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»Willkommen auf Qi Manor! Du trägst das Element Feuer in dir und gehörst ab sofort zum Zyklus der Fünf. Das sind übrigens deine Brüder: Erde, Wasser, Metall und Holz – deine neue Familie!« Als die achtzehnjährige Robin diese Worte hört, fällt sie aus allen Wolken. Nicht nur, weil sich die versprochene Anstellung als Dienstmädchen in der alten Villa als Fake herausstellt – sie ist anscheinend auch noch für die derzeitige Hitzeperiode auf der Erde verantwortlich. Wie zum Teufel soll sie ihre Kräfte in den Griff bekommen, um den Kreis der fünf Elemente wieder ins Gleichgewicht zu bringen? Vor allem, da einer ihrer neuen ›Brüder‹ sie mit aller Vehemenz ablehnt, während ein anderer ihre Wangen zum Glühen bringt. Und das ist definitiv nicht ausschließlich auf die Hitzewelle zurückzuführen.
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Seitenzahl: 548
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Informationen zum Buch
Impressum
Widmung
Teil 1 - Die Glut
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Teil 2 - Die Flamme
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Teil 3 - Das Feuer
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Teil 4 - Das Inferno
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Epilog - Die Asche
Nachwort
Fanny Bechert
Der Zyklus der Fünf
Fantasy
Der Zyklus der Fünf
»Willkommen auf Qi Manor! Du trägst das Element Feuer in dir und gehörst ab sofort zum Zyklus der Fünf. Das sind übrigens deine Brüder: Erde, Wasser, Metall und Holz – deine neue Familie!«
Als die achtzehnjährige Robin diese Worte hört, fällt sie aus allen Wolken. Nicht nur, weil sich die versprochene Anstellung als Dienstmädchen in der alten Villa als Fake herausstellt – sie ist anscheinend auch noch für die derzeitige Hitzeperiode auf der Erde verantwortlich. Wie zum Teufel soll sie ihre Kräfte in den Griff bekommen, um den Kreis der fünf Elemente wieder ins Gleichgewicht zu bringen? Vor allem, da einer ihrer neuen ›Brüder‹ sie mit aller Vehemenz ablehnt, während ein anderer ihre Wangen zum Glühen bringt. Und das ist definitiv nicht ausschließlich auf die Hitzewelle zurückzuführen.
Die Autorin
Fanny Bechert wurde 1986 in Schkeuditz geboren und lebt heute mit ihrem Mann in einem ruhigen Dörfchen im Thüringer Vogtland.
Als gelernte Physiotherapeutin griff sie erst 2012 mit dem Schreiben ein Hobby ihrer Kindheit wieder auf. Was zuerst ein Ausgleich vom Alltag war, nahm bald größere Formen an und so veröffentlichte sie im Juni 2015 ihren ersten Roman im Genre High-Fantasy, der den Beginn der mehrbändigen Reihe ›Elesztrah‹ darstellt. Seitdem widmet sie sich immer aktiver der Tätigkeit als Autorin.
Heute schreibt sie nicht nur Romane, die sie ebenfalls selbst vertont, sondern hat das Texten im Bereich des Online-Marketings auch zu ihrem Hauptberuf gemacht.
www.sternensand-verlag.ch
1. Auflage, Mai 2024
© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2024
Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski
Lektorat: Lektorat Laaksonen | Stefan Wilhelms
Satz: Sternensand Verlag GmbH
ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-315-8
ISBN (epub): 978-3-03896-316-5
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Für all meine treuen Leser,
danke für euer geduldiges Warten auf mein nächstes Buch!
Teil 1
Die Glut
»Okay, Missie. Hier musst du raus.«
Sie reckte den Kopf aus dem kleinen Fenster der Kabine. »Das kann nicht Ihr Ernst sein? Wir sind definitiv noch nicht da.«
Der Kutscher zuckte nur mit den Schultern. »Ich kann aber nicht weiterfahren. Wo auch immer dein Ziel liegt, es führt kein Weg dorthin.«
Grummelnd öffnete Robin die Tür und sprang auf den überwucherten Waldboden.
Warum musste die gemäßigte Zone, in der sie ihre neue Stellung antrat, auch mitten im tiefsten Dschungel liegen?
»Soll ich dir mit dem Gepäck helfen?«, bot ihr der alte Mann an.
Sie stieß ein entnervtes Schnauben aus. »Ich muss es ab jetzt doch sowieso alleine schleppen, oder?« Zum Glück war der Leinenrucksack, den sie nun von der Gepäckablage zerrte, nicht schwer. Es war erschreckend, wenn man bedachte, dass er all ihre Habseligkeiten enthielt …
Lauter als nötig schlug sie die Klappe der Ablage zu und schulterte den Rucksack.
»Hey, hast du nicht was vergessen?«
Robin fuhr sich durch die kurzen roten Haare. Schon jetzt fühlten sie sich klamm an von der feuchtwarmen Luft. Die Hitze war hier fast noch unerträglicher als in den trockenen Gebieten.
»Wollen Sie echt dafür bezahlt werden, dass sie mich mitten im Nirgendwo rauswerfen?«, murrte sie.
Der Kutscher grinste. »Klar. Schließlich hab ich dich bis in dieses Nirgendwo gebracht. Und ich warte noch eine Weile, falls du es dir anders überlegst.«
»Das wird ganz sicher nicht passieren.« Sie ging um den Kutschbock herum und ließ fünf zerbeulte Münzen in seine ausgestreckte Hand fallen. Die letzten, die sie besaß. Ab jetzt war sie offiziell pleite.
Doch sollte alles glattgehen, würde sich dieser Zustand bald gravierend ändern.
»Sicher, Mädchen?«
Robin unterdrückte ein Knurren.
Sie war achtzehn, verflucht. Wieso behandelte sie dieser Typ wie ein kleines Kind, schon seit sie in seine Kutsche gestiegen war?
»Wenn ich du wäre …«
»Sie sind aber nicht ich.«
Damit drehte sie der Kutsche den Rücken zu und lief los.
Gefühlte Stunden streifte sie durch das dichte Unterholz. Ranken wucherten überall und hatten sie schon mehrmals fast zu Fall gebracht. Dazu diese Schwüle … Ihre dunkelbraune ärmellose Tunika klebte ihr regelrecht am Körper und die knielange Leinenhose kam ihr dick wie ein Bärenfell vor.
Verflucht, sie war solche Hitze doch gewöhnt?!
Aber wo sie herkam, war es nie derart feucht gewesen. Vermutlich würde ihr das Atmen selbst dann nicht leichter fallen, wenn sie nackt wäre.
Wie weit mochte es noch sein? Der Kutscher hatte mit der handgezeichneten Karte etwas anfangen können, die sie mitsamt ihrem Arbeitsvertrag bekommen hatte. Ihr sagten die Symbole und Striche jedoch rein gar nichts.
Hatte sie sich bereits verlaufen?
Plötzlich änderte sich etwas in der Luft. Als würde der Dschungel sich nur wenige Meter vor ihr öffnen und einem seichten Wind Einlass gewähren, der sich angenehm kühl auf Robins verschwitzte Haut legte.
Sofort wandte sie sich dem Luftzug entgegen. Ob er sie an ihr Ziel führen würde oder nicht, war ihr in diesem Moment egal. Die Aussicht auf die kleine Abkühlung, die er mit sich brachte, zog sie wie magisch an.
Tatsächlich musste sie nur noch wenige Meter zurücklegen, bis das undurchdringliche Dickicht auf einen Schlag endete, als hätte jemand eine unsichtbare Linie gezogen, die es nicht überschreiten durfte.
Als sie aus dem Dschungel hinaustrat, glaubte Robin, ihren Augen nicht zu trauen. Vor ihr erstreckte sich eine schier endlos wirkende Wiese, bewachsen mit saftigem Gras und wunderschönen bunten Blumen, durch die der Wind wehte, der sie hergelockt hatte.
Verwirrt sah sie sich um.
Wie konnte das sein? Solch eine Vegetation gab es normalerweise nur unter den künstlichen Klimakuppeln. Aber sie hätte es doch bemerkt, wenn sie eine betreten hätte.
Sie ging ein paar Schritte.
Das Gefühl der Grashalme, die sanft ihren nackten Füßen auswichen, war unbeschreiblich. Allerdings irritiere sie die Kälte, die der Boden darunter ausstrahlte.
Sie warf noch einmal einen Blick zurück, wo sich der Dschungel wie ein gefährlicher Berg hinter ihr auftürmte.
Nein, da war definitiv kein Glas, kein Kunststoff oder sonst irgendeine Schicht zwischen ihr und der Wildnis.
Eine Gänsehaut kroch ihre Arme hinauf. Teils kam sie von der Luft, die Robin mittlerweile beinahe kalt vorkam, teils aber auch von der Vorstellung, wie unmöglich die Existenz dieses Fleckchen Lands doch war.
Erneut ließ sie den Blick schweifen. Dabei blieb sie an einem Haus hängen, das ihr vorher nicht aufgefallen war.
Ob das die Villa war, die sie gesucht hatte? Groß genug, um ein Hausmädchen zu benötigen, war das Gebäude jedenfalls, das erkannte sie selbst auf die Entfernung.
Entschlossen griff sie an die Träger ihres Rucksacks. So seltsam die Gegend auch schien, würde es sie nicht davon abhalten, die Stelle anzutreten, die man ihr zugesagt hatte.
