Villa der Wahrheit - Daniela Mimm - E-Book

Villa der Wahrheit E-Book

Daniela Mimm

0,0

Beschreibung

Rätselhafte Erbschaft! Eine alte Villa, ein kauziger Gärtner und ein Brief mit ominösen Rätseln. Katja Diepholtz weiß zunächst nicht recht, was sie mit der seltsamen Hinterlassenschaft ihres Onkels anfangen soll. Ist es wirklich Zufall, dass ausgerechnet Nina Herbst, die erst seit kurzem auf dem Nachbargrundstück der Villa lebt, ihr hilft, den Dingen auf den Grund zu gehen? Was aber führt Ninas Mann Leo im Schilde und welche Rolle spielt die Villa dabei? Weder Katja noch Nina ahnen, wie sehr sie beide mit dem unfassbaren Geheimnis eines alten Mannes verwoben sind.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 531

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zu diesem Buch:

So richtig wohlfühlen kann Nina sich im neuen Haus nicht. Gerade erst sind Leo und sie von Koblenz an den Stadtrand von Krefeld gezogen, schon ist ihr Mann öfter auf Geschäftsreisen als je zuvor. Fernab von allen Freunden und Vertrautem hadert Nina mit ihrer Einsamkeit. Sie ahnt nicht, dass schon sehr bald Dinge geschehen, die ihr gesamtes Leben auf den Kopf stellen.

Katja Diepholtz lebt mit ihrer Familie im rund fünfzig Kilometer entfernten Essen-Werden, stellt zunehmend ihre Ehe in Frage, fechtet jeden Tag neue Kämpfe mit ihrem pubertierenden Sohn aus und erfährt obendrein, dass ihr Mann offensichtlich eine Freundin hat.

Eines Tages flattert ihr ein Schreiben des Krefelder Amtgerichts ins Haus. Plötzlich soll sie Alleinerbin eines Onkels sein, den sie bereits lange vorher verstorben glaubte.

Als die Krise ihrer Ehe den Höhepunkt erreicht, fasst Katja einen folgenschweren Entschluss.

Nina und Katja, zwei Frauen, die sich nie begegnet sind und kaum ahnen können, dass nicht das Schicksal ihre Wege kreuzen lässt, sondern das unfassbare Geheimnis eines alten Mannes …

Daniela Mimm, geb. 1964, liebt seit Kindesbeinen an alles, was zwischen zwei Buchdeckel passt. Ihre Tätigkeit im Buchhandel hat diese Leidenschaft nur gefördert.

Frei nach dem Motto: „Gibt es nicht zu kaufen, was ich gern lese, schreib ich es halt selber!“ bringt sie mit „Villa der Wahrheit“ ihren dritten Roman heraus, der nicht nur Spannung plus Humor bietet, sondern auch mit einer ordentlichen Prise Krefelder Lokalkolorit gewürzt ist.

Daniela Mimm lebt mit ihrer Familie nahe Krefeld.

Von Daniela Mimm ebenfalls bei BoD erschienen:

„Ehemann umständehalber abzugeben“

„Schnitzeljagd in die Vergangenheit“

„Das Kind im 13. Vollmond“

Welche Rolle spielt die alte Villa am Hülser Berg?

Treten Sie ein, erleben Sie selbst …

Liebe Leserinnen und Leser,

auch mit diesem Skript ist, so hoffe ich, wieder eine spannende Geschichte entstanden, die Sie ein wenig vom Alltag ablenkt, Sie entspannen lässt.

Tauchen Sie ein in die Erlebnisse zweier Frauen, deren Leben vollkommen unterschiedlich verlaufen. Lassen Sie sich führen an Orte, die Sie wahrscheinlich selbst gut kennen. Wenn Sie als Leser sich auf eine ganz besondere Weise immer wieder selbst mitten im Geschehen erleben, ist dies für mich der größte Erfolg.

Nun wünsche ich Ihnen viel Spaß bei der Lektüre.

Viele Grüße

Daniela Mimm

Anmerkung:

Die Handlung sowie die Villa am Hülser Berg sind frei erfunden, etwaige Namensgleichheiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

1

Wie ein geheimnisvoll dunkles Loch wirkte der Einmündungsbereich des Hohlweg auf Nina, als sie ihren Wagen über die schier endlose Gerade der Molenaarstraße auf den Hülser Berg zusteuerte. Die einsetzende Nacht ließ die eng aneinander gereihten Baumkronen an seinem Hang zu einer fast undurchdringlichen Schwärze zusammenwachsen, nur vereinzelt durchbrochen durch den gelblich faden Schein der Straßenlaternen. Selbst die Villen an dieser Seite schienen allesamt im Tiefschlaf zu liegen.

Endlich hatte Nina die Kreuzung am Talring erreicht, als plötzlich wie aus dem Nichts frontal zwei Scheinwerfer auftauchten und so stark blendeten, dass sie für einen Moment fast nichts mehr sehen konnte.

„Idiot“, schimpfte sie, „mach das Fernlicht aus!“ Nur flüchtig erfasste Nina, dass es sich um einen Kleintransporter handelte, der jetzt ohne Halt und unter Missachtung des Stopp-Schildes einfach über den Kreuzungsbereich schoss und dessen Rückstrahler in ihrem Spiegel mit rasender Geschwindigkeit verblassten.

Nina schüttelte den Kopf über so viel Leichtsinn. Sie verabscheute Asphaltraudis, die durch die Gegend preschten, als sei der Teufel hinter ihnen her.

Doch sie schluckte ihren Groll hinunter und konzentrierte sich nun auf die enge Fahrbahn des Hohlweg, der ohne jegliche Straßenbeleuchtung, dafür aber mit leichten Windungen in westliche Richtung den Hülser Berg durchschnitt. Sie war froh, dass ihr kein weiterer Wagen entgegen kam. Die unbefestigte Bankette an beiden Seiten zeigte ganz deutlich Reifenspuren von Ausweichmanövern irgendwelcher Fahrer, die das Tempolimit von dreißig offensichtlich nicht beachtet hatten.

Nina hatte den Abzweig zur Bergschänke gerade passiert, da tauchte plötzlich, wie von Geisterhand, auf der Fahrbahn vor ihr ein Schatten auf. Sie erschrak zutiefst und trat im selben Moment abrupt auf die Bremse. Ihre Ohren rauschten und wie aus weiter Ferne vernahm sie das Quietschen von Reifen. Es dauerte einen Moment, bis ihr bewusst wurde, dass es ihre eigenen waren. Starr vor Entsetzen blickte sie durch die Windschutzscheibe … direkt in zwei dunkle, weit aufgerissene Knopfaugen, in denen der Schreck nicht minder stand.

Doch noch ehe sie zur Besinnung kam, vernahm sie durch den offenen Spalt des Seitenfensters ein Geräusch wie leises Hufeschaben und im selben Moment war der Spuk vorüber und das Augenpaar verschwunden.

Ein verirrtes Rehkitz! Es war einfach vor ihr auf die Fahrbahn gesprungen. Gottlob hatte sie den Wagen noch rechtzeitig zum Stehen gebracht und außer dem Schrecken war nichts weiter passiert.

Nina ließ die Scheibe bis zum Anschlag hinunter und lehnte den Kopf hinaus. Sie schaltete den Motor ab und vorsichtshalber die Warnblinkanlage ein. Dann verharrte sie, innerlich immer noch angespannt, ob vielleicht weitere Tiere folgten. Nina lauschte in die Finsternis jenseits der Straße. Die Böschung stieg zu beiden Seiten steil an und jede Bewegung von oben hätte unweigerlich eine kleine Gerölllawine ausgelöst.

Aber es blieb ruhig. Nach wenigen Minuten, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, stellte sie die Warnblinker wieder ab.

Und doch war ihr unheimlich zumute, als sie den Motor neu startete. Im Abblendlicht schienen die ausladenden Äste der Bäume nach ihr zu greifen. Automatisch drückte sie den Fuß auf das Gaspedal und atmete regelrecht auf, als die ersten Lichter diesseits des Talring sichtbar wurden.

Nina fuhr den Wagen direkt in die Garage. Als sie die Verbindungstür zum Flur öffnete, empfing sie die Stille des Hauses.

„Leo?“, rief Nina laut. Sein Wagen stand nicht auf seinem Platz in der Doppelgarage, aber sie hatte vorhin auch nicht darauf geachtet, ob er ihn vielleicht an der Straße abgestellt hatte.

Ihre Stimme verhallte ungehört an den noch kahlen Wänden des gerade erst bezogenen Hauses. Obwohl es schon spät war, überlegte sie zunächst, ob sie auf Leo warten sollte. Doch sie fühlte sich auf eine unerklärliche Weise so abgespannt, dass sie es vorzog, sich besser direkt hinzulegen.

Im Bett allerdings wälzte sie sich auch nur von einer Seite zur anderen. Irgendetwas hielt sie davon ab, einzuschlafen. Müde richtete sie sich wieder auf und starrte in die Dunkelheit. Woran mochte es liegen, dass sie keine Ruhe fand? War es der Schreck wegen dem Rehkitz, der ihr immer noch in den Gliedern saß? Oder lag es an dem neuen Bett und der ungewohnten Stille, die vor ihrem geöffneten Fenster herrschte.

Das also war der Preis für den neuen Lebensabschnitt, dachte Nina verächtlich. Sie knipste die Nachttischlampe an und griff nach dem angefangenen Buch, das sie sich noch vor drei Wochen in Koblenz gekauft hatte, versuchte ein paar Seiten zu lesen. Doch sie konnte sich einfach nicht konzentrieren und legte es wieder beiseite.

