedanken zu gehen …
Sie dachte an Maria und Rosa, ihre beiden toten Schwestern. Immer dachte sie an die beiden, wenn sie sich an früher erinnerte. Sie wusste ja, dass sie ihnen auf diesem Pfad in ihrem Kopf begegnen würde. Sie würden an verschiedenen Stellen am Wegrand stehen und auf sie warten. Auch ihrem Vater Hapakatanda würde sie dort begegnen. Er war gestorben, als sie noch so klein gewesen war, dass sie sich fast gar nicht mehr an ihn erinnerte.
»Jetzt bin ich erwachsen«, sagte sie zu sich selbst. »Aber ich weiß noch immer nicht, was das bedeutet.«
Plötzlich hatte sie das Gefühl, nicht mehr allein zu sein auf der Bastmatte am Feuer. Sie war umgeben von schattenähnlichen Gestalten, Kindern verschiedenen Alters. Eins war erst drei, vier Jahre alt, ein anderes acht, eins vielleicht zehn.
Alle waren sie selbst! Sofia stellte sich vor, sie könnte die Hand ausstrecken und die Achtjährige, Sechsjährige oder das kleine Kind, das noch nicht einmal laufen konnte, berühren, sich selbst, das Kind, das sie einmal gewesen war.
Aber sie war natürlich allein. Sie sah sich als Kind, jedoch nur in ihrem Kopf, in der Erinnerung.
Was war die erste Erinnerung ihres Lebens? Ihre am weitesten zurückliegende Erinnerung? Sie war mit Mama Lydia am Fluss gewesen. Die Frauen hatten gewaschen und Sofia hatte am Ufer gespielt. Vielleicht war Maria damals auch dabei gewesen? Daran konnte sie sich nicht erinnern. Lydia hatte zusammen mit den anderen Frauen bis zu den Knien im Wasser über die Kleider gebeugt gestanden und sie gerubbelt. Sofia wusste, dass es gefährliche Tiere im Fluss gab. Krokodile konnten sich unter der Wasseroberfläche anschleichen, nur die Augen waren zu sehen. Dann schnappten ihre riesigen Kiefer zu und zogen einen Menschen unter Wasser. Lydia und die anderen Frauen spähten ständig wachsam über das Wasser. Die Krokodile waren da, sie waren heimtückisch, und man wusste nie, wann sie sich näherten.
Plötzlich hatte ein Krokodil die Wasseroberfläche durchbrochen und seinen Rachen mit den glänzenden Zähnen aufgerissen. Es hatte eine der waschenden Frauen am Arm gepackt. Bevor jemand reagieren konnte, hatte das Krokodil sie unter Wasser gezogen. Einmal noch war die Frau aufgetaucht. Sie hatte geschrien, Sofia erinnerte sich noch immer an den Schrei. Dann war die Frau verschwunden und es war niemals eine Spur von ihr gefunden worden.
Das ist meine allererste Erinnerung, dachte Sofia. Ich habe dieses Krokodil gesehen und ich habe die Frau schreien hören. Das hat mir Mama Lydia oder jemand anders nicht nur erzählt. Ich kann mich selbst daran erinnern. Ich saß am Ufer und sah die Frau im Wasser verschwinden.
Es ist merkwürdig, dachte sie, richtig erschreckend. Die erste Erinnerung meines Lebens ist der Tod. Ich habe einen Menschen sterben sehen, gefangen im Rachen eines Krokodils.
Sofia verscheuchte eine Mücke, die sich auf ihren Arm gesetzt hatte, bevor sie zustechen und ihr Blut aus der Haut saugen konnte. Mehr Erinnerungsbilder stürmten auf sie ein. Fast immer war Maria dabei. Sie waren unzertrennlich gewesen. Zwischen ihnen war nur ein Jahr Altersunterschied gewesen und oft hatten sie sich vorgestellt, sie wären eigentlich Zwillinge. Obwohl sie immer arm gewesen waren und abends hungrig schlafen gingen und Mama Lydia weinte, weil sie nichts zu essen hatte für ihre Kinder, lag dennoch eine Art Glanz über ihrer Kindheit. Oder tauchte sie die Erinnerung absichtlich in diesen Glanz?
Eigentlich wollte Sofia nicht an das denken, was geschehen war. Aber sie konnte die Gedanken nicht aufhalten. Es war dieser entsetzliche Morgen, an dem all das Furchtbare passiert war, das ihr ganzes Leben verändern sollte.
