Der Zwanzig-Minuten-Mann - Daniela Mimm - E-Book

Der Zwanzig-Minuten-Mann E-Book

Daniela Mimm

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Beschreibung

Eine kaputte Ehe und kein Job, eine Wohnung, aus der sie vertrieben werden soll und ein Sohn, der nichts "anbrennen" lässt, kurz: Tessa Hofnagel hat alles, was frau nicht braucht. Dass ihr ausgerechnet in dieser Situation auch noch Jobst Birnbaum, einst in ihrer Abi-Klasse und zugleich kürzeste Beziehung ihres Lebens, über den Weg läuft, lässt ihr Stimmungsbarometer nicht gerade steigen. Andererseits: Jobst ist Rechtsanwalt, sogar mit eigener Kanzlei, und geradezu prädestiniert, Udo, ihrem abtrünnigen Gatten, zu zeigen, wo die Paragraphen hängen. Die Wirkung lässt nicht lange auf sich warten. Nur irgendwie anders, als Tessa sich ausgemalt hat.

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Zu diesem Buch

Eine kaputte Ehe und kein Job, eine Wohnung, aus der sie vertrieben werden soll und ein Sohn, der nichts „anbrennen“ lässt, kurz: Tessa Hofnagel hat alles, was frau nicht braucht. Dass ihr ausgerechnet in dieser Situation auch noch Jobst Birnbaum, einst in ihrer Abi-Klasse und zugleich kürzeste Beziehung ihres Lebens, über den Weg läuft, lässt ihr Stimmungsbarometer nicht gerade steigen.

Andererseits: Jobst ist Rechtsanwalt, sogar mit eigener Kanzlei, und geradezu prädestiniert, Udo ihrem abtrünnigen Gatten, zu zeigen, wo die Paragraphen hängen.

Die Wirkung lässt nicht lange auf sich warten. Nur irgendwie anders, als Tessa sich ausgemalt hat…

Die Autorin

Daniela Mimm, geb. 1964, „Brandungsfelsen“ einer Patchworkfamilie und vor Urzeiten im Buchhandel tätig, schreibt nicht nur aus Leidenschaft spritzige, kesse Frauenromane, sie lacht auch gerne. Nach dem Motto: „Das Leben ist oft ernst genug, deshalb sorge ich gerne für ein paar heitere Stunden des Vergessens“ bringt sie mit „Der Zwanzig-Minuten-Mann“ ihren fünften Roman heraus.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3: Etwa eine Woche später …

Kapitel 4: Am nächsten Tag …

Kapitel 5: Dienstag, anderthalb Wochen später …

Kapitel 6: Mittwoch …

Kapitel 7: Donnerstag …

Kapitel 8: Freitag …

Kapitel 9: Samstag …

Kapitel 10: Sonntag …

Kapitel 11: Montag …

Kapitel 12: Dienstag …

Kapitel 13: Donnerstag …

Kapitel 14: DER Samstag …

Kapitel 15: Montag …

Kapitel 16: Dienstag …

Kapitel 17: Freitag … Aktion: „Schöner wohnen“ …

1

Schon als Tessa, voll bepackt mit Einkäufen, die behäbige Haustür des schmucken Altbaus aufstieß und den cremefarbigen Umschlag sah, der unter dem Briefkastendeckel hervorklaffte, schwante ihr nichts Gutes.

Sie stellte die Tüten ab und beachtete nicht einmal die Striemen, die die Plastiklaschen auf ihrer Haut hinterließen. Während sie das Kuvert herauszog, überrollte eine Hitzewelle ihren Körper, vom Haaransatz abwärts über Gesicht und Hals, um schließlich auf ihrem Brustkorb zu verebben.

Das Lesen des Absenders versetzte ihr einen Stich, hinzu gesellte sich ein unangenehmes Pochen hinter der linken Schläfe.

Tessa pustete sich eine Haarsträhne aus der klebrigen Stirn und fragte sich, ob die Symptome wirklich nur von den Wechseljahren kamen oder eher von der Wut, die sich in ihr emporfraß.

Dieser Mistkerl! Dass er es tatsächlich wagte ...!

Noch hatte sie den Umschlag nicht geöffnet. Doch da er von jener Anwaltskanzlei kam, die Udo, ihr seit drei Monaten räumlich getrennter Ehemann, vorzugsweise für diverse Streitigkeiten beauftragte, war ihr schon von vornherein klar, was die Stunde geschlagen hatte. Er hatte es bereits mehrfach angedroht.

Ohne den genauen Wortlaut zu kennen, hätte Tessa den Wisch am liebsten auf der Stelle zerrissen. Doch sie war intelligent genug zu wissen, dass es nichts nutzte. So ein Anwaltsbrief kam in der Regel selten allein. Ihm würden weitere folgen. Und dann?

„Ist Ihnen nicht gut? Sie sind ja ganz blass!“

Tessa schrak zusammen. Sie war so in Gedanken, sie hatte gar nicht mitbekommen, dass sie sich nicht mehr alleine im Flur befand. Dementsprechend verwirrt starrte sie in das Augenpaar der neuen Mieterin, die gerade dabei war, die Wohnung im Hochparterre zu beziehen. Den dazugehörigen Namen allerdings hatte Tessa längst wieder vergessen.

„Clara Sinzig!“, stellte die sich vor, als könne sie Tessa die Unkenntnis von der Miene ablesen, und betonte nachhaltig: „Clara mit „C“.“ Sie reichte ihr die Hand, lächelte, doch der besorgte Blick blieb.

Auch Tessa nannte ihren Namen, merkte aber selbst, dass ihr Rückgruß eine Spur zu frostig ausfiel. Dabei konnte die Ärmste gar nichts dafür, dass sie lieber eine Rechnung vom Finanzamt im Kasten gehabt hätte als Udos offizielle Kampfansage zum Rosenkrieg.

„Sorry, ich bin nur grad etwas durch den Wind“, entschuldigte sie sich und hatte Mühe, nicht ihren unruhigen Händen nachzugeben, die den Brief liebend gern auf ihre Weise entsorgt hätten.

„Ja, das kenn ich“, suggerierte Clara mit „C“ Verständnis und wippte nickend den dunkelblonden Pagenkopf. „Na, denn …“ Sie machte Anstalten, weiterzugehen, schien jedoch unschlüssig, ob sie Tessa wirklich alleine lassen konnte, und drehte sich noch einmal um. „Wirklich alles okay?“

„Ja“, erwiderte Tessa mit dankbarer Höflichkeit und hoffte inständig, dass die durchaus nette und sympathische Frau aufhörte zu bohren. Sonst bestand die Gefahr, dass sie ihr jetzt und hier ihre ganze Lebensgeschichte um die Ohren haute, was nur zur Folge haben konnte, dass Frau Sinzig entweder von Argwohn gebeutelt sofort wieder auszog oder in Zukunft einen weiten Bogen um sie, die bekloppte Alte in der zweiten Etage, machte.

„Dann schönen Tag noch!“

„Ihnen auch!“, rief Tessa leicht beduselt hinterher, und die Haustür fiel ins Schloss.

