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Trevor Man ist weit davon entfernt, ein Held zu sein. Er liebt Filme, Whiskey, Frauen. In der Reihenfolge. Ein einfaches, sorgenfreies Leben – wenn sein Asthma nicht wäre. Jede Anstrengung könnte seinen Tod bedeuten. Als seine Mutter stirbt, muss er sein Leben neu ordnen. Nicht weil er es will, sondern weil er mit der unverhofft hohen Erbschaft endlich seine Krankheit zu besiegen hofft.
Eine experimentelle Behandlungsmethode verspricht Erfolg: Ein künstliches geckoähnliches Wesen wird fortan mit ihm in Symbiose leben, auf seiner Haut, unter seinen Shirts. Der Biss des Wesens injiziert ihm die Medizin, im Gegenzug ernährt sich das Wesen von seinem Blut.
Fast hätte er die Erbschaftsklausel vergessen, dem ,Simon-Club‘ beitreten zu müssen. Doch je tiefer er in die Spiele des Clubs involviert wird, desto deutlicher werden auch die Schatten seiner Vergangenheit und der Triebfeder hinter allem: Despektion!
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Frank Lauenroth
DESPEKTION
ROMAN
Februar 2021 © 2020/2021 Empire-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
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Despektion (Substantiv)
Geringschätzung; Verachtung
Herkunft: [L. despectio.]
Die Schwierigkeit beim Katz- und Mausspiel ist,
zu wissen, wer die Katze ist.
Captain Bart Mancuso in
‚Jagd auf Roter Oktober’
Frank Lauenroth wurde 1963 in Aschersleben (Sachsen-Anhalt) geboren.
Nach dem Gewinn des Romanwettbewerbs „Deutschland schreibt“ im Jahre 2005 widmete er sich vorrangig Thrillern und SF-Kurzgeschichten.
Letztere wurden zwischen 2013 und 2018 viermal für den Deutschen Science-Fiction-Preis und einmal für den Kurd-Laßwitz-Preis nominiert.
http://www.franklauenroth.de
http://www.marathontrilogy.com
Weitere Veröffentlichungen:
»Boston Run – Der Marathon-Thriller«
2010, Sportwelt-Verlag (auch als Hörbuch)
ISBN: 978-3941297050
»New York Run – Der zweite Marathon-Thriller«
2012, Sportwelt-Verlag
ISBN: 978-3941297197
»Black Ice«
SF-Roman (Space Opera), 2014, Begedia Verlag
ISBN: 978-3957770127
»Chicago Run – Der dritte Marathon-Thriller«
2019, BoD
ISBN: 978-3750409781
Dramatis Personae
Trevor Man – Reporter beim New York Guardian
Barnaby McGuiness – Sohn aus reichem Hause
Fiona Singelton – Ärztin
Jazz Richards – Fionas Freundin
Dr. Otiz Andrews – experimenteller Wissenschaftler
Sadie Hatcher – Asthmatikerin, Tochter reicher Eltern
Gordon Banks – Anwalt und Notar
Emily & Richard Man – Trevors Eltern
Sandra & Jonathan McGuiness – Barnabys Eltern
Organisationsteam
Alfred van Houten – Spielleiter
Cindy Bernett
Devlin Gore
Raymond Fitch
Norman Doherty
Sharon Quaid
Spieler
Frank Fisslebee – oberschlauer, reicher Spielteilnehmer
Lionel Stanton – Präsident der Börse
Gary Nance – Vorstandsvorsitzender einer Bank
James R. Forbes – Plastischer Chirurg
Piper Lee – Besitzerin einer Web-Suchmaschine
Leuchtend hell hängt der Vollmond über New York City. Ein seltenes Schauspiel, denn normalerweise verhüllt der Smog den klaren Himmel. Doch an einem kalten Winterabend wie diesem geschieht hin und wieder ein kleines Wunder, und der Blick vom Grund der Fifth Avenue hinauf zu den Sternen ist unverschleiert. Trevor Man ist auf dem Weg nach oben. Allerdings nur zur Aussichtsplattform des Empire State Building. Und selbst das nicht aus eigenem Antrieb. Er fühlt sich nicht wohl in seiner Haut. Aber wie heißt es so schön? Versprochen ist versprochen. Und immerhin war es der letzte Wunsch seiner Mutter. Als sie vor fünf Tagen starb, da hatte er an ihrem Bett gestanden, hatte ihre Hand gehalten und sah sie ins Jenseits gleiten. Zwei Jahre hatte er sie davor nicht gesehen. Als sie sich damals trennten, geschah es im Zorn.
