Schnitzeljagd in die Vergangenheit - Daniela Mimm - E-Book

Schnitzeljagd in die Vergangenheit E-Book

Daniela Mimm

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Beschreibung

Ist Wahrsagen Mumpitz? Wie sonst soll Valerie es nennen, wenn Dauerverlobter Jörg plötzlich nicht der Richtige sein soll und die Tarotkarten ihr eine Schwester verheißen, die sie gar nicht hat? Doch warum reagieren ihre Eltern so merkwürdig, als sie ihnen mitteilt, in ihre Geburtsstadt an den Niederrhein reisen zu wollen, um die Papiere für das Aufgebot zu besorgen? Valerie ahnt nicht, dass im fernen Krefeld einige unliebsame Überraschungen auf sie warten. Was eigentlich nur als erholsamer Kurztrip gedacht war, wird für sie zu einer regelrechten Schnitzeljagd in die eigene, unbekannte Vergangenheit

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Zu diesem Buch:

Die bodenständige Heidelberger Psychologin Valerie hat es doch gleich gewusst: Wahrsagerei ist Mumpitz! Wie sonst soll sie es nennen, wenn Dauerverlobter Jörg angeblich nicht der Richtige ist und die Tarotkarten ihr eine Schwester verheißen, die sie gar nicht hat?

Doch warum reagieren Valeries Eltern so merkwürdig, als sie ihnen mitteilt, in ihre Geburtsstadt Krefeld reisen zu wollen, um die Urkunden für das Aufgebot zu besorgen?

Valerie ahnt nicht, dass sie im fernen Krefeld einige unliebsame Überraschungen erwarten. Eine folgenschwere Verwechslung, ein Foto mit ihrem Ebenbild und Hinweise darauf, dass es sie ganz offensichtlich ein zweites Mal zu geben scheint … Valerie lassen die Worte der Wahrsagerin nicht mehr zur Ruhe kommen und sie beginnt, Nachforschungen anzustellen. Was sie dabei herausfindet, stürzt sie in ein wahres Gefühlsdesaster. Von nun an ist nichts mehr wie vorher. Kurzum: Der Trip nach Krefeld wird für Valerie eine Schnitzeljagd in die eigene, unbekannte Vergangenheit.

Daniela Mimm, geb. 1964, war schon im Kindesalter ein regelrechter Bücherwurm. Bereits als Zehnjährige verfasste sie eigene Geschichten. Später arbeitete sie viele Jahre in der Buchabteilung einer großen Kaufhauskette, wodurch ihre Leidenschaft für das Schreiben noch weiter geprägt wurde. Mit dem spannenden Gemisch aus tatsächlich Erlebtem und ureigener Fantasie zaubert sie auch in ihrem zweiten Roman „Schnitzeljagd in die Vergangenheit“ den Leser nicht nur selbst in die Geschichte, sondern zugleich an originale Schauplätze, die sie selbst gut kennt.

Daniela Mimm lebt mit ihrer Familie am Niederrhein.

Von Daniela Mimm ebenfalls bei BoD erschienen:

„Ehemann umständehalber abzugeben“

„Villa der Wahrheit“

„Das Kind im 13. Vollmond“

Nicht immer muss das,

was man selbst für wahr hält,

auch die Wahrheit sein …

Liebe Leserin, lieber Leser,

Inspiration zum vorliegenden Roman boten mir der selbst erlebte Besuch bei einer Kartenlegerin und die Geschichte einer Bekannten. Diese erfuhr tatsächlich erst kurz vor der Hochzeit auf dem Standesamt von ihrer Adoption und bei den folgenden Nachforschungen im Jugendamt von ihrer Zwillingsschwester.

Alle weiteren Handlungsstränge und sämtliche Namen habe ich selbstverständlich frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und keineswegs beabsichtigt.

Mit der Beigabe einer ordentlichen Prise Lokalkolorit ist, so hoffe ich, eine besonders originelle und spannende Story entstanden.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß und Entspannung bei der Lektüre.

Viele Grüße

Daniela Mimm

Inhaltsverzeichnis

Alles nur Zufall

Vergangenheit grüßt Gegenwart

Die Karte des Herzkönig

Die Karten lügen nicht

Man sieht sich immer zweimal im Leben

Nagende Wurzeln

Die andere Seite der Wahrheit

Turbulenzen

Unerwartete Post

Die ganze Wahrheit

Jede Menge Überraschungsmomente

Zukunftsweise

Alles nur Zufall

Sie werden einen Mann kennenlernen, der allerdings nicht aus ihrem Wohnort stammt!“

Wieso neigten Frauen eigentlich dazu, in depressiven Phasen ihres Lebens eine Wahrsagerin aufzusuchen? Das fragte sich nämlich Valerie genau in diesem Augenblick, als ihr Gegenüber – nennen wir dieses Frau „Sehn wir mal“ – solch aufschlussreiche Mitteilung verkündete.

„Aha“, erwiderte Valerie, ein wenig spöttisch und nicht wirklich überrascht. „Können Sie denn auch sehen, woher er kommt?“ War ihr doch von vornherein klar gewesen, dass das hier alles Humbug war.

Frau „Sehn wir mal“ blickte sie undurchlässig an, jedoch umspielte ein kleines Grinsen ihre Mundwinkel.

Valerie schalt sich selbst. Wie war sie nur auf die hirnverbrannte Idee gekommen, eine wildfremde Frau aufzusuchen, die sich Wahrsagerin titulierte? Das hieß, genau genommen bevorzugte Frau „Sehn wir mal“ den Ausdruck Lebensberaterin. Was sie allerdings nicht davon abhielt, Valerie knapp fünfzig Euro abzuknüpfen für die verbale Aussicht, dem Märchenprinzen über den Weg zu laufen, den es letztendlich doch gar nicht gab. Und auch wenn der Märchenprinz bei Frau „Sehn wir mal“ Herzkönig hieß und ganz offenkundig ziemlich oben auf dem Kartenstapel nur auf Valerie zu warten schien – die jedoch glaubte Frau „Sehn wir mal“ kein Wort und ärgerte sich im Stillen, dass der Mumpitz auch noch so viel kostete.

„Du musst unbedingt zu der „Sehn wir mal“ gehen!“, hörte Valerie im Geiste die Stimme ihrer Freundin Tina. „Glaub mir, die Frau versteht was von ihrem Handwerk.“

Nur fragte Valerie sich mittlerweile, wie Tina und sie überhaupt auf dieses Thema zu sprechen gekommen waren. Gut, sie fühlte sich in der letzten Zeit manchmal ein bisschen niedergeschlagen und hatte damit gleichzeitig das Empfinden, dass irgendetwas in ihrem Leben nicht stimmte.

Ein merkwürdiges Gefühl für eine Frau wie sie, die doch eigentlich mit beiden Beinen fest im Leben stand. Doch es gelang Valerie nicht, dieses negative Gefühl zu sondieren und je mehr sie es versuchte, desto häufiger ging es ihr mies.

