Ehemann umständehalber abzugeben - Daniela Mimm - E-Book

Ehemann umständehalber abzugeben E-Book

Daniela Mimm

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Beschreibung

Okay, passieren kann das jedem von uns: Man ist verheiratet oder lebt in eheähnlicher Gemeinschaft und plötzlich, da läuft einem die große Liebe über den Weg. Wie aber wird man nun seinen Ehemann los, ohne vorher mit ihm darüber gesprochen zu haben? Diese Frage stellt sich jedenfalls Jule immer häufiger, seit sie erleben muss, was ihre Schwägerin und Freundin Esther so abzieht. Seit Esther, nämlich verheiratet mit Harry, diesen Carlos kennengelernt hat, ist sie nicht mehr wiederzuerkennen. Was anfangs wie ein harmloser Flirt zur Ego-Aufpolierung anmutete, entwickelt sich immer mehr zu einer handfesten Krise. Esther verstrickt sich von einer Lüge in die nächste und merkt gar nicht, dass ihr dabei nach und nach alles irgendwie entgleitet. Bis sich eines Tages das Blatt auf wundersame Weise wendet.

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Zu diesem Buch

Okay, passieren kann das jedem von uns … man ist verheiratet oder lebt in eheähnlicher Gemeinschaft und plötzlich, da läuft einem die große Liebe über den Weg.

Wie aber wird man nun seinen Ehemann los, ohne vorher mit ihm darüber gesprochen zu haben? Diese Frage stellt sich jedenfalls Jule immer häufiger, seit sie erleben muss, was ihre Schwägerin und Freundin Esther so abzieht.

Seit Esther, nämlich verheiratet mit Harry, diesen Carlos kennengelernt hat, ist sie nicht mehr wiederzuerkennen. Was anfangs wie ein harmloser Flirt zur Ego-Aufpolierung anmutete, entwickelt sich immer mehr zu einer handfesten Krise. Esther verstrickt sich von einer Lüge in die nächste und merkt gar nicht, dass ihr dabei nach und nach alles irgendwie entgleitet. Bis sich eines Tages das Blatt auf wundersame Weise wendet ...

Die Autorin

Daniela Mimm, geb. 1964, verheiratet, nicht nur „Brandungsfelsen“ ihrer Patchworkfamilie, sondern auch einer Frauenclique, liebte es schon als Zehnjährige, Geschichten zu schreiben, in denen sich Wirklichkeit und Phantasie nahtlos vermischen. Auch diese hier hat sich (fast) genauso zugetragen.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Ein Brief mit Folgen

Kapitel 2: Frauentreffen und andere Alibis

Kapitel 3: Lüge, Wahrheit und Vertrauen

Kapitel 4: Chiffre-Antwort mit Auswirkungen

Kapitel 5: Was für eine Situation ...

Kapitel 6: Fröhliche Weihnachten

Kapitel 7: Alles Gute zum Dreißigsten

Kapitel 8: Verkuppeln will gelernt sein

Kapitel 9: Ein Schrecken kommt selten allein

Kapitel 10: Ein denkwürdiger Tag

Kapitel 11: Auf ein Neues ...

1

Ein Brief mit Folgen

Der Regen prasselte laut hörbar gegen die Fensterscheiben. Stürmische Windböen fuhren in die Fensterläden und ließen sie schauerlich klappern. Dieser Aprilsonntag hatte es in sich und das betraf nicht nur das Wetter.

Wir, also mein Mann Jochen, unsere zweijährige Tochter Nadine – ein süßes kleines Mädchen mit strohblonden Haaren, klaren blauen Augen (ganz der Papi!) und einem ziemlich vorlauten Mundwerk für ihr Alter (ganz die Mami!) – und natürlich ich selbst saßen bei Jochens Schwester in der gemütlichen Essküche am liebevoll gedeckten Kaffeetisch. Auf meinen Füßen schnarchte Promenadenmischung Toheckü, gerade ein halbes Jahr zuvor von mir aus dem Moerser Tierheim adoptiert. (Komischer Name? Ist die Kurzfassung von Tore, Hecken und Kübeln, die der Herr Rüde hobbymäßig anpinkelt.) Und das Vieh war vielleicht schwer! Mir schliefen langsam die Zehen ein. Toheckü hob schläfrig den Kopf, als ein paar Kuchenkrümel seine Nase streiften. Nadinchen sorgte schon dafür, dass der arme Hund nicht verhungerte. Sie zermatschte Esthers leckeren Apfelstreusel abwechselnd mit Löffel und Fingern und grölte so genüsslich in die Runde, dass jeder lachen musste.