Kaum dass sie das große Eingangsportal erreicht hatte, drückte Robin beherzt auf den Klingelknopf daneben. Ein lautes Läuten erklang im Inneren und schien durch die gesamte Villa zu dröhnen.
Noch einmal fuhr sie sich durch die Haare, wischte sich den Schweiß von den Wangen und zog ihre Tunika glatt. Der erste Eindruck war wichtig, und auch wenn man ihr die Stelle bereits zugesichert hatte, wollte sie …
Die Tür wurde aufgerissen und Robin zuckte zusammen. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sich jemand von der anderen Seite genähert hatte.
In dem offenen Eingang stand nun ein junger Mann. Mit verschränkten Armen blickte er sie an, ohne ein Wort zu sagen.
Seine autoritäre Erscheinung raubte Robin einen Moment die Sprache. Mit dem braunen Anzug, dem hellgrünen Hemd und den perfekt gelegten schwarzen Haaren wirkte er wie einer der gestandenen ›Hot Winners‹, wie jene genannt wurden, die sich an der Klimakatastrophe gesundgestoßen hatten. Nur der Dreitagebart passte nicht zu dem gepflegten Erscheinungsbild. Außerdem war er zu jung, kaum älter als sie selbst. Aber vielleicht war sein Vater …
Schluss mit dem Starren, ermahnte sie sich selbst. Fokus!
Sie straffte sich und schenkte ihm ein entwaffnendes Lächeln. »Hi, ich bin Robin.« Sie streckte ihm eine Hand entgegen.
Dabei versuchte sie, seinen missbilligenden Blick zu ignorieren.
Als er nicht reagierte, fügte sie hinzu: »Ich soll heute meine Stelle als Hausmädchen antreten.«
Falls es möglich war, wurde der Ausdruck in seinem Gesicht noch abschätziger. »Nein«, meinte er schließlich. »Du bist nicht Robin.« Damit trat er einen Schritt zurück und schlug ihr die Tür vor der Nase zu.
Irritiert zog sie die Augenbrauen zusammen. Was erlaubte sich dieser Schnösel bitte? Wenn jemand beurteilen konnte, ob sie Robin war, dann doch wohl sie selbst!
Ohne zu zögern, drückte sie erneut auf den Klingelknopf. Als ihr wider Erwarten ein zweites Mal geöffnet wurde, stemmte sie die Hände in die Hüften.
»Entschuldige mal«, fuhr sie den Typen an. »Dir ist schon bewusst, wie unhöflich das gerade war?« Sie holte Luft, um ihm noch einiges mehr an den Kopf zu werfen, als eine zweite Person neben ihn trat.
»Bitte entschuldige Edwards rüdes Verhalten.« Es war ein weiterer junger Mann, fast einen Kopf kleiner als der erste, dafür aber etwas pummelig und mit einem offenen Lächeln. »Komm doch bitte erst mal rein. Bei der Hitze heute solltest du nicht draußen stehen.«
Hitze?
Robin zog eine Augenbraue hoch.
Wann war der zum letzten Mal außerhalb eines gemäßigten Bereiches gewesen?
Dennoch zögerte sie nicht, die Einladung anzunehmen. Bei der finsteren Miene von diesem Edward traute sie ihm glatt zu, dass er ihr gleich wieder die Tür vor der Nase zuschlug, wenn sie nicht sofort hindurchschlüpfte.
»Ich bin übrigens Mickael.«
Robin schüttelte die dargebotene Hand. »Ich bin Robin.«
»Ich weiß«, meinte Mickael. »Wir haben immerhin auf dich gewartet.«
»Haben wir nicht«, knurrte Edward und verschränkte die Arme.
»Ich finde, sie sieht schon ziemlich feurig aus«, ertönte plötzlich noch eine andere männliche Stimme.
Robins Augen wurden groß, als zwei weitere junge Männer durch eine große, offene Flügeltür in die Eingangshalle traten.
Wo zum Teufel war sie hier gelandet?
»Ich bin Dimitri«, stellte sich der Sprecher vor. »Und das ist Jason.«
Die beiden standen im gleichen Kontrast zueinander wie Edward und Mickael. Während Dimitri schmal gebaut war, mit blasser Haut und kurzen dunkelblonden Haaren, war Jason geradezu ein Hüne. Groß, muskulös und irgendwie furchteinflößend. Die Tatsache, dass er beharrlich schwieg, machte es nicht besser.
Langsam zweifelte sie daran, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, herzukommen. Sie beschlich das Gefühl, für ganz andere Dinge herbestellt worden zu sein, als Putzen und Betten zu machen …
»Ich kann verstehen, dass du überrascht bist, Edward. Ich hatte auch mit etwas anderem gerechnet«, meinte Dimitri nun und sah von ihr zu dem Angesprochenen.
»Ich hab alles erwartet, aber keine Frau.«
Robin fuhr zu Edward herum. »Ähm, ihr habt nach einem Hausmädchen gesucht. Welch Überraschung, wenn dann auch ein Mädchen hier auftaucht.«
»Wir haben nach dem Feuer gesucht«, bellte er zurück.
»Okay, okay …«, ging Mickael dazwischen. »Sie ist nun mal da. Und das kann nur eines bedeuten, das weißt du.« Schweigen legte sich über die große Halle, während er Edward einen vielsagenden Blick zuwarf. Einen Blick, den Robin nicht verstand.
Dann richteten sich plötzlich alle Augen auf sie.
Ein unangenehmes Kribbeln breitete sich in ihrem Körper aus. Als Gänsehaut kroch es über ihre Arme, ihren Rücken, schob sich in ihr Innerstes und nistete sich als schwerer Stein in ihrem Magen ein.
»Sie muss gehen«, beschloss Edward nach einer gefühlten Ewigkeit.
»Sie könnte es aber sein«, hielt Dimitri dagegen.
»Wir sollten abstimmen«, schlug Mickael vor.
Robin biss sich auf die Unterlippe. Sie spürte noch einmal tief in ihren Bauch, der sie förmlich anschrie, dieses unheimliche Quartett einfach stehen zu lassen und die Villa auf direktem Weg wieder zu verlassen.
Doch was erwartete sie in ihrem alten Leben? Nicht enden wollende Hitze und eine Zukunft ohne Aussicht. Sie wusste nicht einmal, ob sie in das Waisenhaus zurückkonnte, das sie vor einigen Tagen erhobenen Hauptes verlassen hatte.
Nein, Letzteres kam nicht infrage. Sie hatte in solchen Einrichtungen gelebt, seit ihre Eltern bei einem Brand ums Leben gekommen waren. Mit knapp drei Jahren war sie dort gelandet und hatte sich immer nach dem Tag gesehnt, in die Freiheit entlassen zu werden. Keine zehn Pferde würden sie dorthin zurückbekommen.
Die grundlegende Frage war also: Schweißtreibendes Klima dort draußen gegen unterkühlte Stimmung hier drin … Wie sollte sie sich entschieden?
Nacheinander betrachtete sie die schrägen Typen, die sich vor ihr im Halbkreis formiert hatten und über ihr Bleiben oder Gehen diskutierten: Mickael zu ihrer Linken, dann Jason, daneben Dimitri und schließlich Edward. Sie alle wirkten so verschieden, und dennoch glaubte Robin, eine Verbindung zwischen ihnen zu spüren.
Sie konnten Brüder sein … Doch das, was da in der Luft lag, fühlte sich irgendwie anders an.
Das Verrückte aber war, dass diese Verbindung sie miteinschloss. Als wäre sie ein Teil dieser Gruppe. Als würde sie eine Lücke füllen, die bisher zwischen ihnen geklafft hatte.
Nein, die Frage war nicht, wie sie sich entscheiden sollte, sondern warum sie noch zögerte. Irgendetwas in ihr flüsterte, dass hier ihr Platz war. Und obwohl diese Stimme viel leiser war als jene, die sie zur Flucht antrieb, vertraute Robin ihr.
Sie ließ den Rucksack von der Schulter rutschen und öffnete ihn. »Schluss mit diesem Theater«, fuhr sie die Jungs an, während ihre Hand wild in der Tasche kramte. »Ihr könnt mich ohnehin nicht wieder fortschicken. Ich habe einen unterzeichneten Vertrag, der mir eine sechsmonatige Probezeit zusichert.« Sie hatte gefunden, was sie gesucht hatte, und holte ein Blatt hervor, das Edward ihr sofort aus der Hand grabschte.
Mit den Augen überflog er das Papier. Dabei wurde seine Miene immer finsterer.
»Frühestens aufzulösen nach zwei Wochen«, ergänzte Robin, um vorzubeugen, dass jemand ihre Probezeit gleich als beendet erklärte.
»Tja, da kann man wohl nichts machen.« Mickael hatte über Edwards Schulter mitgelesen und zwinkerte Robin zu.
»Wer hat diesen Blödsinn aufgesetzt? Das stammt niemals von …«
»Von mir?« Eine bisher unbekannte Stimme dröhnte von der Balustrade herab, welche die Eingangshalle umgab. »Oh, doch, mein lieber Junge.«
Alle Anwesenden hoben den Kopf, auch Robin. Beinahe hätte sie vor Erleichterung aufgeatmet. Mit dem Auftauchen des älteren Herrn schien endlich eine Autoritätsperson die Bühne betreten zu haben.