Seufzend ließ Nina ihren Blick umher schweifen und betrachtete eingehend die große Mansarde, die Leo und sie sich als Schlafzimmer eingerichtet hatten. Himmelblaue, mit weißen Streifen gemusterte Tapeten schmückten die Wände. Die kleine Biedermeier-Sitzgruppe in der Ecke vor dem Seitenfenster, die sie vor etlichen Jahren von Oma Blanche geerbt hatte, der Schiebetürenschrank aus heller Buche und das im selben Stil gefertigte Doppelbett, in dem sie gerade saß, ergänzten sich hierzu in warmem Kontrast.

Eigentlich gefiel es Nina sehr. Und nicht nur dieser Raum, sondern alles hier in diesem Haus, welches Leo und sie über einen hiesigen Makler angemietet hatten, entsprach genau ihrer Vorstellung. Die Maler waren gerade noch rechtzeitig fertig geworden, hatten die von Leo und ihr gemachten Vorgaben ganz genau eingehalten. Was also war nur los mit ihr?

Lag es daran, dass Leo sie schon wieder alleine gelassen hatte? Seit sie hierher nach Krefeld gezogen waren, sah sie ihn noch weniger als zuvor. Oder bildete sie sich das nur ein? Tatsache war, dass er seit dem Umzug noch mehr unterwegs war als vorher. Sie selbst hatte mit ihm im neuen Heim bisher gerade mal vier Tage verlebt. Nun fragte sie sich, weshalb er überhaupt so versessen darauf gewesen war, mit ihr ausgerechnet hierher in diese Abgeschiedenheit zu ziehen.

Nina sah auf den Radiowecker. Die rote Digitalanzeige leuchtete inzwischen kurz vor Mitternacht. Unruhe stieg in ihr hoch. Leo befand sich doch auf dem Rückweg. Wo blieb er denn bloß?

Sie zuckte zusammen, als plötzlich ihr Handy auf dem Nachttisch vibrierte. Da sie noch keinen Festnetzanschluss besaßen, lag es so immer in Reichweite, wenn er verreiste. Eine SMS von Leo. War ihm etwas passiert? Ihre Unruhe wurde stärker. Dann würde er wohl kaum schreiben können, versuchte sie sich selbst zu beruhigen.

Der Absender war tatsächlich Leo. „Bin noch in München, hat alles länger gedauert, komme wahrscheinlich erst morgen gegen Abend.“

Kurz und nüchtern, keine Anrede, kein Gruß. Diese Art wurmte sie und die Frage, warum er sie von unterwegs nie anrief, nagte nicht zum ersten Mal in ihr.

Sicher denkt er, du schläfst schon und will dich nicht wecken!, erstickte sie sofort jeglichen aufkommenden Gedanken im Keim. Es drängte sie, selbst das Telefon in die Hand zu nehmen. Aber sie ließ es, denn sie wusste, Leo schätzte das nicht. Und trotzdem: Wie gerne hätte sie mit ihm gesprochen, ihm erzählt, dass sie heute am späten Nachmittag in Moers der Einladung zu einem Bewerbungsgespräch gefolgt war, sich anschließend eine leckere Tomatensuppe im Fiddlers und einen Kinobesuch gegönnt hatte.

In Nina nagte die Enttäuschung. Eine weitere Nacht alleine hier in diesem Haus, welches doch für sie beide eine neue Heimat sein sollte. Erneut fragte sie sich, warum Leo so auf den Umzug gedrungen hatte, wenn er doch sowieso kaum anwesend war.

Sie schaltete die Lampe wieder aus und drehte sich auf die Seite. Tränen stiegen ihr in die Augen. Geschäfte, Geschäfte! Immer nur Geschäfte! Von wegen, durch den Firmenwechsel änderte sich alles! Das einzige, was sich geändert hatte, war Leos Verhalten. Nicht nur die äußere, auch die innere Entfernung zwischen ihnen nahm spürbar zu. Ninas Hand schlug hart auf die Bettdecke. Sie wusste nicht, ob sie wütend oder traurig sein sollte. Vielleicht war es doch ein großer Fehler gewesen, aus Koblenz weg zu ziehen und alles aufzugeben, was ihr lieb und vertraut war.

Doch sie wollte nicht weinen, versuchte gewaltsam ihre Gedanken zu verdrängen. Sie sprang aus dem Bett und lief auf bloßen Füßen zum Fenster. Tief sog sie die frische Luft ein und ließ ihren Blick in die Nacht schweifen.

Wie anders die Landschaft jetzt aussah! Tagsüber die reine Idylle, wirkte sie jetzt eher Furcht erregend. Zwar blitzte hier und da ein einzelner Stern am Firmament, aber die Umrisse der Bäume und die der alten unbewohnten Villa auf dem Nachbargrundstück hoben sich wie Gespenster von der Dunkelheit ab. Von irgendwoher drang der Ruf eines Käuzchens und in der Ferne schlug dumpf eine Kirchturmuhr.

Drüben am Waldrand flackerte ein roter Lichtschein auf. Ob da noch mal einer seinen Hund vor die Tür ließ? Nina selbst war viel zu ängstlich, als dass sie sich vorstellen konnte, wie sich jemand um diese Zeit an solch abgelegene Orte verirrte. An der Stelle gab es nicht mal ein Haus. Dort lag nur der Wall, über den die alte Bahntrasse verlief, auf der an den Wochenenden der hellen Jahreszeiten und zu anderen kurzen Intermezzos die nostalgische Dampflok ein paar Waggons hinter sich herzog, welche die Krefelder liebevoll Schluff nannten.

Aber warum machte sie sich überhaupt Gedanken darüber? Sie beschloss, sich wieder hinzulegen und es erneut mit Schlafen zu versuchen. Ein Weilchen betrachtete sie noch die weißen Organzastores, in denen der Luftzug des geöffneten Fensters spielte. Irgendwann schlief sie dann endlich ein und vernahm auch nicht mehr das schleifende Geräusch, welches sich irgendwo unter ihrem Fenster in der Nacht zu verlieren schien.

2

Am nächsten Morgen, rund fünfzig Kilometer entfernt in Essen-Werden …

Schnuckelchen“, raunte die Stimme ihres Ehemannes gefühlvoll in Katjas Ohren, „schau mal, was ich hier habe! Extra für uns beide gemacht.“ Freudig überrascht zog sie die Lider hoch und lächelte Roland erwartungsvoll entgegen, der augenblicklich den seidigen Morgenmantel von seinem Astralkörper gleiten und mit dem rechten Fuß schwungvoll die Schlafzimmertür ins Schloss knallen ließ. Er setzte sich zu ihr auf die Bettkante und zauberte wie aus dem Nichts ein üppig beladenes Tablett auf ihre bedeckten Schenkel. Das Aroma frisch aufgebrühten Kaffees umspielte ihre Nase und liebevoll, bereits fertig zubereitete Brötchenhälften mit ihrer Lieblingsmarmelade warteten nur noch darauf, genussvoll verspeist zu werden. Doch der Anblick dieses Stilllebens steigerte zunächst erst einmal ihren Appetit auf Roland. Sie hob das Tablett hinüber auf seine Bettseite und schlug einladend die Decke zurück. Sein Blick bohrte sich in den ihren und oha, schon passierte, was ihr bei seinem nackten Anblick ständig passierte …

„Sag mal, träumst du schon mit offenen Augen?“

„Was?“ Einen Augenblick lang wusste Katja in der Tat nicht, wie ihr geschah.

Doch als die Zeitung ihr gegenüber ungeduldig wiederholte: „Schon wieder ein Einbruch!“ kam sie schnell zur Besinnung.

Offensichtlich dauerte der Zeitung ihre Reaktion zu lange. Daher senkte sie sich jetzt, faltete sich ärgerlich zusammen und brachte Rolands grimmige Miene zum Vorschein.

„Sag mal, redest du nicht mehr mit mir?“, fragte er ungehalten.

„Ich war mit meinen Gedanken gerade woanders“, entschuldigte Katja sich und hatte das Gefühl, ein ungehorsames Kind zu sein, das Schelte bekam.

„Hab ich gemerkt!“, versetzte Roland beleidigt. „Die Zeit möchte ich auch mal haben … den lieben langen Tag in Träumereien schwelgen.“

Seine Bemerkung gab ihr einen Stich. In letzter Zeit häuften sich diese Nettigkeiten. Der schöne Moment jedenfalls, in dem ihr Ehemann sich wie der Märchenprinz von damals zeigte, war im Nu verpufft und Roland verwandelte sich rasant zurück in den Froschkönig des Alltags.

„Ich würde lieber arbeiten gehen als hier den ganzen Tag die Kloschüsseln zu putzen, das kannst du mir glauben!“ Wenn sie sich von seinen Worten gestochen fühlte, meldete sich das kleine Teufelchen in ihr. „Du müsstest dir halt nur eine Putzfrau zulegen und die dann allerdings bezahlen.“ Haha. „Oder noch besser eine Zugehfrau, die sich auch gleich des lieben Ronny annimmt.“ Noch mal haha, aber so war das ja wohl.

Roland starrte seine Frau an mit einem Blick, der klar aufzeigte, dass sie nicht alle Tassen im Schrank haben konnte. „Sag mal, das schöne freie Leben ist dir wohl zu Kopf gestiegen, was?“ Auf seiner Stirn bildete sich eine Falte. „Für das bisschen Arbeit hier eine Putze? Und Ronny, der läuft inzwischen ja wohl quasi von selber!“

Und wer hatte ihn soweit gebracht? Sie! Sie ganz alleine. Denn Roland hatte von Anfang an die Parts in ihrer Ehe genau verteilt. Er brachte das Geld nach Hause und sie, Katja, hatte dafür zu sorgen, dass es einmal von gut erzogenen Nachkommen ausgegeben werden konnte.