Tessa brauchte einen Moment zu resümieren, dass sie solche Anteilnahme eines völlig fremden Menschen noch nie erlebt hatte. Irgendwie tat es ihr plötzlich leid, sie so abgekanzelt zu haben. Wenigstens das Du hätte sie Clara Sinzig anbieten können. Vielleicht als Zeichen freundschaftlicher Nachbarschaft?

„Tessa?“, hallte es von oben durch die Geländerschlucht. „Tessa, bist du das?“

Tessa horchte auf. Natürlich erkannte sie sofort, wer nach ihr rief. Aber warum klang Gitti so aufgeregt?

„Ja? Gitti?“

Keine Antwort. Offenbar war sie in die Wohnung zurückgegangen. Tessa hatte keine Ahnung, was da oben los war, aber bevor sie ihre Einkäufe in die zweite Etage schleppte, die sie Wand an Wand mit Gitti bewohnte, musste sie sich noch rasch vergewissern, keine weitere Post im Briefkasten liegen zu haben.

Tatsächlich fand sie noch den neuen Pizza-Flyer vom Eck, das güldene Versprechen für einen perfekt nach Maß gefertigten Wintergarten und ein weiteres Briefkuvert, diesmal Postgelb.

„Stadt Krefeld, Amt 32“, adressiert an Herrn Benjamin Hofnagel und mal wieder gewaltig nach Bußgeldbescheid riechend.

Na, super! Tessa seufzte. Wenn das so weiterging, entwickelte sich ihr Sohn noch zum ungekürten Knollenkönig im Umkreis von hundert Kilometern. Eine fragwürdige Nominierung beim Führerschein auf Probe. Zeit, ein ernstes Wörtchen mit ihm zu reden. Mittlerweile flatterten die Zahlbelege im dreiwöchigen Turnus ins Haus, genauso wie seine ständig wechselnden Mädchenbekanntschaften.

Tessa stopfte Briefe und Reklame in eine der Tüten, die sie nun unter Geächze die viereinhalb knarrenden Treppenabsätze hinauf zu ihrer Wohnung hievte.

Die Wasserflaschen, beschloss sie dabei, konnte Benni sich das nächste Mal gefälligst selber aus dem Kofferraum holen. Wieso war sie auch so blöd und buckelte sich für ihren einundzwanzigjährigen Sohn den Rücken krumm? Zumal nur er derjenige war, der das Zeug mit dem Hauch von Mirabellen trank. Beim Gedanken daran musste sie sich unwillkürlich schütteln. Woher hatte er bloß diesen abartigen Geschmack?

Na, von ihr jedenfalls nicht!, wusste sie auch gleich die Antwort. Und groß grübeln, wer sonst infrage kam, musste sie auch nicht.

„Da bist du ja endlich!“, trällerte Gitti fröhlich über die Türschwelle, kaum dass Tessa die letzten Stufen hinter sich gebracht hatte.

Doch ein Blick ins Tessas Gesicht und die Fröhlichkeit schwang sofort um in rege Besorgnis. „Was ist denn mit dir los, du bist ja ganz bleich?“

„Nicht du auch noch!“, wehrte Tessa ab, obgleich ihr Atem stoßweise ging und ihr Herz wie wild klopfte. Diese Stufen! Vielleicht mal ein paar Pfündchen abnehmen, Frau Hofnagel?

„Wieso auch?“

„Die von unten …“, Tessas Namensgedächtnis schien im Treppenhaus verschollen, „die Neue, du weißt schon … hat mich das eben auch gefragt.“

„Ach, du meinst Clara mit „C“,“, interpretierte Gitti. „Und?“

„Was und?“

„Warum siehst du aus wie meine Küchenwand?“, forschte Gitti direkter und wunderte sich, dass Tessa so durcheinander war.

„Danke für das Kompliment!“

„Bitteschön!“

Doch Tessa kam gegen Gittis abwartenden Blick nicht an. „Es ist alles okay mit mir“, beharrte sie. Diesmal, weil sie wusste, wie Gitti löchern konnte. Sie haderte mit sich, ob sie ihr von dem Schrieb erzählen sollte. Schließlich war Alwin, Gittis Mann, mit Udo befreundet.

„Also gut.“ Gitti, die merkte, dass Tessa im Moment offensichtlich nicht reden wollte, beschloss, fürs Erste wieder zu strahlen. „Sag, hast du Zeit?“

„Kommt drauf an …“ Tessa war froh, das Thema wechseln zu können und spöttelte freundschaftlich: „Wenn du wieder ein Regal gekauft hast, was ich zusammenbauen soll …“

Gitti atmete auf. Da zeigte sich wieder die Tessa, die sie kannte. Die Tessa, die nicht nur zufällig in der Wohnung nebenan lebte, sondern mit den Jahren auch eine sehr gute Freundin geworden war.

„Nee, ist was ganz anderes diesmal.“

„Du machst es aber spannend, schieß schon los!“

„Ach, ich bin irgendwie richtig … high.“ Gitti sang die Worte förmlich.

Tessa kam der Überschuss an Freude nicht ganz geheuer vor. „Hast du was Verbotenes geraucht?“

„Wie kommst du denn darauf?“ Gitti kicherte. „Nee, ich hab die Stellenzusage! Ist heute gekommen.“

Wie von Zauberhand wedelte vor Tessa ein Schriftbogen.

„Mensch, Tess, ich geh wieder arbeiten! Ist das nicht wunderbar? Endlich raus, wieder eigenes Geld verdienen! Übernächsten Ersten fang ich an.“ Gittis Stimme überschlug sich.

Und ehe Tessa sich versah, fühlte sie sich warmherzig gedrückt. „Danke! Danke, dass du mir bei der Bewerbung geholfen hast.“

„Na, das ist ja wenigstens mal eine tolle Neuigkeit!“ Tessa hatte schon gar nicht mehr daran gedacht. War es nicht über zwei Monate her, seit sie für Gitti sämtliche Unterlagen in PDF-Dateien konvertiert hatte, damit diese online verschickt werden konnten? Für Gitti war alles, was auch nur im Mindesten mit dem Computer zu tun hatte, ein rotes Tuch. Aber sie freute sich natürlich aufrichtig für die Freundin und versuchte, ihr eigenes Gefühlsleben zu unterdrücken. „Herzlichen Glückwunsch!“

Gitti revanchierte sich mit überaus sensiblen Antennen. „Wenigstens mal? Das klingt, als geschähe sonst nur Negatives.“

„Wie man’s nimmt.“

„Also doch, du hast was!“, fuhr Gitti auf.

„Nein, nein“, versicherte Tessa erneut und ärgerte sich im Stillen, dass es ihr nicht gelang.

„Du schwindelst!“ Gitti nahm kein Blatt vor den Mund, wenn es darauf ankam. „Und ich will auf der Stelle wissen …“

„Es gibt nichts zu wissen.“ Tessa stellte sich dumm.