„Nadine, jetzt iss bitte anständig!“, ermahnte ich sie und erntete einen so verständnislosen Blick, dass ich gegen meinen Willen mitlachen musste.

„Lass sie doch.“ Harry, Jochens Schwager grinste wohlgefällig und wandte sich an seine Frau: „Schatzi, schüttest du noch eine Kanne auf?“

Esther stellte die Küchenmaschine erneut an, Harry und Jochen verschwanden ins Wohnzimmer, Formel 1 war mal wieder angesagt. Esther und ich schauten uns vielsagend an, denn wir waren das gewohnt. So wie heute hatten wir schon oft dagesessen – unsere Männer starrten in die Glotze, rasten in Gedanken selbst über die Asphaltpiste, träumten vom Siegertreppchen und langbeinigen Schönheiten, denen sie nach dem Korkenknall den Champagner überspritzten, und wir Frauen erzählten uns in der Küche die Neuigkeiten der vergangenen Tage.

Ich war froh, so eine Schwägerin zu haben. Esther und ich verstanden uns von Anfang an sehr gut. Vielleicht lag es einfach nur daran, dass wir auf derselben Wellenlänge schwammen. Wir konnten stundenlang über alles Mögliche klönen, ohne dass uns der Gesprächsstoff ausging und das Witzige war, unsere Meinungen und Wünsche tendierten fast immer in die gleiche Richtung.

So ein innerer Draht zueinander verband offensichtlich auch Harry und Jochen. Beide liebten es, den Sonntag im Gammel-Outfit vor der Flimmerkiste zu verbringen, um sich von der Programmvielfalt berieseln zu lassen, die der Kabelanschluss so hergab.

Na gut, ich musste zugeben, der Wunsch nach Faulenzen war verständlich. Schließlich rackerten sich die beiden die ganze Woche nur für den Unterhalt ihrer Familien ab, brauchten ihre Ruhe für neue Schaffenskraft. Klar, dass da ein Spaziergang die Zumutung schlechthin war und man(n) auch von anderen Aktivitäten wie einem nachmittäglichen Schwimmbad- oder abendlichen Theaterbesuch lieber verschont blieb.

Esther stand auf und lugte ins Wohnzimmer. Außer dem Bildschirm-Ton war schon seit einer Weile nichts mehr zu hören. Als sie in die Küche zurückkam, grinste sie. „Das muss am Wetter liegen. Die sind beide eingeschlafen.“

„Bei dem spannenden Rennen? Das gibt es ja nicht!“, kicherte ich ironisch. Da konnte man wirklich nur noch den Kopf schütteln, denn das war gerade meinem Jochen noch nie passiert.

Nadine, die ihren Kuchen nun endlich aufgegessen – oder runtergeschmissen – hatte, drängte es ins Nebenzimmer, wo Esthers dreizehnjährige Tochter Corinna ihr Domizil hatte. Esther bewahrte zum Glück noch die ganzen Duplo-Steine Corinnas auf, so brauchte ich nicht das halbe Kinderzimmer mitschleppen, wenn wir herkamen. Und Nadine war erst mal bis auf Weiteres beschäftigt.

„Jule, würdest du mir einen Gefallen tun?“, bat Esther mich, während sie unsere Tassen noch einmal mit dem frisch aufgebrühten Kaffee füllte. Dann holte sie ihre Handtasche und zog einen gelben Büttenumschlag heraus, den sie mir jetzt hinhielt.

„Was ist das für ein Brief?“, fragte ich erstaunt.