Sie und Maria liefen den Pfad entlang. Es war früher Morgen, die Sonne war gerade über dem Horizont aufgegangen. Jeden Morgen ermahnte Mama Lydia sie, niemals vom Pfad abzuweichen, niemals die Felder oder Boden zu betreten, wo niemand ging. Dort verbargen sich kleine, gefährliche Tiere, Erdkrokodile, die den Rachen aufreißen und kleinen Kindern, die nicht darauf achteten, wohin sie ihre Füße setzten, Beine und Arme abreißen. Sie und Maria liefen den Pfad entlang. Sofia begann auf einem Bein zu hüpfen. Maria stand neben ihr auf dem Pfad. Sofia hüpfte auf dem linken Fuß. Dann setzte sie den rechten Fuß wieder ab, um auf den Pfad zurückzukehren.
Danach erinnerte sie sich an nichts anderes als an einen brennenden Schmerz und eine große Dunkelheit. Im Krankenhaus hatten sie in zwei Betten nebeneinandergelegen. Maria war sehr schwer verletzt und eines Nachts, als Sofia ihre Hand hielt, hatte sie plötzlich gesagt: »Ich geh jetzt nach Hause.« Dann hatte sie die Augen geschlossen und im selben Moment wusste Sofia, dass Maria tot war.
Sofia saß am Feuer und dachte, dass es noch immer genauso schmerzhaft wie damals war, obwohl sie sich schon so oft daran erinnert hatte. Ihr traten Tränen in die Augen, wenn sie an Maria dachte, als hätte sie eben noch gelacht. Sie sah sie vor sich, die lachende Maria in ihrem weißen Kleid auf dem Pfad.
Sofia fiel es schwer zu begreifen, wie wenig Leben und Tod voneinander trennte. Eigentlich sollten nur alte Menschen sterben, keine kleinen Mädchen wie Maria und sie, die noch nicht einmal zehn waren.
Sie wischte sich über die Augen. Maria war schon zehn Jahre tot. Wenn sie noch lebte, wäre sie jetzt zwanzig. Vielleicht hätte sie auch Kinder? Sofia versuchte sich vorzustellen, wie Maria heute aussehen würde. Aber das war unmöglich. Selbst wenn sie sich Marias erwachsenen Frauenkörper vorstellen konnte, mit runden Hüften und Brüsten, so sah sie doch Marias kindliches, lachendes Gesicht auf diesem Körper. Wie alt Maria auch werden würde, in Sofias Erinnerung würde sie immer ein Kind bleiben. Ihr Gesicht würde niemals altern.
Sofia schaute in den Nachthimmel hinauf. Wenn sie die Augen mit einer Hand gegen das blendende Feuer abschattete, konnte sie die glitzernden Sterne dort oben sehen.
Mama Lydia hatte immer gesagt, wer starb, würde in einen Stern verwandelt werden. Sofia fiel es schwer, an so etwas zu glauben, auch wenn es eine schöne Vorstellung war, dass Marias Augen dort oben glitzerten. Aber es war wohl eher so, dass Maria in ihrem Kopf fortlebte. In der Erde waren Knochen begraben, kein Lächeln, kein Lachen, keine Erinnerungen.
Lokko richtete sich auf, kratzte sich und verschwand in der Dunkelheit. Sofia trank kalten Tee aus einem Plastikbecher und lauschte ins Haus. Manchmal schnarchte Lydia so laut, dass es durch die Wände zu hören war. Aber jetzt war es still. Lydia schlief auf einer Bastmatte auf dem Boden mit einem kleinen Kissen unter dem Kopf. Sofia hatte die Mutter gefragt, ob sie ihr nicht ein Bett kaufen sollten. Aber Lydia hatte es abgelehnt. Sie hatte immer auf dem Boden geschlafen. Das wollte sie nicht ändern, jetzt, da sie alt wurde.