„Wir können ja mal einen Tag tauschen!“, bot sie an und spürte, wie die Wut in ihr hochstieg. In diesem Moment war sie froh, dass Ronny längst auf dem Weg zur Schule war und von dem Gezanke nichts mitbekam.

Roland schmetterte das Angebot höhnisch ab. „Du an meinem Schreibtisch im Büro? Nach spätestens zehn Minuten würdest du mich anrufen und fragen, was du zu tun hättest. Du bist ja nicht mal in der Lage, eine Email vom Englischen ins Deutsche zu übersetzen.“

Wieder so ein Stich. Der saß noch fester als der von vorhin. Wahrscheinlich deshalb, weil Roland, ob Katja es sich eingestehen wollte oder nicht, im Prinzip Recht hatte. Woher auch sollte sie seine Arbeitsabläufe kennen? Er erzählte nur sparsam von seinen Schreibtischgeschäften und wenn, dann benutzte er sämtliches Fachvokabular, mit dem seine Branche aufzuwarten hatte, obwohl er genau wusste, dass sie dann nur die Hälfte verstand. Nachfragen jedoch empfand Katja als Blöße, weil Rolands Lieblingssatz: „Sei froh, dass du so was ja auch nicht wissen musst!“ inzwischen zur Standardantwort geworden war. Und das mit dem Übersetzen vom Englischen ins Deutsche? Sie betrieb hier zwar sozusagen eine Hauswirtschaft, aber von Wirtschafts-Englisch hatte sie in der Tat nicht den blassesten Dunst.

„Ich könnte einen Kurs an der VHS belegen“, warf Katja ein.

„Sicher könntest du das. Die Frage ist nur, wofür?“ Roland stellte seinen Kaffee so ungeduldig auf der Untertasse ab, dass es klirrte.

Ja, wofür? Das fragte sie sich selbst insgeheim auch. Aber wie sollte sie sonst an einen Bürojob oder dergleichen kommen? „Nun, ich könnte mir vorstellen, dann bessere Chancen zu haben, überhaupt wieder einen Fuß ins Berufsleben zu setzen.“

„Aha.“ Rolands Stimme triefte vor Ironie. „Und du glaubst, man wartet nur darauf, dass eine Frau Diepholtz zur Tür herein kommt und ruft: „Da bin ich!“?“

Katja sagte nichts dazu, stöhnte innerlich schwer auf. Was wollte dieser Mann eigentlich? So recht wurde sie aus ihm nicht mehr schlau. Lag es daran, dass im Prinzip jeder von ihnen inzwischen irgendwie seinen eigenen Weg ging, ohne dabei groß über den anderen nachzudenken? Obwohl, nein, so ganz stimmte das auch nicht. Sie jedenfalls dachte tagsüber dauernd an Roland. Zum Beispiel gerade dann, wenn sie seine allabendlichen Chipskrümel von der Couch saugte oder seine Unterhosen in die Waschmaschine steckte. Spätestens da stachen Katja ihre unterschiedlichen Lebensweisen sozusagen direkt ins Auge, während er irgendwo auf der Düsseldorfer Flaniermeile bei einem Fünf-Gänge-Menü, rein geschäftlich natürlich, Konversation betrieb.

Roland schien auch gar keine Antwort erwartet zu haben. Wie jeden Morgen hatte er es plötzlich sehr eilig. Schnell noch einen letzten Biss in den Marmeladentoast, von ihr bestrichen, und schnell noch den Rest Kaffee, auch von ihr gekocht, ausgeschlürft. Dann riss er auch schon das Sakko von der Stuhllehne und griff nach seinem gewichtigen Statussymbol, dem zentnerschweren Aktenkoffer.

„Tschüss, bis heute Abend dann!“, verabschiedete er sich, wobei er Katja immerhin noch einen schnellen Kuss auf die Lippen drückte.

Tschüss, Froschkönig, dachte sie traurig und sehnte sich mehr denn je nach dem Roland, den sie einst kennengelernt hatte.

Was nur war mit ihnen passiert? Oder besser gesagt, was war mit ihrer Liebe zueinander passiert? Zum wiederholten Male drängten sich dieselben Fragen in Katjas Gehirn. War es nur der Alltag, der alles verblassen ließ? Hatte sie selbst sich so sehr verändert, dass Roland nichts Liebenswertes mehr an ihr fand und sie deshalb wie ein kleines dummes Schulmädchen behandelte? Hatte sie gar kein Recht mehr auf ein eigenes Leben? Durfte sie nur noch das Haus schrubben und für ihn und Ronny parat stehen?

Vor ihrem geistigen Auge formierte sich eine Szenerie: Plötzlich war es wieder der strahlende Maisonntag, an dem sie, mit ihrem Buch und einem Glas Weißwein aufs Essen wartend, auf der Terrasse ihres Lieblings-Griechen saß und dem sympathischen Mann samt seinem kleinen Sohn gerne die freien Plätze an ihrem Tisch überließ. Voller Interesse, was sie denn da lese, waren sie schnell in eine anregende Unterhaltung verwickelt, während sich der knapp zweijährige Ronny auf den Spielgeräten nebenan vergnügte.

Es dauerte nicht lange, bis sich ihr Gespräch ins Persönliche wandelte. Binnen weniger Minuten schaffte dieser gut aussehende Mann, so ihr Vertrauen zu gewinnen, dass sie ihm alles über sich erzählte und auch er machte aus seinem Leben kein Geheimnis. Sie, Katja, vermochte es kaum zu fassen, aber wie aus dem Nichts übermannte sie die Erkenntnis, dass Roland Diepholtz nicht zufällig ihren Weg gekreuzt haben konnte. Da musste einfach eine andere, höhere Macht ihre Hände im Spiel gehabt haben.

Gab es sie also doch, die Liebe auf den ersten Blick? Katjas Herz jedenfalls war sofort entflammt für den hoch gewachsenen, dunkelhaarigen Mann mit den grünen Augen, die ihr mit aufrichtigem Interesse entgegen blickten.

Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass es da den kleinen Ronny gab, dessen Mutter sich wenige Monate nach der verfrühten Geburt aus dem Staub gemacht hatte, weil sie das ständige Geschrei des Babys nicht mehr ertragen konnte. Etwa ein Jahr später war sie irgendwo in Südamerika ums Leben gekommen war. In Katjas Vorstellungskraft passte es nicht, dass eine Mutter überhaupt in der Lage war, das eigene Kind so herzlos abzustoßen.

Doch jegliche Frage Katjas in diese Richtung ließ Roland als Tabuthema abprallen. Nicht einmal ein Foto gab es mehr von Anita Diepholtz, die hatte er nach eigenen Angaben gleich nach deren Weggang entsorgt. So war auch für Ronny kein Erinnerungsstück übrig geblieben.

Eigenartig und übertrieben fand Katja Rolands Verhalten schon in diesem Bezug, doch mit der Zeit hatte sie es, wenn auch nicht verstanden, zumindest akzeptiert und geschwiegen. Irgendwann, so dachte sie damals, würde er von selber darüber sprechen.

So zogen erst Monate ins Land, dann Jahre. Aus Liebe zu Roland, und natürlich, weil sie auch Ronny ins Herz geschlossen hatte, hängte sie freiwillig ihren Job und den Traum vom verspäteten Kunststudium an den Nagel und übernahm stattdessen wie selbstverständlich die Mutterrolle an dem Kind, das seinerzeit so viel Hilfe und Unterstützung brauchte. Roland war überglücklich, honorierte es mit überschwänglichen Gefühlen und drängte letztendlich zur Heirat, weil er fand, dass dies doch zu einer richtigen Familie dazu gehörte.

Mit einem gemeinsamen Kind wollte es leider nicht klappen und statt frustrierender Versuche gynäkologischer Eingriffe tröstete sie sich mit dem Gedanken, sich nach Ronnys Eintritt in den Kindergarten wenigstens wieder ihrer Malerei widmen zu können. Im ausgebauten Dachgeschoss ihres damaligen Reihenhauses wäre genug Platz für ein kleines Atelier gewesen. Dort, so rechnete sie sich aus, hätte sie bis spätnachmittags Zeit gehabt, neue Werke zu schaffen und mit dem Verkauf vielleicht einen netten kleinen Zusatzverdienst zu Rolands Gehalt beisteuern können. Doch dazu sollte es nicht kommen. Ronnys Aufnahme verzögerte sich um zwei Jahre. Immer wieder zeigten sich bei dem Jungen Entwicklungsstörungen, die eine langwierige Diagnostik und Behandlung nach sich zogen und damit ihren vollen Einsatz verlangten.

So blieb für Ronny letztendlich nur ein Jahr Kindergarten, dann wurde er bereits sechs und es folgte eine ziemlich schwierige Grundschulzeit.

Auch in dieser hielt Katja es für wichtiger, sich dem Kind zu widmen und alles Erdenkliche zu tun, ihm den harten Weg durch die Schulzeit zu erleichtern. Dafür legte sie sich, wenn nötig, auch mit gewissen Lehrkräften an, die Ronny bereits vom Tag der Einschulung an den unsichtbaren Stempel „Förderschule ab Klasse fünf“ aufgedrückt hatten.

Ihr eigenes Vorhaben schob sie immer weiter vor sich her. Den nächsten Strich durch die Rechnung machte dann ihre Schwiegermutter. Rolands Vater war verstorben und Elfriede, die ihr, Katja, bei jeder Gelegenheit zeigte, dass sie sie nicht mochte, wollte aber auch keinesfalls weiter alleine in diesem unsäglich großen Kasten wohnen, der nur Arbeit machte. Katjas Vorschlag, den Kasten zu verkaufen und sich von dem Geld eine schöne Eigentumswohnung zu kaufen, stieß allerdings auf taube Ohren. Wie sich herausstellte, hatte Elfriede längst ihren eigenen Plan im Kopf, den sie mit aller Macht in die Tat umzusetzen wusste. Roland, ihr Jüngster und erklärter Liebling, sollte samt Familie hier einziehen, damit sie getrost ihre Reisen in ferne Länder genießen konnte, während in ihrem Hause nach wie vor, und auf Lebenszeit, zwei große Räume als Rückzugsmöglichkeit für sie bereitstanden.