Für einen Moment denkt Trevor zurück und ihm ist heute wie damals unverständlich, warum seine Mutter aus ihm unbedingt ein Vorbild für die Gesellschaft machen wollte. Im Leben hatte sie sich klare, für ihn kaum nachvollziehbare Grundsätze auferlegt. Sie führte ihm gegenüber ein hartes Regiment und stellte Regeln auf, an die andere Eltern nicht einmal gedacht hätten. So nötigte sie ihn, sich täglich zwei Mal komplett zu waschen. Morgens, damit ihn die ‚Gesellschaft’ gut riechen konnte, und abends, damit die Bettwäsche nicht ständig gewechselt werden musste. Kaum einer von Trevors Freunden konnte Ähnliches berichten. Und das war nur ein Beispiel. Ihre Ansichten wurden nach dem Tod seines Vaters nur noch schlimmer, geradezu unerträglich. Sein Beruf war nicht gut genug, sein Lebensstil nicht, seine Freundinnen … Sein Job als Journalist hatte in ihren Augen kaum etwas Edles, Gewinnendes. Sein Loft erschien ihr protzig, und zu guter Letzt hatte sie sich für ihren Sohn eine ‚stete’ Partnerin gewünscht.
Obwohl seine Mutter und er in Brooklyn wohnten, waren sie sich die besagten zwei Jahre aus dem Weg gegangen, und das Treffen an ihrem Krankenhausbett wurde ein trauriges Wiedersehen. Sie saßen sich eine lange Weile stumm gegenüber, ehe er sich vorsichtig nach ihrem Zustand erkundigte. Als sie von der Möglichkeit eines nahen Todes sprach, hatte Trevor sie belächelt ‒ selbst als sie ihm den Schlüssel zu ihrer Wohnung gab. Sie nahm ihm das Versprechen ab, dass er ihre Asche vom höchsten Punkt der Stadt aus verstreuen würde. Sie, die doch immer so betont rechtschaffen war, erlegte ihm bewusst auf, etwas Verbotenes zu tun!
Trevor steigt um in den Fahrstuhl zur Aussichtsplattform. Sein Atem geht schneller. Bis er das 101. Stockwerk erreichen wird, sind es nur noch Sekunden. Dann wird er hinaustreten müssen, die Urne aus seinem Rucksack nehmen und etwas tun, was ihn bei seiner Entdeckung seinen Ruf und damit seinen Job kosten könnte. Als Filmkritiker beim New York Guardian sind seine Kolumnen zumindest berüchtigt. Das macht ihn noch nicht zu einer Berühmtheit, aber wenn er sich hier erwischen ließe, dann würde er selbst die Headline des Guardian füllen. Sein Rauswurf wäre unvermeidbar. Keine Reisen mehr zu den Filmfestspielen von Cannes und Venedig. Sein Loft wäre unbezahlbar, ganz zu schweigen von seinen Medikamenten. Ein fast schon zu großes Risiko.