„Vielleicht sollte ich besser erst mal zu meiner Frauenärztin gehen“, hatte Valerie Tina entgegnet. Doch die sah sie nur mitleidig an und sagte dann etwas, das Valerie seitdem nicht mehr aus dem Kopf ging: „Glaubst du im Ernst, dass dein Hormonhaushalt Schuld an deiner Deprischiene hat? Ich glaube, du solltest eher mal darüber nachdenken, ob du Jörg wirklich heiraten willst!“

Wie kam Tina nur darauf, dass sie sich das noch einmal überlegen sollte? Jörg und sie passten doch perfekt zusammen, kannten sich seit Kindertagen, beide Eltern waren miteinander befreundet und auch beruflich harmonierten sie vorzüglich miteinander. Jörg, der Allgemeinmediziner mit eigener Praxis und sie, Valerie, die Psychologin bildeten zusammen ein perfektes Team.

Und jetzt saß sie hier bei dieser Frau „Sehn wir mal“, die ihr gerade erklärte, den Mann fürs Leben erst noch kennenzulernen?

„Woher er kommt“, holte Frau „Sehn wir mals“ Stimme Valerie aus ihren Gedanken zurück, „kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, aber ich sehe, dass zwischen Ihnen räumlich eine große Entfernung liegt!“ Dann setzte sie noch mit jenem Geheimnis umwobenen Nachdruck, der Wahrsagerinnen angeblich so eigen war, hinzu: „Noch! Aber das wird sich ändern. Und zwar bald, sehr bald schon! Es kann sein, dass gar nicht mal er es ist, der zu Ihnen kommt, sondern Sie zu ihm. Wir werden sehn!“

Valerie blickte erstaunt und schluckte, als Frau „Sehn wir mal“ eine ganz bestimmte Tarotkarte zur Hand nahm, diese eingehend betrachtete und dann mit fester Überzeugung kundtat: „Momentan leben Sie zwar in einer festen Beziehung, doch ist dieser Mann nicht Ihr Herzkönig! Jeder von Ihnen hat eine eigene Wohnung und die Zeit, die Sie brauchen, um zu ihm zu kommen, beträgt nicht länger, als eine Tiefkühlpizza zum Aufbacken braucht.“

Frau „Sehn wir mal“ zählte offenbar zum humorigen Teil ihrer Spezies. Keinesfalls war sie eine von denen, die auf der Kirmes mit glitzernder Wahrsagerkugel, gebuckelter schwarzer Katze auf der Schulter und in bodenlangem, dunklen Glitzergewand in ihren Wohnwagen einluden, um einem die Handlinien zu inspizieren.

Im Gegenteil! Valerie sah sich um. Sie saßen auf einer gemütlichen Eckbank in einem äußerst geschmackvoll eingerichteten Esszimmer, das zum Erdgeschoss eines schmucken Einfamilienhauses gehörte. Frau „Sehn wir mal“ besaß wahrscheinlich noch nicht einmal eine Katze. Dafür flatterten zwei Wellensittiche in einem riesigen Käfig herum, der an einer Eisenkette vom Haken an der Zimmerdecke herunterhing. Vor Valerie stand eine Tasse mit aromatisch duftendem Kaffee – war in den fünfzig Euro wohl inklusive – und eine Plätzchendose zum gefälligen Hineingreifen.

„Mit oder ohne Vorheizen?“, fragte Valerie ironisch, aber innerlich doch irgendwie ziemlich erschrocken. Besser, sie redete sich schnellstens ein, dass solche Aussagen zum Standard einer Frau „Sehn wir mal“ gehörten.

Die aber schaute Valerie einen Augenblick irritiert an. Wahrscheinlich war sie bereits dabei, ihr eine prunkvolle Hochzeit samt folgenden Kinderchen zu verkaufen und nicht darauf vorbereitet, eine Klientin vor sich sitzen zu haben, die ihre Worte in Frage stellen könnte.

Schon im nächsten Moment lief es Valerie kalt über den Rücken. Frau „Sehn wir mal“ blickte ihr durchdringend in die Iris und erklärte mit einer Bestimmtheit, an der es nichts zu rütteln gab: „So lange, wie man von Emmertsgrund bis rüber nach Handschuhsheim eben braucht, je nachdem, wie stark der Berufsverkehr in unserem schönen Heidelberg gerade ist und welche Strecke Sie fahren!“

Valerie wurde blass. Woher wusste Frau „Sehn wir mal“, in welchen Stadtteilen Jörg und sie wohnten? Von Tina etwa? Das wäre wenigstens eine greifbare Erklärung gewesen, aber Valerie wusste ganz sicher, dass die Freundin nie etwas hinter ihrem Rücken bereits im Vorfeld über sie preisgeben würde. Ganz abgesehen davon, hatte sie ihr noch gar nichts von dem heutigen Besuch hier gesagt.

Valeries Spott, mit dem sie Frau „Sehn wir mal“ bis jetzt insgeheim bedachte, zerfloss augenblicklich in seine Bestandteile. Die Wahrsagerin konnte Jörg sogar bis ins Detail beschreiben. Sie sah ihn genau vor sich: seine blonden, mit dunklen Strähnen durchzogenen Haare, die stahlblauen Augen, den Stoppelbart am Kinn, der Valerie ständig nervte, weil er so kratzte, Jörgs einhundertneunziger Statur und seine Vorliebe für Bluejeans und Sakko. Plötzlich nahm das, was Frau „Sehn wir mal“ ihr zu sagen hatte, für Valerie eine ganz andere Bedeutung an.

„Die meisten saugen sich irgendwas aus den Fingern und erzählen dir einfach nur, was du hören willst. Die „Sehn wir mal“, die ist wirklich anders“, tönte wieder Tinas Stimme in ihr.

Valeries Hand zitterte leicht, als sie die Kaffeetasse an die Lippen setzte. Moment, es gab ja schließlich noch die Möglichkeit, dass die „Sehn wir mal“ Jörg vielleicht kannte?! Nein! Den Gedanken verwarf Valerie im selben Moment, wie er gekommen war. Jörg hielt absolut nichts von Wahrsagerinnen, er würde niemals eine aufsuchen. Und wenn es sich um eine Bekannte handelte, so hätte sie das doch wohl längst mitbekommen.

„Ihr Herzkönig ist dunkelhaarig, hat tiefgründig dunkle Augen und ein Muttermal auf dem rechten Oberschenkel. Aber da ist noch etwas …“, wieder folgte eine geheimnisvolle Pause, „ich sehe ein Kind in seiner unmittelbaren Nähe … ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen.“

Valerie verschluckte sich und musste husten. „Aha. Und die Mutter?“, hielt sie nach. Die Ungläubigkeit in ihrer Stimme war kaum zu überhören. „Was ist mit der Mutter? Hält die sich auch in der Nähe auf?“ Hilfe, was machte sie bloß hier?