Während der Mann die Treppe zu ihnen hinabschritt, verflüchtigte sich das Gefühl allerdings wieder. Ja, er mochte bedeutend älter sein als der Rest der Truppe. Sein Körper glich dem eines Fünfzigjährigen, sein Haar hingegen eher einer verrückten Teeniefrisur aus alten Tagen. Es war kraus, aber so wirr, dass sich die zu erahnenden Locken nicht entfalten konnten. Dazu trug er es in zwei verschiedenen Farben, perfekt am Scheitel getrennt: schwarz und weiß. Als würde das Alter auf seinem Kopf mit der Jugend kämpfen, die in seinen Augen tanzte.
»Mein Name ist Allister Quinn. Bitte entschuldigen Sie das rüde Verhalten meiner Söhne.«
Interessant, die vier waren also wirklich Brüder?
Robin schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich völlig auf den Mann, der nun vor ihr anlangte.
»Ich freue mich, Sie auf Qi Manor willkommen zu heißen, Miss …«
»Robin reicht«, sagte sie schnell und ergriff die dargebotene Hand.
Dass sie keinen Familiennamen besaß, weil sie keine Familie besaß, musste sie ihm ja nicht auf die Nase binden.
Allister Quinn führte sie zu seinen Lippen und hauchte einen Kuss auf ihren Handrücken. Dabei verbeugte er sich leicht. »Robin …« Er sprach ihren Namen aus, als wollte er jede Silbe davon kosten.
Nein, dieser Mann sorgte wirklich nicht dafür, die unangenehme Gänsehaut von ihrem Rücken verschwinden zu lassen.
Langsam genug, um nicht unhöflich zu wirken, entzog Robin ihm ihre Finger. »Mir wurde eine Anstellung als Hausmädchen zugesichert«, erklärte sie, nur um irgendetwas zu sagen. »Vor ein paar Wochen kam dieser Vertrag …«
»Sie müssen mich nicht überzeugen, junge Dame. Ich weiß um die Berechtigung Ihrer Anwesenheit.«
Dieser Ausdruck in seinem Gesicht … Es war, als könnte er direkt in ihre Seele schauen. Und was er dort sah, schien ihm zu gefallen. Einer seiner Mundwinkel hatte sich zu einem schiefen Lächeln gehoben, das jedoch nichts Freundliches hatte. Eher etwas Wölfisches. Doch dann rückte auch der Rest seiner Lippen nach und seine Züge wurden weich. »Ich freue mich, Sie bei uns begrüßen zu dürfen.«
»Sie kann es unmöglich sein, Quinn.« Edward stellte sich neben Robin und wedelte mit dem Vertrag. Die andere Hand hatte er zu einer Faust geballt.
»Willst du meine Entscheidung infrage stellen?« Quinn faltete die Hände vor der Brust, als wollte er beten. Das Lächeln hielt er stoisch aufrecht.
»Nein, aber …«
»Und was noch wichtiger ist«, fiel der offensichtliche Hausherr Edward nun ins Wort. »Willst du mir sagen, du kannst es nicht spüren?«
»Aber sie ist eine Frau!«, platzte es erneut aus ihm heraus. »Das hat es noch nie gegeben.«
»Nur weil es etwas noch nie gab, bedeutet das nicht, dass es so etwas nie geben wird.« Quinn entzog ihm das Blatt Papier. Dann blickte er die anderen an. »Oder seht ihr das anders?«
»Ich finde, sie sollte bleiben«, schoss es sofort aus Mickael hervor. »Ich fühl mich jetzt schon viel stärker.«
Robin runzelte die Stirn, hatte jedoch keine Zeit über diese Worte nachzudenken. Dimitri sprach bereits als Nächster in der Runde. »Ich denke auch, wir sollten ihr zumindest eine Chance geben. Die Probezeit steht ihr zu.«
»Sie wird Ärger bringen«, beharrte Edward auf seinem Standpunkt. »Ich lehne das ab.«
Alle Augen richteten sich auf Jason. »Was meinst du? Dafür oder dagegen?«, forderte Mickael ihn auf, sich ebenfalls zu positionieren.
Noch immer hatte er kein einziges Wort gesagt, seit er in der Eingangshalle aufgetaucht war. Die Miene des breitschultrigen jungen Mannes sprach jedoch Bände, er dachte genau das Gleiche wie Edward.
Robin war das egal. Master Quinn hatte sich bereits für sie ausgesprochen und mit Mickaels und Dimitris Stimme war ihr Bleiben eigentlich beschlossen.
Dennoch kribbelte ihre Haut, während Jasons Blick auf ihr ruhte, ähnlich intensiv wie vorhin der von Master Quinn. Seine Meinung würde nichts am Ergebnis ändern, doch irgendwie war sie Robin … wichtig.
»Dafür«, sagte er knapp. Es war nur ein einzelnes Wort, trotzdem dröhnte es in Robins Brust nach wie ein Donnerschlag.
Quinn klatschte in die Hände und stieß ein derart irres Kichern aus, dass Robin sofort zu ihm herumfuhr. Als sie ihn ansah, war nur das erhabene Lächeln zu sehen.
»Wunderbar.« Quinn bot ihr den Arm an. »Dann würde ich Sie jetzt bitten, mich in mein Büro zu begleiten. Ich möchte Ihnen gern das ganze Ausmaß ihrer Anstellung offenlegen.«
Robin schluckte.
Es war also beschlossen. Sie würde auf Qi Manor bleiben. Einer riesigen Villa in einem gemäßigten Bereich. Einem Ort, an dem sie nicht nur fror, weil die Temperaturen so viel niedriger waren als an allen anderen Orten der Welt, sondern auch wegen der frostigen Stimmung.
Letzte Chance zur Flucht, drängte die Brüllstimme, während der Flüsterer nur befriedigt lächelte.
Nach kurzem Zögern schulterte Robin ihren Rucksack, reckte das Kinn und ließ sich von Quinn tiefer ins Gebäude führen.
Bestimmt fünf Minuten tappte sie neben Quinn her, der mal eine Treppe nach oben nahm, in einen Seitengang abbog, eine Treppe nach unten ging, Türen öffnete, die in weitere Gänge führten …
Zu Beginn hatte sich Robin noch bemüht, die Orientierung zu behalten. Doch spätestens ab dem Punkt, an dem sie sich zum vierten Mal nach links wandten, ohne auf den Weg zu treffen, den sie gekommen waren, hatte sie aufgegeben.
Dieses Haus war entweder ein verfluchtes Labyrinth oder hatte ein Eigenleben, das jeder Logik widersprach. So oder so war es riesig, viel größer, als es von außen den Anschein gemacht hatte.
Der Gedanke, all die Zimmer hinter den unzähligen Türen putzen zu müssen, brachte ihren Entschluss zu bleiben ein wenig ins Wanken. Allerdings waren viele Türklinken dermaßen verstaubt, dass die Räume dahinter vermutlich nicht benutzt wurden, dementsprechend auch keiner Zuwendung bedurften.
Ab und an sah sie sich nach dem jungen Mann um, der ihnen mit etwas Abstand folgte: Edward, der Mürrische, der sie am liebsten sofort rausgeworfen hätte. Auch jetzt verriet sein Blick ganz genau, was er hiervon hielt, nämlich nichts.
So ein arroganter …
»So, bitte schön«, riss Quinn sie aus ihren Gedanken und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorn.
Sie hatten eine Tür am Ende eines langen Ganges erreicht, die Robin zuvor jedoch nicht aufgefallen war.
Dieses Gebäude macht mich ganz kirre, schoss es ihr durch den Kopf, als Master Quinn auch schon die Klinke drückte und den Raum dahinter betrat.
Sie hatte erwartet, dass er sie in eine Art Büro führen würde, dieses Zimmer wirkte aber eher wie ein gemütlicher kleiner Salon. An den Wänden hingen altmodische Bilder und Teppiche, während kleine Skulpturen, Gesteinsbrocken und Schnitzereien auf Amphoren davor aufgereiht waren. In der Mitte stand ein runder Tisch mit drei Stühlen, gedeckt mit einem kitschigen Kaffeeservice.
»Nehmt Platz, ihr beiden«, wies der Hausherr sie an.
Robin ging zielgerichtet auf den Stuhl zu, welcher der Tür am nächsten war, stellte den Rucksack daneben ab und setzte sich.
Quinn nahm zu ihrer Rechten Platz, doch der dritte Stuhl blieb leer.
»Danke, ich stehe lieber«, kommentierte Edward aus Richtung des Eingangs.
Nun bereute Robin die Wahl ihres Sitzplatzes. Ein Blick über die Schulter zeigte ihr, dass Edward sich neben der Tür gegen die Wand gelehnt hatte. Sie würde ihn also die ganze Zeit im Rücken haben, während sie mit Master Quinn sprach.
Ein unangenehmes Prickeln breitete sich von ihrem Nacken aufwärts über ihre Kopfhaut aus.
»Schön, schön«, zog der Hausherr ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich.
Robin richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, rückte noch etwas an den Tisch heran und schaute ihm aufgeschlossen in die Augen. Sie würde sich nicht aus der Ruhe bringen lassen.
»Ich habe dir einen Vertrag über eine Anstellung als Haushaltshilfe zukommen lassen«, begann der Hausherr.
Sofort tauchte Robin unter dem Tisch ab und kramte in ihrem Rucksack. »Ja, genau. Ich habe ihn hier und auch bereits unterschrieben …«
»Er ist hinfällig«, unterbrach Quinn ihre Suche, was sie hochschnellen ließ.
»Aber sie sagten …«
»Dass du bleiben sollst, richtig. Dem ist auch so. Nur sind die Bedingungen dafür ein klein wenig anders, als in diesem Vertrag angekündigt war.«
Sie faltete die Hände auf dem Tisch, nur um sie nicht zu Fäusten zu ballen.