Die Fahrstuhltür öffnet sich. Zwei Schritte, und Trevor steht im Innenraum der Aussichtsplattform. Nur ein Bediensteter des Empire sitzt hinter einem Tresen. Er trägt die gleiche dunkelblaue Uniform wie seine Kollegen in der Lobby – einfarbig, mit einem in Brusthöhe aufgenähten Logo des Gebäudes. Trevor würdigt den Sicherheitsbeamten keines weiteren Blickes und geht durch die Tür, die ihn vom Abendhimmel über Manhattan trennt. Endlich befindet er sich auf der Plattform. Sein Atem geht stoßweise. Er weiß, dass das nicht gut ist. Normalerweise hat er sein Leben so eingerichtet, dass Anstrengung und Aufregung jeglicher Art ausgeschlossen sind. Bekäme er hier oben einen asthmatischen Anfall, würde das seine ungeliebte Aufgabe nur erschweren. Er sieht sich um, und die Plattform zeigt das erhoffte Bild. Trevor hatte den Zeitpunkt seiner New-York-Besteigung bewusst gewählt. Seit Schlaflos in Seattle weiß jeder, der den Film gesehen hat, dass kurz vor Schließung des Gebäudes kaum noch Besucher die Aussicht genießen wollen. Das stimmt natürlich nicht immer, aber an kalten Winterabenden und noch dazu an Werktagen ist die Chance auf Privatsphäre hier, in rund 400 Metern Höhe, ziemlich groß.
Er nimmt seinen Rucksack vom Rücken und greift zuerst zu dem kleineren Mitbringsel: dem Inhalator. Seit er dieses Gerät einmal aus seiner Jackentasche verloren hatte, trägt er den Inhalator immer im Rucksack bei sich. Der Rucksack selbst ist klein und handlich, bietet aber dennoch genügend Platz für die Dinge, die ein Reporter des Guardian im Alltag benötigt, und für einen Inhalator. Zwei kurze Atemzüge ‒ und das Kortison-Präparat bringt wieder Ruhe in seinen kranken Körper.
Immer wieder hatte er sich gefragt, welche Art der Krankheit wohl das kleinere Übel wäre. Die allergische Form hätte er wahrscheinlich leichter in den Griff bekommen. Beim Anstrengungsasthma ist Trevor jedoch ein Leben lang zur Passivität verurteilt. Ein Tanz auf dem Drahtseil, denn jede Anstrengung kann einen Anfall hervorrufen. Und jeder Anfall kann bei der Schwere seiner Erkrankung das Ende bedeuten.
Vielleicht war das ja der Plan seiner Mutter? Nein, damit würde er ihr Unrecht tun. Natürlich weiß er, dass sie immer nur sein Bestes wollte. Nur die Wahl ihrer Mittel war unglücklich. Immer wieder musste er herunterleiern, welche Gabel für den Salat war, welches Messer für den Fisch, welcher Löffel für das Eis. Dabei gab es nur selten Eis im Hause Man. Er verflucht sie im Stillen. Trevor ist Filmkritiker, er arbeitet fast ausschließlich zuhause, geht jeder Form von Anstrengung aus dem Weg, und nun soll er, vom Kopf der Stadt aus, die Asche seiner Mutter in alle Winde verstreuen! Trevor greift wieder in den Rucksack und fördert die Urne zutage: »Danke, Ma!«
Auch kann er beim besten Willen nicht nachvollziehen, warum sie nicht neben seinem Vater beerdigt werden wollte. Zwar hatte er ihr diese Frage noch gestellt, doch war sie ihm in der letzten Minute vor ihrem Tod ausgewichen. »Du wirst es verstehen. Bald wirst du es verstehen …«
Von diesem ‚bald’ scheint er eine Unendlichkeit entfernt zu sein. Trevor geht in die vom Lifteingang am weitesten entfernte Ecke und prüft, ob er tatsächlich allein ist. Kein Mensch weit und breit. Vollmondnacht über Manhattan, so wie seine Mutter es wollte. Er geht an die Brüstung und öffnet die Urne. Über ihm ragt das Gitter einen halben Meter weit nach innen. Auf Augenhöhe jedoch wirkt es nur wie ein überdimensionaler Maschendrahtzaun. Er schiebt die Urne durch das Absperrgitter direkt vor ihm. Die Urne passt gerade so hindurch, und für einen Moment hält er sie einfach nur mit seinen beiden ausgestreckten Armen über der Stadt. Dann dreht Trevor sie um. Ohne Schweigeminute, ohne Pathos. Der Wind greift hinein und stürzt die feinen Aschepartikel hinab in die Schluchten aus Stein und Glas, reißt sie wenige Meter von ihm entfernt nach oben und dann fort aus seinem Blick. Binnen weniger Sekunden ist die Urne nahezu geleert, und die restliche Asche verkommt zu einem herausrieselnden Rinnsal.
