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31 Jahre lang war Patrick Steffens bei den Zeugen Jehovas. In seinem bewegenden Bericht zieht er das Resümee eines Lebens, das von einer polarisierenden und widersprüchlichen Religionsgemeinschaft bestimmt wurde. Humorvoll und selbstironisch beschreibt er die Kindheit in einem liebevollen, aber streng religiösen Zuhause, lässt uns teilhaben an den Herausforderungen als Heranwachsender, dem Erleben tagtäglicher gesellschaftlicher Ausgrenzung und nimmt uns mit in den Alltag eines Zeugen Jehovas, in dem der Einfluss der Lehren und Vorgaben der Organisation in die unterschiedlichsten Sphären des persönlichen Alltags reicht. Bis zu seinem Ausstieg, der mit den einschneidenden Folgen familiärer Ächtung verbunden war. Patrick Steffens gibt einen realistischen Einblick in den sonst geschlossenen Kreis einer weltweit bekannten Religionsgemeinschaft. Durch die sachliche, aber zutiefst aufrichtige Schildung seiner Erfahrungen gibt der Autor einen authentischen und persönlichen Einblick in eine Organisation, die den eigenen Anspruch christlicher Nächstenliebe nicht nur lehrt, sondern vordergründig auch auslebt, oftmals verbunden mit weitreichenden Folgen für die Würde und Freiheit ihrer Mitglieder. Und trotz allem Erlebten bleibt eine Gleichung am Ende ungelöst: DER ZWEIFEL
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31 Jahre lang war der Autor Mitglied bei Jehovas Zeugen. In seinem bewegenden Bericht zieht er das Resümee eines Lebens, welches von einer polarisierenden und sich oftmals selbst widersprechenden Religionsgemeinschaft bestimmt wurde.
Humorvoll und selbstironisch beschreibt er seine liebevolle, aber streng religiöse Kindererziehung, die Herausforderungen als Heranwachsender, in welchen die gesellschaftliche Ausgrenzung zum festen Tagesablauf gehörte, sowie den späteren Alltag eines Zeugen Jehovas, dem die Lehren und Vorgaben der Organisation weitreichenden Einfluss in die unterschiedlichsten Sphären des persönlichen Alltags brachten.
Bis zu seinem Ausstieg, der mit einschneidenden Folgen familiärer Ächtung durch die Exkommunikation verbunden war, bekommt der Leser einen realistischen Einblick in den sonst geschlossenen Kreis einer weltweit bekannten Religionsgemeinschaft.
In sachlicher und auf seinen eigenen Erfahrungen beruhender Autobiographie gibt der Autor einen neutralen und objektiven Einblick in eine Organisation, die den eigenen Anspruch christlicher Nächstenliebe nicht nur lehrt, sondern vordergründig auch auslebt – oftmals verbunden mit Folgen für die eigene Würde und Freiheit.
Und trotz allem Erlebten bleibt eine Gleichung am Ende ungelöst – DER ZWEIFEL.
Gewidmet meiner Mutter, die in diesem Buch die Antworten auf all ihre Fragen finden könnte, aber niemals den Mut aufbringen darf, es zu lesen.
TOT
Für immer frei
Fesseln für die Ewigkeit
Aufgewachsen im goldenen Käfig
Tag und Nacht nur Schule
Mein persönliches Predigtdienstgebiet
Was ist mein Leben wert?
Fleißige Hände
Der (un)glücklichste Mensch auf Erden
Eine Lehre – zwei Auslegungen
Liebe hat zwei Gesichter
Mr. Big und die Eifrigen
Das Ende beginnt
Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte
Neustart
Maverick – Klappe eins
Maverick – Klappe zwei
SIE konnten es uns nicht nehmen
Epilog
„Was die Herde überhaupt nicht mag, ist derjenige, der anders denkt; es ist nicht so sehr die Meinung selbst, sondern die Kühnheit, selbst denken zu wollen, etwas, das sie nicht kann.“
Arthur Schopenhauer
TOT – ist es wirklich das, was du jetzt bist, mein Sohn? Heute habe ich dich beerdigt – abgeschlossen mit dem Gedanken, dich jemals wieder in meinen Armen zu halten. Du bist so plötzlich verschwunden. Einfach weg – von jetzt auf gleich, ohne dass ich mich darauf vorbereiten und mich von dir verabschieden konnte. Fühlt es sich also so an? Ist dies der Schmerz, den man verkraften muss, wenn man sein Kind verliert?
Ich werde versuchen müssen, dich aus meinen Erinnerungen zu verbannen. Ich werde lernen müssen, jedes Bild, jeden Gegenstand, einfach alles, was mich an dich erinnert, aus meinem Haus zu entfernen. Wie kann ich noch durch die Räume gehen, ohne dass es mich innerlich zerreißt?
Andenken an deine Kindheit – den kleinen Monchhichi, den du so geliebt hast und der auf dem Foto von deinem ersten Kindergartentag bis heute über meinem Kamin steht. Deine ersten kleinen Schühchen, mit denen du laufen gelernt hast, deine Lego-Eisenbahn, auf die du so stolz warst, oder dein rot-weißes BMX-Fahrrad, das wir dir zur Einschulung geschenkt haben. Die vielen kleinen Basteleien, die du mir aus dem Kindergarten mitgebracht hast. Das mit so vielen Details gemalte Bild, mit gelben und grünen Farbklecksen und in der Mitte mit großer Schrift: „Papa, ich habe dich lieb“.
Und deine unzähligen kleinen Briefe, die du uns immer wieder geschrieben hast – besonders die an deine Mutter. Ich habe sie noch alle.
Im Keller steht noch dein kleiner Bergrucksack, mit dem wir unsere erste Hüttenwanderung in den Alpen unternommen haben.
Du warst damals so glücklich, als du mit deinem überdimensionierten Seil auf der ersten Schutzhütte angekommen warst und dem Wirt voller Stolz erklärt hast, dass du der Nachfolger von Luis Trenker wirst.
Und meine Fotos! In Dutzenden von Alben habe ich deine gesamte Kindheit dokumentiert. Jedes kleinste Ereignis – begonnen mit deiner Geburt bis zur Übergabe deines Lehrbriefes.
Ich werde alle diese Dinge erstmal in dein altes Kinderzimmer stellen. Ich schaffe es noch nicht, alles zu vernichten. Ist das überhaupt die richtige Entscheidung? Geht man so mit Trauer um? Ich weiß es wirklich nicht … diese Erfahrung ist neu für mich.
Ich denke, ich werde SIE fragen müssen. SIE haben immer auf alles eine Antwort.
Vor genau sieben Tagen warst du bei mir zuhause. Heute musste ich meinen Frieden mit dir schließen.