Was kam jetzt, bitte schön? Sollte sie doch die Mätresse für die jungen Herren spielen? Oder gar für ihn?
Gab es vielleicht noch Schlimmeres, was er von ihr verlangen oder wozu er sie missbrauchen wollte? Man konnte nie wissen, was diesen reichen Schnöseln so einfiel, um ihre Langeweile zu bekämpfen. Dieses Misstrauen hatten die Betreuer im Heim ihr über Jahre eingetrichtert.
Quinn drehte sich ein wenig zur Seite, sodass er einen Arm locker auf der Stuhllehne ablegen konnte, und überschlug die Beine. »Was weißt du über diese Welt, junge Dame?«
Sie befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge. »Möchtet ihr meinen Wissensstand überprüfen?«, fragte sie freiheraus. »Oder welche Erfahrungen ich bereits sammeln durfte?«
Gleichzeitig überlegte sie, ob sie es an Edward vorbeischaffen würde, wenn sie sich zur Flucht entschied. Aber selbst wenn ihr das gelang, blieb noch das Labyrinth an Gängen, durch welches sie zurückfinden musste. Egal, das würde sie schon hinbekommen. Und wenn es Stunden dauern würde, irgendwann würde sie auf den Eingang stoßen.
In einer schnellen Bewegung beugte sich Quinn nach vorn und ergriff ihre Hand. »Du hast hier nichts zu befürchten, das verspreche ich dir. Und solltest du nach unserem Gespräch lieber wieder gehen wollen, steht dir das selbstverständlich frei.«
Das Kribbeln im Nacken wurde stärker. Anscheinend erdolchte Edward sie gerade mit seinem Blick. Doch ihr Bauchgefühl bestätigte Quinns Worte.
So unangenehm der Typ hinter ihr war, sie fühlte sich dennoch nicht bedroht. Noch nicht.
Sie holte tief Luft. »Es ist 2054. Seit über einem Jahrzehnt befindet sich die Erde in einem klimatischen Ausnahmezustand, nachdem die Erderwärmung schlagartig zugenommen und den halben Planeten in eine Sauna verwandelt hat. Es gibt nur noch die Klimazonen heiß-feucht und heiß-trocken. Ich bin übrigens in letzterer aufgewachsen. Na ja, und dann gibt es noch die künstlich geschaffenen gemäßigten Zonen, deren Existenz durch sogenannte Klimakuppeln ermöglicht wird. Durch die werden nicht nur Temperaturbereiche getrennt, sondern auch die Gesellschaft. Nur die abartig Reichen können sich ein Leben dort leisten, egal ob sie es verdient haben oder nicht. Sie schwelgen dort in Luxus und Fülle, während der Rest der Menschheit in der Hitze vor sich hin vegetiert.« Plötzlich schlug sie die Hand vor den Mund, als ihr einfiel, dass sie sich gerade in einer gemäßigten Zone befand und mit wem sie dementsprechend sprach. »Entschuldigen Sie …«
Quinn winkte ab. »Keine Scheu, ich finde es erquickend, wie frei du erzählst.« Seine Augen funkelten. »Du empfindest die Welt also in einem … nun, nennen wir es Ungleichgewicht?«
Ihr entfuhr ein Schnauben. »Ungerechtigkeit trifft es eher.«
»Oh, ich meine nicht zwingend nur die Menschen, sondern alles.«
Irritiert hob sie eine Braue. »Ähm, nun, ja. Das mit der Hitze ist auch nicht normal, zumindest war es das wohl früher nicht. Ich war noch sehr klein, als sich das Wetter so krass geändert hat, und kann mich nicht daran erinnern.«
Er nickte ihr aufmunternd zu. »Gut, gut. Weiter.«
»Hören Sie.« Robin wand sich unter seinem Blick. »Sagen Sie mir doch bitte einfach, was mich hier erwartet, okay?«
Quinn schmunzelte. »Das ist nicht ganz so leicht. Zunächst muss ich dir erklären, wer wir sind.«
»Die Jungs haben sich mir bereits vorgestellt«, wiegelte sie ab, um die Unterhaltung voranzutreiben.
»Jungs … pah«, kam es schnaubend von Edward, dem diese Bezeichnung gar nicht passte.
Robin konnte das Grinsen nicht ganz zurückhalten, das sich auf ihre Lippen legen wollte, erst recht nicht, als auch Quinns Mundwinkel zuckten.
»Du kennst ihre Namen, das bedeutet aber nicht, dass du weißt, wer sie sind.« Mit einem Mal wurde Quinns Blick ernst. »Lass es mich dir erklären.« Er nahm eine der Tassen vom Tisch und trank einen Schluck, als müsste er seine Stimmbänder für den kommenden Vortrag befeuchten. »Alles in dieser Welt besteht aus Energie. Die Wissenschaft spricht von Atomen, Ionen, Quanten und so weiter. Doch in Wahrheit ist dieses Prinzip noch viel feinstofflicher.«
Am liebsten hätte sich Robin gegen die Stirn geschlagen, als ihr endlich dämmerte, was hier vor sich ging. Dabei lag es auf der Hand!
Das hier war kein Wohnsitz irgendeiner reichen Familie. So belehrend, wie der Mann vor ihr redete, musste es sich bei ihm um einen Professor oder so etwas handeln. Nein, mehr noch – so wie er sich gab, war er vermutlich ein Direktor, und zwar von genau der Einrichtung, in der sie sich befand. Das hier war eine Schule, vielleicht sogar ein Internat. Und die Typen, die ihr geöffnet hatten, waren entweder übereifrige Studenten oder extrem junge Dozenten.
Fast hätte sie aufgelacht, als die Anspannung von ihr abfiel. Sie hatte es scherzhaft gemeint, aber offensichtlich prüfte der Direktor tatsächlich ihren Wissenstand. Anscheinend sollte auch das Personal über einen gewissen Intellekt verfügen.
Oder würde er ihr gar ein Stipendium anbieten, wenn sie sich jetzt nicht allzu dumm anstellte? War dies eine Art Aufnahmetest?
Wieder zog sich ein elektrisierendes Kribbeln über ihre Haut und ihr Herz begann zu flattern. Nur mit Mühe konnte sie sich auf das konzentrieren, was Master Quinn von sich gab. Er schien irgendeinen Sprung gemacht zu haben, den sie verpasst hatte, denn nun sprach er nicht mehr von Physik, sondern von Religion.
»Seit Anbeginn der Zeit existieren verschiedene Theorien darüber, wie unsere Welt entstanden ist und welche Mächte sie lenken. Nur eine davon ist korrekt, wie unsere Existenz eindeutig beweist: die Lehre der Wandlungsphasen. Hast du schon einmal davon gehört?«
Robin überlegte fieberhaft, musste aber verneinen.
Verflucht, war sie damit bereits durchgefallen?
»Laut dieser Lehre liegt allem, was geschieht, fünf Elemente zugrunde: Feuer, Wasser, Erde, Metall und Holz. Allerdings sind hier nicht nur die physischen Bedeutungen gemeint, wie ein Baum oder eine Handvoll Dreck. Vielmehr bezeichnen diese Elemente ein ganzes Sammelsurium von Energien, Eigenschaften und Fähigkeiten. Kannst du mir folgen?«
Sie nickte, wenn auch mit gerunzelter Stirn.
»Diese Elemente unterliegen einem Zusammenspiel, einem Wandlungsprozess, der alle Abläufe beeinflusst. Das Ziel dabei ist, ein Gleichgewicht auf Erden zu erhalten, eine gewisse Harmonie. Und genau das ist unserer Aufgabe.«
Er machte eine Pause und sah sie erwartungsvoll an.
Nur hatte sie keine Ahnung, was er erwartete …
Ein weiteres Mal warf Robin die Theorie in ihrem Kopf über den Haufen. Das hörte sich nicht mehr nach Unterricht an, sondern nach einer Predigt.
War sie in einer Sekte gelandet?
Sie beschloss, einfach abzuwarten, was der Mann als Nächstes von sich geben würde.
»Die Welt ist voller Gegensätze«, fuhr er fort. »Tag und Nacht, Licht und Schatten, Jugend und Alter, selbst Mann und Frau. All das ist nötig für den natürlichen Lauf der Zeit und des Lebens. Es funktioniert allerdings nur, wenn beide Seiten im Gleichgewicht miteinander sind. Wenn alles einem gewissen Zyklus folgt.
Die Menschen sind der Auffassung, dies würde von allein geschehen. Doch das stimmt nicht ganz. Für jedes Element gibt es eine Inkarnation, sozusagen ein fleischgewordenes Abbild, einen Träger, einen Bewahrer – die sogenannten Baocun. Zusammen bilden sie den ›Zyklus der Fünf‹. Und es gibt Mächte, die versuchen, diesen Kreislauf zu stören. Aber das führt gerade zu weit, das sollst du später lernen.«
Robin spürte, wie ihre Hände feucht wurden.
Gar nichts wollte sie von dem abstrusen Zeug lernen. Noch konnte sie sich vorstellen, als Hausmädchen für diesen verrückten Haufen zu arbeiten. Aber nur, wenn sie sie mit ihren verqueren Ideologien in Ruhe ließen.
»Vier der Baocun hast du bereits kennengelernt. Edward, das Holz. Mickael, die Erde. Jason, das Metall. Und Dimitri, das Wasser. Und du bist die Fünfte im Bunde, das Feuer.«
Zwei Sekunden verstrichen, in der nichts als Stille in dem Salon herrschte. Robin blinzelte, öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Sie holte tief Luft, stockte, stieß die Luft aus.