Aber war Lydia wirklich alt? Lydia selbst wusste nicht genau, wie alt sie war. Niemand hatte ihr Geburtsjahr aufgeschrieben. Als Lydia groß genug war, um fragen zu können, war ihre Mutter schon gestorben, und ihr Vater konnte sich nicht mit Sicherheit erinnern. Lydias Mutter hatte über eine lange Zeit fast jedes Jahr ein Kind bekommen. Elf Kinder hatte sie geboren, aber nur drei hatten überlebt. Lydias Vater konnte sich nur daran erinnern, dass Lydia in einem Herbst geboren worden war, als es ungewöhnlich viel regnete. Im September, vielleicht Anfang Oktober. Aber in welchem Jahr? Darauf wusste er keine Antwort. Sofia schätzte Lydia auf ungefähr fünfundvierzig, obwohl sie müde und abgearbeitet war und älter wirkte.
Der Tod ihrer Kinder hatte sie vorzeitig altern lassen.
Zuerst war Maria bei der Minenexplosion umgekommen, die Sofias Beine abgerissen hatte. Dann war Sofias ältere Schwester Rosa an einer schrecklichen Krankheit gestorben. Einer ihrer jüngeren Brüder war an Malaria und ein anderer an Magenschmerzen gestorben. Vier Kinder hatte Lydia verloren. Von denen, die heute noch lebten, hatte eins, Sofia, keine Beine mehr und musste an Krücken gehen.
Lydia hatte ihre Kinder sterben sehen. Sie hatte sie verzweifelt beweint und die Tränen hatten tiefe Furchen in ihr Gesicht gegraben. Die Trauer über die toten Kinder war in ihren Körper gedrungen und hatte sich zu Schmerzen in ihren Gelenken verwandelt.
Sofia stiegen Tränen in die Augen, wenn sie an Mama Lydia dachte, die in ihrem Leben so viel Elend und Trauer hatte ertragen müssen. Kein Wunder, dass ihr Gesicht das eines alten Menschen war.
Lokko tauchte wieder aus der Dunkelheit auf und legte sich ans Feuer. Sofias Gedanken kehrten zurück zu der schweren Zeit nach dem Unglück. Sie hatte lange im Krankenhaus gelegen und sich vor Verzweiflung über den Tod ihrer Schwester Maria und über den Verlust ihrer Beine in den Schlaf geweint und manchmal hatte sie sich den Tod gewünscht. Sie, Sofia, war auf die Mine getreten, die in der Erde außerhalb des Pfades gelegen hatte. Aber Maria war am schwersten verletzt worden und hatte sterben müssen. Warum lebte Sofia und warum war Maria tot? Wo es doch umgekehrt hätte sein müssen.
Sie konnte es nicht verstehen. Sofia fragte sich, was es bedeutete, erwachsen zu werden. Dass es dann noch immer Dinge gab, die man nicht begreifen konnte? Und dass man es aushalten musste.
In Gedanken wanderte sie weiter zu dem Jahr, als Rosa krank geworden und an einem späten Abend in Sofias Bett gestorben war. Sofia und die anderen hatten um sie herumgesessen und sie festgehalten, damit sie nicht von ihnen ging. Aber es war ihnen nicht gelungen, sie zurückzuhalten. Sie war gestorben und nun in der Erde begraben.
Einmal in der Woche ging Sofia mit Lydia zu dem Grab. Alle Gräber des Dorfes lagen an einem Abhang zu einem kleinen Bach hinunter. Immer wenn sie dort ankamen, gab es neue Gräber, waren mehr Menschen in die Erde versenkt worden. Lydia weinte jedes Mal. Sie saß in der Hocke und weinte, als wären ihre Kinder gerade erst kürzlich gestorben. Nicht schon vor vielen Jahren.
Mama Lydia waren die toten Kinder immer nah.
Manchmal überlegte Sofia, ob die Toten miteinander sprechen konnten. Dass Tote und Lebende das konnten, wusste sie. Manchmal hatte sie das Gefühl, als würden Maria, Rosa und die toten kleinen Brüder in ihrer Nähe sein, und dann unterhielten sie sich flüsternd.
Wenn man mit den Toten sprach, flüsterte man. Warum das so war, wusste Sofia nicht. Aber sie wusste, dass es so war.
Doch wie war das mit Rosa und Maria, konnten sie sich unterhalten? Oder war es unten in der Erde ganz still? Konnten sie dort oben zwischen den Sternen miteinander sprechen, wenn es denn so war, wie Lydia glaubte?
Sofia schaute wieder zu den Sternen hinauf und blinzelte. Erneut ging ihr der Gedanke durch den Kopf, dass Erwachsenwerden wohl bedeutete, dass es viele Fragen gab, auf die sich keine Antwort fand.