Mühsam fingert Trevor die leere Urne durch das Gitter zurück und schließt sie eilig. Da hört er Schritte. Der Schreck treibt seinen Puls sofort hoch. Hastig stopft er das Gefäß in seinen Rucksack. Sein Oberkörper krampft sich zusammen, und ein erster Hustenreiz überwältigt ihn, zwingt ihn auf die Knie.
»Sir, wir schließen gleich. Kann ich Ihnen helfen?«
Trevor bemüht sich aufzusehen. Er kann aber nur die blaue Uniform erkennen. Es ist der Mann, der im Innenraum saß. Natürlich muss er nun die letzten Besucher einsammeln. Trevor winkt ab, versucht dabei seinen Rucksack zu nehmen und gleichzeitig aufzustehen. Ein zweiter Hustenreiz drängt nach oben.
»Kommen Sie, ich helfe Ihnen.«
Der Mann stützt ihn und geleitet ihn zum Fahrstuhl.
Trevor flucht lautlos. Er muss lediglich die Ruhe bewahren. Es besteht kein Grund zur Aufregung. Es ist vorbei. Er hat es überstanden. Sein Kopf versteht das. Sein Körper aber spricht eine andere Sprache. Kochende Lava scheint durch seine Bronchien zu fließen. Mit zitternden Fingern zieht er den Inhalator erneut aus dem Rucksack und nimmt einen tiefen Zug. Fast augenblicklich wird es besser. Er fühlt sich nicht, als könne er Bäume ausreißen, aber die Angst weicht, und gleichzeitig kehrt die Kraft zurück.
Der Bedienstete des Hauses ist mit ihm heruntergefahren. Die Fahrstuhltür öffnet sich. Umsteigen in den zweiten Lift. Der bringt ihn zwar noch nicht hinunter zur Lobby, aber es ist die erste Etappe. Der Transport im Empire ist in verschiedene Ebenen eingeteilt. Trevor wird nochmals umsteigen müssen. Aber es ist fast überstanden … Sirenen! Verdammt, was ist das für ein Lärm?
»Feueralarm, Sir! Wenn Sie mir bitte folgen wollen!« Der Mann in Uniform öffnet die Tür zum Treppenhaus und macht eine einladende Geste.
Trevor rührt sich nicht vom Fleck. Er steht rund drei Meter von der Tür entfernt und sucht verzweifelt nach einem Ausweg. Natürlich fahren die Fahrstühle bei einem Feueralarm nicht mehr. Aber es sind noch mehr als achtzig Stockwerke bis unten! Irgendwo dazwischen lauert das Feuer. Unwahrscheinlich, dass es über ihnen brennt. Achtzig Stockwerke! Das kann seinen Tod bedeuten.
»Kommen Sie, Mister! Das klingt schlimmer, als es tatsächlich ist. Von oben bis unten sind es nur 1860 Stufen. Beim jährlichen Run-Up brauchen die Besten nur neun Minuten! Aufwärts wohlgemerkt!«
Trevor macht einen Schritt auf die Tür zu, dann noch einen und dann beginnt er, im Treppenhaus abwärts zu laufen. Er versucht, es ohne Hast anzugehen. Das ist alles andere als leicht. Irgendwo vor ihm wartet der Feuertod. Ein Stockwerk nach dem anderen bringt er mutig hinter sich. Es geht besser als erwartet, aber Trevor weiß, dass er nicht übermütig werden darf. Bei seiner Statur könnte man vermuten, er wäre ein Sportler. Aber das ist nur vom täglichen Hanteltraining, immer knapp unter dem Limit. Zehn Etagen hat er geschafft, und der Uniformierte ist dicht hinter ihm. Sprachfetzen dringen an Trevors Ohr. Offensichtlich versucht der Mann, die Lobby per Handy zu erreichen. Immer noch dröhnt das Sirenengeheul durchs Treppenhaus, hallt wider und scheint nur noch lauter zu werden. Zwölf Stockwerke. Trevor zählt mit, um den Fortschritt zu spüren, und gleichzeitig, um einschätzen zu können, wann es Zeit für ein paar Züge aus dem Inhalator ist. Er kennt seinen Körper sehr gut und er weiß, wie weit er gehen kann. Trevor hat sich wieder im Griff. Noch eine Etage, dann wird er anhalten und inhalieren. Im Laufen zieht er den Rucksack von der Schulter, und obwohl er weiterhin die Treppe hinunter läuft, sucht seine rechte Hand bereits nach dem Leben verheißenden Gerät.