Abgesehen davon, dass Katja sich gegen den Umzug sträubte, fiel der Platz für ein Atelier, wie sie es gebraucht hätte, damit gänzlich weg. Sämtliche Zimmer, und waren sie auch noch so geräumig, waren belegt, boten keinerlei Rückzugsmöglichkeit für sie selbst.

Des lieben Friedens Willen fand sie sich damit ab und mit den Jahren waren ihre Träume zerronnen.

Rolands Worte von vorhin hallten Katja noch jetzt in den Ohren und ihr brannte das Wort Macho auf der Zunge.

Sie wusste, Roland war längst außer Hörweite, trotzdem schickte sie ihm ein sarkastisches „Viel Spaß!“ hinterher. War das jetzt gemein von ihr? Ach i wo, sie würde schließlich jetzt auch umgehend ihren Spaß haben. Katja überlegte nur, an was sie sich zuerst erfreuen sollte. Dem Abräumen des Frühstückstisches, dem Fensterputzen und Gardinenwaschen oder dem Reinigen der Badezimmer? Und nicht zu vergessen, bügeln durfte sie auch noch.

An gar nichts von alledem!, rief das Teufelchen in ihr. Setz dich erst mal gemütlich hin und lies die Zeitung. Vielleicht ist ja heute was bei den Stellenangeboten dabei.

Die Zeitung lag immer noch da, wo Roland sie hingeknüllt hatte. Katja faltete sie vorsichtig wieder auseinander, räumte dann aber doch schnell erst das Geschirr ab, damit sie auf dem Tisch Platz hatte, mit den Händen das zerknitterte Papier glatt zu streichen.

Im Gegensatz zu ihrem Mann, der sich vorwiegend für den Wirtschaftsteil interessierte, begann sie mit den Familienanzeigen und arbeitete sich dann langsam zu den Stellenangeboten vor.

„Wer nicht gerne telefoniert, ist selber schuld - bei uns erwartet Sie eine großzügige Entlohnung für leistungsorientierten Einsatz …“ Blabla. Unschwer zu erkennen, dass hier eine telefonische Drückerkolonne am Werke war. Katja hatte allerdings keine Lust, ahnungslosen Leuten irgendwelchen Mist am Hörer aufzuschwatzen und sich damit vielleicht auch noch strafbar zu machen.

„Wir suchen für die frühen Morgenstunden eine Aushilfe in der Backstube, Kenntnisse von Vorteil … Bäckerei und Konditorei Sauerteig, Tel. …“ Nun, sie besaß Kenntnisse vom Brotaufbacken im Backofen oder auf dem Toaster, keine Frage. Auch Kuchen, für die sie jeder lobte, bekam sie prima hin. Da brauchte sie nur im nächsten Supermarkt an den Gefrierschrank gehen und sich was Appetitliches aussuchen. Backen war eben nicht ihr Ding. Fazit: In dieser Anzeige fand Katja lediglich den Namen Sauerteig gelungen.

Hm, was hatten wir denn da, das hörte sich schon viel besser an: „Liebevolle Kollegin gesucht, brauchst keine Modellmaße, nur sensible Hände und zur richtigen Zeit das richtige Fingerspitzengefühl. Wenn du willst, halten wir dir Kost und Logis frei. Sehr hohe Verdienstmöglichkeiten … Club ORGA Phoenix, Essen, Tel. 0201…“ Katja schätzte, bei näherer Betrachtung kam das für sie wohl doch nicht in Betracht. Stattdessen kicherte sie in sich hinein, wofür wohl dieses große ORGA stand.

Der Übergang zur Metzgerei-Fachverkäuferin verlief fließend, brachte Katja aber auch nicht den gewünschten Aha-Effekt. Im Prinzip stand da nichts, was auch nur annähernd infrage kam. Aufgrund der langen Jahre des ach so schnöden Faulenzens stellte sie offensichtlich zu hohe Ansprüche für ihre Person.

Das deprimierte, doch sie hatte eigentlich nichts anderes erwartet, warf sie doch seit Monaten täglich einen Blick auf die Stellenseiten. Auffällig dabei, dass die potenziellen Arbeitgeber zwar wechselten, die Stellenprofile aber irgendwie immer die gleichen blieben.

In der heutigen Zeit schien man schon als Klofrau an der Autobahnraststätte mit dem Abitur aufwarten zu müssen und die Haushaltshilfe bei „Familie Sowieso“ hatte mindestens drei Sprachen fließend zu können.

Jetzt war es Katja, die angewidert die Zeitung zusammenknüllte. Halt! Das da wollte sie aber doch noch lesen …

Der Artikel über den Einbruch füllte fast eine halbe Seite. In Sekundenschnelle hatte sie das Wichtigste erfasst. Der beschriebene Diebeszug war innerhalb von wenigen Monaten bereits der sechste im Umkreis von fünfzig Kilometern. Die Polizei mutmaßte, dass es sich um eine organisierte Verbrecherbande handelte, die gebietsweise arbeitete. Die Taten verliefen jedes Mal nach demselben Muster. Die Bewohner der Häuser befanden sich im Urlaub, die Alarmanlagen waren gekonnt lahm gelegt. Über die Fluchtwege der Täter wurde wild spekuliert. Keiner der Nachbarn hatte etwas Auffälliges bemerkt. Daher sei zu vermuten, dass sich die Diebe mitten in der Nacht Zugang verschafften. Die Polizei tappte ordentlich im Dunklen und bat alle Leser um Hinweise.

Auch Katja war es ein Rätsel, wie jemand einfach so mir nichts dir nichts mit einem Sack voll Diebesgut unter dem Arm verschwinden konnte.

Vielleicht wohnte der Dieb ja sogar in der Nähe, ging es ihr durch den Sinn, und trieb sein Katz- und Mausspiel mit Verwandten, Freunden, Nachbarn.

Roland!, schoss es Katja plötzlich durch den Kopf.

Bist du jetzt ganz irre?, schalt sie sich sofort hinterher.

Da konnte man mal sehen, auf was man für Gedanken kam, wenn man den lieben langen Tag nichts anderes zu tun hatte als – Rolands Worte! – träumen.

Der Blick auf die beiden Wäschekörbe entfachte allerdings eher einen Albtraum in ihr und zum Bügeln der darin eingepferchten Wäschehaufen verspürte Katja noch viel weniger als die geringste Lust.

Stattdessen fuhr sie jetzt den Computer hoch. Auch das Internet durchforstete sie zweimal die Woche. Mit demselben Erfolg, denn angesprochen fühlen durften sich höchstens junge Berufsanfänger, natürlich mit möglichst viel Berufserfahrung.

Spaßeshalber fütterte sie die Suchmaschine mit: „Bewerben ab Vierzig“ und musste feststellen, dass es in diesem Bezug für Greise wie sie mittlerweile sogar eigene Literatur gab.

Katja stieß auf ein Forum, in dem ihr die verblüffend einfache Frage eines offensichtlich jungen Mannes sofort auffiel. „Meine Mutter ist zweiundvierzig, hat aber nur über zwanzig Jahre alte Zeugnisse, womit soll sie sich bewerben?“ Noch weitaus verblüffender die hierauf folgende Antwort eines anderen Forenmitgliedes: „Am besten gar nicht mehr!“

Katja schluckte und hatte plötzlich das Gefühl, dass es Ronny gewesen sein könnte, der da hinter ihrem Rücken so was fragte. Was natürlich Blödsinn war, denn selbst, wenn er im Internet herumsurfte, kam er doch beileibe nicht auf die Idee, ausgerechnet solche Seiten aufzurufen.

Für heute war Katjas Bedarf gedeckt. Sie fuhr den Rechner wieder runter und hievte entnervt den ersten der schweren Körbe auf einen Küchenstuhl, damit sie sich nicht bei jedem Wäschestück bücken musste.

Immerhin brachte ihr die stupide Büglerei den Vorteil, dass sie hierbei, im wahrsten Sinne des Wortes, ordentlich Dampf ablassen und damit ihre aufgestauten Aggressionen abbauen konnte. Sie brauchte das schwere Plätteisen einfach nur besonders hart auf Rolands Oberhemden drücken. Sie war sowieso bescheuert, die blöden Teile nicht einfach in die Reinigung zu bringen. Roland würde es mit Sicherheit nicht einmal merken.

Während Katja den Entschluss fasste, den nächsten Schwung tatsächlich in Fremdleistung erledigen zu lassen, klingelte das Telefon.

„Schönen guten Morgen, mein Kind!“, dröhnte ihr eine wohl vertraute Stimme verwundert entgegen. „Du bist schon auf?“

Das fragte genau der Richtige! Opa, der in der Regel mindestens bis elf Uhr vormittags in den Federn ruhte und dann den halben Tag im Schlafanzug und seinem ollen Bademantel durch die Wohnung stiefelte.