Sie merkte, dass sie Wasser lassen musste, und richtete sich mithilfe ihrer Krücken mühselig auf. Wenn sie zu lange auf der Erde saß, schmerzten ihre Hüften beim Aufrichten. Sie ging zu der Latrine. Lokko folgte ihr. Er ließ sie nie allein. Er passte auf die ganze Familie auf, besonders auf Sofias zwei kleine Kinder.
Sie hockte sich hin. Wieder schmerzten ihre Hüften, als sie sich aufrichtete. Zurück am Feuer legte sie Holz nach und schaute zu, wie die Flammen aufloderten.
Das Feuer roch gut. Fast wie das Parfüm, das Rosa manchmal benutzt hatte.
In der Glut meinte sie Rosas Gesicht zu erkennen. In den Jahren vor ihrem Tod war sie eins der schönsten Mädchen gewesen, das Sofia jemals gesehen hatte. Manchmal war sie eifersüchtig auf ihre Schwester gewesen, weil sie so schön war und von jungen Männern umschwärmt wurde. Aber als sie ein Jahr später starb, war die ganze Schönheit verschwunden. Da hatte sich die Haut über ihren Wangenknochen gespannt. Sie war so abgemagert, dass sie sich nicht mehr auf den Beinen hatte halten können.
Rosa war an einer Krankheit gestorben, über die niemand sprach, die jedoch alle fürchteten. Sie ließ die Menschen abmagern, sie bekamen Magenschmerzen und schließlich starben sie. Die Krankheit konnte jeden treffen, vor allem aber Kinder und Jugendliche. Die Krankheit hieß Aids. Es war eine Krankheit, die kein Arzt, auch die Ärzte im Krankenhaus in der Stadt nicht, heilen konnte.
Plötzlich wurde Sofia aus ihren Gedanken gerissen. Jemand kam den Weg entlang. So spät? Lokko hatte die Geräusche als Erster wahrgenommen und sich mit gespitzten Ohren aufgerichtet. Nach einer Weile erkannte Sofia den alten Augustino, einen der ältesten Männer des Dorfes, der allein in einer baufälligen Hütte wohnte. Er war anders als andere, führte Selbstgespräche, kleidete sich seltsam und niemand verstand richtig, was er sagte. Außerdem konnte er nicht schlafen und wanderte nachts im Dorf umher. Niemand fürchtete sich vor ihm, denn er war freundlich. Jetzt kam er durch die Dunkelheit heran. Sofia sah, wie er stehen blieb und den Kopf in den Nacken legte, um zum Himmel hinaufzuschauen.
Einmal hatte Sofia mit ihm gesprochen. Das war zu einer Zeit gewesen, als sie selbst nicht schlafen konnte. Sie hatten auf dem Schotterweg in der Dunkelheit gestanden. Augustino hatte auf seine murmelnde, unverständliche Weise geredet und geredet. Aber plötzlich hatte Sofia begriffen, was er ihr zu erklären versuchte. Er wanderte nachts umher und suchte nach herabgefallenen Sternen. Wenn man die richtigen Augen hatte, um ihr Licht zu erkennen, konnte man sie hier und da auf der Erde glitzern sehen. Was er mit den richtigen Augen meinte, hatte Sofia nicht verstanden. Vermutlich hatte nur Augustino die richtigen Augen.
Plötzlich entdeckte er sie am Feuer und winkte ihr zu. Sofia winkte zurück, hoffte aber gleichzeitig, er werde nicht zu ihr kommen und reden. Heute Abend wollte sie mit ihren Gedanken allein sein.
Augustino schien ihren Wunsch verstanden zu haben. Er winkte noch einmal und verschwand in der Dunkelheit. Lokko legte sich wieder hin und ließ den Kopf auf die Pfoten sinken.
Sofia gähnte. Sie wurde müde. Bald würde sie in ihrem Bett in der Hütte schlafen. Aber einen Moment wollte sie noch draußen sitzen bleiben. Sie würde kein Holz mehr auflegen, einfach zusehen, wie das Feuer verglomm, bis nur noch eine dünne Schicht Glut übrig war.
Sie dachte an die Menschen, die in dem Haus mit den braunen Wänden schliefen. Ihre Familie.