„Willst du mir jetzt die Freude verderben?“

„Wieso, ich habe dir doch …“

Gitti winkte ab. „Ich kann mich nicht freuen, wenn es dir mies geht!“

Tessa ahnte, sie würde dem abwartenden Adlerblick nicht mehr entkommen. Mechanisch wanderten ihre Augen den Treppenlauf hinauf und hinab. „Nicht hier“, bat sie leise, wohl wissend, wie schnell diesen Wänden Ohren wuchsen.

„Gut, dann kommst du jetzt mit zu mir und ich schütt uns eine Kanne Kaffee auf!“, befahl Gitti fürsorglich.

Tessa griff nach den Tüten, die schon fast in Vergessenheit geraten waren. „Muss aber erst die Sachen in den Kühlschrank legen.“

Gitti nickte. „Pack in Ruhe aus. Sagen wir in fünfzehn Minuten?“

***

„Also, ich höre?“

Die Kaffeemaschine blubberte und unter einem Schwall heißen Dampfes liefen die letzten Tropfen in die Glaskanne. Tessa hatte auf der gemütlichen Eckbank in Gittis Küche Platz genommen. Statt einer Antwort pfefferte sie den cremefarbigen Umschlag, der ihre Magensäure allein vom Anblick bedenklich hochschießen ließ, auf den Tisch.

„Was ist das?“ Gitti verstand nicht gleich.

„Na, was steht denn drauf?“

„Frau Teresa Wilhelmine Hofnagel …“

„Och, Gitti!“ Tessa rollte die Lider. „Meinen Namen kenne ich zur Genüge. Wenn du mir den jetzt auch noch laut vorliest, wird der auch nicht besser.“

„Stimmt, bist ja eigentlich schon genug gestraft!“

„Mit Udo?“

„Mit dem auch“, Gitti grinste spitzbübisch, „meinte jetzt aber mehr die Wilhelmine.“

„Vielleicht hätte ich meine Eltern verklagen sollen, dass Tante Wilhelmine nicht nur meinen Kopf übers Taufbecken gehalten, sondern mir zum Dank auch noch ihren Namen vermacht hat“, nahm Tessa eine kurze Überlegung auf. Im Prinzip aber konnte sie die volle Anrede auf dem Umschlag auch nicht mehr schocken. Bestimmt hatte Udo es mit voller Absicht so aufsetzen lassen.

Natürlich hatte Gitti die schwarzen Lettern der „Rechtsanwaltskanzlei Hering“ nicht übersehen. Dafür sprangen sie zu sehr ins Auge. Und natürlich konnte auch sie sich sofort denken, dass diese Post kaum die Nachricht eines Lotteriegewinns war.

„Du hast ihn ja noch gar nicht aufgemacht! Vielleicht steht was ganz anderes drin, als du denkst“, versuchte Gitti Tessas wechselndes Mienenspiel zu besänftigen.

„Glaub mir, ich weiß auch so, was da steht!“, behauptete Tessa mit der Sturheit eines kleinen Mädchens. „Der will mir den letzten Stuhl unterm Hintern wegreißen!“

Gitti schluckte bei den harten Worten. Tessa neigte zwar manchmal zu kleinen Übertreibungen, aber Udo Hofnagel bekleckerte sich zurzeit wahrlich nicht mit Ruhm, in dem er sich auf seine alten Tage zum Grand Charmeur verwandelte und nach zwanzig Jahren seine Frau austauschte wie ein altes Spielzeug, um bei dieser affektierten Stelze einzuziehen, die kaum älter war als Sohn Benni.

Gerade jetzt, wo es ihr selbst wieder gut ging, ihr Leben neue Bahnen einschlug, sie aus dem Alltagsbrei zu Hause in die Welt tragen würde, fühlte Gitti ganz besonders mit der Freundin. Sie erlebte schließlich seit Monaten mit, wie sehr die Situation Tessa an der Substanz nagte.

„Du malst dir das jetzt schlimm aus, aber er wird sicher nicht …“

Gitti kam nicht dazu, auszusprechen, was sie letztendlich auch nur hoffen konnte. Tessa fiel ihr ins Wort.

„Schliiimmm?“, echote sie zynisch und trommelte nervös mit den Fingern auf die Tischkante. „Glaub mir, der kann was erleben, wenn er mir so kommt!“

„Meinst du jetzt Udo oder den Anwalt?“ Gitti kicherte, obwohl es eigentlich nichts zu kichern gab. „Trink erst mal ’nen Kaffee, danach vielleicht ein, zwei Schnäpschen, dann geht’s dir wieder etwas besser“, belehrte sie gutmütig und stellte ihr einen vollen Keramikbecher mit der Aufschrift „Für unser beste Omma“ vor die Nase.

„Danke, das baut mich jetzt ungemein auf“, grummelte Tessa, wobei Gitti nun überlegen konnte, ob sich das auf die Schnäpse oder die Omma bezog.

Der aromatische Duft des Heißgetränks zog durch die Küche, machte Appetit auf mehr. Prompt griff Tessa in die Glasschale, in der Gitti verführerisch Kekse drapiert hatte. „Wenigstens habe ich dann was im Magen, was ich ihm vor die Füße kotzen kann.“

„Kann ich mir deinen Humor mal ausleihen?“ Gitti zeigte sich keineswegs beleidigt. Im Gegenteil, sie lachte aus vollem Herzen. „Aber ich muss dir sagen, die sind nicht selbst gebacken.“

„War mir klar“, lästerte Tessa grinsend, und schon wesentlich besser gelaunt, zurück. Sie wusste genau, was sie an Gitti hatte, und dafür war sie ihr mehr als dankbar.

„So, jetzt mach endlich auf!“, forderte Gitti ungeduldig und reichte gleich dazu ein Küchenmesser zum Schlitzen.

Dass sie vor Neugier platzte, konnte Tessa allein an den Schokoteilen abzählen, die bereits zwischen ihren Zähnen verschwunden waren.

Sie atmete noch einmal tief durch und stellte sich dem Unvermeidbaren. Das Schlimme war, diesem Fischanwalt war es garantiert schnuppe, was seine netten Worte für eine neue Feuerwalze in ihr lostraten.

Sie versuchte wirklich, ruhig zu bleiben, die provozierenden Worte des Juramännchens nicht allzu persönlich zu nehmen. Aber wie konnte sie das? Schließlich prangte Teresa samt der Wilhelmine auch noch in der Empfängerzeile.

„Arschloch!“, entfuhr es ihr undamenhaft. Aber das war ihr egal. Sie war so wütend, so verletzt und so verbittert zugleich.

Gitti beobachtete jede Nuance ihrer Mimik. „Und? Was steht denn nun drin?“

„Was ich gesagt habe. Er will die Wohnung verkaufen und mich auf die Straße setzen.“

„Quatsch!“, rief Gitti ungläubig. „Das kann er doch gar nicht!“

„Denkst du!“

„Wieso?“

„Hier, bitte sehr …!“

Ehe Gitti sich versah, hielt sie nun selbst das Schreiben des Anwalts Horst Hering zur gefälligen Kenntnisnahme in Händen.