Dann sprang sie auf.
Da konnte ihr Bauchgefühl ihr Hunderte von viele Signale senden, dass alles in Ordnung sei. Vielleicht hatten die Leute hier nicht vor, sie für ein abstruses Opferritual zu missbrauchen oder sich anderweitig an ihr zu vergehen. Sie würde sich aber bestimmt keinem irren Kult anschließen, da konnte dieser Mann noch so nett zu ihr sein.
Was er von sich gab, war vollkommen durchgeknallt und sie würde sich da nicht hineinziehen lassen.
»Danke, ich lehne ab«, sagte sie schnell, schnappte sich ihren Rucksack und wirbelte zur Tür.
Leider hatte sie Edward vergessen, der nach wie vor da war und sich ihr nun in den Weg stellte.
»Hör ihm zu«, knurrte er, als sie einen Schritt auf ihn zumachte.
Er war wirklich einschüchternd mit seiner finsteren Miene, den breiten Schultern und den starken Armen, die er vor der Brust verschränkt hatte.
»Das habe ich. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass dieser Job hier nichts für mich ist. Ganz wie du schon vermutet hast.« Robin fasste die Träger ihres Rucksacks fester. Wenn er versuchen würde, sie zu packen, würde sie ihm das Ding um die Ohren hauen.
»Ich weiß, wie sich das anhört«, erklang Quinns Stimme hinter ihr. Sie war mitfühlend, aber es schwang auch der Hauch eines Lächelns darin mit. »Deswegen habe ich Edward gebeten, unserem Gespräch beizuwohnen.« Sie hörte das Knarzen eines Stuhls. Vermutlich war er aufgestanden. »Mein Junge, würdest du bitte.«
Ohne ein weiteres Wort streckte Edward ihr die Hand entgegen.
Reflexartig schlug Robin zu, doch bevor der Rucksack ihn treffen konnte, hatte Edward die Hand fortgezogen.
»Rühr mich nicht an«, zischte sie, als er den Arm abermals hob.
Er reagierte nicht darauf, sondern hielt ihr wortlos die Handfläche hin, auf der etwas lag. Ein Samenkorn, wie Robin aus dem Augenwinkel erkannte.
»Liebes, halte den Blick auf Edwards Hand gerichtet«, bat Quinn sie.
Ohne zu wissen, warum, gehorchte Robin. Irgendetwas in seiner Stimme hatte eine derart beruhigende, einnehmende Wirkung auf sie, dass sie gar nicht anders konnte. Sie vertraute ihm auf eine abartige, unerklärliche Weise.
So fixierte sie das Samenkorn, bis Edward die Faust darum schloss. Sie wagte nicht zu blinzeln, als plötzlich kleine weiße Fäden zwischen seinen Fingern hervordrangen. Zuerst glaubte Robin, er hätte ihr seine unmenschliche Kraft bewiesen, indem er das Korn zerquetscht und milchige Flüssigkeit herausgepresst hatte. Doch diese Fäden waren eindeutig aus festem Material.
Sie wurden länger, glitten wie Würmer über Edwards Haut und reckten sich zuckend wie Schlangenzungen in die Luft.
Was zum Teufel war das?
Um ihr die ungestellte Frage zu beantworten, öffnete Edward seine Hand wieder. Noch immer lag der Samen darin, aber er hatte sich verändert. Die Hülle war aufgeplatzt und Ursprung der weißen Fäden. Außerdem schob sich ein etwas dickerer Strang nach oben, der bereits einen leicht grünen Schimmer trug.
Kein Zweifel, der Samen hatte gekeimt. Es war ein natürlicher Prozess, der in der Erde Stunden oder Tage benötigte. Hier aber war er gerade binnen weniger Herzschläge abgelaufen, und zwar in der Hand eines Mannes, ohne Wasser oder Dünger.
Doch das Wunder war bei weitem nicht vorbei. Robin wurde Zeugin, wie sich der kleine Keimling streckte, zu einem etwa ein Zentimeter langen Stiel wurde und schließlich ein kleines grünes Blatt zur Seite austrieb.
Eine Hand legte sich auf Robins Rücken, als sie zurücktaumelte. Sie spürte die Kante des Stuhls an ihren Kniekehlen, just in der Sekunde, als ihre Beine nachgaben.
»Was ist das für ein Trick?«, hauchte sie. Ihre Stimme war genauso jeder Kraft beraubt wie ihr Körper.
»Kein Trick, sondern simple Energie«, erklärte Quinn. »Danke«, richtete er sich an Edward. »Lass uns nun einen Moment allein. Aber halte dich bitte in der Nähe auf, um Robin ihre Gemächer zu zeigen, sofern sie bleiben möchte.«
Mit unveränderter Miene ballte Edward die Hand erneut zur Faust und zerdrückte die kleine Pflanze. Er drehte die Hand, ließ die Überreste, die nicht mehr als zerdrücktes Laub waren, fallen, und wandte sich ab.
Kaum dass Edward den Raum verlassen hatte, ging der Hausherr vor Robin in die Knie. Sanft strich er ihr eine verirrte Haarsträhne aus der Stirn.
»Edward ist der Holzbaocun, die Inkarnation des Elements Holz. Neben vieler anderer Eigenschaften kann er Gewächse direkt beeinflussen.«
Wie ein Fisch auf dem Trocknen klappte Robin den Mund zweimal auf und zu, unfähig auch nur irgendeinen Gedanken in Worte zu fassen.
Dafür sprach Quinn weiter. »Zu Beginn haben wir über die Zustände auf der Erde gesprochen, über die Hitzewelle, die das Leben der Menschen so stark beeinflusst. Erinnerst du dich?«
Natürlich tat sie das, immerhin war das erst vor wenigen Minuten gewesen. Aber vermutlich wollte er mit dieser Frage nur überprüfen, ob sie ihm noch folgen konnte.
Mechanisch nickte sie.
»Diese Veränderung hatte ihren Ursprung in diesem Haus, am Tag, an dem das Feuer erlosch.«
»Augenblick mal«, unterbrach Robin ihn nun doch. »Meinen Sie damit, einer dieser Elementtypen sei gestorben? Wie soll das gehen?«
Quinn legte den Kopf leicht schief. »Keiner hat behauptet, die Baocun wären unsterblich. Sie können Verletzungen erliegen, umgebracht werden oder einfach dem Alter anheimfallen. Sogar Selbstmord ist eine Möglichkeit. Als der Feuerbaocun von uns ging, handelte es sich um einen natürlichen Tod, sollte dies für dich von Bedeutung sein. Wenngleich er etwas unerwartet kam. Herzinfarkt, im Alter von vierundsechzig Jahren. Welch Ironie.« Er lachte kurz über einen Witz, den Robin nicht verstand.
Es wunderte sie ohnehin, wie distanziert er über das Ableben dieses angeblich so wichtigen Mannes sprach.
Quinn fuhr indes fort. »Das Universum spürt, wenn es für einen der Fünf Zeit wird, zu gehen. Normalerweise sorgt es dafür, dass dessen Nachfolger schon weit vorher das Licht dieser Welt erblickt. Es obliegt mir, diesen zu finden und herzubringen, um von seinem Vorgänger unterwiesen zu werden.«
Er machte eine Pause und sie nutzte die Zeit, um eine Frage einzuwerfen. »Ich dachte, die anderen sind Ihre Söhne?«
»Ich sehe sie als solche, ja. Und ich wünsche, dass auch ihre – eure – Verbindung untereinander mindestens so innig ist wie die unter Geschwistern. Gezeugt und geboren werden sie aber außerhalb dieser Villa, von ganz normalen Menschen irgendwo auf der Welt. Meistens entwickeln sie sofort eine gewisse Begabung, manchmal erst nach einigen Jahren. Das hängt davon ab, wie es um den amtierenden Baocun steht. Ich spüre das Erwachen ihrer Kräfte und hole sie schließlich zu uns. Im Fall des Feuerbaocuns«, kehrte er zum ursprünglichen Thema zurück, »hatten wir den Nachfolger noch nicht gefunden. Das hat den Kreislauf der Wandlungsphasen erheblich gestört. Es hinterließ eine Lücke im Zyklus, statt zu fünft waren die Baocun nur zu viert. So konnten sie das Gleichgewicht der Welt nicht mehr aufrechterhalten und unsere Feinde nutzten ihre Chance. Unsere Schwäche wurde zu ihrer Stärke und die Hitze gewann die Oberhand.«
Was habe ich mit all dem zu tun?, wollte Robin fragen. Doch eigentlich ahnte sie schon, worauf Quinn hinauswollte. Er hatte es ihr ja bereits gesagt.
»Sehr, sehr lange habe ich nach dem nächsten Feuerbaocun gesucht. Aber es dauerte mehr als ein Dutzend Jahre, ehe ich fündig wurde. Ehe ich dich gefunden habe. Du, Robin, bist das Feuer. Du bist die Fünfte, das fehlende Element, das alles wieder ins Gleichgewicht bringt. Und wenn du es uns erlaubst, werden wir dir dabei helfen, die Macht, die du in dir trägst, zu erkennen.«
Edward stand in der geöffneten Doppeltür, die in den Südflügel führte. Er hatte wieder die Arme verschränkt und der Ausdruck in seinem Gesicht war noch immer genauso abweisend wie bei ihrer Ankunft. »Wenn du etwas brauchst, Dimitri bewohnt den Nordflügel und Mickael hat seine Räume im Keller.«
Robin sah sich völlig verstört um. »Hier … soll ich wohnen?« Schon der erste Blick verriet, dass ihr nicht nur ein Zimmer, sondern ein ganzer Gebäudeabschnitt zugeteilt worden war.