„Lese mal“, antwortete sie geheimnisvoll, „aber versprich mir, niemandem etwas davon zu sagen!“

Äußerst verwundert zog ich den ebenfalls gelben Büttenbogen aus seinem Umschlag und faltete ihn auseinander. Zum Vorschein kam eine etwas krakelige Handschrift auf eng beschriebenen Zeilen. Doch schon bevor ich mit dem Lesen begann, schwante mir, dies war die Handschrift eines Mannes. Und garantiert nicht die von Schwager Harry.

„Soll ich wirklich?“ Mir widerstrebte es, die Worte des mir unbekannten Verfassers zu lesen. Schließlich waren sie an Esther gerichtet und ganz eindeutig nur an sie.

„Tu mir den Gefallen!“, bat sie nochmals. „Ich würde zu gerne deine Meinung hören.“

Meine Neugierde gewann die Oberhand über meine Skrupel. Wort für Wort glitt an meinen Augen vorbei und drang in die Aufnahme meiner Gedächtnisfunktion. Das waren eindeutig die Zeilen eines Mannes, der sich verliebt hatte. Ich legte den Bogen beiseite.

„Na, was sagst du?“ Esther beobachtete mich genau. Ihr Blick war gespannt.

„Ich bin platt“, brachte ich mühsam hervor. „Wann hast du den denn bekommen?“

„Letzte Woche. ER kam, um seinen Anzug reinigen zu lassen und schob mir den Umschlag einfach über die Ladentheke.“ Esther lächelte bei der Erinnerung. „Findest du nicht auch, dass das mal etwas Außergewöhnliches ist?“

„Allerdings!“ Ich war fassungslos. „Aber was wirst du nun tun? Seine Einladung annehmen?“ Erwartungsvoll sah ich sie an und was ich da in ihren Augen entdeckte, stimmte mich sehr nachdenklich. Ein eigenartiger Glanz hatte sich in ihnen verbreitet, sie leuchteten förmlich.

Esthers Ehe war eintönig. War es, solange ich Esther kannte, scheinbar immer gewesen und das wurde mir jetzt in diesem Moment erst so richtig bewusst.

Ich versuchte, mir den unbekannten Briefschreiber vorzustellen. Der Mann schien ja wirklich Courage zu besitzen. Ohne meinem Schwager Harry was zu wollen, aber der hatte sie nicht.

„Ich weiß nicht, was ich tun soll! Was würdest du denn an meiner Stelle machen?“, fragte Esther aufgewühlt.

„Du erwartest, dass ich dir sage, geh mit dem Mann aus oder lass es lieber?“ Ungläubig starrte ich sie an. „Schwägerin, du verlangst ein bisschen viel von mir!“

„Bitte!“, wiederholte Esther leise.

Mir schmeichelte natürlich das Vertrauen, das sie mir entgegenbrachte, aber…

Ich las den Brief noch einmal. Das Schriftbild ließ nicht gerade auf eine kaufmännische Tätigkeit schließen, aber sein Schreibstil sprach absolut für sich. Die gewählten Worte wirkten in keiner Weise etwa aufdringlich, sondern eher zurückhaltend. Und doch schien dieser Mann genau zu wissen, was er wollte.

„… sind Sie mir schon beim ersten Mal aufgefallen. Jetzt dachte ich mir, versuche es einfach, diese hübsche und sympathische Frau zum Essen einzuladen …“, stand da unter anderem geschrieben.

„Ich denke, da hast du eine wirkliche Eroberung gemacht“, gab ich offen und ein wenig neidvoll zu. Der Blick, den Esther mir zuwarf, ließ mich erahnen, dass sie genau diese Worte hatte hören wollen. „Möchtest du denn mit ihm ausgehen?“, fragte ich jetzt ohne Umschweife.

Sie druckste verlegen herum. „Ach, ich weiß es doch nicht! Auf jeden Fall finde ich ihn sehr …“, sie suchte nach der richtigen Formulierung, „nett. Ich fühle mich so schrecklich in der Zwickmühle.“

Das täte ich an ihrer Stelle auch. Zwar stellte Esther mir die Frage, aber mir selbst stellte sich die Frage ja leider nicht.