„Sehr geehrte Frau Hofnagel,

hiermit zeigen wir die Interessenvertretung von Herrn Udo Hofnagel an. Unser Mandant ist bekanntlich aus der seinerzeit von Ihnen gemeinsam erworbenen Eigentumswohnung ausgezogen, da die Lebensgemeinschaft mit Ihnen offensichtlich nicht aufrechterhalten bleiben kann. Die Gründe, die hierzu geführt haben, mögen an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden.

Wir betonen ausdrücklich, dass unserem Mandanten nicht an einer Ehescheidung gelegen ist, verweisen aber darauf, dass die finanzielle Doppelbelastung auf Dauer nicht in seinem Zukunftssinne liegen kann.

Unser Mandant teilt uns mit, dass Sie nicht bereit sind, einer möglichen Veräußerung des Objekts zuzustimmen. Da unser Mandant alleinig die laufenden Belastungen trägt, fordern wir Sie auf, einer Käufersuche positiv gegenüber zu stehen und des Weiteren unseren Mandanten um die Hälfte der Kosten, die eigentlich Ihnen obliegen, zu entlasten.

Hinzu erwartet unser Mandant eine monatliche Nutzungsentschädigung für seinen hälftigen Anteil bis zur Veräußerung. Die Forderung beziffert sich wie folgt …

Sollten Sie sich bis dahin wieder auf dem Arbeitsmarkt eingegliedert haben, steht es Ihnen selbstverständlich frei, die Wohnung mit den laufenden Verpflichtungen alleinig zu übernehmen.

Mit freundlichen Grüßen

Horst Hering

gez. Rechtsanwalt“

„Der hat sie doch nicht alle!“ Selbst Gitti wurde speiübel. Es mochten nur diktierte Worte eines Anwalts sein – Udo selbst hatte sie ja nicht geschrieben – trotzdem empfand auch sie den Sinn nicht nur haarsträubend, sondern regelrecht demütigend für die Freundin.

„Und ich dachte, ich kenn ihn.“ Fassungslos schüttelte sie den Kopf. Ihr dunkelblonder Flechtzopf hüpfte von einer Schulter zur anderen.

„Da geht es dir wie mir.“ Tessa wand sich zwischen Aufruhr und Trauer. „Wenn er es jetzt auch noch überall so rumposaunt, wie’s hier steht, bin ich offiziell zum missgünstigen, untragbaren Ehe-Anhängsel, das nicht arbeiten will, degradiert.“ In ihrer Kehle brannten plötzlich tausende ungeweinter Tränen.

Oder war es Sodbrennen?

Schleunigst faltete sie das Blatt wieder zusammen und ließ es in der Hosentasche verschwinden, als könne sie damit seine Existenz vernichten.

„Auf jeden Fall musst du jetzt was unternehmen!“ Gitti wollte nicht in den Sinn, wie Udo so handeln konnte.

„Klar, ich renn jetzt ebenfalls zum Anwalt!“ Tessa flüchtete sich in Sarkasmus.

„Hast du eine bessere Idee?“, erhitzte Gitti sich. „Du wirst dir das doch wohl nicht gefallen lassen! Ich meine, du hast ja nicht zuletzt auf eigene Kinder verzichtet, weil ER keine mehr wollte, dafür seinen Sohn aufgezogen, dein ganzes Erbe in die Wohnung gesteckt …“ Es war, als habe sich Tessas Wut eins zu eins auf sie übertragen. Mit dem Unterschied, dass Gitti noch emotionaler reagierte. Ihre Stimme war rau geworden. „Was sagt eigentlich Benni zu dem Ganzen? Man kriegt ihn ja kaum noch zu Gesicht.“

„Benni?“ Tessa kaute auf den Lippen. „Ich zitiere:

„Der Alte hat doch ’nen Sockenschuss! Wenn der mit ’ner Braut in der Gegend rumvögelt, die fünf Jahre älter ist als ich, seine Sache. Aber ich will nicht Mama zu der sagen müssen“, Zitat Ende.“

Gitti hätte sich fast an ihrem Kaffee verschluckt. „Interessante Aussage!“

„Ja, nicht wahr? Und so gespickt mit Solidarität für meine Person!“ Tessa tropfte vor Selbstironie. „Weißt du, was das Kuriose ist?“

„Nein?“ Gitti nahm den letzten Schokoladenkeks und wartete atemlos, was da noch so alles zutage kam.

„Der Sohn ist nicht viel besser als der Vater. Mit dem einzigen Unterschied, dass Benni seine Vögelchen nach Hause mitbringt und so häufig wechselt, dass ich mir bald keinen Namen mehr merken mag.“

Das war der Punkt, an dem Gitti aufstand und sich am Besenschrank zu schaffen machte.

Verwundert verfolgte Tessa, wie sie Staubsauger, Eimer und Kehrblech herauskramte. Offensichtlich, um ans untere Regalfach zu gelangen. Hervor holte sie eine Zigarettenpackung.

Tessa wollte nicht glauben, was sie da sah. „Du rauchst wieder? Seit wann?“

„Nur zu bestimmten Anlässen“, erwiderte Gitti schelmisch.

Es war deutlich, dass sie einen davon gerade erlebte. Sie ließ die Packung in der Brusttasche ihrer Jeansbluse verschwinden. „Kommst du mit auf den Balkon? Ich will hier nicht die Luft verpesten und Alwin muss nicht unbedingt was davon wissen.“

Tessa nickte. Im Geiste hörte sie seinen durchdringenden Bariton, wie schädlich das Rauchen sei und der Qualm nicht nur Gittis Lunge, sondern auch seine quälte. „Und warum versteckst du die Glimmstängel zwischen dem Putzzeug?“

„Weil es der einzige Ort ist, an dem er nicht sucht und mir dann alle wegpafft“, folgte die verblüffende Erklärung.

Allein die Vorstellung, wie der ordentlich proportionierte Alwin mit seinem Wams im Schrank hing, bereitete Tessa herrliches Kopfkino. Lauthals prustete sie los.

„Na, siehst du“, Gitti lachte mit, „mein Alwin vertreibt wenigstens die bösen Geister.“

„Wen soll ich vertreiben?“ Ohne Vorwarnung trat genau jener, mit einem roten Pappkarton unter den Arm geklemmt, durch die Tür und das Gelächter der beiden Frauen verwandelte sich abrupt zurück zum Grinsen.

„Wenn man vom Teufel spricht“, flüsterte Tessa Gitti zu, die sofort, wahrscheinlich unbewusst, die Hand schützend vor ihre Brusttasche hielt.

„Hallo Schatz, du bist schon da?“, begrüßte sie ihren Gatten nicht grade geistreich und überlegte fieberhaft, wohin sie die Zigaretten auf die Schnelle verschwinden lassen konnte. Alwins Argusaugen entging sonst kaum etwas und der Abdruck unter dem Jeansstoff war unverkennbar.