„Nein!“ Frau „Sehn wir mal“ schüttelte resolut den Kopf. „Die Mutter des Kindes kann ich nirgends entdecken. Das Orakel sagt aus, dass sie entweder weit weg im Ausland lebt oder verstorben ist.“

Ein Cognac wäre Valerie jetzt wesentlich lieber gewesen. Das Zeug hätte sie in einem Zug heruntergekippt. Hier taten sich ja wirklich merkwürdige Neuigkeiten auf, die allerdings sämtliche Magenwände in ihr berührten.

„Doch kann ich nicht mit Bestimmtheit angeben, ob es sein Kind ist oder das einer Verwandten. Auf jeden Fall aber steht es ihm emotional sehr nahe. Wir werden hierzu später noch ein wenig in die Tiefe gehen …“

Frau „Sehn wir mal“ nahm den gesamten Kartenstoß in die Hände und übergab ihn an Valerie. „Bitte mischen Sie einmal gründlich und zerlegen dann anschließend, mit der linken Hand und geschlossenen Augen, in drei Stapel.“

Valerie tat wie ihr geheißen. Kaum hatte sie die Karten abgelegt, drehte Frau „Sehn wir mal“ sie rasch um, so, dass sie mit der Rückseite nach oben zeigten.

„Nun öffnen Sie bitte wieder die Augen! Was Sie vor sich sehen, sind die drei Zeitenstapel, Symbole für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Schließen Sie nun bitte erneut die Augen und ziehen mit der linken Hand vom mittleren Stapel drei Karten heraus.“

„Irgendwelche?“, hakte Valerie unbeholfen nach.

„Irgendwelche!“, echote die Wahrsagerin zustimmend.

Valerie befolgte die Anweisung mit gemischten Gefühlen.

„So, nun dürfen Sie wieder schauen! Legen Sie die drei Karten mit dem Bild nach oben bitte nebeneinander aus!“

Valerie registrierte, wie diese merkwürdige Unruhe immer mehr von ihr Besitz nahm und haderte erneut mit dem, was da gleich zutage kommen würde.

Frau „Sehn wir mal“ bemerkte es wohl und lächelte ihr aufmunternd zu. „Keine Angst, meine Liebe! So schlimm, wie Sie jetzt vielleicht denken, wird es nicht.“

Wusste sie zu dem Zeitpunkt wirklich noch nicht, was Valerie im Laufe dieser Sitzung ereilen würde?

„Zunächst leuchten wir nun also etwas gründlicher als bereits eingangs in Ihre Gegenwart.“ Seelenruhig betrachtete Frau „Sehn wir mal“ die von Valerie gezogenen Tarotkarten. Diese zeigten irgendwelche eigenartigen Hintergrundbilder mit merkwürdigen Titelbeschriftungen.

„Sie befinden sich in einem emotionalen Dilemma, tragen momentan schwer an einer Entscheidung“, tippte die Wahrsagerin ganz richtig. „Bitte ziehen Sie noch eine Karte!“

Valerie zog und Frau „Sehn wir mal“ forschte geradeheraus: „Sie sind sich nicht sicher, ob es richtig ist, Ihren Verlobten zu heiraten?“

Valerie war völlig perplex und nickte nur.

„Was sich ergibt, werden wir später befragen!“, erklärte die Wahrsagerin und legte die Karten zunächst beiseite. „Gehen wir erst in Ihre Vergangenheit! Wir wiederholen die Schritte beim Ziehen dreier Karten, diesmal vom linken Stapel!“

Wiederum schloss Valerie flüchtig die Lider, während sie Frau „Sehn wir mals“ Aufforderung nachkam. Als sie sie dann erneut öffnete, glaubte sie einen Moment lang, Verblüffung im Gesicht der Wahrsagerin zu erkennen. Doch sie musste sich getäuscht haben, denn Frau „Sehn wir mal“ lächelte sie unverändert an.

„Aha, ein kleines Kind und der Spiegel. In Verbindung mit der ersten Karte deute ich … Augenblick …!“ Plötzlich kniff sie die Augen zusammen, tippte mit dem Zeigefinger gegen die Karte, legte die Stirn in Falten und rief in hohem Ton: „Bitte noch eine weitere … schnell … bevor es weg ist!“

Valerie fuhr es siedendheiß den Rücken herunter. Was meinte sie mit es? Ihre Eingebung? Valerie bemühte sich, ruhig zu bleiben und entnahm das nächste Blatt. Darauf stand: ein großes Haus.

„Okay, jetzt hab ich es!“ Frau „Sehn wir mal“ richtete sich kerzengerade auf. „Bei diesem Kind muss es sich um Ihre Schwester handeln. Zwillinge, ich sehe eindeutig Zwillinge! Die nahe Verwandte könnte Ihrer beider Mutter darstellen oder aber auch eine Großmutter. Sie tut Ihnen nicht gut! Das große Haus dürfte für ein Krankenhaus oder ein ähnliches Gebäude stehen.“

„Wie bitte?“ Valerie hatte plötzlich das Gefühl, irgendetwas schnüre ihr die Kehle zu.

„Ich lese es ganz genau!“, beharrte Frau „Sehn wir mal“ auf ihrer Erkenntnis. „Diese Frau hat Abscheuliches getan. Sie jedoch haben es in der Hand, die Dinge anzunehmen, wie sie sind. Ein Augenpaar, so fremd und doch so vertraut, wacht über Ihrem Weg.“

„Das ist ja wohl absoluter Quatsch“, Valerie sprang erbost auf, „und das Unverschämteste, was mir je zu Ohren gekommen ist!“ Alles in ihr wehrte sich, das, was sie gerade zu hören bekam, auch noch für bare Münze zu nehmen. Schlagartig überfiel Valerie die Enttäuschung. Also spann diese Kartentante doch nur herum und das auch noch auf ihre Kosten! Fremde Augen wachen über Ihrem Weg? So ein Nonsens! Wütend griff sie nach ihrer Handtasche und stieß dabei so heftig mit dem Unterarm an die Tischkante, dass ihr Kaffeegedeck wackelte und die Tasse zum Umstürzen brachte. Der Rest des Inhaltes ergoss sich quer über die Tischdecke.