„Weiß er, dass du verheiratet bist?“

„Ich habe es ihm gesagt, als er vorgestern wiederkam, um sich seinen Anzug und meine Antwort abzuholen.“

„Wie war seine Reaktion?“

„Enttäuscht war er, glaube ich, aber er meinte, er habe sich das schon gedacht. Da könne man halt nichts machen und er beglückwünsche meinen Mann zu einer Frau wie mir.“

„Hui!“, entfuhr es mir. „Das hat er gesagt?“

„Ja.“

„Und weiter?“, wollte ich wissen.

„Nichts weiter! Danach verabschiedete er sich und verließ den Laden.“ Das Leuchten aus Esthers Augen verschwand.

„Von seinem Familienstand weißt du nichts?“, forschte ich etwas deutlicher.

„Doch, ja.“ Esthers Blick war gedankenverloren. „Er ist geschieden.“

„Gehe ich recht in der Annahme, dass du seine Einladung nur zu gerne annehmen würdest, weil deinem angeschlagenen Ego diese Aufmerksamkeit eines fremden und dazu wohl noch blendend aussehenden Mannes guttut?“

Esther nickte. „Ich wusste, du verstehst mich. Aber ich habe Harry gegenüber ein schlechtes Gewissen.“

„Da ist guter Rat wahrlich teuer. Als deine Schwägerin warne ich: Spiele nicht mit dem Feuer! Das kann nicht gut sein. Als deine Freundin sage ich: Gehe mit ihm essen, da ist ja noch nichts weiter dabei. Ganz unschuldig ist Harry auch nicht an der Sache. Würde er sich mehr um dich bemühen, kämst du gar nicht erst auf den Gedanken. Aber …“, setzte ich belehrend und mit warnendem Zeigefinger hinzu, „übertreibe es nicht!“

Esther umarmte mich in einem Schwall von Dankbarkeit. „Keine Sorge, das passiert mir bestimmt nicht! Ich finde ihn wirklich einfach nur nett.“

So ganz wohl fühlte ich mich ja nicht in der Rolle der Käseblättchen-Tante „Fragen Sie Frau Jule“. Was würde ich tun? Ach ja, richtig, die Frage stellte sich mir ja gar nicht.

Aber ich verstand Esther nur zu gut. Es konnte einen aber auch der Frust packen, wenn man permanent dem Gefühl unterlag, für den eigenen Ehemann mehr so eine Art Wohnungsinventar als Frau zu sein. Wurde man sich nach vierzehn gemeinsamen Jahren zwangsläufig so gleichgültig? War dann alles nur noch Gewohnheit?

Wie lange kannte ich Esther und Harry jetzt? Gut elf Jahre. Aber ich konnte mich nicht erinnern, dass sie durch Körpersprache jemals zum Ausdruck gebracht hätten, ein Paar zu sein. Keine Umarmung, nicht mal ein kleines Küsschen, nur dieses grässliche „Schatzi“ zeugte von ihrer Zusammengehörigkeit. Ob das reichte?

Harry schuftete wirklich schwer. Seit achtzehn Jahren Dreierschicht im Stahlwerk und in seiner ohnehin knapp bemessenen Freizeit fuhr er dann auch noch Taxi. Das brachte zusätzlich eine Menge ein. Nötig hatten sie es nicht. Harry fuhr, weil er sein altes Hobby als Rallye-Fahrer, wofür er einst jedes Wochenende in Belgien verbrachte, wegen Esther aufgegeben hatte. Was jetzt natürlich nicht heißen sollte, er lege eine besenkte Fahrweise an den Tag. Harry fuhr Taxi, weil er das Fahren an sich liebte.

Harry und Esther lebten gut, hatten sich mit den Jahren die schöne Vierzimmer-Mietwohnung in der Nähe des Moerser Stadtparks durch Kauf zu Eigentum verwandelt und sich ein behagliches, komfortables Heim geschaffen. Die Einrichtung zeugte nicht von schlechten Eltern und die teuren Nepal-Teppiche im Wohnzimmer stammten aus den teuersten Möbelhäusern der Umgebung.