„Sonst wäre ich jetzt wahrscheinlich nicht am Telefon“, gab Katja frotzelnd zurück. „Wenn ich dich erinnern darf, ich bin seit halb sieben zu Gange. Wie jeden Morgen übrigens! Ronny ist zur Schule und dein Enkel auf dem Weg zu seinem Schreibtisch nach Düsseldorf. Aber deine Zeit ist das doch wohl in der Regel eher nicht, oder?“

„Nö“, erwiderte Opa knapp, „nur, wenn ich ein kleines Malheurchen hab. Sag mal, herrscht dicke Luft bei dir?“

Katja horchte erschrocken auf. Das mit der dicken Luft überhörte sie absichtlich. „Ist was passiert?“

„Na ja“, druckste er herum, „so kann man das schon nennen.“

„Was meinst du mit das, Opa?“

„Will dich jetzt gar nicht lange stören“, wich er aus, „wollte nur fragen, ob ich gleich mal eben vorbeikommen kann?“

Na, dann konnte es ja nichts allzu Schlimmes sein. Katja atmete auf. „Was heißt denn bei dir gleich, Opa, und warum so eilig? Ich meine, hat es nicht vielleicht auch Zeit bis heute Nachmittag?“

„Nö! Da bin ich verabredet und das Zeug braucht doch immer so lange, bis es getrocknet ist“, kam es putzig durch die Muschel.

„Zeug?“, wiederholte Katja argwöhnisch und plötzlich schwante ihr, was Sache war. „Hast du etwa schon wieder eine Delle im Auto? Opa, das ist schon das dritte Mal!“

Doch der überhörte es geflissentlich. „In einer Viertelstunde bin ich da. Danke, mein Kind, aber du bist die Einzige, die das so gut kann!“

„Übung macht den Meister!“, lästerte Katja, aber Robert Diepholtz hörte es nicht mehr. Schnell hatte er die Verbindung gekappt, bevor sie auf die Idee kam, ihm vielleicht doch noch eine Abfuhr zu erteilen.

„Ist wirklich nur eine Lappalie!“, versprach Robert, als er tatsächlich knapp zwanzig Minuten später auf der Matte stand. „Und hier …“, er reichte Katja den Werbeprospekt eines neu eröffneten Küchenstudios und einige Briefumschläge, „die Post. Hab grade euren Briefträger getroffen. Der kennt mich ja inzwischen, deshalb konnte ich ihn überzeugen, mir das in die Hand zu drücken. Glaube, er war auch ganz froh, nicht extra reinkommen zu müssen.“

Garantiert hat er dem Ärmsten wieder einen Knopf an die Backe gequatscht, dachte Katja, nahm den Wust Papiere entgegen und legte ihn achtlos auf den Küchenschrank. Gedanklich war sie bereits bei der Arbeit. Den kommenden Ablauf kannte sie mittlerweile zur Genüge.

„Möchtest du vorher noch einen Kaffee?“

„Danke, Kind, hab schon. Vielleicht später …“

Katja seufzte.

„Glaub mir, ist nur ein kleiner Kratzer.“

Opa und ein kleiner Kratzer? Sie grinste ironisch. „Hast du den Wagen schon in die Einfahrt gestellt?“

Er nickte.

Klar, Opa dachte mit.

„Na, dann … frisch ans Werk!“, forderte sie ihn auf, um kurz darauf zu erblassen.

„Oha!“ Katja inspizierte die besagte Stelle an seinem knapp vier Jahre alten, roten „Golf“, den er rückwärts knapp vor das Garagentor gesetzt hatte, und vermochte kaum zu glauben, was sie da sah. „Wenn du das klein nennst, möchte ich nicht wissen, was du wohl erst unter groß verstehst!“

Der kleine Kratzer übertraf ihre schlimmste Erwartung. Insgeheim vertrat sie ohnehin die Meinung, dass Opa seinen Lappen besser abgeben sollte. Nicht, weil er fünfundachtzig Lenze zählte, sondern weil er haarsträubend Auto fuhr.

Doch in dieser Hinsicht besaß er einen überaus sturen Kopf und schmetterte Katjas Vorschläge um andere Fortbewegungsmittel verächtlich ab. „Soll ich vielleicht mit dem Bus zu dir kommen?“

Dafür hatte er jetzt den Salat. Der Kratzer prangte am hinteren Kotflügel der Beifahrerseite und hatte, realer beschrieben, die Ausmaße eines Minikraters.

Robert kramte in seiner Jackentasche und zog ein kleines Päckchen heraus. Katja sichtete sofort die zwei Fläschchen mit den mittlerweile vertrauten Aufschriften.

„Hier, hab Nachschub besorgt.“

„Glaubst du wirklich, damit komme ich aus? Und überhaupt …“, erklärte Katja völlig konfus, „muss da im Übrigen wahrscheinlich erst mal wieder eine Grundierung drauf!“

„Ach was“, winkte er ungeduldig ab. „Der Verkäufer hat gesagt, das geht auch so. Mach dir also nicht solche Umstände!“

Wollte Opa sie verkohlen? „Hat der sich das überhaupt angeschaut?“

„Nö“, gestand er und knirschte mit dem Gebiss. „Aber ich bin mir sicher, du machst das schon!“

Katja zuckte die Schulter. Wenn er meinte … bitte sehr!

Robert verschwand um die Hecke, um sich einen der Gartenstühle von der Terrasse zu holen. Anschließend platzierte er sich fröhlich pfeifend vor seinen Wagen und schaute Katja seelenruhig und höchst interessiert bei der Arbeit zu. Offensichtlich gefiel ihm, wie sie da in aller Herrgottsfrühe vor ihm auf den Pflastersteinen hockte und mit dem Rostkratzer die übliche Vorarbeit leistete.

„Kind, könntest du bei der Gelegenheit auch mal eben da drüben nachschauen?“ Damit machte er einen Wink zur Fahrerseite.

Argwöhnisch schlich Katja in weitem Bogen um ihn und die Motorhaube herum. Sollte sie an diesem Morgen noch nicht blass genug geworden sein, so vollbrachte, was ihre Augen jetzt streifte, den Rest. Mitten auf dem hinteren Türblatt strahlten sie irgendwelche Klebefetzen an. Es war noch zu erahnen, dass diese ursprünglich in der Form eines Rechteckes aufgetragen worden waren, um die tiefe Lackspalte zu verdecken.

„Was ist denn das?“ Fassungslos stand Katja vor dem Greis im Klappstuhl.

„Och, da war Paketband drauf, ist aber abgegangen“, kam es reumütig vom Beobachtungsposten.

„Paketband?“

„Ja, Kind, ich weiß …“ Robert schaute drein wie ein kleiner Junge, der was ausgefressen hatte. „Ist mir vorige Woche passiert. Hatte bloß keine Zeit, dich anzurufen und dann hab ich einfach Sekundenkleber genommen, weil der Mist nicht gehalten hat. Muss ja nicht gleich jeder sehen, welche Macken ich schon rein gefahren hab.“

Katja glaubte nicht, was sie hörte, starrte ihn an wie einen Geist, welcher, statt ihr drei Wünsche zuzubilligen, stockbesoffen auf dem Flaschenboden hockte.

Dann aber konnte sie nicht mehr anders … plötzlich musste sie fürchterlich laut lachen und schlug sich die Hände über dem Kopf zusammen. „Opa, du bist vielleicht ein Komiker! Den Drissel kriegst du doch nie mehr ab!“

„Macht nichts“, winkte der grinsend ab, „lackier einfach drüber.“

In mehreren Arbeitsgängen nahm Katja sich die Schäden vor, die sie wirklich in der Lage war, zu richten.

„Siehst du, Kind, deshalb fand ich es besser, direkt morgens bei dir einzuschneien. Sonst hätte ich meine Verabredung sausen lassen müssen.“

Katja horchte neugierig auf. „Du hast eine Freundin? Das ist aber interessant. Erzähl!“

„Wart’s ab, meine Liebe! Du wirst sie bald kennen lernen.“

Na, das hörte sich ja ziemlich geheimnisvoll an. Hoffentlich war es nicht wieder eine von denen, die Opa ständig mit ihrem selbst gebackenen Kuchen hinterher liefen, damit der arme halb verhungerte Witwer noch einmal die Möglichkeit bekam, zu begreifen, dass Liebe ja bekanntlich durch den Magen ging.

Gegen halb eins zeigte Robert sich mit dem Resultat ihrer Arbeit vollauf begeistert. „Kind, ich wusste es doch … klasse gemacht! Also, ich könnte das nie!“

„Du kannst nur die Blöttschen rein fahren, wie?“, höhnte Katja. „Aber du hast mir immer noch nicht gesagt, wie das eigentlich passiert ist.“

„Das mit dem Kotflügel … na ja …“ Er fuhr sich mit der Hand durch die weißen Haare. „Ich war nur mal eben kurz in der Apotheke und als ich wieder zum Auto kam, da haben die mich völlig eingekeilt!“

Sicherlich meinte er damit Fahrer, die ihm keine drei Parkplätze hintereinander zum Rangieren frei gelassen hatten.

„Dabei musste ich doch schon so aufpassen, dass ich beim Ausscheren nicht den Hintermann ramme. Unverschämt, kann ich dir sagen, stellt sich da einfach einer dreist direkt vor mich und parkt mich zu!“ Robert redete sich in Rage. „Ganz langsam hab ich zurückgesetzt und rums … hänge ich an diesem dämlichen Schild.“

„Schild?“

„Ach, na ja!“ Er winkte die Nachfrage ab wie eine lästige Fliege. „Absolutes Parkverbot.“

„Wieso …?“

„Versteh ich doch selber nicht“, ereiferte er sich, um im nächsten Moment mit dem Blick eines winselnden Hundes um Glauben zu bitten. „Ich schwöre, das Schild war noch nicht da, als ich den Wagen abstellte!“

„Soweit ich mich entsinne, befinden sich Straßenschilder nicht im Rinnstein, Opa!“

„Hat es auch nicht, aber irgendwie ist der Wagen die Bordsteinkante hoch …“ Er rollte die Lider. „Nur wollte die Trina mir das partout nicht abnehmen!“

Katja konnte nicht ganz folgen. „Welche Trina?“

„Na, die mit dem Tippdingens, die jedes Fahrzeug begutachtet, als wolle sie es kaufen“, wetterte er. „In der Fernsehwerbung kann man die ja wenigstens mit ’nem Pudding ködern, aber bei mir hat das nicht funktioniert! Na ja, vielleicht lag es auch daran“, sinnierte er so vor sich hin, „dass ich nur mit Magerquark aufwarten konnte.“

„Du hast was?“ Langsam verstand sie, dass er von einer Politesse sprach und fühlte wieder ihr Zwerchfell kribbeln. „Und wie hat sie darauf reagiert?“

Robert zog die Stirn kraus, kniff die dichten weißen Brauen zusammen und knurrte: „Na, was glaubst du? Natürlich mit einem netten Liebesbriefchen samt folgendem Überweisungsträger!“

Katja lachte so laut, dass sie das Motorengeräusch des herannahenden Wagens überhörte.