„Papa, ich würde gerne mit dir reden“, waren deine Worte. Wie oft hast du das zu mir gesagt? Ich war immer dein erster Ansprechpartner. Alles hast du mit mir geteilt – deinen ersten Liebeskummer, deine nicht enden wollende Odyssee mit deinen schulischen Herausforderungen. Es war immer Daddy.
„Also klar Großer, komm vorbei.“
Was in dieser Woche alles passiert ist.
Ich halte das halbleere Glas Rotwein in meiner Hand und betrachte eines unserer letzten gemeinsamen Fotos. Es war im hintersten Tannheimer Tal, im fernen Tirol. Auf einer unserer vielen gemeinsamen Bergtouren, am Ende deiner Schulzeit. Weißt du noch, wie wir diese Tage genossen haben – nur wir Männer? Da oben, wo die Baumgrenzen schon lange hinter einem liegen und man am Horizont nur die Weite der Berge sieht. Diese Momente faszinierten uns immer beide.
Es ist so still im Haus. Ich schwelge momentan lieber in Erinnerungen als mich abzulenken. Noch ein Schluck Wein? Warum nicht. Es ist eh alles egal. Mein Blick ist leer und meine Gedanken verirren sich im dunklen und kalten Raum. Deine Mutter ist für ein paar Stunden außer Haus. Auch sie muss ihre Gedanken ordnen.
Ich erinnere mich, wie sie mir vor vielen Jahren freudestrahlend mitteilte, dass du unterwegs bist. Es war die Erfüllung meines jungen Lebenstraums – nichts Sehnlicheres als eine Familie hatte ich mir gewünscht. Und dann warst du da. Ein strammer 3500 Gramm schwerer Bursche mit strahlend blauen Augen, der uns eine halbe Ewigkeit hat warten lassen. Ich bin mit dir den Stationsgang hoch und runter gelaufen. Du warst eingewickelt wie ein kleines Bündel Holz. Ich habe nur geredet. Ich erzählte dir alle möglichen Anekdoten – die du natürlich alle verstanden hast. Sowieso.
Alle waren überglücklich, dass du da warst. Das kleine Krankenzimmer war permanent mit Besuchern belegt und ich stellte dich der Welt wie ein einzigartiges Wunder vor. Nichts anderes warst du für mich.
Dann kamst du nach Hause. Es war alles vorbereitet. Klar, du hast Mami geliebt. Aber du warst Daddys kleiner Junge. Von der ersten Minute an. Es war nicht einfach, dich jeden Tag in den 4. Stock unseres Altbaus hochzutragen – dort, wo Mama dir monatelang dein liebevoll eingerichtetes Zimmer als neues Zuhause vorbereitet hatte. Ich habe dich gewickelt, gefüttert und bin nachts mit aufgestanden, wenn du geweint hast. Und das hast du viel – eigentlich permanent. Mal war es der Hunger und mal waren es die Koliken – manchmal wussten wir einfach nicht weiter. Ich erinnere mich, wie wir viele Nächte an deinem Bettchen verbracht haben. Deine Mama hat oft gesungen, um dich zu beruhigen – „Heidschi Bumbeidschi“ und das „Märchen der Königskinder“.
Auch deine Eifersucht, als deine zwei Geschwister geboren wurden, mussten wir erstmal akzeptieren. Dass du als mein Erst-geborener einen besonderen Stellenwert hattest, konntest du halt noch nicht verstehen oder nachvollziehen.
Deine ersten eigenen Gebete konntest du mit vier Jahren sprechen. Du hast es von mir gelernt. Morgens, immer nach dem Aufstehen, und abends, bevor ich dich ins Bett gebracht habe. Oder zwischendurch, wenn ich es für angebracht hielt – was ich oft tat.
Du warst gewappnet.
Ich war so stolz auf dich, als du mir in den ersten Monaten deiner Schulzeit erzählt hast, wie du, als Jasmin Geburtstag hatte und alle aufgestanden sind, in der Klasse nicht mitgesungen hast. Wie deine Klassenkameraden dich ausgelacht und verspottet haben, weil du auch nichts vom Geburtstagskuchen probiert hast. Das Stoßgebet, welches du zum Himmel geschickt hattest, zeigte natürlich seine Wirkung. Das Gebet zu unserem Gott – es war eines der vielen wichtigen Dinge, die ich dir bereits als Kleinkind beibrachte. Wie du selbst das Tischgebet sprechen durftest, um deinem himmlischen Vater Dank zu sagen. Unsere gemeinsamen Spaziergänge im Wiesbadener Stadtwald. Ich weiß noch, wie ich dir von meinem eigentlichen Traumberuf erzählte und du sofort „Feuer und Flamme“ warst – du warst gerade in der ersten Klasse als du wusstest, dass du später Förster werden willst. Und dann bist du es zwölf Jahre später auch tatsächlich geworden.
Ich war so stolz auf dich, als du deine ersten Vorrechte in der Versammlung bekamst – und mit gerade acht Jahren deine erste Bibelvorlesung vor der ganzen Versammlung halten durftest. Aufgeregt suchten deine Blicke nach Daddy. Aber du standest da – auf einem kleinen Sockel, damit du auch ja das Rednerpult erreichen konntest.
Und dann dein erstes Vorsprechen im Predigtdienst – ebenfalls schon im zarten Alter von acht Jahren. Was warst du aufgeregt. Zwei Zeitschriften über religiöse Themen wolltest du anbieten und damit die ersten Erfahrungen im Missionieren sammeln. Bis heute kann ich mich noch an das Titelbild erinnern. Es war die Arche Noah. Eine Abhandlung über die Sintflut und ihre Warnung an die heutige Menschheit. Eine Dame um die sechzig Jahre öffnete damals die Tür im dritten Stock dieses Wiesbadener Altbaus. Du warst so nervös, dass du fast in ihrem Flur standest. Aber du hast es mit Bravour gemeistert und sogar deine fünfzig Pfennig pro Zeitschrift bekommen.
Und irgendwann kamst du zu mir. Du warst gerade zwölf Jahre alt geworden. Du wolltest dich taufen lassen! Für einen Moment überlegte ich noch, ob du nicht zu jung wärst. Du standest erst am Beginn deines jugendlichen Lebens. Du warst noch ein Kind. Noch hattest du keinerlei Berührungspunkte mit dem Berufsleben oder der Entwicklung deiner persönlichen Lebensvorstellungen gehabt. Du kanntest nur das, was du von mir gelernt hast. Aber das war ja das Richtige.
SIE sagten es uns immer wieder.