»Nein, das ist der Bereich, den du zu putzen hast. Wohnen wirst du in einem kleinen Verschlag unter der Treppe.« Edward verdrehte die Augen.
Robin hingegen entlockte sein Kommentar ein leichtes Schmunzeln. Versteckte sich da tatsächlich etwas Humor hinter dem Sarkasmus?
Als er sich zum Gehen wandte, hielt sie ihn zurück. »Warte mal …«
Sein Seufzen machte klar, dass er alles wollte, nur nicht auf sie warten.
»Kann ich es noch mal sehen?«, fragte sie. »Dieses Ding mit der Wurzel?«
»Wir sind keine Clowns, die ihre Fähigkeiten zu deiner persönlichen Belustigung einsetzen, klar? Wenn du die Sache nicht ernst nimmst, kannst du gleich wieder verschwinden.« Damit zog er endgültig ab.
Robin stand da wie festgefroren und starrte auf die Türen, die er in einer theatralischen Geste hinter sich zuzog. Wie … unfreundlich!
Doch sie hatte andere Probleme als einen ungehobelten Mitbewohner.
Vorsichtig wie ein ausgesetztes Kätzchen, das seine neue Umgebung auf Gefahren untersucht, schlich sie durch die Räume.
Edward hatte sie in eine Art Lobby geführt, in der es große Bücherregale sowie eine Sitzgruppe mit einem Sofa und mehreren Sesseln gab. Außerdem entdeckte sie ein Schreibzimmer, eine kleine Bibliothek, ein Schlafzimmer, ein Ankleidezimmer, ein Bad und einen Raum mit diversen Geräten, die wohl der körperlichen Ertüchtigung dienten.
Während sie durch den ihr zugeteilten Bereich wanderte und die altmodische Inneneinrichtung musterte, war ihr Kopf noch mit dem beschäftigt, was Allister Quinn ihr vorhin erzählt hatte.
Seine Geschichte war abstrus, wenn sie es freundlich ausdrückte. Mächtige Wesen, Elementarträger – sogenannte Baocun – die das Gleichgewicht auf Erden aufrechterhalten sollten … der Zyklus der Fünf.
Edward, das Holz.
Mickael, die Erde.
Jason, das Metall.
Dimitri, das Wasser.
Und sie selbst das Feuer.
Sie war hier in eine extrem krasse Sache hineingeraten, ohne Frage. Das war ihr spätestens klar geworden, als Quinn ihr nach Edwards Demonstration noch ein wenig mehr über die Fähigkeiten der Baocun und ihre Gegenspieler erzählt hatte.
Es klang so verdammt nach ›Superhelden‹ … Wie sollte sie das für bare Münze nehmen?
Als sie das letzte Zimmer ihres neuen Reiches betrat, stutzte sie. Der Raum war vollkommen leer, bis auf ein rundes Kissen in der Mitte. Schwarze Striemen zogen sich über den Boden, der hier nicht aus Parkett, sondern aus Steinfliesen bestand.
Und war das Ruß an den Wänden?
Sie wusste, dass bereits vor ihr eine Inkarnation des Feuers in diesem Flügel gelebt hatte. Hatte er diese Spuren hinterlassen? Und war sie bereit, diesen zu folgen?
Urplötzlich stieß Robin einen lauten Schrei aus, in der Hoffnung, dem Druck in ihrem Inneren damit ein Ventil zu geben.
Das war doch alles irre, völlig verrückt. Es gab keine Magie!
Aber die Spuren in diesem Zimmer … Die kleine Pflanze, die Edward hatte wachsen lassen …
Robin kehrte zurück in die Lobby ihres Flügels, stellte sich ans Fenster und raufte sich die Haare.
Fünf Elemente, die den Kreis des Lebens am Laufen hielten. Und in ihrer Mitte ein alter Mann, der sich selbst als das Zentrum des Universums betitelte?
Ein Haus voller Durchgeknallter traf es wohl eher. Und dass sie auch nur in Erwägung zog, dies sei die Wahrheit, zeigte, dass sie ebenfalls auf dem besten Weg war, ihren Verstand zu verlieren.
Sie sah nach draußen, ließ ihren Blick über die weitläufige Wiese gleiten, bis er schließlich auf die Grenze zum Dschungel traf. Wie ein Strich zog sie sich durch die Landschaft, als gäbe es tatsächlich eine physische Barriere, die diesen gemäßigten Bereich von der Hitze außerhalb abschirmte. Es musste eine geben, es ging gar nicht anders.
Vermutlich hatte Robin sie nur durchquert, ohne etwas zu bemerken.
Vermutlich war der Ruß an den Wänden nebenan durch einen ganz normalen Brand entstanden.
Und was wusste sie, ob es in gemäßigten Bereichen keine Pflanzen gab, denen bloßer Hautkontakt zum Wachsen genügte.
Sie konnte es an einer Hand abzählen, wie oft sie eine der Klimakuppeln besucht hatte!
Taschenspielertricks, nichts weiter.
Aber für die Menschen, die in diesem Haus lebten, war die Geschichte um die Baocun real. Wer wusste, was sie sich für abstruse Dinge einfallen ließen, um ihre Wahnvorstellungen im Alltag auszuleben. Am Ende zündeten sie Robin an, um ihr zu beweisen, dass sie das Feuer war.
Erschrocken über ihren eigenen Gedanken fuhr sie herum.
War das in dem leeren Raum passiert? War sie womöglich nicht die erste Anwärterin auf die Stelle des Feuerbaocuns?
Okay, wenn sie auch nur ein bisschen an ihrem Leben hing, musste sie schleunigst weg!
Die Hitze da draußen war allemal besser auszuhalten als das Fegefeuer, das sie hier vermutlich erwartete.
Als hätte sich ein Schalter in ihr umgelegt, hechtete Robin zu dem Sessel, auf dem ihr Rucksack lag, warf ihn über die Schulter und sprintete zum Ausgang.
Hätten ihre Füße den Weg nicht von allein gefunden, hätte sie sich in der großen Villa wohl gnadenlos verlaufen. Doch bereits nach wenigen Schritten erreichte sie die Treppe, die nach unten in die imposante Eingangshalle führte.
Sie zuckte nicht einmal zurück, als sie Mickael dort stehen sah. Direkt auf dem Weg zwischen ihr und dem Ausgang.
»Hey, Robin, was geht?«, fragte er und grinste ihr entgegen.
Sie schenkte ihm keine Beachtung, drosselte nicht einmal ihr Tempo. Sie flog regelrecht die Stufen hinab, rempelte ihn mit der Schulter zur Seite und stürzte auf die Tür zu.
Eine Welle purer Erleichterung durchflutete sie, als sich die Tür wider Erwarten ohne Probleme öffnen ließ. Schon war sie draußen.
»Robin, warte. Wohin willst du?«
Mickaels Rufe ignorierend, rannte sie weiter, hielt auf den Dschungel zu, der ihr so ewig weit entfernt vorkam. Egal, und wenn sie hinterher den Muskelkater ihres Lebens haben würde, sie würde laufen, bis ihre Beine sie nicht mehr trugen.
Hauptsache, weg von diesen Verrückten!
»Haltet sie auf. Sofort!« Das war Master Quinns Stimme, die von irgendwo aus dem oberen Stockwerk zu kommen schien. Er musste ihre Flucht von einem der Fenster aus entdeckt haben.
»Edward!«, schrie Mickael in ihrem Rücken.
Lauf, Robin, lauf!, trieb sie sich an. Wenn du hierbleibst, bringen die dich um!
»Verdammt, warum hast du sie nicht aufgehalten?«, hörte sie Edwards böses Knurren.
Ein Blick zurück zeigte ihr, dass mittlerweile alle vier jungen Männer auf der Veranda angekommen waren. Schon setzten sie an, ihr zu folgen.
Doch der Abstand, den sie bereits zwischen sich und die Villa gebracht hatte, sollte genügen. Sie sollte es schaffen, vor ihnen die Grenze zum Dschungel zu erreichen. Und war sie erst raus aus diesem gemäßigten Bereich … Hatte das Dickicht sie erst verschluckt …
Ein knarzendes Geräusch ertönte ganz dicht bei ihr. In der nächsten Sekunde blieb ihr Fuß an einer Erhebung im Gras hängen und sie schlug der Länge nach hin.
Worüber zur Hölle war sie gerade gestolpert?
Ihre Handflächen brannten, als sie sich hastig aufrappelte, genau wie ihre Knie.
»Wenn du stehen bleibst, werden wir dir nichts tun«, rief Mickael ihr nach.
»Und wenn du nicht stehen bleibst, werden wir dich dazu zwingen«, ergänzte Edward.
Dafür müsst ihr mich erst mal kriegen, dachte sie, sparte sich aber den Atem.
Sie brauchte alle Kraft, um zu rennen. Schneller als ihre Verfolger zu sein, sollte doch nicht so schwer sein!
Edward und Jason mochten kräftig sein, mit ihren breiten Körpern aber sicher langsamer als sie. Mickael wirkte ohnehin nicht sonderlich sportlich und Dimitri …
»Dimitri, das ist deine Aufgabe«, rief Quinn ihnen hinterher.