Nur war irgendwann, schleichend und unbemerkt, alles andere auf der Strecke geblieben. Ein gemeinsames Familienleben existierte nicht und auch Corinna hatte nicht das Verhältnis zu ihrem Vater, wie sie es eigentlich brauchte.

Und Esther? Nach all den Jahren des Kind- und Haushütens arbeitete sie vormittags in einer Reinigung, weil ihr zu Hause schlicht und einfach die Decke auf den Kopf fiel. Sie lechzte nach Anerkennung und Selbstbestätigung.

Wie dem auch sei, jetzt reichte Esther ihre Beschäftigung scheinbar nicht mehr, um diese Selbstbestätigung zu erhalten. Sie war offen für das Spiel mit dem Feuer.

Schritte näherten sich der Küche. Schnell ließ Esther den kostbaren Brief wieder in ihrer Tasche verschwinden. Harrys Konterfei erschien im Türrahmen. Man sah ihm an, dass er gerade erst aufgewacht sein musste. Gottlob hatte er nichts von unserer Unterhaltung mitbekommen.

„Denk an meine Brote, Schatzi! Am besten mit Salami und Käse. Ich mach mich dann mal fertig jetzt.“ Sprach’s und verschwand im Schlafzimmer, um sich umzuziehen.

Esthers Mienenspiel sprach Bände, doch sie hatte sich vorbildlich im Griff. Es war leicht zu erahnen, dass sie Harry am liebsten ins Gesicht geschrieen hätte, er solle sich seine Brote gefälligst selber schmieren. Schweigend jedoch erfüllte sie „Schatzi“ seinen Wunsch.

Draußen wurde es dunkel. Nadine war immer noch eifrig in ihr Spiel vertieft und hatte inzwischen den gesamten Behälter mit Corinnas Bausteinen ausgekippt. Sie bemühte sich sichtlich, ihren gebauten Turm zum Stehen zu bringen, während Toheckü ihn immer wieder mit seiner feuchten Nase zum Einsturz brachte. Nadine erschütterten diese Attacken überhaupt nicht. Im Gegenteil, sie jauchzte vor Vergnügen.

Jemand klingelte Sturm an der Wohnungstür. Toheckü gab einen kurzen Kläffer von sich, doch die Bausteine waren interessanter als nachzusehen, wer da kam.

„Das wird wohl mein Fräulein Tochter sein“, bemerkte Esther mit einem flüchtigen Blick auf die Uhr.

Mit klatschnassen Haaren und Klamotten stolperte eine völlig außer Atem geratene Corinna zur Tür herein.

„Ach, du meine Güte!“ Esther schob die triefende Tochter schnell ins Bad und umhüllte sie mit mütterlichen Ratschlägen: „Zieh schleunigst die nassen Sachen aus! Besser noch, du gehst unter die Dusche und föhnst dir die Haare, bevor du dich erkältest.“

Harry begrüßte seine Tochter flüchtig: „Na, schon da?“

„Was ist denn hier für ein Aufruhr?“ Das war Jochen, der mit verschlafenem Blick in das grelle Licht der Deckenbeleuchtung blinzelte.

„Komm Schlafmütze, setz dich her“, lachte ich.

„Wieso Schlafmütze? Ich habe nicht geschlafen!“

„NADINE!!! Räum das sofort wieder auf!“, tönte es plötzlich laut schimpfend aus dem Kinderzimmer.

„Was schreist du denn hier so rum?“, rief Esther durch die Tür.

„Mama, guck doch mal! Nadine hat mein ganzes Zimmer durcheinandergemacht.“ Wütend stapfte Corinna in die Küche und ließ ein verschrecktes Häufchen Kleinkind auf dem Teppich zurück.

„Meine Güte, stell dich nicht so an!“, rügte Esther sichtlich genervt, während ich meine Tochter beruhigte.

„Corinna, du weißt, wir haben bisher noch immer alles wieder aufgeräumt, was Nadine benutzt hat“, erinnerte ich sie.

Corinna sah mich einen Moment verdattert an. „Ja, ja“, nuschelte sie und es klang entschuldigend.