„Ihr lasst es euch ja gutgehen!“, befand er jedoch nur, in Tessas Ohren ziemlich spitzfindig, und ohne seine Frau überhaupt groß anzusehen. „Aber ein Käffchen ist jetzt genau das Richtige für mich.“ Sein Blick lechzte bereits nach der Kanne, während er den Karton, welcher sich bei näherer Betrachtung als Fotoschachtel entpuppte, auf den Tisch stellte.

Das war die Gelegenheit. Gitti holte eine zusätzliche Tasse aus dem Schrank, stand dabei mit dem Rücken zu Alwin, und die Packung wechselte sekundenschnell, ohne dass er was merkte, in die Porzellankaraffe im unteren Fach.

Alwin ließ sich neben Tessa auf die Bank plumpsen. Das Holz unter ihnen knarrte verdächtig.

„Na, Tessa, wie isset denn so?“, begehrte er zu wissen und tätschelte väterlich ihren Unterarm.

„Nicht viel anders als gestern, wo wir uns im Discount getroffen haben“, antwortete sie betont gleichmütig. Zwar war es gelogen, aber sie wollte testen, ob Alwin nicht sogar viel mehr über Udos Tun informiert war, als sie bisher annahm. Immerhin änderte die neue Adresse ihres Mannes nichts an der Männerfreundschaft seit Pfadfinderzeiten, der sie letztendlich überhaupt den Kauf der Wohnung in diesem Haus zu verdanken hatte.

„Stell dir vor, Udo will ihr das Zuhause wegnehmen!“, sprudelte Gitti hervor, ohne auf Tessas Zeichen mit der Bitte um Schweigen zu achten. „Ist das nicht eine Sauerei!?“

Tessa rutschte unbehaglich auf der Sitzfläche hin und her. Hätte sie mal nichts gesagt! Jetzt war es zu spät.

„Nun ja“, druckste Alwin herum und verfolgte gebannt Gittis Tun, als sei das Eingießen von Kaffee das Spektakulärste der Welt. „Der Udo kann eben auch nicht immer alles bezahlen und im Moment füttert er dich ja mit durch.“

„Wie, bitte, meinst du das?“ Tessa spürte, wie sich sämtliche Haarwurzeln ihrer schwarz getönten Lockenpracht aufrichteten.

„Ich meine gar nichts“, betonte Alwin schnell. „Er hat sich halt irgendwann mal Luft gemacht, wie stark der finanzielle Ballast auf seinen Schultern drückt. Na ja, du gehst nicht arbeiten, da kann man schon mal …“ Er brach ab, doch die unterschwellige Zurechtweisung stand unüberhörbar im Raum.

„Ja, Alwin? Was kann man schon mal? Und was hab ich von morgens bis abends in seinem Büro gemacht?“ Tessa pustete sich wie wild eine nervige Haarsträhne von der Stirn. Innerlich war sie auf hundertachtzig.

Gitti erkannte es an ihren bebenden Nasenflügeln.

„Lass gut sein, Tessa.“ Sein Ton schlug um in freundschaftliches Bitten. „Ich will nichts Falsches sagen. Macht das besser unter euch aus.“

Grundsätzlich eine gute Einstellung! Warum konnte er dann nicht von vornherein seinen Senf für sich behalten?

„Sag mal, Schatz, was ist das eigentlich für eine Schachtel?“ Gitti, die längst merkte, dass sie wohl etwas falsch gemacht hatte, versuchte, die Konversation schleunigst in eine andere Richtung zu lenken.

„Ach so, ja …“ Obgleich sie in unübersehbarem Rot direkt vor ihm leuchtete, schien sie Alwin erst jetzt wieder einzufallen. „Soll dir schönen Gruß von Marlies ausrichten, sie hat das Teil beim Ausmisten gefunden. Muss irgendwo im Schafzimmerschrank deines Vaters gesteckt haben und sind ganz viele alte Bilder drin.“

Er hob den Deckel ab, reichte ihr einen Bund Schwarzweißfotografien mit weißem Zackenrand, zusammengeheftet mit Büroklammer und Notizzettel, und fügte hinzu: „Mit denen kann sie nichts anfangen.“

„Weißt du vielleicht, wer das ist?“, hatte Marlies auf den Zettel geschrieben.

Reichlich verdutzt studierte Gitti das niedliche Puppengesicht eines etwa dreijährigen Mädchens, dessen lange, helle Locken anmutig die Puffärmelchen ihres weißen Kleidchens umspielten. Es war nicht auszumachen, ob die Kleine saß oder stand, während sie liebreizend in die Kamera lächelte. Es schien sich um eine Aufnahmeserie zu handeln, denn das Motiv blieb immer gleich, auch der Hintergrund, der sich leider ziemlich unscharf darstellte. Nur bei ganz genauem Hinsehen mochte man Säulen und eine Wasserfläche erkennen.

„Sollst sie mal anrufen“, fiel Alwin noch ein und schlürfte an seinem Heißgetränk, worauf ihm ein lauter Rülpser entfleuchte.

Fehlt nur noch, dass er jetzt einen fahren lässt, dachte Tessa angewidert und fragte sich, ob er es mit Absicht machte, um sie vertreiben. Sie wusste, dass ihre Abneigung auf Gegenseitigkeit beruhte.

Während Gitti ratlos auf die Fotos starrte und Tessa über sein Benehmen sinnierte, griff Alwin sich die letzten Plätzchen aus der Schale und hatte sie in Nullkommanichts verputzt.

„Ich merk schon, ich störe“, fiel ihm endlich auf und schob sein Gewicht von der Bank. „Dann will ich man nich’ weiter eure bestimmt wichtigen Frauengespräche unterbrechen.“

„Tust du doch gar nicht“, sagte Gitti eine Spur zu hastig.

Alwin bedachte Tessa über den Rücken seiner Frau hinweg mit anzüglichem Grinsen. „Ich geh mit meinen Muskeln spielen.“

„Von mir aus“, sagte Tessa ungerührt.

Er war bereits an der Wohnungstür, als Gitti noch hinterherrief: „Danke, Schatz, dass du Marlies beim Tragen geholfen hast!“

„Mit seinen Muskeln spielen?“ Tessas Zwerchfell kribbelte höhnisch.

Sie merkte nicht, dass Alwin noch in der Diele stand. Prompt streckte sich sein Kopf noch einmal über die Schwelle. „Hab ich gehört, Frau Nachbarin! Keinen Schimmer, was du denkst … haha … aber ich für meinen Teil geh bloß in die Muckibude!“

„Tata tata tata!“, zeterte Tessa. Ihr war, als höre sie sein Gelächter noch im Treppenhaus.

„Na, ihr liebt euch ja heute wieder inbrünstig!“ Gitti zog einen Schmollmund.

Tessa stand auf, ging zu ihr und drückte sie, aus dem Stehen gebeugt, von hinten mit den Armen.