„So beruhigen Sie sich doch bitte! Liebe Frau van der Linden, ich … bitte …!“ Erschrocken über die unerklärlich heftige Reaktion ihrer Klientin versuchte Frau „Sehn wir mal“, während sie das Malheur mit einem Tuch bereinigte, diese zu beschwichtigen. „Es tut mir außerordentlich leid, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Aber bitte sagen Sie mir doch, was ich falsch gemacht habe!“

Valerie starrte ihr Gegenüber an, als sei sie von einem fernen Planeten. Die Worte kamen schroff über ihre Lippen. „Stellen Sie sich mal vor, ich habe überhaupt keine Schwester! Und ich bin enttäuscht! Erst lullen Sie mich ein und ich glaube auch noch jedes Wort und dann kommen Sie mir mit diesen unglaublichen Dingen.“

Frau „Sehn wir mal“ zeigte sich tief getroffen. „Erlauben Sie mir die Feststellung, dass nicht alles, was Sie für wahr halten, zwangsläufig auch die Wahrheit sein muss. Ich habe Ihnen nichts anderes aufgezeigt, als ich in den Karten las. Sicher sind gerade Sie ja nicht hierher zu mir gekommen, um zu hören, was Ihnen momentan am liebsten wäre. Oder sollte ich mich in dieser Hinsicht so getäuscht haben? Doch, und es tut mir nochmals leid, Ihnen das sagen zu müssen, dann sind Sie bei mir wirklich falsch!“ Frau „Sehn wir mal“ blickte Valerie eindringlich an und setzte noch beleidigt hinzu: „Ich nehme mein Handwerk nämlich ernst!“

Wieso fühlte sie sich plötzlich so beschämt? Valerie sank zurück auf ihren Platz und haderte mit sich. War es nicht besser, einfach zu gehen und das Ganze zu vergessen? Doch da gab es etwas, das sie zurückhielt, sie nahezu zwang, dieser Frau weiterhin zuzuhören bei dem, was sie ihr orakelte.

„Ich glaube, wir beide könnten jetzt ein Schnäpschen vertragen“, versuchte Frau „Sehn wir mal“ einzulenken, denn sie sah Valerie natürlich an, dass sie momentan vollkommen durcheinander war. Schlagartig kam ihr in den Sinn, dass es da im Leben ihrer Klientin Umstände geben mochte, von denen diese gar keine Ahnung zu haben schien. Doch das behielt sie jetzt wohl besser für sich.

„Darf ich Ihnen eins anbieten?“ Ohne Valeries Antwort abzuwarten, ging sie hinüber zu der breiten Schrankwand und öffnete das Barfach. Sie holte eine Flasche Likör heraus und stellte sie auf den Tisch. Dann füllte sie zwei Gläser weit über die Markierung und schob eines davon Valerie hin. „Zur Schadensbegrenzung!“

„Danke.“ Valerie spürte, wie ihr das Zeug die Kehle hinunter rann und den Mageneingang erreichte. War in der Flasche auch wirklich das, was drauf stand? Oder hatte Frau „Sehn wir mal“ am Ende gar einen selbst gemixten Zaubertrank hineingefüllt, der dazu diente, dass sie von nun an alles glaubte, was die Karten ihr angeblich suggerierten? Bei dem Gedanken musste sie jetzt unvermittelt kichern. Kein Wunder, sie vertrug nämlich keinen Alkohol.

Frau „Sehn wir mal“ lächelte nun wieder und schaute Valerie abbittend an. „Wissen Sie, ich möchte keinesfalls, dass Sie unzufrieden mit mir sind.“ Sie ließ die Worte langsam fließen, damit Valerie sie auch bewusst aufnahm. „Ein schlechter Leumund meiner Tätigkeit, und ich kann alles an den Nagel hängen. Deshalb sehe ich es als meine Pflicht an, meinen Klienten nicht irgendeinen Nonsens aufzutischen, sondern bemühe mich, soweit es mir möglich ist, Tatsachen zu bringen. Wenn ich Ihnen nun vorhin gegen meine Absicht etwas gesagt haben sollte, dass mich Lügen straft, so …“

„Ist schon gut“, winkte Valerie ab. „Ich habe einfach dumm reagiert, weil …“ Ja, weswegen eigentlich? Sie neigte doch sonst nicht so leicht dazu, auszurasten. Und das bloß, weil eine Wahrsagerin ihr eine Schwester andichtete, die es gar nicht gab? Schließlich war sie als Einzelkind aufgewachsen und ihre Mutter hatte auch nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie aus gesundheitlichen Gründen keine weiteren Kinder bekommen konnte. Dabei hätte Valerie sich so sehr eine Schwester gewünscht. „Sie haben mir eben auf eine eigenartige Weise einen gehörigen Schrecken eingejagt!“

„Das lag nicht in meiner Absicht. Bitte verzeihen Sie!“, antwortete Frau „Sehn wir mal“, die den Vorfall zutiefst bedauerte. „Möchten Sie die Sitzung abbrechen?“

„Nein, nein, ich möchte weitermachen!“ Valerie wunderte sich selbst über ihre Antwort, denn eigentlich wollte sie doch lieber schleunigst hier weg. Aber es war, als ob eine unbekannte Macht sie davon abhielt. „Eine Frage hätte ich allerdings …“

Frau „Sehn wir mal“ blickte sie abwartend an. „Fragen Sie nur!“

„Sie beschreiben meine Gegenwart, als würden Sie mich persönlich kennen, obwohl wir uns nie zuvor begegnet sind. Das hat mir schon einen gewissen Respekt eingeflößt, denn damit hab ich natürlich nicht gerechnet …“ Valerie schluckte. „Aber wieso hapert es dann so abstrakt in meiner Vergangenheit? Entschuldigen Sie, wenn ich das jetzt so sage, aber da fühle ich mich doch ziemlich auf den Arm genommen!“

Frau „Sehn wir mal“ nickte verstehend. „Aus Ihrer Sicht vollkommen verständlich. Ich kann nur noch einmal versichern, dass es mir leid tut. Aber …“, es folgte eine kurze, doch sehr bedeutungsvolle Pause, „ich sehe diese Bilder in Ihrer Vergangenheit so, wie ich sie beschrieben habe. Wenn Sie die Zusammenhänge nicht verstehen … ich kann es natürlich erst recht nicht. Doch das führt zu nichts, denn ich merke, dass Sie mir keinen Glauben schenken.“ Sie studierte Valeries Mimik. „Lassen Sie uns nun also besser über die Zukunft sprechen …“

Sichtlich nervös griff Valerie jetzt in die Plätzchendose, die vor ihr auf dem Tisch stand.

„Wir wiederholen den Vorgang mit den drei zu ziehenden Karten, nur diesmal bitte vom rechten Stapel“, wies Frau „Sehn wir mal“ sie an. „Eine Besonderheit ist hierbei allerdings zu beachten … bei jedem einzelnen Blatt überlegen Sie sich bitte eine Frage, Ihre Zukunft betreffend, die Sie mir im Anschluss stellen.“

„Aber was soll ich denn fragen?“ Valerie fiel jetzt so auf Anhieb gar nichts ein, was sie hätte anbringen können. Stattdessen versuchte sie, sich mit der Zunge die hartnäckigen Kekskrümel zwischen den Zähnen wegzudrücken.

„Es gibt doch bestimmt etwas, das Ihnen wichtig ist und zu dem Sie sich schon lange Gedanken machen“, half die Wahrsagerin ihr.