„Weißt du wenigstens, wo mein blaues T-Shirt ist?“, wandte sie sich mit langem Gesicht an ihre Mutter.

„In der Wäsche.“

„Schon wieder?“

„Allerdings!“ Esthers Unmut stieg. „Meiner Ansicht nach gehörte es dringend dorthin. Oder stehst du neuerdings auf Kakaoflecken?“

Corinna bedachte die Mutter mit einem beleidigten Blick.

„Sag mal, was ist dir eigentlich für eine Laus über die Leber gelaufen?“

„Hab mich mit Doris gezankt.“

„Ach, deshalb“, bemerkte Esther nur.

Sie hörte die Streitgeschichten zwischen den beiden Teenagern offensichtlich zur Genüge.

„Mama, stell dir vor, Doris’ Eltern lassen sich scheiden! Ihr Vater zieht zum Monatsende aus.“

„Ach!“ Jetzt zeigte Esther sich doch ein wenig fassungslos. Sie kannte die Leute durch die Elternstammtische der Schule.

Meine Gedanken rotierten. Hoffentlich passierte hier nicht in absehbarer Zeit dasselbe!

***

Zwei Wochen später, es war ebenfalls ein Sonntag, verbrachten Esther und ich den Nachmittag abwechslungshalber – und zwar allein – bei einem ausgedehnten Spaziergang. Der ständige Regen hatte aufgehört und seit Tagen lag sogar wieder eine milde Wärme in der Luft. Die ersten Sonnenstrahlen nach ständig grauem Himmel schlugen wie Balsam auf das Gemüt.

„Na, nun rede schon!“ Verständlicherweise stieg meine Neugierde auf Esthers Ausführungen in Sachen Briefschreiber. Am Telefon hatte sie mir was von vergangenem Dienstag ins Ohr genuschelt. Mehr war nicht aus ihr herauszubekommen, ständig hielt Harry sich im Hintergrund auf.

„Ach Jule, es war sooo unbeschreiblich schön!“, schwärmte sie mir jetzt einen vor. „Ich weiß gar nicht, wie ich das erklären soll. Es ist, als würde ich ihn schon ewig kennen.“

Irgendwie spürte ich plötzlich einen sonderbaren Kloß im Hals. „Darf man fragen, worüber ihr euch so unterhalten habt?“

„Über alles Mögliche!“ Esther lächelte wieder mit jenem merkwürdigen Glanz in den Augen, den ich letztens schon bemerkt hatte. „Du, stell dir vor, er spielt sogar Schlagzeug und Keyboard. So richtig mit Band und so.“ Sie kam aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus.

„Dann sucht er am Ende nur eine Leadsängerin?“, entfuhr es mir ironisch. Im Stillen aber schluckte ich ordentlich.

Keine Reaktion. Offensichtlich hatte sie meine Worte nicht verstanden. Stattdessen spulte Esther nun brühwarm den gesamten Verlauf des Abends ab. Richtig aufgewühlt wirkte sie, merkte gar nicht, dass sie, statt der Reihe nach zu erzählen, alles durcheinanderwarf.

„Du wirst dich nun also öfter mit ihm treffen?“, argwöhnte ich.

„Ja!“ Diese Antwort war zwar sehr kurz, aber aus der Betonung heraus, die sie in dieses eine Wort legte, ohne groß nachzudenken, war sehr deutlich zu hören, was sie momentan fühlte.

Sie redete und redete: von dem Lokal, in das er sie zum Essen einlud, wie er sich kleidete, wie er sprach und worüber, wie er sich bewegte und wie er sie, Esther, doch bewundere. Den Abschluss des Abends hatten sie in einer kleinen Bar verbracht, wo man zu melodischen Klängen eng aneinandergeschmiegt tanzen konnte.