„Du weißt doch, dass Alwin und ich ohne gegenseitiges Stänkern nicht auskommen.“

„Ja, leider.“

„Aber dafür habe ich jetzt die Bestätigung, wie Udo überall den armen, gebeutelten Mann rauskehrt, der sich sein ganzes Leben nur wegen mir abrackert.“

„Und dagegen musst du was tun!“

„Das werde ich, verlass dich drauf!“, versicherte Tessa, obwohl sie den Entschluss dazu erst eben bei Alwins Worten gefasst hatte. Sie hatte viel zu lange ruhig gehalten!

„Hast du schon einen Plan?“

„Du lässt nicht locker, was?“

„Natürlich nicht! Schließlich bin ich deine Freundin und möchte, dass es dir wieder gut geht.“

„Danke, Gitti!“, sagte Tessa nun sehr ernst, ließ aber alles Weitere im Raum stehen.

Für Gitti verdächtig schnell schwenkte sie um und griff nach einem der Zackenfotos.

„Jetzt sag mir lieber, was damit ist?“

Gitti zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Kenne weder das Kind, noch, wo die Aufnahme gemacht wurde.“

„Könnte beim Deuß-Tempel sein“, mutmaßte Tessa und war sich fast sicher. Wenn sonst auch nicht mehr viel bei ihr stimmte … wenigstens die Augen funktionierten noch prächtig.

Verblüfft schaute nun auch Gitti noch einmal genauer hin. Tatsächlich, Tessa hatte Recht. Dann war das Wasser drum herum der Stadtwald-Weiher, der sich unterhalb der Säulenbalustrade erstreckte.

„Fünfzigerjahre“, schätzte Tessa weiter und drehte das Bild in der Hand. „Schade, dass nichts draufsteht. Meine Mutter hatte wenigstens die hilfreiche Angewohnheit, Ort und Jahreszahl auf der Rückseite zu vermerken.“

„Na ja, was soll’s“, erwiderte Gitti unbekümmert, „ich ruf Marlies an und sag ihr, dass ich das Mädchen nicht kenne. Wer weiß, wie es überhaupt in die Schachtel gekommen ist. Vielleicht ein Versehen.“

„Ein eigenartiges Versehen, findest du nicht?“

„Hm.“ Mehr fiel Gitti dazu nicht ein.

Tessa nahm ein weiteres, worauf das kleine Mädchen den rechten Arm gen Himmel hielt, als zeige es auf etwas. An der Stelle, wo die Haut unter dem Puffärmel verschwand, befand sich eine dunkle Stelle. Vorsichtig rubbelte sie darüber. Ohne Erfolg. Ein Fleck, der sich in die Bildschicht gefressen hatte?

„Vielleicht hat dein Vater ja auch ein Geheimnis mit ins Grab genommen, von dem du nicht die geringste Ahnung hast?“ zeigte sich Tessa aufgeschlossen für jede Möglichkeit, bloß nicht über ihr eigenes Familiendurcheinander nachdenken zu müssen.

„Quatsch!“, schmetterte Gitti sofort ab. „Mein Vater war zwar kein Gefühlsmensch, führte aber ein Leben wie ein aufgeschlagenes Buch.“

„Auch das hat seine Schmutzseiten.“

Tessas zweideutige Bemerkung verunsicherte Gitti plötzlich. Allerdings nur für einen Moment, dann war sie wieder klar. „Nee, nee, da weiß ich Bescheid!“, behauptete sie schnell, als müsse sie ihn, der seit einem knappen halben Jahr unter der Erde lag, verteidigen. „Mit achtunddreißig meine Mutter geheiratet, ein Jahr nach ihrem Tod Marlies kennengelernt …“

„… und geheiratet“, vollendete Tessa gelassen und deutete – wie Außenstehende in der Regel Zusammenhänge erkannten, auf die man von allein vielleicht nicht käme – vorsichtig an: „Fast vierzig ist reichlich spät für die erste Ehe.“

Über Gittis Züge legte sich ein Schatten, fand aber sofort eine Erklärung: „Paps war lange im Ausland.“

Gut, dem Umstand vermochte Tessa natürlich nichts entgegenzusetzen. Vielleicht sah sie ja bloß Gespenster, wo keine waren, nur weil sie auch in ihrem eigenen Umfeld zunehmend alles infrage stellte. „Okay, anderes Thema!“, schlug sie vor. „Erzähl lieber, was wirst du mit deinem selbst verdienten Zaster anstellen?“

Sofort hellte sich Gittis Miene wieder auf. Sie horchte zur Küchentür, ging zum Schrank, holte die Zigaretten wieder raus. „Begleitest du mich auf den Balkon?“

„Klar.“ Tessa grinste, weil auch schon wie von Geisterhand ein Feuerzeug in Gittis Hand geschwebt war. Doch sie beschloss, sich nicht mehr zu wundern. Für heute hatte sie genug.

2

Es war mitten in der Nacht, als Tessa, nicht nur wegen einem Hitzeschub, sondern von Geräuschen aus dem Nebenzimmer geweckt, in die Senkrechte fuhr. Benommen rieb sie sich die Augen, welche einen Moment brauchten, um die Dunkelheit im Raum zu durchdringen. Ein Blick auf die rote Digitalanzeige des Weckers. Halb zwei. Wieder nichts mit Durchschlafen. Irgendwie häufte sich das langsam.

Ihre Ohren begriffen schneller. Durch die Wand hinter dem Kopfteil des Bettes drang albernes Gibbeln, abgelöst von rhythmischen Tönen gezielter Leibesgymnastik.

Das konnte doch jetzt wohl nicht wahr sein! Tessa stand auf und lief mit bloßen Füßen in die Diele. Unmittelbar an ihr Schlafzimmer grenzte Bennis, seit Jahren elternfreie, Zone. Ihre Hand donnerte gegen das Türblatt. „Benni, Corinna, geht’s vielleicht auch was leiser?“

Dem folgte männliches Fluchen, ein weiblich schrilles „Wie bitte?“ und … Ruhe.

Na also, ging doch!

Erst jetzt merkte sie, wie verschwitzt und klamm sich das Nachthemd auf ihrem Körper anfühlte. Ohne Licht zu machen, tappte Tessa ins Bad, drehte den Kaltwasserhahn auf, nahm eine Mundladung, benetzte Gesicht und Hände mit der erfrischen Nässe, und hielt die Unterarme bis zum Ellenbogen unter den Strahl. Das tat gut!

„Ähem … Frau Hofnagel?“, hörte sie plötzlich ein betretenes Stimmchen hinter sich.

Der Vollmond warf genug Licht in den Raum, um in der Tür die Umrisse einer Person zu erkennen.

„Kannst ruhig reinkommen, Corinna. Bin schon fertig.“ Tessa wunderte sich, dass sich die, bislang mit reichlich Selbstbewusstsein gesegnete, Freundin ihres Sohnes auf einmal so zurückhaltend gab.

„Ähem …“, machte es wieder, „ich bin die Lara. Wollt nicht stören, wollt nur eben zur Toilette.“

Tessa war mit den Händen schneller am Lichtschalter als mit ihrem Gehirn.