Auf der anderen Seite begrüßte ich deine Ambitionen. Alle deine Freunde aus der Versammlung waren bereits getauft oder standen kurz davor. Das magische Alter von zwölf Jahren – ein ungeschriebenes Gesetz unter christlichen Jugendlichen. Das wusste ich. Deine Freunde, die Versammlung, deine Familie – sie alle waren der Ersatz für eine dir noch nicht bekannte Welt da draußen. Eine Welt, vor der ich dich immer fernhielt und in der ich dir alles verbot. Ich wollte dich beschützen. Das war MEINE Ambition. Diese Menschen waren das Einzige, was du hattest – dafür habe ich immer gesorgt. Ich wollte nur das Beste für dich.
SIE haben es mir doch so beigebracht.
Also erlaubt ich es dir. Mit dreizehn Jahren warst du ein ordinierter Zeuge Jehovas. Ein Kind, das noch keinerlei Erfahrungen mit einer sich schnell verändernden Welt sammeln konnte. Aber mit der Bürde einer göttlichen Verantwortung. So musste es sein – SIE sagten immer, es wäre so dein bester Schutz. Wie schon bei mir und meinem Vater. Und beim Vater meines Vaters. Also, warum nicht auch bei dir? SIE haben doch immer Recht.
Und so wurdest du größer, mein Sohn. Dein Eifer war ein Vorbild für viele deiner Altersgenossen. Du missioniertest mehr Stunden und studiertest eifriger als alle anderen und deine Hände waren in den Zusammenkünften bei fast jeder Frage oben, wenn Onkel Herbert von der Bühne aus am Sonntagvormittag sein Wachtturm-Studium leitete. Zwei Mal im Jahr meldetest du dich als Hilfspionier und verbrachtest monatlich 60 Stunden damit, zu missionieren – also mit fremden Menschen über biblische Themen zu sprechen und sie zu unserem Glauben zu bekehren. Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen, dass mich andere Eltern aus der Versammlung ansprachen, ob dein Eifer nicht „zu viel des Guten“ wäre.
Dann stand dein Schulabschluss bevor. Du warst gerade fünfzehn Jahre alt geworden. Noch zwei Jahre, bis es so weit war. Dein Ziel war es, ein eifriger Zeuge Jehovas zu werden. Ein gottesfürchtiger Familienvater, mit vielen Kindern, wie ich es mir immer für dich wünschte. Du wolltest eine ganze Fußballmannschaft haben. Luxus? Der war dir egal. „Hauptsache ein Bad mit Dusche und Badewanne“, waren immer deine Worte. Ein Auto? „Hauptsache, es bringt mich von A nach B“, höre ich dich noch heute sagen. Ein hohes Gehalt? „Egal.“
„Papa, es kommt sowieso bald Harmagedon. Unser Gott wird die Erde und alle Menschen darauf vernichten – alle, bis auf uns Zeugen Jehovas. Ich will gerettet werden, so wie du und Mama und alle meine Freunde und Familie. Die Weltmenschen sollen Geld verdienen und Ferraris fahren. Das ist mir egal. Sie werden eh alle sterben. Ich werde im Paradies im Bautrupp helfen, wenn alle Städte wieder aufgebaut werden und wir Platz für alle Auferstandenen brauchen.“
Du warst eben ein Musterbeispiel eines eifrigen Zeugen Jehovas. SIE waren so stolz auf dich. Bestimmt. Auch wenn sie dich nicht kannten.
Und dann kam sie – diese schleichende Veränderung.
Du entdecktest, dass es da noch etwas anderes gab. Fernab von all den christlichen Verpflichtungen, die deine gesamte Zeit in Anspruch nahmen. Diese Verpflichtungen waren doch unser Vorrecht, die Bestimmung eines jeden Zeugen Jehovas. Da gab es diese weltlichen Versuchungen, vor denen ich dich doch immer gewarnt hatte. Kinos, Musik, Partys und Diskotheken.
Im Kino liefen der blutrünstige „Braveheart“ und „James Bond“ mit Pierce Brosnan. Da gab es Geburtstagsfeiern und Weihnachten, was die Nachbarskinder und deine Klassenkameraden alle feierten. Halloween, Ostern und dann Silvester.
Und es gab die Mädchen. Irgendwann musstest du sie ja entdecken – verdammt nochmal! Dabei habe ich doch immer alles in meiner Macht Stehende getan, damit du sie nicht registrierst. Ich habe dir doch alles verboten, was mit Unmoral zu tun hat. Ich war mir so sicher, jeden Gedanken an Lust und Liebe bei dir unterdrückt zu haben. Sex und Liebe gehören nur in die Ehe. Alles andere ist die größte Sünde gegen Gott und bewirkt, dass du in Harmagedon vernichtet wirst. Ich dachte, das verstehst du. Habe ich dir nicht anhand der vielen Bücher und Zeitschriften von IHNEN immer und immer wieder versucht zu erklären, was für Gott alles eine Sünde ist? Dass du nur intensiv beten musst, wenn du in Versuchung kommst?
SIE haben mich doch genau das zu tun gelehrt?
Warum begannst du dann, genau das Gegenteil zu tun? Warum gingst du mit sechzehn Jahren heimlich ins Kino, anstatt zu missionieren? Warum hast du nicht bei deinen Brüdern aus der Versammlung übernachtet, sondern bist heimlich in diese verruchte Diskothek in der Altstadt gegangen?
Warum begannst du, mit Menschen Umgang zu pflegen, die einer erfolgreichen, weltlichen Tätigkeit nachgingen und das Leben in der Art genossen, vor der ich dich immer schützen wollte? Bringen dich solche finanziellen Erfolge denn deinem Gott näher?
Und was sollten diese ständigen Freizeitgestaltungen mit deinen neuen Bekannten im Sportstudio? Konntest du dich nicht mehr an die biblischen Worte erinnern, „dass schlechte Gesellschaft nützliche Gewohnheiten verdirbt“? Jeder, der sich nicht Zeuge Jehovas nennt, ist so ein schlechter Umgang! Das wusstest du doch. Das habe ich dich immer versucht zu lehren.
Und warum musstest du dich ausgerechnet in dieses Mädchen verlieben? Sie ist doch keine Zeugin Jehovas. SIE haben dich doch immer und immer wieder gelehrt, „nur im Herrn zu heiraten.“
Es ist Sünde, sich einen Partner zu suchen, der kein Zeuge Jehovas ist. Alles Dinge, die ich dir seit deiner Geburt versucht habe zu vermitteln. All die Mühe und all die Anstrengen, die ich aufgebracht habe, um dir IHR Wort zu vermitteln.
War das etwa umsonst?
Wieso hast du begonnen, meine Erziehung zu hinterfragen? Sie ist doch auf das Wort Gottes aufgebaut gewesen – das haben SIE mir immer bestätigt.