Auf meine Nachfrage, wo es denn bitte in der heutigen Zeit noch so was gäbe, denn ich kannte nur die regionalen „Baggerschuppen“, im Volksmund auch Diskothek genannt, winkte sie ab. „Ach Jule, du weißt doch, dass ich Namen schlecht behalten kann. Keine Ahnung, wie der Laden hieß. Nur, dass wir nicht in Moers waren, sondern in Krefeld …“

„Das weißt du also noch?“, zog ich sie lachend auf. „Meine Güte, du bist ja völlig durch den Wind, was?“

„Ist das ein Wunder?“

Nein, eigentlich nicht. All das hatte Harry ihr – meines Wissens nach – nie geboten. Wenn sie denn mal irgendwo miteinander hingingen, handelte es sich höchstens um Karnevalsveranstaltungen und der einzige Anlass für Harry, auch was anderes anzuziehen als seine ollen Jeansklamotten. Auch die anderen Pluspunkte des mir noch unbekannten Carlos, dessen Namen Esther mit jedem Satz erneut in den Mund nahm, vermochte ich auf meinen Schwager nicht umzulegen.

„Dich hat es ja ganz schön erwischt!“, stellte ich sachlich fest. „Was soll nun werden?“

„Ich weiß es nicht!“ Esther zuckte mit den Schultern. Doch ich merkte ihr deutlich an, wie aufgewühlt ihr Inneres aussah. Ob dieser Carlos der Wendepunkt in ihrem Leben war? Ich hatte keine Ahnung, was er für ein Mensch war, denn schließlich kannte ich ihn gar nicht. Aber eines stand fest: Durch Esthers rosarote Brille würde ich ihn gewiss nicht beurteilen, stünde er mir eines Tages gegenüber.

„Wie hast du eigentlich Harry kennengelernt?“, rutschte es mir so aus meinen Gedanken heraus. Zwar kannte ich Esther schon eine sehr lange Zeit, doch war es mir bisher nie in den Sinn gekommen, danach zu fragen.

„Durch eine Kontaktanzeige“, antwortete sie gelangweilt. Sie bemerkte meinen erstaunten Blick und fügte schnell erklärend hinzu: „Meine Mutter riet mir damals dazu.“

Mit allem Möglichen hatte ich gerechnet, damit nicht. Zwar war mir bekannt, dass meine Schwiegermutter auf diese Weise ihren jetzigen und fünften Ehemann an Land gezogen hatte, aber dass auch Esther …? Dafür war sie doch gar nicht der Typ.

„Im Ernst?“ Vielleicht scherzte Esther ja auch nur.

Sie scherzte nicht. „Da bist du platt, was! Kaum einer weiß das.“

Meine Sprachlosigkeit war nicht von langer Dauer. „Ich finde es halt nur ungewöhnlich.“ Mit einem gewissen Staunen setzte ich hinzu: „Für dichjedenfalls.“

Esther zuckte die Schultern.

„Und wer hat die Anzeige aufgegeben?“

„Harry“, antwortete Esther wie aus der Pistole geschossen. „Ich weiß noch, wie meine Mutter mir die Zeitung in die Hand drückte und als ich dann von dem jungen Mann las, der eine ehrliche und liebe Kameradin fürs Leben suchte, bin ich neugierig geworden und ...“

„… hast geantwortet“, vollendete ich.

„So war es.“ Esther machte die Erinnerung an die schönen, leider weit zurückliegenden Zeiten mit Harry melancholisch. „Erst habe ich mich gefragt, was mag das für einer sein, der es nötig hat, durch Zeitungsinserate eine Frau zu suchen. Aber als er dann vor mir stand, war ich richtig überrascht. Für meinen Geschmack sah er verdammt gut aus. Ich hatte sofort dieses gewisse Kribbeln und wenn wir zusammen waren, fühlte ich mich einfach nur glücklich.“

Was diese Gefühlsdinge betraf, konnte ich Esther nur zu gut verstehen. Sie suchte einfach nach Wärme und Geborgenheit wie wohl jeder Mensch. In ihrem Elternhaus wurde damit ja von jeher ziemlich gespart.

Mir war schon einiges aus der Kindheit meines Mannes bekannt, ein typisches Scheidungskind, ständig hin und her gerissen zwischen den Eltern. Esther erging es da nicht viel anders. Sie war lediglich sechs Jahre älter als Jochen und hatte das zweifelhafte Vergnügen, einen Stiefvater mehr zu erleben, denn sie war Kind von Ehemann Nummer eins und Jochen von Nummer zwei. Mit achtzehn wurde sie vor die Tür gesetzt. „Sieh zu, dass du alleine zurechtkommst, Erwin kann dich nicht ewig durchfüttern!“ So die Worte der Mutter, die sie Esther mit auf den Weg gab.