Im grellen Schein offenbarte sich die Gestalt eines großen, schlanken Mädchens, die blonden Haare am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz gebunden, bekleidet mit einem pinkfarbenen Mickey-Mouse-Shirt, dass knapp über einem schwarzen Tanga endete,

Nicht nur das Mädchen, auch das dazugehörige blaue Augenpaar, welches sie etwas verschüchtert anblickte, war Tessa vollkommen fremd. Na, super! Sie, die nicht informierte Mutter, stand wieder mal als Dumme da. Am liebsten hätte sie ihrem Sonnyboy von Sohn auf der Stelle den Marsch geblasen.

„Ähem …“, machte jetzt auch Tessa. Was, bitte schön, sollte sie auch groß sagen? Herzlich Willkommen im Stundenhotel Hofnagel?

Lara schien unschlüssig, als wolle sie noch etwas fragen.

„Frau Hofnagel?“

„Ja?“

„Diese Corinna …“

Jetzt wurde es spannend! „Ja?“

„Ist das die Exfreundin vom Benni?“ Das durchaus liebe Gesicht wirkte plötzlich traurig und erweckte sogar Tessas Mitleid.

Was nun? Sollte sie wahrheitsgemäß antworten: Heute Morgen jedenfalls saß sie hier noch mit am Frühstückstisch?

„Am besten, du fragst ihn selbst“, wich Tessa aus. Das fehlte ihr noch, zwischen die Fronten zu geraten. Sollte Benni sich den Brei mal schön alleine auslöffeln. Selbst schuld! Hätte er sie informiert, hätte sie nicht Corinna gerufen! So einfach war das.

Bei dem Wechseltempo, das er an den Tag legte, fiel es ihr sowieso immer schwerer, eine Lara nicht mit Corinna, Corinna mit Carolin oder Carolin mit Saskia anzusprechen, ohne schusselig dazustehen.

Nur gut, dass Tessa viel zu müde war, um sich jetzt zu nachtschlafender Zeit mit den Befindlichkeiten des fremden Mädchens in ihrem Badezimmer auseinanderzusetzen. So wünschte sie Lara einfach Gute Nacht und machte sich auf den Weg zurück ins Schlafzimmer.

Im Flur hörte sie Benni durch den Türspalt: „Mama, du hast ihr doch nichts gesagt?“

In Tessa gärte die nächste Wallung. Lara war noch im Bad, die Tür verschlossen. Der geeignete Augenblick, um Bennis Zimmertür aufzustoßen und sich nach einem geharnischten „Wir zwei unterhalten uns morgen!“ die Hand auf die Nase zu halten.

„Ach, Mama“, kam es lapidar aus der Tiefe hinter der Zonengrenze und es klang nicht unbedingt, als nähme ihr Sohn sie für voll.

„Lass es dir gesagt sein!“, wiederholte sie deutlich strenger, dass es garantiert in sein Testosteron gesteuertes Hirn vordrang. „Außerdem stinkt’s hier wie in einem Pumakäfig! Dass es überhaupt jemand außer dir aushält, ist mir ein Rätsel.“

„Ja, ja, schon gut!“ Wie immer wollte er nichts davon hören. „Ich lüfte. Morgen. Jetzt ist zu kalt.“

Die Aussage war so verlässlich wie die Treue ihres Ehemannes.

„Und leise jetzt!“

„Boah, Mama!“

Sie sah es nicht, sie spürte förmlich, wie Benni die Augen rollte.

„Nur weil Papa ausflippt, musst du das jetzt nicht an mir auslassen!“

„Wie bitte?“, grummelte sie mit hochexplosivem Unterton. Was zuviel war, war zuviel. „Noch ein freches Wort und ich setze deine Lara in ein Taxi, und zwar auf deine Kosten, ist das klar?“

„Ja, tut mir leid“, kam es prompt sanftmütiger.

Tessa beendete die unwürdige Konversation, in dem sie nicht mehr weiter darauf einging und machte, dass sie wieder ins Bett kam.

Eine Weile lag sie noch wach. Ob sie wollte oder nicht, Bennis Worte beschäftigten sie. Ließ sie ihren Gemütszustand wirklich an ihm aus? Wenn das so war, umso schlimmer, denn gerade das versuchte sie ja zu vermeiden. Leider machte Benni es ihr mit seiner Art auch nicht gerade einfacher.

Kein guter Zeitpunkt, um Bilanz zu ziehen, wenn man mit ohnmächtiger Wut erleben musste, wie willkürlich und skrupellos ein einzelner Mensch ein ganzes Lebenskonstrukt zum Einsturz brachte.

Unwillkürlich streckte Tessa die Hand nach der leeren Betthälfte neben sich. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Warum, Udo? Warum tust du das?

Eine Frage, die sie nicht losließ. Sie wollte nicht verstehen, weshalb er nicht in der Lage war, sich mit ihr an einen Tisch zu setzen und sich gütlich zu einigen. Schließlich war er es, der ausbrach! Stattdessen erwartete er, dass sie über seine Eskapade hinwegsah und brav abwartete, bis er sich ausgetobt hatte. Diesen Satz bei seinem Auszug hatte sie sich sehr gut eingeprägt.

Er wiederum war es, der nicht verstand, dass sie das Spielchen nicht mitmachte. Dass sie Klarheit wollte, ein Entweder-oder.

Doch dann hätte Udo eine Entscheidung fällen müssen. Und gerade das war etwas, das er, wie sie im Laufe ihrer Ehe lernen musste, nach Möglichkeit tunlichst umging.

Offenbar hatte sie alles falsch gemacht, was man nur falsch machen konnte. Sie selbst hatte ihrem Mann in den letzten zwanzig Jahren nahezu alles abgenommen, was auch nur im Entferntesten problembehaftet sein konnte. Und wie Benni sich gab, war ebenfalls das Produkt ihrer eigenen Erziehung, in der sie, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, zumeist alles hatte durchgehen lassen.

Das Bild des Einjährigen erschien ihr wie ein strahlendes Hologramm der Erinnerung im Dunkel des Zimmers. Ihr kleiner Sonnenschein. Nie hatte sie mit ihrer Zuneigung gehadert, weil Benni nicht ihr leibliches Kind war. Mit dem Augenblick, als Udo ihren Weg kreuzte, nahm sie seinen Sohn an wie ihren eigenen, obgleich sie sich bewusst war, dass es eine leibliche Mutter gab, die ihn nicht wollte, ihrem Exfreund freiwillig das Sorgerecht abtrat, aber trotzdem jederzeit wieder in Erscheinung treten konnte.

Was Gott sei Dank nicht eintraf. So wuchs Benni zwar mit dem Wissen um seine Wurzeln auf, sah aber nur in Tessa seine Mama. Sie liebte ihn dafür umso mehr und zeigte sich, je älter Benni wurde, zunehmend auch immer nachsichtiger.

Udo dagegen hatte von Anfang an nicht viel mit der Erziehung am Hut. Er machte keinen Hehl daraus, dass Benni das Produkt eines kurzen Vergnügens war, und behandelte ihn teilweise auch so. Wäre er ein Hund gewesen, er hätte ihn wahrscheinlich ins Tierheim abgeschoben.