Valerie zog die Karten, legte sie offen nebeneinander und plötzlich sprudelte es einfach so aus ihr heraus: „Werden mein Verlobter und ich wirklich heiraten?“ Da waren immer noch Tinas Worte, die ihr im Kopfe herumspukten. „Werde ich die von mir geplante Praxiserweiterung vornehmen können?“ Jetzt wartete Valerie besonders gespannt auf die Vorsehung, denn nun ging es um Angelegenheiten, die bisher einzig und allein am finanziellen Aspekt scheiterten. „Werde ich irgendwann den Traum vom Hausbau an den Ufern des Neckars realisieren?“

Frau „Sehn wir mals“ Miene zeigte wieder diesen undurchdringlichen Ausdruck. Sie ließ die Kartenbilder eine Zeit lang auf sich wirken und das – wie es schien – mit geschlossenen Augen. Es sah aus, als meditiere sie. Dann überzog ein feines Lächeln ihre Züge. „Okay, eins nach dem anderen. Eins und zwei ergeben drei. Ihr Verlobter und Sie werden tatsächlich heiraten, aber …“ Sie stockte, schien zu überlegen. „Auch auf die Gefahr hin, dass ich Ihnen schon wieder etwas sagen muss, das Sie mit Sicherheit nicht hören wollen … anders, als geplant!“

„Wie … anders?“ Valerie verstand nicht, was sie meinte.

„Wie ich schon sagte, Ihr Verlobter ist nicht Ihr Herzkönig!“

„Aha! Und bitte, was heißt das nun im Klartext?“ Wieder spürte Valerie dieses eigenartige Gefühl in sich hochsteigen. Sie vermochte es nicht recht zu definieren, wusste nur, dass es ihre Fassung erneut zum Wanken brachte.

„Ich kann und möchte Ihnen nicht vorschreiben, was Sie tun sollen. Doch gebe ich Ihnen gerne den Rat: Überlegen Sie genau, was wirklich gut für Sie ist. Sonst werden Sie nicht glücklich. Der wahre Herzkönig wartet bereits!“

Valerie schluckte schwer. Doch diesmal rastete sie nicht aus, sondern ließ die Worte auf sich wirken. Zum ersten Mal stellte sich ihr Innerstes ganz klar die Frage, warum sie die bevorstehende Heirat immer wieder aufschob. Und plötzlich fiel ihr etwas auf: Jörg selbst schien es ebenfalls gar nicht so eilig damit zu haben. Wenn man es genau betrachtete, so waren es eigentlich nur seine Eltern, die ständig nachbohrten, wann denn endlich der Termin stünde. Nicht mal Mom und Paps, die ja schon seit Ewigkeiten mit Horst und Alice Ramers befreundet waren, verloren ein Wort darüber. Sie störte es offensichtlich überhaupt nicht, dass das junge Paar sich anscheinend lieber noch Zeit lassen wollte. Ja, genau genommen verharrten ihre eigenen Eltern in einer Art Warteposition, so, als ob sie einen noch lange andauernden Aufschub geradezu wünschenswert empfanden.

Frau „Sehn wir mals“ weitere geheimnisvolle Prophezeiung wäre beinahe an Valerie vorbeigegangen, so sehr versank diese in dem völlig neu betrachteten Gedanken.

„Gen Norden weist der Weg, Verwirrung in der Ferne, Berg und Tal in der Ebene … Sie werden an einen Ort reisen, der weit von Heidelberg entfernt liegt. Ihre Praxis wird dort sein und …“, Frau „Sehn wir mal“ zog wissend die Stirn kraus, „Sie treffen dort auf Menschen, die etwas mit Ihren Wurzeln zu tun haben!“

Sollte Frau „Sehn wir mal“ nun damit gerechnet haben, dass Valerie bei dem Wort Wurzeln wieder erbost reagierte, so konnte sie beruhigt sein.

„Ja, das kann ich insoweit nachvollziehen“, bestätigte Valerie, „denn ich muss demnächst an den Niederrhein in meine Geburtsstadt, meine Abstammungsurkunde besorgen.“ Jetzt grinste sie sogar und erklärte mit einem gewissen Triumph in der Stimme: „Die brauche ich nämlich für das Aufgebot!“

„Natürlich!“ Frau „Sehn wir mal“ nickte, doch in ihrem Gesicht spiegelte sich das bessere Wissen wider.

Valerie wollte sich irgendwie nicht die Blöße geben, einfach aufzustehen und so die Sitzung tatsächlich zu beenden. Sie dachte an die fünfzig Euro, die sie eh schon zum Fenster herausgeschmissen hatte. Also konnte sie sich getrost auch noch den Rest von dem Quatsch anhören. Sie beschloss, die Aussagen der Wahrsagerin nun einfach nicht mehr ganz so ernst zu nehmen.

Schon als Valerie die Wohnungstür aufschloss, drang ihr das Klappern von Geschirr entgegen, untermalt mit melodischem Gesumme einer wohl vertrauten Stimme.

„Mom?“ Valerie war überrascht, als sie den Kopf durch die Küchentür steckte und ihre Mutter an der Spüle hantieren sah.

„Kind, da bist du ja!“ Hilla van der Linden lächelte der Tochter freudig entgegen und legte für einen Augenblick das Geschirrtuch zur Seite, um Valerie, wie sie es immer tat, begrüßend zu drücken.

„Sag mal, hast du Langeweile zu Hause?“, frotzelte Valerie der kleinen, rundlichen Person zu, die jetzt den Tellerstapel vom Küchentisch in den Hängeschrank balancierte.

Hilla lachte, doch es klang einen Ton zu schrill. „Nein Kind, das ganz gewiss nicht. Aber ich musste mal raus. Dein Vater … na, du weißt schon …“

Ja, Valerie ahnte, was ihre Mutter meinte. Paps ging ihr offensichtlich mal wieder – auf Deutsch gesagt – auf die Nerven. Seit er nicht mehr arbeitete und stattdessen eigentlich seine Pension genießen sollte, haperte es mit dem einst harmonischen Eheleben.

Eigenartig. Jetzt, wo sie ihre Mutter in ihrer Küche herumhantieren sah, hatte sie plötzlich das fragwürdige Gefühl, eine Fremde vor sich zu haben. Vielleicht lag es daran, dass sie, Valerie, nicht der Mensch war, der einfach den Kopf so leicht in den Sand steckte, indem er dem Chaos im eigenen Leben den Rücken kehrte, um dann eines in den Küchenschränken von jemand anderem zu verrichten. Natürlich meinte Mom es nur gut, wenn sie ihren überschüssigen Drang zur Ordnung nun auch in der Wohnung der Tochter ausließ, aber damit änderte sie doch nichts an ihrer eigentlichen Situation.

„Warum redest du nicht mal mit Paps?“, fragte Valerie vorsichtig. „So kann das doch nicht weitergehen.“

„Ach, Kind.“ Hilla winkte nur ab. Ihre Stimmung des eben noch freudigen Summens einer Melodie war abrupt verflogen. „Als wenn ich das nicht schon bereits unzählige Male versucht hätte ...“

„Und?“ Valerie ließ nicht locker.