Wieso hast du begonnen, IHRE Lehren zu hinterfragen? IHRE Anweisungen und IHRE Vorgaben? Die schlimmste aller Sünden, mein Kind. Warum hast du gerade diese begangen? SIE sind das Sprachrohr Gottes auf der Erde. Durch IHRE Verbindung erreicht uns der Wille Gottes. SIE repräsentieren sein Vorhaben und haben die Aufgabe erhalten, sein Volk anzuführen. IHR Wort ist Wahrheit.
SIE – Jehovas Zeugen, die einzig wahre Religionsgemeinschaft.
Die Organisation der Wachtturm-Gesellschaft, die mir bereits seit Jahrzehnten versichert, der alleinige Kanal Gottes für uns Menschen und sein Sprachrohr auf Erden zu sein – angeführt von der leitenden Körperschaft, Bestandteil des treuen und verständigen Sklaven.
Und jetzt dieser Anruf von dir. Du wolltest also mit mir sprechen. Ich war mir sicher, dass du mir deine jugendlichen Entgleisungen erklären und Besserung geloben wolltest. Kleine Ausrutscher werden von Gott und IHNEN verziehen. Das weißt du. Das weiß jeder.
Mein Blick war leer. Ich weiß noch, wie ich für einen Moment nicht wusste, wie ich auf all das reagieren sollte, was du mir soeben mitgeteilt hast. Ich saß mit dir in meinem großen Arbeitszimmer. Meine Beine verschränkt auf der braunen Chesterfield-Couch und vor uns der brennende Kamin; genau da, wo früher dein Kinderbett stand.
Du warst gekommen, um mir mitzuteilen, dass du kein Zeuge Jehovas mehr sein möchtest! Du erklärtest mir in ruhigen, aber bestimmten Worten, dass du dich nach Jahren des Zweifelns entschieden hast, die Religionsgemeinschaft zu verlassen. Nicht aus Wut, nicht aus Hass oder Missgunst, sondern einfach aus der Überzeugung heraus, erkannt zu haben, mit den Grundlehren der Organisation nicht mehr leben zu können.
Ein Gegner? Das wolltest du nicht sein und auch niemals werden – das glaubte ich dir sogar. Du glaubst an einen Gott, die Bibel und ihre Grundlehren, an ihren Nutzen, die sie der heutigen Gesellschaft – mit der richtigen Anwendung – in vielen Lebensbereichen geben kann. Aber du erklärtest mir auch, dass diese von Menschen geführte Organisation Grund für dich ist, die Gemeinschaft zu verlassen.
Und dann diese Frau! Du wolltest sie tatsächlich heiraten? Eine Heidin? Eine gottlose, weltliche Person, die Jehova nicht anbetet? Ich kenne sie zwar nicht – aber das ist egal. Sie ist keine von uns.
Ein weiterhin inniges Verhältnis mit mir, deiner Mutter und deiner ganzen Familie pflegen – unabhängig von deinem neuen Lebensabschnitt! Ist das etwa deine Vorstellung?
Du hättest nichts gemein mit einem Abtrünnigen, einem Gegner und Widersacher, der sich gegen unsere Überzeugung erhebt. Du wolltest lediglich ein moralisch einwandfreies Leben außerhalb unserer Religion führen. Das waren deine Worte. Ein ebenso harmonisches Familienleben – nur auf eine andere Art. Ist das also dein Wunsch?
Woher nimmst du dir nur diese Illusion?
„Ich werde niemals ein Schwiegervater für deine Frau oder ein Großvater für deine Enkel sein können. Ihr werdet in meinem Leben keinen Platz mehr haben dürfen. Du weißt das.“
„Nein, das weiß ich nicht, Papa. Was hat meine Frau und was haben meine Kinder – im Übrigen deine Enkel – mit meiner Entscheidung zu tun, kein Zeuge Jehovas mehr zu sein? Sie waren nie getauft, sie hatten nie etwas mit diesem Glauben zu tun. Es sind im Grunde unschuldige Menschen.“
„Weil sie uns verbinden, mein Sohn. Die Anweisung der Organisation, mit dir keinen Umgang mehr zu halten, dich im Grunde nicht mal mehr zu grüßen, bezieht sich auch auf jede Gemeinsamkeit, die uns verbindet und die eine Grundlage für eine familiäre Bindung zwischen uns sein könnte. Wo soll ich da sonst die Grenze ziehen? Wenn du heute aus dieser Tür gehst, dann ist dieses Band zwischen uns zerrissen und du trägst die alleinige Verantwortung dafür.“
„Papa, bitte beruhige dich jetzt für einen Moment und komm runter.“ Er merkt, wie ich anfange, mich in Rage zu reden. Meine Gedanken überschlagen sich. Was läuft da gerade verkehrt? Ich gehe an meine Cognacvitrine und öffne mir einen zwanzig Jahre alten VSOP. Den brauche ich jetzt. Ich spüre, wie der Schluck in meiner Kehle brennt. In meinem Kopf kommt die Wirkung an und beruhigt mich etwas.
„Schau … Jehova gibt uns ganz klare Vorgaben, wie wir mit Personen umgehen sollen, die die Gemeinschaft verlassen …“
„Nicht Jehova, Papa! Verdammt nochmal, wach endlich auf! Die Organisation, die Männer, denen du dein ganzes Leben unterworfen hast – die geben dir das vor! Die Gruppe von Anzugträgern, die seit hundert Jahren lehren, dass die Welt untergeht, die von sich selbst behaupten, der einzige Weg zu sein, durch den man zu Jesus kommt und dass nur durch sie eine Beziehung zu Gott möglich sei. Die Organisation, die für sich den Anspruch erhebt, dass alle Wahrheit durch sie kommt und sich damit eine Autorität vereinnahmt, die nur Jesus gehört. Du weißt doch am besten, wie Jesus zu seinen Aposteln gesprochen hat: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Aber du unterwirfst dich ein Leben lang einer menschlichen Organisation, die behauptet: Klar, es stimmt. Jesus ist der Weg, aber der Weg, um zu IHM zu gelangen, sind nur WIR. Und die Wahrheit, die ihr so schätzt, die kommt nur durch UNSERE Organisation – und wenn ihr ewiges Leben erlangen wollt, dann müsst ihr euch uns anschließen.“
„Genug! Hör sofort auf, so zu reden!“ Ein Schluck für meine Nerven. „Rede nicht so respektlos vor Jehovas Präsenz auf der Erde. Rede nicht so.“ Für einen Moment ist es ruhig. Unsere Blicke treffen sich und wir wollen jetzt beide keine solche Eskalation.
„Schau, Großer“, fange ich wieder an, ruhiger zu reden, während ich zu einem Ordner über meinem Schreibtisch greife. Er steht da immer.