Robert machte ein Handzeichen. „Kind, ich glaub, da kommt noch wer.“

Tatsächlich hielt direkt vor der Einfahrt zu ihrem Grundstück ein silberfarbenes Sportcabrio. Das Emblem auf der Motorhaube blitzte in der grellen Vormittagssonne genauso arrogant wie die platinblonde Lockenpracht, die sich jetzt aus der Fahrertür schälte.

Katja blickte überrascht zu der aufreizend schlanken Frau, die sich zunächst suchend umblickte und nun mit sonnengebräunten Beinen unter dem schwarzen Minirock und Highheels an den schmalen Füßen zielbewusst auf sie zustöckelte.

„Hübsches Gerät!“, nuschelte Robert und seine Pupillen hafteten dabei nicht am Fahrzeug. Allerdings wurden sie seltsam starr, als die Platinblonde kurz darauf unmittelbar vor ihm stand.

„Schönen guten Morgen!“, rief sie mit auffallend verrauchter Stimme. „Eine Frage: Handelt es sich hier um das Haus …“, sie zeigte mit ausgestreckter Hand, an deren Ringfinger ein scheinbar echter Rubin glitzerte, auf das Diepholtz’sche Anwesen, „… was zum Verkauf steht?“

Erst jetzt fiel auf, welche Furchen die Sonne bereits in ihr Gesicht gegerbt hatte und Katja schätzte, dass sie nicht viel jünger als sie selbst war.

„Wie?“ Sie glaubte, sich verhört zu haben.

Die Blondine grinste, reichlich gekünstelt, wie Katja fand, und nannte die Adresse. „Da bin ich hier doch richtig, oder?“

„Ja, stimmt“, entgegnete Katja hölzern, „aber woher haben Sie diese Information?“ Sie warf einen Hilfe suchenden Blick zu Opa herüber.

Der jedoch verhielt sich auffällig still, taxierte die Fremde nur mit eigentümlichem Gesichtsausdruck.

„Dass dieses Haus hier zu verkaufen ist?“ Das Grinsen hatte sich zu einem herablassenden Lächeln verwandelt. „Aus der Zeitung natürlich!“

„Aus der Zeitung?“ Ein unangenehmes Gefühl stieg in Katja hoch. „Hier muss ein Missverständnis vorliegen! „Haben sie die Zeitung vielleicht dabei?“

„Liegt im Auto“, kam es schnell zurück, als ob sie auf diese Bitte bereits vorbereitet war. „Wenn Sie wollen, hole ich sie.“

„Ich bitte darum!“ Katja hörte die eigene Stimme wie aus weiter Ferne.

Die Blondine drehte sich auf dem Absatz um und stöckelte zu ihrem Sportwagen zurück.

„Sag mal, verstehst du das?“ fragte Katja Opa, in der Hoffnung, er könne die Situation erklären.

Doch Robert starrte nur wortlos der Frau hinterher, als sei sie eine überirdische Erscheinung.

Sie stieß ihn sanft in die Seite. „Du sagst ja gar nichts mehr.“

„Äh … was …?“ Offensichtlich war er tief in Gedanken versunken.

„Die gefällt dir doch nicht etwa?“, argwöhnte Katja.

„Mir?“ Er schien über ihre Bemerkung geradezu entsetzt.

„Ach, dann habe ich mir deine Stielaugen vorhin nur eingebildet?“

„Stielaugen? Blödsinn! Aber jetzt mal im Ernst, Kind, hast du die Frau nicht schon mal gesehen?“

„Wüsste nicht, wo!“ Katja fand seine Frage eigenartig. Vor allem, weil sein Blick auch jetzt wieder gleichzeitig abwärts mit dem schwarzen Minirock glitt, der sich nur wenige Meter vor seinen Argusaugen tief ins Wageninnere bückte. Der leise Pfiff durch sein Gebiss war nun wirklich nicht zu überhören.

Katja kam zu dem Schluss, dass Opa sie nur verkohlen wollte, als das blonde Gift mit der besagten Zeitung unterm Arm schon wieder auf dem Rückmarsch war.

Er grinste hämisch in sich hinein.

„Was bitte ist daran jetzt lustig?“

„Dass man auf solchen Stelzen überhaupt laufen kann …“

Es war eines der örtlichen Presseblätter, welches die Fremde nun umständlich auseinander faltete. Blond lässt grüßen, dachte Katja spöttisch. Was nahm die auch die ganze Zeitung, wenn sie nur einen Ausschnitt brauchte.

„Wo ist das denn jetzt bloß?“ Die Blonde hatte offensichtlich Mühe zu finden, was sie suchte, während ihre Hände verkrampft die Seiten hielten, damit diese nicht von der leichten Brise davon gerissen wurden. „Na, so was …“, stieß sie hektisch hervor, „… das ist mir jetzt aber peinlich, da hab ich die wohl daheim liegen lassen.“

„Aber das macht doch nichts, junge Frau“, flötete Robert, „dann kommen Sie halt einfach noch mal wieder.“

„Ja, das … also, so was dummes …“, stotterte sie.

Es sollte sich wohl verlegen anhören, aber in Katjas Ohren klang es merkwürdig gespielt. Katja spürte, wie ihr Adrenalinspiegel stieg, versuchte, sich ihre Antipathie nicht anmerken zu lassen, als sie der Fremden freundlich, aber bestimmt entgegen setzte: „Tut mir leid, es handelt sich um einen Irrtum! Dieses Haus hier steht definitiv nicht zum Verkauf!“

Die Blonde schaute sie ratlos an, nach wie vor umspielte dieses abschätzende Lächeln ihre Mundwinkel.

„Sie können ja gerne noch mal wiederkommen, wenn mein Enkel zu Hause ist“, entfuhr es Robert jetzt auffallend zynisch. „Der wird es Ihnen gerne bestätigen!“

Perplex wechselte die Frau die Gesichtsfarbe. Einen Moment starrte sie Robert an, als nehme sie ihn erst jetzt richtig wahr und ein fast unmerkliches Zucken durchlief ihre Gestalt. Plötzlich hatte sie es sehr eilig, fort zu kommen.

„Danke, nicht nötig!“, nuschelte sie, stieß das Papier ineinander und mit einem „Schönen Tag noch!“ stakste sie, so schnell es ging, endgültig zurück zu ihrem Flitzer. In hohem Bogen warf sie den Müll in den Fußraum des Beifahrersitzes. Sekunden später heulte der Motor auf und der Wagen schoss davon.

„Was war denn das jetzt?“ Katja zweifelte an ihrem Verstand. „Und weshalb hast du ihr gesagt, sie soll noch mal wiederkommen, wenn Roland da ist?“

Robert druckste herum. „Um sie zu testen.“

„Testen? Womit?“ Katja verstand kein Wort.

„Na, wenn das mit der Anzeige gar nicht stimmt, kommt die doch wohl nicht noch mal her.“

„Was, wenn Elfriede doch verkaufen will?“, spielte Katja den Gedanken rein hypothetisch durch.

„Quatsch!“, schmetterte Robert sofort ab.

„Was macht dich da so sicher?“

„Du weißt, ich traue meiner Schwiegertochter einiges zu, aber dass sie, ohne etwas zu sagen, hinter eurem Rücken einfach inseriert, kann ich mir nicht vorstellen. Zudem würde es Besichtigungen nach sich ziehen, ginge also kaum ohne euer Wissen. Abgesehen davon, wo sollte sie dann noch hin, wenn sie von ihren Reisen zurückkehrt? Sie hätte doch gar keinen Anlaufpunkt mehr.“

An seinen Worten war was dran und wenn Katja recht überlegte … Elfriede würde den alten Kasten doch niemals freiwillig hergeben.

Vielleicht war ja wirklich alles nur ein Irrtum und ein dummer Druckfehler die Ursache. Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass irgendetwas in der Luft lag, sich genau über ihrem Kopf zusammenbraute. Und ihre Ahnung hatte sie bisher noch nie getrogen.

„Irgendwas stimmt hier nicht!“, argwöhnte sie denn auch laut. Zeigte sich da nicht gerade eine Spur von Verlegenheit in Opas Gesicht?

Ungefähr zur gleichen Zeit streifte Roland Diepholtz nach beendeter Mittagspause sein Jackett ab und hängte es über die Lehne des Drehstuhls. Angespannt holte er das Schriftstück, das er sich mit Absicht hierher in die Firma hatte schicken lassen, aus der Innentasche und faltete es zum wiederholten Male auseinander. Den Inhalt kannte Roland längst auswendig und dennoch trafen ihn die Worte wie ein erneuter Schlag mitten ins Gesicht.