Hilla zuckte die Schultern. „Nichts und! Er lässt meine Worte gar nicht an sich heran. Statt sich ein Hobby zuzulegen oder vermehrt Sport zu treiben, nimmt er mir jetzt einfach ungebeten alle Aufgaben aus der Hand, die ich seit mehr als vierzig Jahren für ihn ganz selbstverständlich verrichte.“ Sie schluckte die aufsteigenden Tränen mühsam hinunter. „Plötzlich ist ihm nichts mehr gut genug, was ich mache …“

Seit Valerie denken konnte, lebte ihr Vater für seine Arbeit. Es fiel ihm immer schon schwer, einfach mal abzuschalten. Weder abends noch am Wochenende, ja, nicht einmal, wenn sie im Urlaub gewesen waren. Paps wurde von jeher von einer unerklärlichen, inneren Unruhe getrieben. Er brachte es beispielsweise auch nicht fertig, einfach nur mal zehn Minuten im Liegestuhl am Strand zu verbringen. Sofort strebte er nach irgendeiner Betätigung und erwartete, dass Frau und Tochter seinem Drang folgten. Valerie erinnerte sich noch heute an die zwei Wochen Familienurlaub auf Ibiza: Tretboot, Wasserski, Banane, Jet-Ski, Wettschwimmen zur Boje, Tauchkurs, Inselrundfahrt, Bikertour und … und … und. Damals war Valerie sechzehn und wäre liebend gern auch nur ein einziges Mal alleine um die Häuser gezogen. Das aber hatte Paps ihr knallhart versagt. Jeder Versuch diesbezüglich schlug ins Leere.

So war Paps eben. Immer gewohnt, zu erlauben oder zu verbieten, anderen Anweisungen zu geben. Das brachte sein Beruf als technischer Dezernatsleiter mit sich.

Nun aber hatte die Rente ihn eingeholt und er schaffte es einfach noch nicht, sich der neuen Situation zu stellen.

Klar, in der heutigen Zeit mitsamt Krise mochte es kaum noch jemanden geben, der arbeitete, um zu leben. Es war wohl eher andersherum. Man lebte nur noch, um zu arbeiten, verzichtete unter Umständen auf ein volles Gehalt, machte so manche Zugeständnisse, nur um seinen Job überhaupt behalten zu können. Bei Paps allerdings bestimmte genau dieser Zustand sein gesamtes Leben. Er lebte nur für seine Arbeit, die Familie stand bei ihm an zweiter Stelle. Was nicht heißen sollte, dass er Frau und Tochter vernachlässigte, nein, er versuchte die ständige Gratwanderung mit solch übermäßigem Geschick, dass schon manch einer dachte, er wird nicht lange etwas von seinem künftigen Ruhestand haben, wenn er so weiter machte.

„Kannst du dir vorstellen, dass er alles, aber auch alles überprüft, was ich tue?“ Hilla sah ihre Tochter Hilfe suchend an. „War ich mit dem Auto unterwegs, untersucht er es sofort nach Kratzern. Verlasse ich einen Raum, sieht er nach, ob ich die Zimmertür zugemacht und zuvor das Licht ausgeschaltet hab. Beim Einkaufen meckert er im Laden, lege ich etwas in den Wagen, das nicht auf dem Zettel steht. Und abgesehen davon … ohne Einkaufsliste geht sowieso schon gar nichts mehr!“ Hillas Stimme schwoll an. Sie merkte, wie sich bei der Aufzählung die Wut in ihr breit machte. „Ich … ich fühle mich manchmal so … so dermaßen erniedrigt. Wie ein Kind, das Schelte bekommt.“ Hilla sah plötzlich wie ein Häufchen Elend aus, konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.

Valerie starrte sie ungläubig und mitleidig zugleich an. Dass der Zustand inzwischen so ausartete, damit hatte sie nicht gerechnet. „Ach Mom“, seufzte sie und nahm Hilla einfach in den Arm. Valerie spürte, wie sich der Körper ihrer Mutter unter Schluchzen wand.

Doch was sollte sie nun tun? Reichte es, der Mutter gut zuzureden? Sollte sie mal ein ernstes Wörtchen mit ihrem Vater sprechen? Sie selbst hatte von seinem geänderten Wesen in dieser Fassung noch nicht ganz so viel zu spüren bekommen. Paps war hin und wieder ziemlich unleidlich, ja, aber sonst? War es nicht komisch? Da nannte sie selbst sich Psychologin und machte Therapien mit Hinz und Kunz, doch bei den eigenen Eltern stand sie plötzlich wie der Ochs vorm Berge. Hier war guter Rat wirklich teuer. Wie konnte sie nur helfen?

Zunächst wohl am besten mit einem Taschentuch.

„Danke, mein Kind“, ächzte Hilla kläglich und schnäuzte sich die Nase. Dann fiel ihr ein: „Tina hat übrigens angerufen.“

„Hast du mit ihr gesprochen?“, fragte Valerie und hoffte im Stillen, dass dies nicht der Fall war und die Freundin auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte. Doch warum eigentlich? Mom war keine Fremde und sie kannte Tina. Da war es doch nichts Ungewöhnliches, wenn die beiden zufällig miteinander sprachen.

Irgendwie schien das heute ein merkwürdiger Tag zu sein. Worüber machte sie sich jetzt eigentlich schon wieder so einen Kopf? Tina wollte doch bestimmt nur wissen, ob es bei ihrer Verabredung für morgen Abend blieb, weil sie, Valerie, angedeutet hatte, noch Patientenberichte schreiben zu müssen.

„Ja, aber nur kurz.“ Hilla hatte sich scheinbar gefangen. Ihre Stimme klang wieder normal. „Sie bat mich, dir auszurichten, du möchtest bitte zurückrufen. Und …“, versetzte Hilla mit Nachdruck, „es sei dringend!“

„Aha“, antwortete Valerie und rätselte, was es bei Tina wohl so Dringendes geben mochte. Doch hatte sie jetzt keine Zeit, um das in Erfahrung zu bringen. Erstmal musste sie sich um ihre Mutter kümmern.

„Was hältst du davon, wenn wir beide nachher zum Italiener gehen und uns einen netten Abend machen?“, schlug Valerie vor, in der Hoffnung, diese damit auf andere Gedanken zu bringen. „Ich lad dich auch ein.“

Ein zartes Lächeln überzog Hillas verheultes Gesicht. „Danke, mein Kind. Lieb von dir, dass du mir ein wenig Ablenkung verschaffen willst, aber …“, sie stockte, schien zu überlegen, „ich denke, es ist besser, nach Hause zu fahren.“ Abbittend sah sie ihre Tochter an. „Du bist mir doch nicht böse?“

„Quatsch, Mom, natürlich nicht!“, wehrte Valerie erschrocken ab. „Dann holen wir das eben ein andermal nach, ja?“

Hilla schien erleichtert. Sie war nicht der Typ, der andere Menschen vor den Kopf stieß. Vor allem dann nicht, wenn gerade jene sich den ihren um sie machten. So wie Valerie im Moment.