Mist, hatte sie den schlaksigen Kerl also unterschätzt. Vermutlich war er der Läufer unter ihnen und klebte bereits an ihren Fersen.
Sollte sie es riskieren, sich noch einmal umzusehen?
In diesem Moment löste sich etwas von der Erde. Um Haaresbreite schaffte es Robin, das Hindernis zu überspringen, bevor es sie erneut zu Fall brachte.
Ihr Herz dröhnte in der Brust.
Hatte sich da wirklich gerade eine Wurzel aus dem Boden geschoben, um nach ihr zu greifen?
Sie blinzelte heftig, musste es sich eingebildet haben. Wahrscheinlich schickte ihr Körper allen vorhandenen Sauerstoff in ihre Beinmuskeln, sodass für ihr Hirn nichts mehr übrig blieb.
Die Grenze zum Dschungel war nicht mehr weit, vielleicht hundert Meter.
Das schaffte sie, das musste sie schaffen!
»Du musst sie kontrollieren, verflucht«, brüllte Edward hinter ihr. Er klang viel näher, als sie gehofft hatte.
»Ich hab das noch nie gemacht, verflucht«, erwiderte Dimitri.
»Entweder du stoppst sie oder wir tun es.«
»Wir können ihr nicht wehtun«, mischte sich Mickael in die abgehetzte Unterhaltung ein.
»Tja, das hat sie dann sich selbst zuzuschreiben. Quinn will, dass wir sie aufhalten. Jason!«
Es war eine Aufforderung. Aber zu was?
Abermals bremste etwas Robins Schritt, so abrupt, dass sie erneut das Gleichgewicht verlor und fiel. Dieses Mal gelang es ihr nicht, sich sofort wieder auf die Beine zu hieven. Etwas sorgte dafür, dass sie ihre Füße keine dreißig Zentimeter voneinander entfernen konnte.
Ihr wurde schwummrig, als sie auf ihre Knöchel starrte. Ein etwa handbreiter Metallring, von etwa einer Hand breit lag um jeden von ihnen, verbunden mit einer kurzen Kette.
Wie zum Teufel war diese Fessel dorthin gekommen? War sie in eine Falle getreten?
»Dimitri«, grollte Edward bedrohlich.
Die Jungs waren nur noch wenige Schritte von ihr entfernt, blieben nun jedoch stehen.
»Sie kommt jetzt bestimmt freiwillig wieder mit zurück. Oder, Robin?« Nahezu flehend sah Mickael sie an.
»Ihr könnt mich mal«, zischte sie und sprang auf, so gut es mit dieser eingeschränkten Schrittlänge ging.
Edward streckte die Hand aus. Sofort wirbelte Robin herum, um ihre Flucht fortzusetzen.
Allerdings erwartete sie dort nicht der freie Blick auf den Dschungel, sondern eine Wand aus massivem Holz. Sie selbst war nicht mehr fähig, ihren Schwung zu bremsen, die Planken waren es hingegen schon. Ein hässliches Knacken ertönte, als ihr Kopf mit voller Wucht dagegen prallte. Schon taumelte sie rückwärts, die Kette zwischen ihren Füßen straffte sich und sie fiel zum dritten Mal.
So gern wäre sie liegen geblieben. In ihrem Kopf dröhnte es und Sterne tanzten in ihrem Sichtfeld, egal ob sie die Augen schloss oder geöffnet hielt. Aber noch immer trieb ihr Instinkt sie zur Flucht. Sie rollte sich zur Seite, kam auf alle viere und krabbelte seitlich an der hölzernen Wand entlang, die nur wenige Meter breit war. Dahinter lockte Freiheit, Sicherheit – zumindest vor diesen irren Typen.
»Sie ist wohl zäher, als du dachtest, Edward.«
Wow, selbst Jason ließ sich dazu herab, ihre Flucht zu kommentieren.
»Dimitri … letzte Chance«, ermahnte dieser seinen Bruder.
Robin sah zu ihnen, musste aber blinzeln, da ihr eine warme Flüssigkeit ins Auge lief.
Blut …
Dennoch sah sie, wie Jason sich neben den schlaksigen Jungen stellte und dessen Hand ergriff. »Ich helfe dir«, tönte seine Stimme, nun ungewöhnlich sanft für so einen Riesen.
Ihr Blick traf seine hellblauen Iriden, die mit einem Mal nahezu weiß wirkten.
Plötzlich umfasste ein Strahlen die beiden jungen Männer und eine überwältigende Ruhe ergriff Robin. Jeder Gedanke an Flucht verschwand, das Hämmern ihres Herzens milderte sich zu einem seichten Pochen. Der rauschende Blutfluss in ihren Ohren verstummte und eine angenehme Wärme umfing sie.
Mit einem Mal wollte sie nichts anderes mehr als schlafen. Das Bedürfnis war so stark, entzog ihr jegliche Kraft. Schon knickten ihre Arme ein.
Sie spürte noch, wie sie seitlich gegen die Holzwand kippte, die sie versucht hatte, zu umrunden. Ihre Sicht verschwamm, alles wurde erst hell, dann dunkel und schließlich rot.
Als sie die Augen wieder aufschlug, glaubte sie, nicht mehr länger unter den Lebenden zu weilen. Alles um sie herum war von einem roten Schleier überzogen: der Baldachin des Bettes, die Bettdecke, der Schrank an der ebenfalls roten Wand ihr gegenüber. Und sogar der Mann, der neben ihrem Bett saß und in einem Buch blätterte.
Robin blinzelte, hielt die Lider kurz geschlossen und als sie sie erneut öffnete, war der Schleier verschwunden. Das Rot des Baldachins blieb jedoch, was ihr zeigte, dass sie in dem Schlafzimmer im Südflügel lag. In ihrem Schlafzimmer.
Allister Quinn räusperte sich. »Du bist schneller wieder bei Bewusstsein, als ich erwartet habe.« Geräuschvoll klappte er das Buch zu, was Robin zusammenzucken ließ, und legte es auf ihrem Nachttisch ab.
»Warum haben Sie mich nicht gehen lassen?«, krächzte sie die erste Frage, die ihr in den Sinn kam. Das ›Wie‹ war eine andere Nummer … Ihr Hirn war noch nicht bereit, sich mit den mysteriösen Geschehnissen auseinanderzusetzen, die sie an ihrer Flucht gehindert hatten.
»Weil du nicht gehen wolltest.«
Sie drehte den Kopf und sah ihn an. »Ich bin weggelaufen«, meinte sie trocken.
Quinn lachte leise. »Ja, aber nicht, weil du uns verlassen wolltest. Du hast lediglich eine von Panik geleitete Überreaktion an den Tag gelegt.« Mit einem gönnerhaften Lächeln schlug er die Beine übereinander. »Du kannst mir später dafür danken.«
»Danken? Wofür?« Wütend wollte sie sich aufsetzen, um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen, doch auch das schien sie noch zu überfordern. Sie konnte gar nicht benennen, an welchen Stellen ihr Körper überall schmerzte. »Ihre Söhne haben mich fast umgebracht«, schnaubte sie, während sie sich wieder ins Kissen sinken ließ.
»Nein. Also«, er wechselte den Beinüberschlag, »nicht dass sie es nicht gekonnt hätten. Es wäre schlichtweg Verschwendung gewesen. Dimitri hat lediglich etwas gebraucht, um einen Zugang zu dir zu finden. Es war das erste Mal, dass er jemanden gedämpft hat.«
Robin schloss die Augen. Absurd, schoss es ihr durch den Kopf. Das hier war alles so absurd! Und doch hatte sie es gesehen. Sie hatte die Magie, die diese Jungen beherrschten, am eigenen Leib gespürt. Die Erdspalte, in dem sich ihr Fuß verhakt hatte. Die Fesseln um ihre Knöchel. Die Wand aus Holz … Das war keine Imagination irgendwelcher Geisteskranker gewesen, keine Taschenspielertricks. Das war echte Zauberei.
»Energie«, meinte Quinn völlig zusammenhanglos.
»Bitte?« Sie sah ihn abermals an. Jetzt war sein Lächeln nicht mehr überheblich, sondern warm.
»Wir nennen es nicht Zauberei, sondern Energie.«
Konnte er etwa ihre Gedanken lesen? Ein Bild schob sich vor ihr inneres Auge: Jason, der Dimitris Hand gefasst hatte.
»Jason hat Dimitri unterstützt, ihm Kraft gegeben, damit er genug davon hatte, um dich zu dämpfen.«
Sie sah ihn einen Moment verwirrt an. »Ich verstehe …«
»… gar nichts, ich weiß. Ich habe dich wohl etwas überfordert, als ich dir alles auf einmal erklärt habe.« Quinn entknotete seine langen Beine und schlug sich auf die Oberschenkel. »Es wird noch ein bisschen dauern, bis deine körpereigene Energie sich wieder stabilisiert hat.« Er erhob sich und wies auf ihren Nachttisch. »Edward könnte das zwar beschleunigen, ich denke allerdings, du kannst diese Auszeit gut gebrauchen, um dich in Ruhe in die Thematik einzulesen.«
Sie folgte seinem Fingerzeig. Neben dem Buch, in dem Quinn bei ihrem Aufwachen gelesen hatte, lagen einige weitere auf dem Nachtschrank. Es waren jedoch keine Romane, wie sie vermutet hatte. Die Titel klangen eher nach medizinischen Fachbüchern und Esoterikkram.