Schon hat er es gefunden und zieht es heraus, als der Sicherheitsbeamte neben ihm auftaucht und ihm unter den Arm greifen will. Der Inhalator entschwindet erst seinem Griff und dann seinem Blick. Trevor glaubt noch kurz das Aufschlagen des Gerätes auf dem Stein der Treppe zu vernehmen. Schon ist nur noch der Klang der Sirene zu hören und begräbt jedes andere Geräusch. Sofort ist wieder die Panik da. Und die bringt die Schmerzen mit sich. Sie schnüren seinen Oberkörper zusammen, Hitze greift nach seiner Lunge, und der vertraute Husten zwingt ihn erneut in die Knie. Jetzt fühlt er jedes der dreizehn Stockwerke in den Beinen. Erschöpfung überfällt ihn. Kaum nimmt er wahr, dass der Alarm verklungen ist und der Uniformträger ihm etwas sagen will.
»Sir, das war nur ein Fehlalarm. Wir können mit dem Fahrstuhl nach unten fahren. Sir? Fehlt Ihnen etwas?«
Trevor klammert sich am Treppengeländer fest. Er versucht, sein Gegenüber zu fixieren. Mit letzter Kraft und zwischen zwei Hustenanfällen bringt er hervor: »Asthma … Krankenhaus …«
Dann wird er ohnmächtig.
Wie Trevor später bemerken sollte, sprach es sich in der Nachbarschaft sehr schnell herum, wenn eine neue Familie in der Montague Street einzog. Kaum waren sie vorgefahren, bildete sich auch schon eine Traube von Kindern um ihren Wagen. Doch auch einige Erwachsene blieben neugierig stehen. Die männlichen Anwesenden starrten wie gebannt auf die Figur seiner Mutter, die von ihrem hellgelben Lieblingskleid betont wurde. Trevor wusste, dass sie schön war. Vielleicht nicht im klassischen Sinne, aber sie hatte dieses besondere Etwas, das Männer verstummen ließ und die Mimik der Frauen feindseliger formte. Trevor kam mehr nach seiner Mutter als nach seinem Vater. Er war schon im Knabenalter hübsch anzuschauen, und meist waren es die Mütter seiner Klassenkameraden, die versessen auf ihn waren. Und die hatten auch Töchter! Es war für ihn immer einfach gewesen, eine Freundin zu haben. Die Mädchen rissen sich geradezu um ihn. Das war auf dem Land so, warum sollte es in der Stadt also anders sein?
Trevors Mutter achtete bei ihrer Ankunft nicht auf die Menschen um sich herum. Sie sah das Haus, die Straße, sie war einfach nur daheim. Daheim in Brooklyn! Trevor wurde natürlich beäugt, vorsichtig, argwöhnisch, offen neugierig. Eines ahnte er, ohne es zum damaligen Zeitpunkt wirklich zu wissen: Als Kind in einer komplett neuen Umgebung wird das Leben kein Zuckerschlecken. Die Mädchen werden ihn lieben. Ein Grund für die Jungs, ihn zu hassen.