Die feinen Schweißperlen, die sich auf seiner Stirn sammelten, schob er auf die Hitze, die im Raum sowie draußen an der Luft herrschte. Offensichtlich funktionierte in dem Laden hier die Klimaanlage schon wieder nicht.

Mit der Rechten angelte er ein Taschentuch aus der Schreibtischlade und tupfte sich die Nässe ab. Die Anzahl der Akten, die sich vor ihm häuften und stumm nach Bearbeitung schrieen, versetzte ihm einen zusätzlichen Adrenalinstoß. Er schrak regelrecht zusammen, als es von außen an der Tür klopfte.

Unverzüglich ließ er den Brief wieder verschwinden. Keinen Moment zu früh, schon schob sich die hagere Gestalt seiner Sekretärin durch den Spalt.

„Herr Diepholtz, hier sind die Unterlagen von Brehm & Bendix, die ich Ihnen unten in der Haftpflicht besorgen sollte.“ Damit überreichte sie Roland einen weiteren Ordner, der so schwer und prall mit Papier gefüllt war, dass die Verschlussklemme kurz davor war, ihren Dienst zu versagen.

„Danke, Löhrchen!“

Wie immer, wenn er sie so nannte, überzog eine feine Röte ihr sonst eher blasses Gesicht. Selbst nach den fast zwanzig Jahren, die sie nun in direktem Dienst für ihn arbeitete. „Ach, Herr Diepholtz …?“

„Ja?“ Roland aber hörte kaum hin, was sie sagte. Seine Gedanken umkreisten das Gelesene und zugleich den Wust Papiere, den sie ihm gerade gebracht hatte. Wie sollte er das nur alles heute noch schaffen? Bereits in drei Tagen sollte er eine Präsentation ausgearbeitet haben für diesen Kunden, den man ihm unter Anweisung von oben einfach zusätzlich aufs Auge gedrückt hatte. Bisher war sein Kollege Mommertz mit der Sache betraut, doch der war seit gestern auf unbestimmte Zeit krank geschrieben und er, der Diepholtz, mit dem man ja alles machen konnte, durfte es richten. Roland verspürte einen ziehenden Schmerz hinter der Schläfe.

„Ihre Frau hat angerufen. Zweimal sogar!“ Hedwig Löhr sah, wie seine Hand die Stirnseite rieb und fragte mitfühlend: „Soll ich Ihnen eine Kopfschmerztablette holen?“

Roland wirkte komplett geistesabwesend. „Was meinten sie?“

„Eine Tablette? Ich habe Aspirin dabei. Möchten Sie eine haben?“

Er nickte nur dankbar.

Löhrchen drehte sich schon zur Tür, erinnerte ihn dann noch einmal an die Anrufe. „Vielleicht ist es dringend!“, versetzte sie mit Nachdruck. „Die Stimme Ihrer Frau klang irgendwie merkwürdig. So ganz anders als sonst.“

Jetzt wo sie ihm das so sagte, fiel es ihr selbst eigentlich erst nachhaltig richtig auf. Katja Diepholtz veranschlagte ihr gegenüber sonst immer einen freundlichen, ja, sogar fröhlichen Ton. Sie besaß eine klare, sympathische Stimme, in der nichts Falsches lag und manchmal plauderten sie beide auch ein wenig.

Heute jedoch war von dieser Sympathie rein gar nichts zu spüren gewesen und Hedwig Löhr die Stimme von Katja Diepholtz sonderbar fremd erschienen.

„Was ist denn los? Wieder was mit Ronny?“ Rolands Stimme klang von vornherein genervt.

„Wieso?“ Katja, die gerade das Bügelbrett aufgespannt hatte, klemmte sich den Hörer hinters Ohr und wartete darauf, dass das Eisen die richtige Temperatur erreichte.

„Du, ich hab jetzt echt keine Zeit für so was!“, kam es nicht gerade sanft aus dem Hörer.

„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst!“ Katjas Adrenalinspiegel stieg an. „Aber es wäre trotzdem nett, wenn du deinen garstigen Ton änderst und mich aufklärst!“

„Warum rufst du mich dann im Büro an?“, dröhnte es sarkastisch zurück.

Katja zog die Stirn in Falten. „Ich habe dich nicht angerufen!“

„Natürlich hast du!“ Rolands Stimme duldete keinen Widerspruch. „Sonst hätte Frau Löhr es mir ja wohl nicht ausgerichtet, oder?“

Nicht nur das Bügeleisen dampfte inzwischen, sondern auch Katjas Zorn. „Wenn ich dir sage, ich habe dich nicht angerufen, dann ist das auch so!“, rief sie aufgebracht. Damit drückte sie einfach die Aus-Taste und knallte das schnurlose Telefon zurück auf die Ladestation.

War sie jetzt schon meschugge, oder was? Katja riss eins von Rolands gestreiften Oberhemden aus dem Wäschekorb und drückte mit vor Wut strotzender Kraft das heiße Eisen auf die Manschette, bis es plötzlich bedenklich verkohlt roch.

„Schei…!“ Schlagartig kam sie zur Räson. Wie konnte ihr das passieren? Noch nie hatte sie sich soweit vergessen. Aber warum war es jetzt überhaupt dazu gekommen? Die Frage bohrte sich durch ihr Herz und schmerzte, weil die einzige Antwort, die sie selbst darauf parat hielt, fürchterlich mit der Erkenntnis kämpfte, dass Liebe scheinbar vergänglich war.

Was hatte sie ihm getan? Sie war sich keinerlei Schuld bewusst. Dass Roland gerade in der letzten Zeit permanent unter Strom stand, war ihr nicht entgangen. Die wieder einmal neuen Umstrukturierungsmaßnahmen in der Firma verlangten auch von ihm größten Einsatz. Je öfter sie versucht hatte, mit ihm darüber zu sprechen, desto mehr blockte er ab. „Davon verstehst du sowieso nichts!“ Irgendwann gab sie es auf und beschränkte sich auf stilles Beobachten. Doch seine derben Worte taten jedes Mal aufs Neue weh und sie hörte darin stets den unausgesprochenen Vorwurf, dass sie ja schließlich den lieben, langen Tag nur zu Hause auf der Couch herumlag und den lieben Gott einen guten Mann sein ließ. Erst heute Morgen hatte er es ja auch wieder ausgesprochen.

Das gute Hemd jedenfalls war hinüber. Damit lieferte sie ihm jetzt wenigstens einen Grund zu meckern.

Seit Rolands Anruf war der Tag für sie gelaufen. Die Gedanken kreisten in Katjas Kopf, sie fühlte sich deprimiert. Zuerst hegte sie die Absicht, ihn noch einmal zurück zu rufen, um vernünftig mit ihm zu reden. Doch dann verwarf sie diese wieder. Hatte er nicht betont, dass er für so was keine Zeit habe?

Katja warf einen Blick auf die Küchenuhr, die in Form einer lachenden Sonne ihren Platz an der Wand über der Essecke einnahm. Gleich zwei. In diesem Moment kam es ihr vor, als sei das Lachen voller Hohn. Alle waren eins mit sich, nur sie selbst nicht. Roland war mit seinem Job beschäftigt. Ronny hatte heute bis fünfzehn Uhr Schule und sich anschließend mit einem Kumpel fürs Kino verabredet. Elfriede schipperte auf den Weltmeeren herum und Opa ließ sich wahrscheinlich gerade von seiner geheimnisvollen Bekanntschaft anhimmeln.

Somit lag vor ihr ein langer, freier Nachmittag. Im Normalfall genoss sie die Ruhe, die sich ihr an solch seltenen Tagen bot. Doch heute war irgendwas anders. Obwohl die Sonne nicht nur an der Wand, sondern auch draußen mit aller Macht schien, kam Katja alles trist und öde vor. Sie starrte durch die große Schiebetür hinaus in den weitläufigen Garten, dessen Anlage sie seit sechseinhalb Jahren liebevoll pflegte und die eigentlich ihren Schwiegereltern, beziehungsweise jetzt nur noch ihrer Schwiegermutter gehörte.

Beim Anblick der Fläche und der damit verbundenen Arbeit ihrer eigenen Hände sehnte Katja sich, wie so oft, zurück nach dem gemütlichen Reihenhaus mit dem kleinen, übersichtlichen Hanggarten oben in Heidhausen. Dort hatten sie sich doch alle drei so wohl gefühlt. Eine leise Wut auf sich selbst ergriff von ihr Besitz. Warum nur hatte sie damals nachgegeben und sich, entgegen ihrer Vorbehalte, auf den Umzug eingelassen? Weshalb hatte sie ihrer Schwiegermutter nicht genügend Paroli geboten, als diese Roland einredete, das Haus übernehmen zu müssen. Mit der Begründung, er sei schließlich darin aufgewachsen, jeder Raum berge doch persönliche Erinnerungen, auch seine, und er wolle bestimmt nicht, dass fremde Menschen dies alles zerstörten, wäre sie gezwungen zu vermieten.

Katja erinnerte sich noch sehr gut daran, wie Roland auf ihre Einwände reagierte. Ein heikler Ehekrach war die Folge, denn ihr Mann stand im Resultat voll und ganz hinter der Meinung seiner Mutter. Da brachte es auch nichts, ihm vorzuhalten, dass Magnus, sein älterer Bruder, der zwar seit über zwanzig Jahren mit seiner Familie in Schweden lebte, trotzdem wieder einmal übergangen und einfach vor vollendete Tatsachen gestellt wurde.

Doch für Katja stellte sich damals auch die Frage, ob der Streit wegen dem Umzug letztendlich wert war, zur echten Belastungsprobe ihrer Ehe zu werden.

Inzwischen hatte sie aus dem nahezu kühl wirkenden Backsteingemäuer ein behagliches Zuhause geschaffen. Sie selber jedoch fühlte sich hier auf merkwürdige Weise auch nach sechseinhalb Jahren nur wie ein Gast auf Lebenszeit.