„Im Wachtturm sagt uns Jehova, dass, wenn einem Verwandten die Gemeinschaft entzogen worden ist oder er die Gemeinschaft verlassen hat, es unbedingt notwendig ist, keinen Kontakt mehr mit ihm zu haben. Auch wenn gewisse familiäre Angelegenheiten es erfordern würden, ihn zu kontaktieren, würde man diesen Kontakt auf ein Minimum beschränken. Wir dürfen als loyale Christen keinen unnötigen Kontakt mehr zu dir haben. Es tut mir leid.“
„Papa, das ist emotionale Erpressung. Ihr wollt mich verstoßen, mich schlimmer behandeln als einen Weltmenschen, damit ich in die Organisation zurückkomme? Ist das dein Ernst?“
„Nein, es ist nicht MEIN Ernst, es ist der Ernst Jehovas. Hör bitte zu, was in einem anderen Artikel gesagt wird.“ Ich hole eine weitere Abhandlung aus meinem Ordner heraus. „Auch hier sagt uns die Organisation, dass durch einen Gemeinschaftsentzug die Versammlung geschützt und der reuelose Sünder erzogen wird. Wir behindern Jehovas Erziehungsmaßnahme, wenn wir mit jemandem Umgang haben, der ausgeschlossen ist oder die Gemeinschaft verlassen hat.“
Er schaut mich an. In seinen Augen sehe ich Unverständnis und Zorn.
„Papa. Ich kenne diese Artikel. Aber jetzt appelliere ich mal fünf Minuten an deine Vernunft.“
Noch ein Schluck. Ich brauche ihn.
„Ich habe durch euch eine wundervolle Kindheit genossen. Du warst mein Freund, mein Vertrauter. Du hast mich geliebt und alles getan, damit es mir gut ging. Du hast – so, wie du es von deinen Eltern gelehrt bekommen hast – deinen Glauben an Gott und an diese Organisation an mich weiterzugeben versucht. Ich war eine Woche alt, da habt ihr mich in die Zusammenkünfte mitgenommen. Mein ganzes Leben lang kannte ich nichts anderes als das Leben eines Zeugen Jehovas. Noch bevor ich das erste Mal ‚Benjamin Blümchen‘ hören durfte, kannte ich bereits die Kinderbibel auswendig. Und da mache ich dir auch keine Vorwürfe. Du lebst diese Überzeugung dein ganzes Leben lang. Du glaubst an alle Lehren und deshalb ist es absolut verständlich, dass du sie deinen Kindern vererben wolltest. Aber bei der ganzen Thematik hast du dir über eines nie Gedanken gemacht. Du hast dir nie darüber Gedanken gemacht, was ICH eigentlich wollte. Du hattest seit meiner Geburt einen Plan mit mir. Diesen Plan hast du gnadenlos durchgezogen – und an einem gewissen Punkt in meinem Leben bist du über das Ziel hinausgeschossen.“
„Welchen Punkt? Ich weiß nicht, was du meinst.“
„DU bist doch hier der Erwachsene, oder? Du bist bei Jehovas Zeugen ganz oben in der Hierarchie angesiedelt und darfst dich Ältester schimpfen, oder? Du weißt doch ganz genau, wie der Laden funktioniert und du bist der, der am besten weiß, was mit Menschen passiert, die sich irgendwann entscheiden, aus der Gemeinschaft auszutreten, oder? Warum, verdammte Scheiße, warum …“ Er steht nur wenige Zentimeter vor mir und ich merke auf einmal, wie breit er durch sein Training geworden ist.
„Warum, frage ich dich, hast du zugelassen, dass sich ein gerade dreizehn Jahre altes Kind mit einer Organisation verbindet, die so einen tiefen Einfluss auf das Leben ihrer Mitglieder hat?“
Mit einem Mal wird mir schlecht. Denn er hat Recht. Ich hatte tatsächlich immer dieses eine Ziel vor Augen. Ich wollte einen Vorzeigechrist erziehen. Ich wollte, dass mein Sohn die Wertschätzung spiritueller Dinge so bekommt, wie ich sie immer gelebt habe.
„Ich war nicht mal ein richtiger Teenager, Papa. Ich wusste nicht, was Discos sind, was Partys sind, abgesehen davon hatte ich nur die geringste Ahnung davon, was es heißt, zu vögeln! Ich hatte immer nur die Angst vor dem Weltuntergang vor Augen. Das war es, was mir seit meiner Geburt eingetrichtert wurde. Ich frage dich, Papa, welches Kind würde einen anderen Weg gehen, wenn es so erzogen wurde? Wenn es von Geburt an nur Bilder von abgeschlachteten Menschen und Tieren in zerstörten Städten sieht? Und dies immer im Kontext mit der Warnung, dass nur ein Zeuge Jehovas diesem entrinnen kann. Und eine Seite weiter Bilder von Löwen, die mit Kindern spielen – das wunderbare Paradies. Wow, super …“
Ich stehe auf. Ich brauche Luft und öffne die Terrassentür. Was passiert hier gerade? Ich hatte doch nie etwas Böses im Sinn. In meiner Jugend standen die Bibel, Gott und seine Organisation immer an erster Stelle. Es gab nichts anderes für mich. Was denn für Discos? Was denn für Partys? Das Gebet und die Versammlung waren meine Freizeit.
„Du warst zwar erst dreizehn Jahre alt, das stimmt, aber du hattest dich aus freien Stücken dafür entschieden, ein Zeuge Jehovas zu werden. Du wusstest, welche Verantwortung du eingehst und du wusstest, welches Band dich ab diesem Moment mit der Versammlung, deinen Freunden und deiner Familie verbindet – nämlich das Band der Wahrheit. Und wenn du jetzt dieses Band zerschneidest, dann verlierst du alles, wirklich alles, was du dir jemals aufgebaut hast.“
Ich merke, wie meine Worte ihm die Tränen in die Augen jagen. Und für einen Moment habe ich wieder Hoffnung. Genau das ist es doch. Genau das sagt die Organisation doch immer wieder.
Er nennt es emotionale Erpressung – die Organisation nennt es eine liebevolle Erziehungsmaßnahme Jehovas. Und die Organisation hat IMMER Recht.
Ich muss diese Karte ausspielen. Meinen Sohn an diese Welt verlieren – nein, niemals. Ich gehe zurück ins Haus. „Willst du einen Schluck?“, frage ich ihn mit der halbleeren Flasche in der Hand. „Ja, warum nicht.“ Der Schluck, den ich trinke, ist wesentlich größer – für das, was ich ihm jetzt sagen muss.