Ich kannte meine Schwiegermutter ja nun auch und meine Meinung über sie war nicht gerade die beste. In meinen Augen versprühte die Frau nur Eiseskälte und Berechnung und ich war ganz froh, dass sie gut zweieinhalb Autostunden entfernt mit Ehemann Nummer fünf und zwei weiteren Kindern in trauter Harmonie lebte. Letzteres hielt ich allerdings für ein Gerücht, denn dazu war diese Frau gar nicht fähig.

Dass Ursula Meier sich für ihre beiden Ältesten interessierte, war bislang nie zu merken, man hörte und sah kaum etwas von ihr. Allenfalls zu Weihnachten, wenn sie ihren Eltern, Opa Karl und Oma Lieschen – beide gingen auf die Achtzig zu − ungefragt die ganze Arbeit aufbrummte, die ihr Logierbesuch in der Zweizimmerwohnung samt Anhang so mit sich brachte.

Aber zurück zu Esther. Die kam nach dem Rausschmiss bei einer Freundin unter. Später versuchte sie, sich von dem schmalen Budget ihres Lehrstellengehaltes ein möbliertes Zimmer zu leisten. Zwar söhnte sie sich mit ihrer Mutter irgendwann wieder aus, aber ein Zurück gab es nicht, zumal auch der Stiefvater froh war, Esther endlich los zu sein.

In dem ganzen Schlamassel lernte sie also Harry kennen – über besagte Kontaktanzeige. Harry, der auch nicht gerade angenehme Zeiten hinter sich hatte und ebenso nach dem Menschen suchte, der ihm den nötigen Halt gab. Nach einem Jahr wurde geheiratet und bereits acht Monate später kam Corinna zur Welt. Wegen Harrys Schulden, die er in die Ehe einbrachte, mussten sie anfangs auf großen Komfort verzichten, doch nach und nach wuchs ihr Lebensstandard zu dem, der er heute war.

Harry war seiner Frau gewiss dankbar, dass sie in diesen schwierigen Zeiten zu ihm gehalten hatte, ohne sich je zu beklagen. Auf seine Weise versuchte er, Esther dafür zu entschädigen, indem er schuftete und schuftete. Doch Zeit für seine Familie gab es nicht mehr und er merkte offensichtlich nicht, dass seine Ehe dabei auf der Strecke blieb.

War es da ein Wunder, dass Esther jetzt ein Mann über den Weg gelaufen war, bei dem sie plötzlich weiche Knie bekam, wenn sie nur an ihn dachte?

***

Ich fand es selbstverständlich, das Versprechen zu schweigen, welches Esther mir abgenommen hatte, nicht zu brechen. Sie schien viel von meiner Beurteilungsfähigkeit zu halten, obwohl ich ganze sieben Jahre jünger war. Manchmal kam es mir vor, als sehe sie in mir ihre „kleine“ Schwester.

Inzwischen wusste ich ziemlich gut Bescheid über den neuen Mann in Esthers Leben. Ich stellte mir ein Bild von diesem Carlos zusammen. Natürlich war nicht gewiss, ob dieses der Wirklichkeit entsprach, aber mein Gefühl und Esthers neuer Pep sprachen Bände.

Esther brannte darauf, dass sich eine Gelegenheit ergab, bei der ich Carlos persönlich unter die Lupe nehmen sollte. Einmal spannen wir uns zusammen, ich ginge als Kundin X in seinen Laden und ließe mich über sämtliche Neuheiten auf dem Markt der medialen Elektronik aufklären.

Meine Überlegungen wanderten bereits dahin, zu welchem Zeitpunkt ich diesen Besuch bewerkstelligen wollte, als Esther mir kurzerhand mitteilte: „Brauchst du nicht mehr! Ich habe ihm gesagt, dass du eingeweiht bist.“