Das Haus bestand aus zwei kleinen Zimmern. Das Essen kochten sie über einer offenen Feuerstelle in einem kleinen Schuppen, der für sich stand, genau wie die Latrine und der Platz, wo sie sich hinter Bastmatten waschen konnten, die sie an Pfählen aufgehängt hatten. In dem einen Zimmer schliefen Lydia und Sofias zwei Brüder. In dem anderen Zimmer wohnte Sofia mit ihren beiden Kindern. Dort stand auch ihr ganzer Stolz, die Nähmaschine, die ihr in all den Jahren geholfen hatte, Geld zu verdienen, mit dem sie zu Essen und Kleidung beitragen konnte.
Bei dem Gedanken an die Schlafenden dort drinnen wurde es Sofia warm ums Herz. Die Wärme kam nicht vom Feuer, sondern aus ihrem Innern, wo es manchmal auch eine Feuerstelle zu geben schien.
Ich habe eine Mutter und ich habe zwei Brüder, dachte sie. Ich habe selbst zwei Kinder. Sie sind gesund und schlafen im Augenblick, ohne hungrig zu sein. Jeden Tag, an dem sie satt einschlafen, weiß ich, dass das Leben lebenswert ist. Wenn ich gestorben wäre, hätte es meine Kinder nie gegeben.
Manchmal jedoch lösten die Gedanken nicht nur Freude, sondern auch große Trauer aus. Maria und Rosa würden nie die Möglichkeit bekommen, Kinder zu gebären. Jetzt musste sie es an ihrer Stelle tun.
Manchmal kam ihr der Gedanke, dass ihre Kinder eigentlich drei Mütter hatten, eine lebende, sie selbst, und zwei tote, Maria und Rosa.
Sie lächelte bei dem Gedanken an die Kinder, gähnte wieder und spürte ein Prickeln im Magen. Morgen wollte sie zu der kleinen Krankenhütte gehen und dort würde man ihr sagen, ob sie schwanger war und ein weiteres Kind bekommen würde. Sie legte ihre Hand auf den Bauch, schloss die Augen und versuchte es zu spüren. Die beiden Male, die sie schwanger gewesen war, meinte sie schon sicher gewesen zu sein, bevor sie Gewissheit hatte. Aber dieses Mal wusste sie es nicht.
Ich bin erwachsen, dachte sie. Ich bin fast zwanzig Jahre alt, ich trage die Verantwortung für Kinder und es gibt Fragen, auf die ich keine Antwort finde.
Sie lehnte den Rücken gegen den Schemel und summte eine Melodie, ein Kinderlied, das Maria und sie zusammen gesungen hatten. Dabei empfand sie eine merkwürdige Mischung aus Traurigkeit und Freude. Vielleicht war auch das ein Zeichen, dass sie erwachsen war? In der Kindheit hatte es immer nur das eine oder das andere gegeben. Entweder war man froh oder man war traurig. Man konnte nie beides gleichzeitig sein.
So war es, entschied sie. Erwachsen war man, wenn man gleichzeitig traurig und froh sein konnte.
Neben ihr auf der Bastmatte lagen einige ihrer Tagebücher. Sie hatten rote Umschläge und Sofia hatte sie seit Rosas Tod Seite um Seite gefüllt. Was sie veranlasst hatte, Tagebuch zu schreiben, wusste sie nicht. Eines Morgens war sie aufgewacht und hatte sich dazu entschlossen. Von dem Geld, das sie sich mit Flicken verdient hatte, hatte sie das erste Schreibheft auf dem Markt hinter der Schule gekauft.
Sie schlug aufs Geratewohl eine Seite auf. Die Flammen des Feuers loderten nicht mehr so hoch wie vorher. Sie musste sich vorbeugen, um im schwächer werdenden Licht lesen zu können.
»Der Mondjunge«.
Sofia lächelte vor sich hin. So hatte sie Armando, der einmal der Vater ihrer Kinder werden würde, genannt.
»Der Mondjunge«. Sie blätterte im Tagebuch, hielt hier und da inne. »Zimtjunge« hatte sie ihn auch genannt. Und Sergio. Und Zé.
Sie erinnerte sich an die Nacht, in der er gekommen war, um sich dafür zu bedanken, dass sie seine Hose geflickt hatte. Das war kurz vor Rosas Tod gewesen. Sie erinnerte sich immer noch an seine Worte.
»Ich bin bloß vorbeigekommen, um mich zu bedanken.«