„Du musst mir wirklich eines glauben. Es gibt nichts, was ich nicht für dich tun würde. Du bist mein Sohn, mein Erstgeborener, dem ich jede Minute meines Lebens geschenkt habe. Aber du weißt auch, dass Jehova und seine Organisation an erster Stelle in meinem Leben stehen – noch weit über meinem eigenen, welches ich jederzeit für sie opfern würde. Ich habe mich ebenfalls taufen lassen und das Gelöbnis abgegeben, mein Leben in den Dienst seiner Organisation zu stellen. Und es gibt nichts, aber auch gar nichts, was sich zwischen mir und Jehovas Organisation stellen wird. Nicht einmal du, mein Sohn. Wenn du dich heute entscheidest, kein Zeuge Jehovas mehr zu sein, dann wirst du deine gesamte Familie sowie deinen gesamten Freundes- und Bekanntenkreis verlieren. Denn das ist es, was die Organisation von uns erwartet. Du wirst das geistige Band zerschneiden, was uns heute noch verbindet. Und ohne dieses Band müssen wir dich noch strenger behandeln als die Menschen, die ich dein ganzes Leben lang von dir fernhalten wollte. Du wirst noch eine Stufe unterhalb eines Weltmenschen stehen.
Weder ich noch irgendjemand aus deiner Familie – natürlich auch niemand aus der Versammlung – wird noch mit dir Kontakt haben. Wenn man dich auf der Straße sieht, dann wird man dich nicht mal mehr grüßen.
Deine Telefonnummer wird aus allen Kontaktdaten gelöscht werden und du wirst selbstverständlich auch zu keinen Familien-oder Hochzeitsfeiern mehr eingeladen werden.
Was ich dir eingangs versucht habe zu erklären, wird ebenfalls unumgänglich sein. Wir werden dich oder deine zukünftige Frau weder besuchen noch unsere Freizeit mit euch gestalten. Solltet ihr heiraten, dann werden wir nicht zu eurer Feier kommen. Solltet ihr Kinder bekommen, werden wir diese nicht zur Geburt besuchen oder bei ihrer Einschulung dabei sein. Wir werden sie liebhaben. Ja, lieb haben werden wir sie.“ Lieb haben wir auch die Menschen, denen wir die Botschaft verkünden. Lieb ist ein weites Wort in der Organisation … doch diese Worte behalte ich lieber für mich. „Aber mehr wird nicht passieren. Denn alles darüber hinaus würde eine emotionale Brücke zwischen dir und mir darstellen. Und das verbietet die Organisation.“
Meine Stimme stockt. Das war die Anweisung, die uns die Organisation gibt. Und wenn man diese nicht befolgt, dann läuft man Gefahr selbst ausgeschlossen zu werden. Es ist eigentlich ein Teufelskreis. Nichts von dem war ihm mit dreizehn Jahren bewusst gewesen, denn das sind Details, die man in dieser Tragweite nicht oft zu hören bekommt und die man als Kind nicht ansatzweise verstehen könnte.
„Und das soll ein halbwüchsiger Teenager verstehen, Papa?“
Er steht auf und zieht seine Jacke an. In mir zerreißt etwas. Will er diesen Weg wirklich gehen? Hat er meine Worte eben nicht richtig verstanden? Sind ihm die Folgen egal? Er geht. Er schließt leise die Tür und dreht sich nicht mehr um.
Ich schaue ihm über die Terrassentür nach. „Bitte, mein Sohn – dreh dich noch einmal um zu mir. Bitte. Nur das eine Mal …“, flüstere ich für niemanden hörbar.
Das war vor einer Woche. Noch immer schaue ich zur Tür. Seit Tagen bewege ich mich kaum aus diesem Stuhl – ich hoffe noch immer, dass sie sich jeden Moment öffnet und du vor mir stehst.
„Papa, es tut mir leid. Da bin ich wieder.“
Ich werde dich in den Arm nehmen und nicht mehr loslassen. Du wirst wie der in der Bibel genannte verlorene Sohn sein, der gesündigt, bereut und wieder zurückgekehrt ist. Die göttlich bestimmte Erziehungsmaßnahme hat gewirkt – SIE hatten mal wieder Recht.
Doch es bleibt eine Utopie. Du hast deine Wahl getroffen.
Heute bist du gestorben – dein Austritt wurde offiziell bekannt gegeben. Dein geistiges Leben ist zu Ende gegangen und dein irdisches ist mir seit heute deshalb verwehrt. Der Tod kann auf vielerlei Arten über uns hereinbrechen. Für uns, den Zeugen des einzig wahren Gottes, gibt es die EINE Art, die sonst niemand kennt. Aber so gebietet es die Organisation. Die Organisation, die du heute verlassen hast und durch die der Wille Gottes gesprochen hat – der Gott der Liebe.
Ich werde lernen müssen, mit dieser Vorstellung zu leben. Harmagedon kommt, davon bin ich überzeugt. Das ist meine Lebensgrundlage. Dafür habe ich viele Jahrzehnte gelebt und darauf habe ich jede meiner Entscheidungen aufgebaut. Die Zeichen der letzten Tage – so, wie sie in der Bibel vorhergesagt wurden – sind unübersehbar. Ob es heute oder morgen, nächste Woche oder erst nächstes Jahr geschehen wird, kann mir die Organisation nicht näher sagen. Aber es kommt. Noch zu meinen Lebzeiten. DAS kann SIE mir schon versichern.
Und so werde ich Tag für Tag am Morgen aufwachen, mit dem Gedanken, dass du heute vernichtet werden wirst. Kommt heute Harmagedon – dann wirst du heute sterben. Ein zweites Mal – den irdischen Tod. Und der ist dann endgültig.
Deine Mutter und ich aber werden, in Einheit mit meinen Brüdern und Schwestern verbunden, durch die Trümmer der vernichteten bösen Menschheit geführt werden. Unter unseren Füßen die toten Gebeine von Milliarden Ungläubigen – und auch von dir, mein Sohn.
Der Gott der Liebe – er wird dich gerichtet haben, da du kein Teil seiner irdischen Organisation mehr sein wolltest. Und wenn ich abends schlafen gehe, ohne dass es geschehen ist, wird es einen weiteren Morgen geben, an dem die Angst von Neuem beginnen wird. So wird mein Leben verlaufen. Bis zu diesem einen Tag.
Einen Trost habe ich jedoch.
Ich bin nicht allein. Ich werde in all diesen Momenten verbunden sein, verbunden mit tausenden anderen Vätern und Müttern, denen das Gleiche widerfahren ist und die Tag für Tag der Vernichtung ihrer Kinder entgegensehen müssen.
Und noch etwas anderes werden wir gemeinsam haben. Alle sind wir vereint in der einzig wahren Religion des liebevollen Gottes Jehova – vertreten von seiner glücklichen Organisation. Der einzig wahren.
„Papa … wach auf.“
Für einen Moment bin ich wie benebelt. Ich muss eingeschlafen sein, während Tom mit seinen gerade mal zwei Jahren sein kleines Funkflugzeug über den Bergen hat kreisen hat. Die Stimme meines Vaters klingt noch in meinen Ohren und seine Silhouette verschwindet nur langsam.