Ihre Wohnung lag im ersten Stock und war für damalige Verhältnisse gut geschnitten. Sechzig Quadratmeter hatten sie auf dem Land nicht zur Verfügung gehabt. Dafür war dort der ganze Rest viel größer gewesen. In den ersten Wochen fehlten ihm besonders die Weiten von Hammonton, dem kleinen Ort in New Jersey, wo sie ihr Häuschen gehabt hatten. Zum Ausgleich drückte er sich nun mit Klassenkameraden am East River herum und blickte auf die altehrwürdige Brooklyn Bridge. Damals waren die Achtziger gerade erst ein Jahr alt, und es war zwanzig Jahre her, dass Ebbets Field eingerissen worden war. Seine Mutter hatte ihm oft erzählt, dass es nicht mehr dasselbe war, seit das Baseballstadion an der Flatbush Avenue nicht mehr da war. Überhaupt hatte sie, als sie noch auf dem Land wohnten, viel von der großen Stadt gesprochen. Trevor kannte alle Einzelheiten der Brooklyner Geschichte, kannte sogar die Historie der Brooklyn Dodgers, dem Baseballteam, das seinen Namen einer ehemaligen Straßenbahn verdankte. Er wusste aus den Erzählungen seiner Mutter, dass das Stadion 1960 abgerissen worden war, zwei Jahre, nachdem die Dodgers ihr letztes Spiel darin bestritten hatten. Die New York Mets waren ein ärmlicher Ersatz für das Selbstbewusstsein eines Stadtteils, der, für sich gesehen, die viertgrößte Stadt der Vereinigten Staaten sein könnte. In den Geschichten seiner Mutter klang immer eine unverkennbare Baseball-Begeisterung mit. Ihre Stimme wurde weich, und ihre bestimmende Art verschwand in diesen wenigen Momenten fast vollends.
1966 hatte seine Mutter die Stadt verlassen und war zu ihrer großen Liebe, seinem Vater, aufs Land gezogen. Seine Eltern hatten sich nicht lange gekannt, als sie heirateten. 1968 kam Trevor zur Welt. Später irgendwann fanden seine Eltern heraus, dass auf seiner Geburtsurkunde fälschlicherweise 1966 eingetragen war. Weder seine Mutter noch sein Vater wussten, wie es dazu gekommen war. Was seine Mutter jedoch nicht davon abhielt, diese Tatsache auszunutzen. Bevor sie aus der Provinz New Jerseys in den Moloch New York umzogen, vereinbarten sie gemeinsam einen Plan. Trevor war für seine dreizehn Jahre groß gewachsen. Und schlau war er auch. Warum sollte er nicht zwei Jahre überspringen und in eine höhere Klasse umgeschult werden? Er würde so früher einen Beruf ergreifen können, früher einen Führerschein besitzen können …
Trevor war, wider Erwarten seiner Eltern, von diesen Möglichkeiten begeistert. Weniger allerdings von solch uninteressanten Dingen wie Beruf und Führerschein, vielmehr erkannte er sofort seine Chancen bei den Mädchen. Alle, die normalerweise zwei Klassen über ihm wären, waren fortan für ihn erreichbar. Trevor war frühreif, und er wusste es: Fünfzehnjährige Mädchen, die bereits deutliche Rundungen zeigten, rückten nun in den Bereich seiner Möglichkeiten. Er brauchte nur seinen Charme spielen zu lassen …
Aber noch eine andere Hoffnung war für Trevor Grund genug, bei diesem kleinen Betrug mitzumachen: Er würde zwei Jahre früher das Elternhaus verlassen können. Als pubertierender Jugendlicher konnte er den ewigen Kommando-Ton seiner Mutter nur schwer ertragen. Er solle sich so benehmen und dies und das tun, er müsse noch viel lernen, sonst würde er nie ein Gentleman werden! Einer Dame den Stuhl anbieten, vor einer Frau die Treppe hinunter gehen … Aber eben auch den Tisch abräumen und abwischen, immer wieder und immer fort. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich erwachsen zu werden.
So sorgte ein Schreibfehler oder eine Unebenheit im Papier seiner Geburtsurkunde dafür, dass Trevor bereits im Jahr 1981 für die New Yorker und für alle Welt fünfzehn Jahre alt war.