Ich muss hier raus!, schrie es in ihr.

Aber wohin? Zu Antje vielleicht? Den Gedanken verwarf sie sofort wieder. Antje war zwar ihre beste Freundin und Katja wusste, ihre Tür stand immer für sie offen, aber Antje hätte auch sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Katja fehlte im Moment sogar die Lust, sich auszuheulen. Sie wusste ja selber nicht recht, was mit ihr los war.

Bestimmt ließ Roland heute Abend wieder seinen Lieblingssatz ab: „Kriegst du deine Tage?“ Mit dieser dämlichen Frage pflegte er in der Regel auch außerhalb ihrer Regel jedes eheliche Problem abzutun.

Vielleicht sollte sie einfach mal wieder mit dem Rad eine Runde um den Baldeneysee drehen. Das hatte sie ewig nicht mehr gemacht.

Die Idee gefiel ihr. Schnell ein bisschen frisch gemacht, den bekümmerten Gesichtsausdruck weggewaschen, dann ein Blick zur Uhr. Sie hatte rund drei Stunden Zeit. Die sollten wohl genügen, um auf andere Gedanken zu kommen.

Das alte Hollandrad hatte zu lange in der Garage auf demselben Fleck gestanden, da war erst mal Pumpen angesagt. Katja lehnte das Rad gegen den Zaun und machte sich an die Arbeit. Durch die Bewegung drohte es mehrmals zu kippen und so drehte sie den schweren Rahmen kurzerhand auf den Sattel. Sie ächzte unter der Last und ärgerte sich über die schwarzen Schmierflecken an ihren Händen. Aber was sollte es, die konnte man schließlich abwaschen.

Als sie fertig war, schlüpfte sie schnell zurück ins Haus, machte sich sauber und stopfte in weiser Voraussicht eine Packung Feuchttücher in die Tasche. Dann fiel ihr ein, dass bei den vorherrschenden Temperaturen etwas zum Trinken sicher auch nicht verkehrt sei und so fand sie noch einmal den Weg in die Küche. Der Kühlschrank surrte leise vor sich hin. Sie nahm eine Flasche Wasser heraus und erst beim Schließen der Tür fiel Katjas Blick auf die Umschläge, die noch immer ungeöffnet auf der Anrichte lagen. Die hatte sie ja ganz vergessen. Zu unterst lugte ein graues Kuvert hervor. Sicher war das endlich der Steuerbescheid, den Roland bereits sehnlich erwartete, rechnete er doch mit einer satten Rückerstattung.

Katja verspürte jetzt aber keinerlei Lust, sich mit diesem Amtchinesisch abzugeben. Ging ihr schließlich alles von der Zeit ab und sie wollte ihren kleinen Ausflug nicht noch weiter nach hinten verschieben.

Gerade im Begriff, den Papierwust einfach ungeöffnet auf Rolands Schreibtisch im Arbeitszimmer zu befördern, rutschte ihr der graue Umschlag aus den Händen und landete direkt vor ihren Füßen. Katja bückte sich, um ihn aufzuheben und im selben Moment hafteten ihre Augen auf dem Stempelaufdruck der Vorderseite. Nanu, dieser Wisch kam ja gar nicht vom Finanzamt und als Empfänger war auch nicht Roland angegeben, sondern sie. Verdutzt fragte sie sich, was das Amtsgericht Krefeld von ihr wollen könne.

Mach auf und sieh nach!, rief es in ihr. War es die Vorahnung, dass etwas auf sie zukam, mit dem sie niemals gerechnet hätte?

Zögernd drehte Katja den Umschlag hin und her. Wie aus heiterem Himmel begannen ihre Hände zu zittern, dass sie zum Öffnen ein Küchenmesser zur Hilfe nehmen musste.

Amtsgericht/Nachlassgericht Krefeld

Preussenring 49

Krefeld

Sehr geehrte Empfängerin dieses Schreibens,

in der Nachlasssache: Albert Georg Mittelberg

letzter Wohnsitz: Krefeld

wird auf Anordnung des Gerichts mitgeteilt, dass nach dem Erblasser ein notariell versiegeltes Testament sowie ein notariell versiegeltes, persönliches Schriftstück zur Übergabe vorliegen.

Dem Gericht liegen Angaben vor, aus denen aufgeführte Erben des Nachlasses wie folgt hervorgehen:

Katja Brigitte Diepholtz, geborene Grafenau,

geb. am 23.04.1970 in Essen

Die Worte verschwammen vor Katjas Augen. Sie hatte Mühe, auch die folgenden Zeilen des Schreibens bewusst aufzunehmen.

Das Gericht setzt den Termin für die Testamenteröffnung fest auf den …

Um persönliches Erscheinen wird gebeten.

Hochachtungsvoll

Auf Anordnung

Würm

Justizangestellte

Völlig verwirrt ließ Katja das Blatt sinken. Albert Georg Mittelberg? Wie konnte das sein? Sie kramte in ihrem Gedächtnis, kannte nur einen einzigen Menschen mit diesem Namen: Onkel Bartel. Aber war der denn nicht schon lange tot?

Sie versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, eine Verbindung, und sei sie auch noch so vage, herzustellen. Onkel Bartel, so hatte sie Albert als Kind immer genannt, weil er diesen lustigen Spitzbart trug. Er war ein Cousin ihres Vaters, lebte damals tatsächlich irgendwo weit außerhalb in einer düsteren, alten Villa. Ob die sich aber nun wirklich in Krefeld oder sonst wo in einer der umliegenden Städte befunden hatte, wusste Katja beim besten Willen nicht mehr zu sagen. Das einzige, woran sie sich wirklich erinnerte: der Weg zu ihm kam ihr auf dem elterlichen Rücksitz vor wie eine lange Reise und musste über die Uerdinger Rheinbrücke geführt haben, denn das riesige Emblem der Bayerwerkezwischen den rauchenden Schloten vergaß keiner, der es je gesehen hatte.

Katja versuchte sich zu konzentrieren, ob ihr noch mehr einfiel. Plötzlich sah sie wieder ganz deutlich das verweinte Gesicht ihrer Mutter vor sich, als es damals hieß, er sei einfach verschwunden. Danach wurde sein Name innerhalb der Familie nie wieder erwähnt. Was jedoch seinerzeit geschah und was aus Onkel Bartel geworden war, hatte sie nie erfahren und ihn irgendwann im Laufe der Zeit für verstorben gehalten.

Katja war durcheinander. Etliches ging ihr durch den Kopf und am Ende kam sie zu der Überzeugung, dass dieser Justizangestellten Würm vielleicht ja auch einfach nur ein Fehler unterlaufen sein konnte, beruhend auf einer zufälligen Namensgleichheit.

Der Tag der Irrtümer!, höhnte es in ihrem Schädel. Aber dann blieb immer noch die Frage, wie ihre Daten auf das Papier kamen. War es nicht ziemlich unwahrscheinlich, dass zwei Menschen am selben Tag, am selben Ort und dazu noch mit demselben Namen geboren wurden?

Trotzdem, das Beste würde sein, sie rief direkt beim Krefelder Gericht an und klärte die Sachlage.

Da sie nicht zu den Menschen gehörte, die wichtige Dinge auf die lange Bank schoben, griff sie umgehend zum Telefon und drückte die Zahlenfolge der angegebenen Durchwahl.

Vergessen war ihre kleine Auszeit am See, vergessen das Rad in der Einfahrt. Katja vernahm nichts als das monotone Ticken der Wanduhr. Alles andere hatte ihr Gehirn ausgeblendet. Sie saß da wie eine unbewegliche Statue mit schläfrigen Augen, während ihr Verstand rätselte und das Gespräch nachhaltig in ihrem Kopf eine Endlosschleife drehte.

„Hier muss ein Irrtum vorliegen!“, hatte sie dieser Frau Würm versucht zu erklären.

„Irrtum?“, gab die Rechtspflegerin freundlich, aber verständnislos zurück, mit einer Piepsstimme, die Katjas Trommelfell zum Schwingen brachte.

„Ja, denn ich bin mit Sicherheit nicht die Person, die hier gemeint ist!“

„Warten Sie bitte einen Moment!“, bat die Stimme gleich bleibend freundlich und Katja versuchte sich das dazu gehörige Gesicht vorzustellen. Durch die Leitung vernahm sie das Rascheln von Papier.

Katja verspürte einen merkwürdigen Kloß im Hals. Sie klemmte sich den Hörer feste hinter das Ohr und füllte sich ein Glas mit Saft. Worauf sollte sie denn jetzt noch warten? Sie hatte Bescheid gesagt, damit musste es doch gut sein!

Der Kloß wurde noch größer, als sich die Piepsstimme zurück meldete: „Frau Diepholtz, ich kann und darf Ihnen an dieser Stelle versichern, dass kein Irrtum vorliegt!“

Der Kloß in Katjas Hals mutierte und in ihrem Magen rumorte ein unangenehmer Druck. „Kein Irrtum? Aber ich verstehe nicht …“, sie hatte Mühe zu sprechen, „ … um was es geht!“

„Um die Testamentseröffnung, so, wie es auch in dem Schreiben steht, und um Ihre persönliche Anwesenheit.“

Katja wollte sich damit nicht zufrieden geben, war zu aufgewühlt. „Aber was …“

Die Rechtspflegerin blockte ab. „Es tut mir leid, Frau Diepholtz, es ist mir nicht möglich, Ihnen vorab, insbesondere telefonisch, weitere Auskünfte zu geben!“

Katja blieb also nichts anderes übrig, als Verständnis aufzubringen und die sechs Tage bis Dienstag zur Testamenteröffnung zu warten.