Ich schaue nervös auf die Uhr. Noch vier Stunden bis zum finalen Meeting. Noch vier Stunden, die mich von der Gegenwart und dem vielleicht größten Fehler meines zukünftigen Lebens trennen. Oder vielleicht doch nicht? Vier Stunden, in denen ich alle Pläne, alle Gedanken und alle Erkenntnisse der letzten Monate doch noch revidieren kann.
Die endlosen Weiten der Tiroler Berge liegen vor mir. Wie so oft in den vergangenen Monaten sitze ich hier auf 2000 Meter Höhe, inmitten einer weitläufigen und grünen Wiese und beobachte in einiger Entfernung spielende Kinder, die mit ihren Eltern den Abhang einer Alm hinunterrollen. Und mit einem Mal denke ich daran zurück, wie ich selbst vor fast drei Jahrzehnten hier als kleiner Bub, zusammen mit meiner Familie, eine harmonische Kindheit erleben durfte. Fernab von jeglichem negativen Einfluss, den man als Kind nur haben kann – eine Kindheit im Einklang mit der Natur und mit der Vorstellung einer strahlenden Zukunft.
Und heute soll es vorbei sein?
Setze ich meinen Plan um, der die vergangenen Monate mehr und mehr gereift war und mich schlussendlich an den heutigen Tag geführt hat?
Wird der morgige Tag den Beginn eines neuen Lebens darstellen? Ein Leben, auf welches ich in keinster Weise vorbereitet bin? Ein Leben, welches ich nicht kenne und welches mir die Fundamente der letzten dreißig Jahre entziehen wird?
Ein Plan B? Einen Plan B gibt es in dieser Causa nicht.
Es ist 15.00 Uhr. Und wenn ich nicht das erste Mal auf einem Termin unpünktlich erscheinen will, dann muss ich mich so langsam aufmachen. Oder ich rufe an. Ich rufe IHN an – wie so oft in den vergangenen Monaten – und teile IHM mit, dass ich mich geirrt habe und keinen meiner angekündigten Schritte mehr umsetzen möchte.
Ich würde ein erleichtertes Seufzen hören – vielleicht auch ein paar lobende Worte. Und dann ginge ich nach Hause. Wo immer das auch sein mag.
Und es würde ein weiterer Tag beginnen, dessen Ende mich wieder und wieder an diesen Ort auf 2000 Meter führen wird. Ich fahre nach Hause. Ich ziehe eines meiner unzähligen weißen Hemden und einen schwarzen Anzug an. Auf eine Krawatte verzichte ich. Dieses Accessoire wird meinen Körper nie wieder berühren. Zu sehr ist es verbunden mit jedem einzelnen Tag der vergangenen dreißig Jahre.
Meine „Einladung“ um 19.00 Uhr rückt immer näher. Noch kann ich einen Rückzieher machen. Noch kann ich alles abblasen. In Gedanken lasse ich alles Revue passieren. Wobei sich „alles“ in diesem Moment eher auf die vergangenen Monate bezieht.
Zu tief ist der Schmerz, zu tief ist die Verzweiflung, zu tief ist die Angst vor einem weiteren Lebensverlauf, wie ich ihn bis zum heutigen Tag gewohnt war.
Nein! Ich ziehe es durch.
In meiner Hand halte ich den „magischen“ Umschlag.
Ein einfaches DIN-A4-Papier, sauber in einem Kuvert verschlossen. Ein DIN-A4-Papier mit nur einem einzigen Satz. Vierzehn Wörter. Vierzehn Wörter und eine Unterschrift. So lautet die Vorgabe.
Es ist 18.45 Uhr und ich setze mich in meinen Mercedes. Ich fahre die letzten drei Kilometer. Drei Kilometer zwischen dem Hier und dem Jetzt und einem Nirgendwo. Einem Ort, den ich nicht kenne und auf den ich nicht ansatzweise vorbereitet bin. Ich fahre ein letztes Mal auf diesen Parkplatz. Ich schalte den Motor ab und registriere die drei anderen PKWs. Ich bin mir bewusst, wem sie gehören. Die Eingangstür ist verschlossen, da heute Abend nur wir hier sind. Ich drücke die Klingel unter dem Schild
„Königreichssaal der Zeugen Jehovas“.
Wenige Sekunden, um alles rückgängig zu machen?
NEIN – es ist vorbei.
Die Tür geht auf und ER steht vor mir.
Ein sanftes Lächeln, ein freundschaftlicher Handschlag. Beides registriere ich – ebenso wie die Traurigkeit in seinen Augen und die Angst vor dem Bevorstehenden. ER weiß, dass ich diesmal keinen Rückzieher mehr machen werde.
Er bittet mich hinein.
Ich kenne den Weg. Denn unabhängig davon, dass ich die vergangenen Jahre in diesem Gebäude meinen Gottesdienst verbracht habe, war ich bereits vor drei Wochen an derselben Stelle gewesen. In dem gleichen Gebäude. Zur selben Uhrzeit. Mit den identischen Personen. Und in demselben kleinen, schlicht eingerichteten Raum, in den ich jetzt freundlich hereingebeten werde.
Ein Raum von vielleicht 20 m2, mit kalten Neonlichtern an der Decke und diesem alten Holztisch in der Mitte. Ein Holztisch und zwölf Stühle drumherum. Ich werde höflichst begrüßt.
Nicht nur von IHM, sondern auch von den zwei weiteren mir bekannten Personen. Die gemischten Gefühle eines gewohnt freundschaftlichen Miteinanders und einer doch nun zu erwartenden und unmittelbar bevorstehenden Exkommunikation schlagen mir entgegen.
Eine merkwürdige Aura, nicht nur, weil ER – ein Freund und Bruder, mit dem ich die letzten Jahre einen Großteil meiner Zeit verbringen durfte und durch dessen Unterstützung ER in geschäftlicher, aber auch privater Ebene zu einem wichtigen Vertrauten geworden ist – heute mein Ankläger sein wird.
Nein, auch die anderen zwei Anwesenden darf ich zu meinen guten Freunden zählen. Ein vierzigjähriger Italiener, mit dem ich regelmäßig im Gym die Eisen verbogen habe. Dessen Kinder mit meinem Sohn die Kita besucht haben und mit dem ich mehr als einmal auf Skiern die Pisten von Ischgl unsicher gemacht habe.
Und Nummer drei? Ein siebzigjähriger Urtiroler, angekommen im Leben und die Ruhe in Person. Der mir mit seinem trockenen Humor oft die Kluft zwischen den „Piefke“ und den Tirolern zu überbrücken geholfen hat.