Dessen ungeachtet mochte er die Stadt nicht. Sie war ihm zu laut und zu schnell. Die Ruhe und Beschaulichkeit der Provinz wurden in den Straßen New Yorks durch Stress und Hektik ersetzt. Die Montague Street war nicht der absolute Knotenpunkt Brooklyns, dennoch ging tagtäglich einiges an Verkehr an ihrem Haus vorbei. Trevor konnte noch Wochen nach dem Einzug nicht richtig einschlafen. Wenn er morgens erwachte, fühlte er sich wie gerädert. Dennoch konnte er eines dieser Stadt nicht absprechen: Brooklyn Heights war im Sommer immer besonders schön. Dann, an sonnigen Abenden, schlich er sich mit dem einen oder anderen Mädchen zur Riverfront Promenade. Während sie sich von dem Blick auf Lower Manhattan ablenken ließen, konnte er sich den einen oder anderen Kuss erschleichen. Zumindest anfangs waren es nur Küsse …
Schon früh wusste Trevor, was die Mädchen beeindruckte. Er kannte ihre Wünsche, auch wenn er sie nicht immer nachvollziehen konnte. Manche träumten von Sonnenuntergängen, andere von kleinen Geschenken, wieder andere von nächtelangen Gesprächen. Trevor wusste meist, welches Mädchen welchem Typ entsprach. Es festigte nicht seinen Stand bei den anderen Jungs, immer mit den Mädchen ‚herumzumachen’. Wäre er nicht so ein guter Sportler gewesen, keiner der anderen hätte sich auch nur eine Minute mit ihm abgegeben. Da er jedoch ein Baseballtalent war, wurde er immer zuerst in die Mannschaften gewählt, und manche der anderen Jungs suchten sogar seine Nähe. Daraus entstanden zwar nie echte Freundschaften, aber er wurde zumindest respektiert. Trevor fand sich mit den Regeln ab, die ihm das Leben in Brooklyn diktierte. Die Lektionen der Straße waren spannender als die der Schule. Dort ging es für ihn rapide bergab. Die erlogenen zwei Jahre waren bei aller Klugheit und Cleverness einfach zu viel für ihn. Zwar mühte er sich redlich, Versäumtes in nachmittäglichen Extrastunden nachzuholen, doch die Lücken, die er so schloss, rissen zwangsläufig andere auf. Das ‚Mehr’ an Lernstoff ließ sich einfach nicht in ein dreizehnjähriges Gehirn stopfen. Es war ein Teufelskreis, der sich erst durch einen Zufall schließen sollte.
Auf seinen Exkursionen durch die nähere Umgebung kam er meist an einem Haus in der Clinton Street vorbei, das etwas weiter von der Straße entfernt stand. Hinter Zaun und Hecke konnte Trevor das Gebäude dennoch gut erkennen. Aus dieser Entfernung zeigte es sich in einem überaus passablen Zustand. Lange hatte Trevor es der Kirche St. Ann and the Holy Trinity zugeordnet, die direkt an das Grundstück grenzte. Raum ist ein Luxus, den man in New York nur selten vorfindet. Wahrscheinlich aus diesem Grund bildeten für ihn das Haus und die Kirche eine Einheit.
Es war diese Fehlannahme, die Trevor auf der Suche nach einem zu hoch geworfenen Baseball seinen Fanghandschuh einem Schulkameraden geben ließ, um selbst über den Zaun zu steigen. Die Suche nach dem Ball verzögerte sich, da direkt vor dem Haus ein Steingarten angelegt war, und die hellen Steine den gleichfalls hellen Ball bestens verbargen. Vielleicht waren drei oder vier Minuten vergangen, als eine Tür geöffnet wurde und eine Frau, ungefähr so alt wie seine Mutter, aus dem Haus trat. Ihre gesamte Erscheinung zeugte von Geld und Klasse, jedoch von einem nicht: von gottesgläubigem Auftreten. Sie trug eine Art Seidenmantel, karminrot mit goldenen Taschenaufsätzen. Am Hals war er nur nachlässig geschlossen und offenbarte mehr weibliche Haut, als ein Junge seines Alters ohne Hormonschübe überstehen konnte.