Jetzt gerade stand ihr definitiv nicht der Sinn danach, zu lesen. In ihrem Kopf wirbelten so viele Fragen umher. Dabei musste sie regelrecht darum kämpfen, die Augen offen zu halten, so müde war sie.
»Ruh dich aus, mein Kind. Ich werde Mickael sagen, er soll dich später besuchen. Er macht sich nämlich wirklich Sorgen um seine neue Schwester.« Als er die Tür erreichte, sah er sich einmal mehr zu ihr um. »Es war nicht deine Entscheidung, zu bleiben. Nicht einmal die, zu uns zu kommen. Es war nur eine Frage der Zeit.«
Die Zärtlichkeit, mit der er sie betrachtete, drang tief in ihr Inneres. Und auch wenn sie als Waise zuvor nie in den Genuss gekommen war, wusste sie, dass dies der Blick eines liebenden Vaters war.
Dennoch kroch ihr eine Gänsehaut über die Arme. Denn hinter der Fürsorge lag noch etwas anderes. Die Gier eines Raubtiers, das seine Beute in der Falle wusste.
Aber vielleicht, dachte sie, als sie auch schon wegdämmerte, bilde ich mir das auch nur ein.
Sie hatte tatsächlich eine Weile geschlafen, nachdem Quinn sie verlassen hatte. Als sie die Lider wieder aufschlug, malte die Dämmerung wunderschöne Farben an den Himmel vor ihrem Fenster. Es musste Abend sein, da das letzte Licht von rechts über die Wolken kroch.
Robin schob sich ein Stück im Bett nach oben, lehnte sich mit dem Rücken an den Giebel und faltete die Hände. Dann atmete sie tief durch.
Zeit für eine Bestandsaufnahme.
Akribisch wanderte sie mit den Sinnen durch ihren Körper, bewegte die Finger und Zehen, die Arme und Beine. Wackelte mit dem Becken, drehte den Kopf. An einigen Stellen ziepte es, aber nach echten Verletzungen fühlte es sich nicht an.
Fesseln fand sie auch keine. Und bekleidet war sie nach wie vor mit den Sachen, die sie schon bei ihrer Ankunft getragen hatte. Nichts sprach dagegen, einen weiteren Fluchtversuch zu starten.
Kaum hatte sich dieser Gedanke geformt, verflog er auch schon wieder. Quinn hatte recht, sie wollte gar nicht fort. Zumindest nicht jetzt.
Die Jungs hatten ihr eindrucksvoll bewiesen, dass an dem, was Quinn ihr erzählt hatte, zumindest etwas Wahres dran war. Sie besaßen definitiv irgendwelche krassen Kräfte. Und wenn Quinn der Meinung war, Robin sei eine von ihnen, konnte sie womöglich ebenfalls zaubern. Diese Aussicht war zu verlockend, als dass sie einfach abhauen konnte.
Energie wirken, korrigierte sie sich selbst. Es geht nicht um Zauberei, sondern um Energie.
Ihr Blick fiel auf den Nachttisch. Im schummrigen Abendlicht konnte sie noch immer die Titel auf den Büchern lesen. ›Der Mensch – ein Energiegefäß‹ stand auf dem obersten.
Als sie danach griff, entflammten zwei kleine Lampen rechts und links von ihrem Kopf. Mit aufgerissenen Augen sah Robin sich um, wer eingetreten und das Licht entzündet hatte. Aber niemand war da. Waren vielleicht nicht nur die Jungs, sondern das ganze Haus auf irgendeine Art magisch? Hatten die Lampen ihre Bewegung registriert und sich selbst erleuchtet?
Eins war klar: Wenn sie irgendeine Chance haben wollte, in diese Welt einzutauchen, musste sie sich zunächst den wesentlichen Dingen stellen und aufhören, Kleinigkeiten zu hinterfragen.
Beherzt schnappte sie sich das Buch, zog es auf ihren Schoss und schlug es auf. Erst blätterte sie wahllos durch die Seiten, welche bunte Bilder, Diagramme, Tabellen und endlose Textpassagen enthielten. Zuletzt landete sie beim Inhaltsverzeichnis, überflog es und begann anschließend mit dem ersten Kapitel.
Seite um Seite glitt durch ihre Finger. Mal überflog sie den Text, mal studierte sie ihn regelrecht. Dann wieder blickte sie minutenlang auf eine Zeichnung, um sie sich einzuprägen, oder starrte auf eine Tabelle, ohne ihren Sinn wirklich zu erfassen.
Es ging um den Energiefluss der Welt, so viel begriff sie. Alles im Leben war diesem unterworfen, ja bestand sogar aus Energie. Und rückte dieses System ins Ungleichgewicht, führte das zu Problemen. Das Buch sprach von Energiefeldern, den Auren, aber auch von Bahnen und Chakren.
Als sie zu einem Kapitel über Wandlungsphasen kam, hielt sie inne. Dort waren einige Zyklen abgebildet, die sie teilweise an Pentagramme erinnerten. Es waren die Worte an den Spitzen, die ihre Aufmerksamkeit erregten: Holz, Feuer, Erde, Metall, Wasser. Verschiedenste Eigenschaften waren diesen Elementen zugeordnet, jedoch nichts näher erläutert. Genauso wenig wie die Pfeile zwischen ihnen, die wohl ihre Beziehung zueinander symbolisierten.
Robins Augen flogen über den Text, bis sie an einem Fachbegriff hängen blieb.
Sheng-Zyklus …
Sie klappte das Buch zu, warf es achtlos auf ihre Bettdecke und zog die anderen heran, die noch auf dem Stapel lagen. Die Sonne war bereits gänzlich verschwunden, dafür war der Himmel jetzt wolkenfrei und gewährte unzähligen Sternen den Blick in ihr Schlafzimmer.
Robin hatte weder ein Auge für sie noch für die Zeit, die unbemerkt fortschritt. Sie las und las und las, bis irgendwann das Licht über ihrem Kopf erlosch und ihr das Buch aus den Händen rutschte.
»Guten Morgen«, flötete sie, als sie am nächsten Morgen die Küche betrat.
Es hatte eine Weile gedauert, diese zu finden, aber schließlich war sie einfach dem Duft von Kaffee gefolgt, der sie von der Eingangshalle in die richtige Richtung gelockt hatte.
Drei ihrer neuen Mitbewohner waren anwesend. Während Edward am Ofen stand, in dem ein knisterndes Feuer für heiße Herdplatten sorgte, saßen Mickael und Dimitri an dem großen Esstisch aus Kirschholz, der mindestens zehn weiteren Personen Platz bot.
Letzterer sprang sofort auf, als sie hereinkam. »Robin, hey! Du siehst … gut aus.«
Sie konnte sein Zögern verstehen. Nicht etwa, weil sich deutliche Blessuren von ihrer gestrigen Auseinandersetzung zeigten. Nicht einen Kratzer hatte sie heute Morgen an sich entdeckt. Nein, es war wohl eher die Kleidung, die sie trug, die nicht viel mit gutem Aussehen zu tun hatte.
Auch wenn ihr Körper keine Spuren der gestrigen Flucht aufwies, ihre Sachen hatten es getan. Die Hose war vom Knie aufwärts eingerissen, die Tunika schmutzig und staubig gewesen. Also hatte sie sich kurzerhand an dem Kleiderschrank bedient, der in ihrem Zimmer stand.
Auch dieser bewies ihr, dass vorher ein Mann ihre Räumlichkeiten bewohnt hatte. Graue Anzughosen und rote Hemden hatten seinen Kleidungsstil dominiert. Sicherlich schick, aber nichts für Robin. So hatte sie spontan eines der dunkelroten Hemden zu einer Wickelbluse umfunktioniert, die Ärmel hatte sie bis knapp über den Ellenbogen hochgekrempelt. Die Hosen waren ihr viel zu weit gewesen, aber ganz hinten hatte sie einen Schottenrock entdeckt, der tatsächlich auf ihrer schmalen Taille hielt. Mit diesem Outfit mochte sie wie eine rebellierende Schülerin aus einem gemäßigten Bereich aussehen, aber immerhin war es besser als ihre zerschlissene Leinenkleidung.
Dimitris Blick glitt über ihren Körper, hielt dabei kurz an dem freien Bauch und den nackten Beinen, fand aber schnell genug den Weg zurück in ihr Gesicht.
»Konntest du dich ausruhen? Ich wollte dir nicht so viel abzapfen, aber ich hab das noch nie gemacht und …«
»Schon gut, alles bestens«, unterbrach sie seine gestammelte Entschuldigung. Sie wollte nicht, dass er ein schlechtes Gewissen hatte. Also spielte sie die Situation herunter, indem sie Banalitäten zur Sprache brachte. »Bis auf, dass die Klamotten in meinem Schrank echt zu wünschen übrig lassen.«
Dimitri wirkte, als würde ein Zentner Last von seinen Schultern fallen.
»Frierst du etwa?«, wollte Mickael wissen, der sie ebenfalls gescannt hatte. Dabei war ihm die Gänsehaut an ihren Armen und Beinen wohl nicht entgangen.
»Na, was denkst du?« Sie lachte. »Im Vergleich zum Rest der Welt ist es bei euch echt kalt. Ernsthaft, ich brauch dringend andere Sachen.«
»Master Quinn kümmert sich bereits darum«, erklärte Edward trocken. »Wir waren leider nicht auf weibliche Verstärkung eingestellt.« So wie er das Wort ›leider‹ betonte, war klar, dass er sich mit dieser Tatsache noch immer nicht abgefunden hatte.