„Du weißt, ich würde liebend gerne mit dir essen gehen, aber ich kann nicht.“ Hilla war anzusehen, dass sie dies wirklich gern getan hätte. „Dein Vater mag es nicht, alleine zu sitzen und …“ Sie brach ab.

„Ist gut, Mom, ich kann es mir schon denken.“ Valerie rang um Fassung. Offensichtlich hatte sich ihr Vater in dem halben Jahr, in welchem er nicht mehr seiner geregelten Arbeit nachging, selber vom Mann zum Kind degradiert. Natürlich war ihr schon aufgefallen, dass etwas in ihrem Elternhaus im Argen lag. Nicht einfach so kam ihre Mutter mittlerweile beinahe schon fast jeden zweiten Tag, um ihre häuslichen Fähigkeiten in der Wohnung ihrer Tochter auszuleben. Das hatte sie vorher schließlich auch nicht getan.

Es schien klar: Ihre Mutter flüchtete, weil ihr Vater, statt in sein Leben neue Struktur zu bringen, lieber das seiner Frau durcheinander brachte. Wieder überlegte Valerie, was sie tun konnte, um den Eltern zu helfen. Schließlich war ja sie die Psychologin in der Familie.

„Was hältst du denn von einem Stadtbummel?“, überkam es Hilla spontan und mit plötzlicher Vorfreude. „Den haben wir schon lange nicht mehr zusammen gemacht. Wie wäre es mit Samstag?“

„Du, das tut mir leid, aber ich bin am Wochenende nicht hier“, entgegnete Valerie und bedauerte sehr, dass jetzt sie es war, die ihrer Mutter einen Korb geben musste.

„Verreist ihr?“, fragte Hilla erstaunt und meinte mit ihr eindeutig Valerie und Jörg. „Hast du mir ja gar nichts von gesagt.“

„Hätte ich schon noch gemacht, Mom!“, versprach Valerie und fühlte sich sofort wieder wie ein Kind, das vergessen hat, etwas Wichtiges zu erzählen.

„Wo fahrt ihr denn hin?“, bohrte Hilla neugierig.

„Nicht wir. Ich!“, erklärte Valerie. „Jörg fährt nicht mit.“

„Du fährst alleine?“ Hilla verstand die Welt nicht mehr. „Stimmt irgendwas nicht mehr zwischen euch?“

„Quatsch, Mom!“, wehrte Valerie ab. Eine Spur zu heftig, wie sie sich selbst eingestehen musste. „Ehrlich gesagt, er weiß auch noch nichts davon, denn ich habe ihn gar nicht gebeten, mitzukommen, weil ich einfach nur mal ein paar Tage für mich sein möchte.“ Valerie hoffte, diese Erklärung möge genügen, um das mütterliche Gespür zu beruhigen. „Und bei dieser Gelegenheit werde ich dann gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.“

„Du sprichst in Rätseln, Valerie. Klär mich doch jetzt bitte mal auf! Was ist los?“ Hilla wurde unruhig.

„Nichts, Mom!“ Valerie blickte der Mutter fest in die Augen und setzte noch einmal eindringlich hinterher: „Wirklich nicht! Ich fahre nur nach Krefeld, um mir meine Unterlagen für die Hochzeit zu besorgen.“

„Wo… wohin fährst du?“ Hilla wechselte schlagartig die Gesichtsfarbe.

„Nach Krefeld“, wiederholte Valerie ahnungslos dessen, was plötzlich in Hilla vorging.

„Aber die Unterlagen schickt das Amt dir doch zu!“

„Nein, tut es eben nicht!“, klärte Valerie sie auf. „Hab ich ja versucht, doch ich kann meine Abstammungsnachweise offensichtlich nur gegen Vorlage des Personalausweises erhalten und dafür muss ich halt persönlich hin.“

Hilla sprang so abrupt hoch, dass der Stuhl um ein Haar umgefallen wäre, hätte Valerie ihn nicht geistesgegenwärtig festgehalten.

„Mom, was ist denn plötzlich los mit dir?“ Sie erschrak über Hillas Blässe und schob diese auf die unbestimmte Angst einer Mutter, deren Kind nun in eine andere Familie einheiraten würde. „Ich dachte immer, du freust dich, wenn endlich das Aufgebot bestellt wird!“

Hillas Blick hing starr über ihr. Aber nur für einen Moment. Dann schien sie sich genauso schnell wieder zu fassen, wie sie die Kontrolle verloren hatte. „Ja, ja, natürlich freue ich mich!“, rief sie. Es klang aufgesetzt. „Bitte entschuldige, mein Liebes, aber ich war mit meinen Gedanken irgendwie ganz woanders. Ich …“ Sie suchte nach den richtigen Worten.

Valerie glaubte zu verstehen, was in ihr vorging. „Mach dir keine Sorgen! Nur weil ich Jörg heirate, wirst du mich doch nicht verlieren!“ Täuschte sie sich oder las sie gerade Verständnislosigkeit in den Augen ihrer Mutter? Doch das merkwürdige Gefühl verflog wie von selbst, als sie aufstand und Hilla einfach in den Arm nahm. „Ich bleibe trotzdem deine Tochter und du bekommst noch einen Sohn dazu, den du immer gerne neben mir gehabt hättest.“

Hilla nickte. „Weiß ich ja, aber …“, sie stockte und blickte Valerie mit verzerrten Lächeln an, „vergiss das bitte nie! Versprichst du mir das?“

Mom war ihr heute wirklich ein Rätsel. So hatte Valerie sie noch nie erlebt. So komplett neben der Spur. Es wurde wirklich höchste Zeit, dass die Eltern ein klärendes Gespräch miteinander führten. Die Frage nur, ob es gut war, wenn sie selbst den Mediator spielte. Dazu war sie viel zu involviert. Ob sie einen Kollegen bitten sollte? Den Gedanken verwarf Valerie jedoch ganz schnell wieder. Nie würden ihre Eltern vor einem fremden Menschen ihre Eheprobleme ausbreiten.

Vielleicht wäre es ja auch eine Lösung, wenn Hilla sich eine Beschäftigung suchte. Möglichkeiten gäbe es da mit Sicherheit genug.