Tessa schämte sich für den abstrusen Vergleich, aber er entsprach durchaus der Realität. Plötzlich erinnerte sie sich wieder an die Anfangsphase ihrer Beziehung. Vor allem an die Szene in dem netten kleinen Ristorante, als Udo wissen wollte, ob sie sich mit ihren einunddreißig Jahren schon damit beschäftigt hätte, Kinder zu haben. Bis zu dem Zeitpunkt hatte sie sich die Frage so selbst noch nie gestellt. Sie verdiente ganz gut, lebte in einer schicken kleinen Wohnung, hatte das Erbe ihrer Eltern gut angelegt, aber für eine feste Bindung war ihr der richtige Mann noch nicht begegnet.

Bis zu dem Zeitpunkt hatte sie von Benni noch gar nichts gewusst und da er die Frage so unverblümt stellte, war ihr einfach so herausgerutscht: „Nur nach den zwanzig Minuten, in denen es nicht geklappt hat!“

Worauf Udo sie mit hochgezogenen Brauen angesehen hatte und dann lauthals lachte. Er tat ihre Aussage als äußerst originell ab, erkannte gar nicht den Ernst hinter den Worten.

Dabei war die Erinnerung an einen gewissen Samstagmorgen im Juli alles andere als komisch für sie.

Warum ihr das alles ausgerechnet jetzt wieder einfiel, wusste Tessa auch nicht. Sie merkte, wie sich wieder eine Hitzewelle auf den Weg machte. Der Zwanzig-Minuten-Mann war lange abgehakt und von weitaus besseren, jawohl! … Nachfolgern überholt, bevor sie überhaupt an Udo dachte.

Fast schon unheimlich, was ihr da auf einmal im Kopf herumspukte. Irgendwie wurde die Luft im Zimmer plötzlich stickig und sie stand erneut auf, um das Fenster auf Kipp zu stellen.

Dabei verfing sich ein kühler Windstoß im leichten Organza-Store und streifte ihre verschwitzte Haut, was ihr eine Gänsehaut verursachte.

Flink huschte sie zurück unter die warme Decke, lauschte noch einmal nach nebenan, wo jetzt absolute Stille herrschte, und besann sich auf das Erlernte ihres Yogakurs, zu dem Gitti sie vor Urzeiten überredet hatte.

Es wirkte. Endlich schlief sie sich in eine Welt der Träume, in der nur leider Udo und Alwin eine Person zu werden schienen, in der wie aus dem Nichts ungezählte Mädchengesichter durch ihr Bad schwebten und der Zwanzig-Minuten-Mann im dunklen Anzug mit Krawatte vor ihrer Wohnungstür stand und Einlass begehrte.

Das war der Punkt, an dem Tessa freiwillig wieder aufwachte. Doch da schien die Sonne bereits ins Zimmer.

3

Etwa eine Woche später …

„Schönen guten Tag, ich bin Dreiundfünfzig!“, grüßte Tessa freundlich in den Raum, der sich hinter der Tür mit der Aufschrift: Herr Wünsch, Sachbearbeiter A–H verbarg.

„Soso“, entgegnete eine tiefe männliche Stimme aus dem hohen Drehstuhl, der sich bei ihrem Eintreten ein Stück vom amtlichen Schreibtisch wegschob, was seinem Besitzer Platz verschaffte, die Beine übereinander zu schlagen.

Ein paar Zentimeter höher, Tessa überlegte gerade, wer wohl größer war – der Stuhl oder der Mann in ihm – lächelte ihr ein helles Augenpaar unter einer Nickelbrille amüsiert zu. Wenn das jener Herr Wünsch vom Türschild war, so würde sie ihm raten, sich schleunigst eine modernere Brille zu wünschen. Sonst aber machte der Mann, entgegen der Vorwarnungen einer breiten Masse, die das Arbeitsamt ständig belagerten, der allgemeinen Abwehr gegen die dort regierenden Sachbearbeiter keinerlei Ehre. Im Gegenteil. Herr Wünsch wirkte sogar recht sympathisch.

„Das ist aber sicher nicht Ihr Alter, sondern Ihre Wartenummer“, tippte er ganz richtig, als Tessa näherkam.

Entweder war das jetzt Schmeichelei von Amt wegen oder die Brillengläser waren schlechter als seine Augen.

Einladend wies er auf den Platz vor seinem Schreibtisch, dessen Platte schwer an einem riesigen Stapel Pappkladden zu tragen hatte. Die Regale, die die Wand hinter Herrn Wünsch schmückten, krümmten sich unter Aktenbergen und gewichtigen Buchwälzern. Auf der Fensterbank trocknete eine einsame kleine Yuccapalme vor sich hin.

Irgendwie hatte Tessa das Gefühl, mit der Pflanze etwas gemeinsam zu haben. Ihr fehlte eben auch die richtige Pflege.

„Ja, guten Tag, Frau …?“, riss Herr Wünsch Tessa vom Anblick der traurigen Palme los.

„Hofnagel“, stellte sie sich vor, „Teresa Hofnagel.“

„Frau Hofnagel, aha …!“ Geschäftig setzte er seine Rundgläser gerade, rückte den Drehstuhl zurecht, legte die Hände ineinander gefaltet auf die Schreibunterlage und lächelte Tessa abwartend an.

„Ich hatte letzte Woche angerufen und wohl mit Ihrer Kollegin gesprochen. Einer …“, Tessa musste kurz überlegen, aber der Name war so blöde gewesen, dass er ihr direkt wieder einfiel, „Frau Sauerteig. Sie gab mir für heute den Termin bei Ihnen.“

„Aha“, wiederholte er und fixierte sie nun mit einem fragenden Blick, „was kann ich denn für Sie tun, Frau Hofnagel?“

Unter normalen Umständen und in Anbetracht dessen, wo sie sich im Augenblick befand, eine etwas dümmliche Frage. Aber nun gut, sie wollte es ihm nachsehen. Dies waren schließlich keine normalen Umstände.

„Ich suche einen Job.“

„Aha. Und an was hatten Sie da so gedacht?“

„Keine Ahnung“, erwiderte Tessa gleichmütig. „Nur eine Vollzeitstelle sollte es sein, damit ich meine Wohnung weiterhin bezahlen kann. Und wenn möglich, bitte nicht an einer Supermarktkasse und auch nicht hinter der Theke einer Bäcker- oder Metzgerei.“

Sie hätte jetzt noch hinzufügen können, auch nicht als dringend gesuchte Mitarbeiterin (gerne Anfängerin, frei nach dem Motto: Komm Puppe, bedien Dich, Du weißt ja, wo alles steht!) in einem Saunaclub, wie es in den Annoncen stand, von denen es in der Zeitung nur so wimmelte. Aber sie ging mal davon aus, dass derartige Angebote sowieso nicht über diesen Schreibtisch flossen.

Seine Nickelbrille schien näher zu rücken, der Mund darunter lächelte immer noch. Doch dann wandte Herr Wünsch den Kopf nach allen Seiten, als suche er nach einer versteckten Kamera.