Alle drei sitzen sie nun vor mir, an diesem alten Holztisch, die Bibeln akkurat vor sich liegend, und bitten mich Platz zu nehmen. Mir fällt der Schreibblock auf, den der Italiener vor sich positioniert hat und sich damit als Protokollführer zu erkennen gibt. Dann wird der Urtiroler der „Bad Cop“ und ER der „Good Cop“ sein.
Okay – die Positionen sind verteilt.
Wie soll ich beginnen? Soll ICH anfangen zu reden?
Soll ich mich erklären? Wo soll ich da beginnen? Wen interessiert das denn überhaupt noch?
Innerhalb von Sekunden zieht ein Déjà-vu an mir vorbei. Schon vor drei Wochen saß ich hier. Ich kenne den Ablauf daher genau.
Das zuerst gesprochene und sehr eindringliche Gebet von IHM, in welchem um Geist und Segen für das nun „Bevorstehende“ ersucht wird. Um die Bitte, mir ein „offenes Herz“ zu gewähren und mich auf den Weg der Wahrheit zurückzubringen. Es folgt eine ausführliche Erläuterung über Sinn und Zweck des hier nun gegründeten Rechtskomitees.
Als würde ich es nach fast dreißig Jahren nicht wissen, wird mir erklärt, dass ein Rechtskomitee ein von den Ältesten der Versammlung eingesetztes Tribunal ist, welches die Aufgabe hat, demjenigen, der gesündigt hat, zu helfen. Das Komitee soll sich liebevoll meiner annehmen. Es soll sich bemühen, mich mit Hilfe der Bibel wieder auf den rechten Weg zu bringen. Für den Fall, dass ich mir meine Sünden aber nicht eingestehe, diese vielleicht auch nicht bereue und ich mir bewusst eine andere Denk-weise als die von der Organisation bewahre, so werden sie mich – den reuelosen Sünder – aus der Gemeinschaft ausschließen.
Insofern schließt nun die eindringliche Unterweisung an, dass ich auf den Pfad des Lichts zurückkommen kann, sofern ich mich doch für den wahren Weg entscheide, meine Sünden bereue und Taten der Reue zeige.
Dem Ganzen gefolgt von einer ausführlichen und detaillierten Berichterstattung meiner „begangenen Sünden“.
Der Italiener wird viel zu schreiben haben. Ich behalte diesen Gedanken lieber für mich.
Im Anschluss eine Erläuterung aller Sanktionen, die nun folgen werden, nebst Vorgaben der von mir erwarteten „Taten der Reue“, abgeschlossen mit einem weiteren Gebet, in summa summarum eine Wiederholung des Erstgesprochenen und wahrscheinlich durch den Italiener rezitiert.
Nein.
Ich bin mir sicher. Ich werde den Plan durchziehen. Egal, was folgen wird.
Ich nehme IHN ein letztes Mal in den Arm und spreche meinen ehrlich gemeinten Dank für alles aus, was ER für mich getan hat. Für seine Freundschaft, die ich in dieser Form nur zweimal im Leben so habe erleben dürfen. Für die Unterstützung in meinen teils sehr schwierigen Zeiten und den Halt, den ER und seine Familie mir gegeben haben.
Ich gebe den anderen beiden Anwesenden die Hand.
Ich entschuldige mich für die Umstände und bin mir bewusst, dass nun die letzten Momente anbrechen, in denen ich mit diesen meinen Freunden – die mich jetzt noch als ihren geistigen Bruder ansehen – so ungezwungen und frei sprechen kann.
Wenn ich sie das nächste Mal sehe, werden sie mich nicht mehr kennen. ER wird die Augen geradeaus halten, mit seiner Familie die Straßenseite wechseln. Selbst seine Söhne, die mit jungen Jahren bereits die Grundregeln der Organisation kennen, werden mich mit erschrockenen Augen ansehen und nur noch einen Scharlatan erkennen. Einen Abtrünnigen, dem man nicht zu nahekommen darf.
Der Italiener wird auf der Après-Ski-Hütte in Ischgl wortlos sein Radler nehmen und den Tisch wechseln. Und der Urtiroler wird mit ernster Miene einen ausgewanderten Deutschen in Tirol erkennen – den man ohnehin nicht grüßt.
Ein Geächteter und Verstoßener, der das Unaussprechliche gewagt hat. Ich übergebe wortlos den Umschlag. Es bedarf keiner weiteren Worte. Jeder kennt den Inhalt.
ER hat Tränen in den Augen und nimmt ihn entgegen.
„Du hast noch eine Woche Zeit, deine Entscheidung zu revidieren. Danach müssen wir die Mitteilung in der Versammlung bekannt geben.“
Ich höre die mir bekannten Worte, nicke und verlasse ein letztes Mal das Gebäude. Ich sehe nicht mehr, wer am Holztisch meinen Umschlag öffnet. Ein Satz, so bedeutungslos in seinen Worten, aber nicht weniger als der Beginn meines Lebens außerhalb eines geistigen Gefängnisses.
„Hiermit teile ich unwiderruflich mit, dass ich aus der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas austrete.“
Sieben Tage bis zur Rechtskraft liegen vor mir. Ich steige in mein Auto. Meine Hände zittern. Ich atme tief aus und fange an zu weinen. Warum? Keine Ahnung – aber nicht aus Trauer.
Es ist der 08.06.2011 und ich bin einunddreißig Jahre alt.
Ab jetzt bin ich zum ersten Mal in meinem Leben frei.
Frei – aber allein.
Es riecht nach Kaffee und frischem Kuchen. Überall stehen Menschen in kleinen Gruppen zusammen. Sie lachen und umarmen sich. Viele haben sich monatelang nicht gesehen. Kleine Kinder toben auf den Gängen, Jugendliche laufen bis zum Scheitel gestylt in Cliquen umher und im Hintergrund spielt festliche Musik.
Der Kongresssaal der Zeugen Jehovas in Kaiserslautern ist mir wie viele andere Dinge aus meiner christlichen Erziehung in positiv bleibender Erinnerung geblieben. Zweimal im Jahr trafen sich etwa eintausend Zeugen Jehovas aus mehreren Gemeinden Hessens und aus Rheinland-Pfalz in diesem etwas auswärts gelegenen Kongressgebäude in Kaiserslautern am Rande eines Waldes.
Die Kongresse stellen auch noch heute einen jährlichen Höhepunkt im christlichen Leben eines Zeugen Jehovas dar. Obligatorisch gibt es drei dieser Kongresse. Einen Tagessonderkongress, einen Kreiskongress, der zwei Tage andauert, sowie den Bezirkskongress, der in den großen Fußballstadien Deutschlands mit bis zu 50.000 Personen über drei bis vier Tage abgehalten wird.