Stunden waren vergangen, seit Hilla sich mit der fragenden Bitte verabschiedet hatte: „Kommst du noch mal bei uns vorbei, bevor du fährst?“

„Wenn ich es schaffe, ja“, antwortete Valerie, „aber versprechen kann ich es nicht. Auf meinem Schreibtisch liegen noch drei Berichte, die zu schreiben sind und am Donnerstag bin ich auch noch den ganzen Tag zu einem Seminar, so dass ich gezwungen bin, eine Kollegin als Vertretung einzusetzen.“ Valerie war nicht der traurige Blick ihrer Mutter entgangen. „Ich bin nur ein paar Tage weg und Dienstagabend schon wieder hier. Mom, was ist denn nur mit dir?“

Wieder machte sich in Valerie dieses ungute Gefühl breit, dass irgendetwas mit ihrer Mutter nicht stimmte. Offensichtlich aber konnte oder wollte diese darüber nicht sprechen.

„Nichts, mein Kind! Wirklich nichts!“ Doch Hillas Augen straften ihren Mund der Lüge.

Noch jetzt im Nachhinein machte Valerie sich Gedanken. Gab es vielleicht noch ein ganz anderes Problem zwischen den Eltern? Moms merkwürdiges Verhalten, nur weil sie mal für ein paar Tage weg wollte, konnte sie sich sonst absolut nicht erklären.

Doch brachten sämtliche Gedanken um die Eltern natürlich nichts, solange diese nicht offen mit ihr, der einzigen Tochter, darüber sprachen.

Da fiel Valerie ein, dass sie Tina noch zurückrufen wollte.

„Hallo meine Liebe, was gibt es denn so Dringendes bei dir?“

„Endlich!“, hörte Valerie die Freundin am anderen Ende der Leitung vorwurfsvoll seufzen. „Ich dachte schon, du meldest dich heut gar nicht mehr!“

„Ging nicht eher!“, gab Valerie ohne weitere Erklärung ab, wollte der Freundin nicht unbedingt die Unstimmigkeiten zwischen ihren Eltern offenbaren. „Aber jetzt bin ich ja Ohr und höre …“

„Du wirst nicht glauben, was mir heute passiert ist!“, rief Tina aufgeregt und schien vor Mitteilungsgier förmlich zu platzen.

Jetzt musste Valerie lachen. „Du wirst es mir sicherlich gleich sagen.“

„Ich habe den Mann getroffen!“ Tina schien hin und weg.

„Den fürs Leben?“ Valeries Überraschung hielt sich in Grenzen. „Wieder mal?“

„Du, diesmal ist es wirklich was anderes!“, versicherte Tina ernsthaft.

Wie oft hatte sie dieses schon gemeint? Und wie oft war es dann doch nur ein Trugschluss! Valerie hatte längst aufgehört, zu zählen. Tina war eine ihrer längsten Freundinnen, noch aus Schulzeiten. Sie hatten viel gemeinsam und in all den Jahren so einiges miteinander erlebt. Nur in einem Punkt unterschieden sie sich gewaltig: Valerie war der bodenständige Typ und begnügte sich mit einem Mann, Tina dagegen liebte die ständige Überraschung. Sie wechselte die Knaben wie ihre Tangas oder legte sich auch schon mal – so wie andere sich Haustiere – zwei zur selben Zeit zu. Und jedes Mal war mit Sicherheit die große Liebe dabei, die sich allerdings meist kurz danach wieder in Luft auflöste.

„Was macht dich nun so sicher?“, begehrte Valerie daher zu wissen. „Ich meine, nicht dass ich dir dein Glück nicht gönnen würde, nur …“

„Ach, Valli“, Tina ließ sich nicht beirren und versuchte weiterhin, die Freundin mit ihrer Euphorie anzustecken, „es ist schon aus dem Grunde was Besonderes, weil ich ihn eigentlich schon lange kenne!“

„Wie, du kennst ihn schon lange?“ Valerie verstand nur Bahnhof. „Was heißt denn das bei dir schon … lange?“

„So lange jedenfalls, dass er selbst dir kein Fremder sein dürfte!“

„Jetzt machst du mich aber wirklich neugierig“, feixte Valerie. „Heraus mit der Sprache! Wer soll das sein?“

„Axel Boeker!“, antwortete Tina kurz und knapp und Valerie merkte, wie gespannt Tina am anderen Ende auf ihre Reaktion wartete.

„Der Axel Boeker?“ Die Überraschung war ihr gelungen.

„Genau der Axel Boeker, der eine Klasse über uns war und dich ständig geärgert hat, weil du mit deinen komischen Pippi-Langstrumpf-Zöpfen durch die Gegend gelaufen bist.“ Tina lachte.

Valerie lachte mit bei der Erinnerung an diese fast vergessene Zeit und erkundigte sich nun mit aufrichtigem Interesse: „Bist du jetzt wirklich mit ihm zusammen?“

Tina zögerte einen Moment mit der Antwort und tat dann kund: „Na ja, vielleicht noch nicht so richtig, aber so gut wie.“

„Du hast ihn also lediglich durch Zufall wieder getroffen und bemerkt, dass er in dein Beuteschema passt?“, stellte Valerie nüchtern fest.

„Hm.“ Tinas Antwort zeigte ihr, dass sie genau ins Schwarze getroffen hatte.

„Du bist unverbesserlich“, amüsierte Valerie sich über die Freundin. „Dann bin ich mal gespannt, wie das bei euch beiden nun wirklich weitergeht.“

„Das habe ich dir doch eben schon gesagt!“, beharrte Tina auf ihrer Ansicht. „Axel ist der Mann meines Lebens!“

„Und wieso weißt du das erst jetzt?“ Valerie überlegte in diesem Augenblick ernsthaft, ob sie Tina noch für voll nehmen konnte.

„Weil ich bei der „Sehn wir mal“ war und die mir die Begegnung mit Axel vorausgesagt hat.“

Valerie schluckte. „Wann warst du denn bei ihr?“

„Letzten Freitag, warum? Wolltest du da nicht auch mal hin, ich meine, wegen Jörg und so …?“, brachte Tina das ursprüngliche Vorhaben in Erinnerung.

Am liebsten hätte Valerie ihr jetzt ordentlich zu dieser Kartentante die Meinung gegeigt in der Art wie: Du, ich war gerade heute da und du kannst dir keine Vorstellung davon machen, was die Frau für einen Stuss erzählt hat! Doch irgendetwas, Valerie konnte es sich selbst nicht erklären, hielt sie davon ab, auch nur ein Wörtchen über ihren Besuch verlauten zu lassen.

Stattdessen entgegnete sie lapidar: „Im Augenblick habe ich keine Zeit dafür und am Freitag fahre ich übrigens nach Krefeld.“

„Kreeefeld?“, kam es ahnungsvoll gedehnt zurück. „Sag bloß, du betreibst jetzt ernsthaft Hochzeitsvorbereitungen?“ Tina klang gar nicht mehr locker wie eben, sondern eher mitleidig. „Ich an deiner Stelle …“ Sie stockte, schlug sich wahrscheinlich gerade die Hand auf den Mund, weil ihr schon wieder zuviel herausgerutscht war.

„Ich weiß schon, was du sagen willst“, begehrte Valerie auf. „Jörg und ich passen nicht zueinander. Nicht wahr, das war es doch? Gib es nur zu!“