Trevor wusste nicht zu sagen, ob es an dem aufreizenden Äußeren dieser Frau oder an der in diesem Moment stattfindenden Erleuchtung lag, dass dieses Haus rein gar nichts mit der Kirche nebenan zu tun hatte. Er errötete. Zum ersten Mal in seinem Leben war er sprachlos angesichts eines Wesens des anderen Geschlechts. Und vielleicht war es genau dieser Umstand, der die Frau amüsierte und zugleich ihre Neugier weckte. Trevor sah sie mit großen Jungenaugen an, als sie ihn ins Haus bat. Er war viel zu frappiert, um irgendetwas zu erwidern. Sein Verstand flehte nach Flucht, doch seine Füße trugen ihn an ihr vorbei ins Haus. Die Tür schloss sich fast lautlos hinter ihm. Das weibliche Wesen schob ihn sanft vor sich her und dirigierte ihn auf die Veranda der Hausrückseite. Sie waren allein.
»Nun, junger Mann, willst du mir vielleicht zuerst deinen Namen verraten?«
Er brachte ein ‚Trevor’ heraus und stand wie festgenagelt auf dem Holzboden der Veranda. Den Swimmingpool, der sich etwas unterhalb dieser Veranda befand, wagte er nur im Augenwinkel zu betrachten.
»Gut, Trevor, das ist immerhin ein Anfang. Möchtest du vielleicht etwas trinken?«
Er nickte schüchtern und sah sich vorsichtig um. Die Frau läutete eine kleine Glocke, die sich auf dem Tisch vor ihr befand. Trevor wunderte sich, dass es so etwas noch gab, als auch schon ein Diener in einem dunkelgrauen Einreiher durch die Tür trat und sich mit einem »Mylady?« nach dem Wunsch der Frau erkundigte.
»Für mich einen Bourbon on the rocks und für den jungen Herrn einen Eistee.«
Mit dem ‚jungen Herrn’ musste sie ihn gemeint haben. Ein Eistee war in einem heißen Sommer in Brooklyn immer die richtige Wahl. Von einem Bourbon konnte er das noch nicht wissen. Die Frau nahm Platz und bedeutete ihm mit einer einladenden Geste es ihr gleichzutun.
Trevor setzte sich hin und achtete peinlich genau darauf, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Jahrelang hatte seine Mutter ihm eingebläut, wie er sich in Gesellschaft benehmen müsse. Nur hatte er nicht erwartet, von diesen guten Manieren jemals Gebrauch machen zu müssen. Fast war er dankbar, als der Eistee kam und er sich daran festhalten konnte. Schluck für Schluck fühlte er sich besser, und mit jeder ihrer Fragen schwand seine Angst ein kleines bisschen mehr. Er erzählte ihr von seinem Leben, seinen Eltern und dass sie erst kürzlich nach Brooklyn gezogen waren. Sie hieß Sandra McGuinness, und ihrem Mann gehörte das größte Whiskeyunternehmen im Osten der Vereinigten Staaten. Auch hatten sie einen Sohn, Barnaby, der sogar ungefähr in Trevors Alter war. Trevor mochte ihr Lachen und ihre großen, grünen Augen. Sie hatte helle Haut und dunkle, schulterlange Haare. Ihre gar nicht so großen Brüste bewegten sich in ihrem gewagten Dekolleté auffällig auf und ab. Es war ihm fast eine Qual, nicht ständig dorthin zu sehen. Der Baseball im Vorgarten war genauso vergessen wie seine anfängliche Scheu. Die Stunden flogen nur so dahin. Es wunderte ihn nicht einmal, als sie ihn für den nächsten Tag wieder einlud. Dennoch schien er ein überraschtes Gesicht gemacht zu haben, denn sogleich kommentierte sie ihre Einladung:
»Keine Angst. Meinen Mann wirst du auch morgen nicht zu Gesicht bekommen. Er bleibt meist lange im Büro. Aber Barnaby wird hier sein. Und vielleicht werdet ihr ja Freunde …«
Sie brachte ihn zur Tür, und er fragte nicht einmal nach dem Baseball. Er war ihm nicht wirklich wichtig, und außerdem hatte er so vor den anderen Jungs einen Grund, am morgigen Tag wieder hier zu klingeln. Trevor war sich sicher, dass er das Angebot von Mrs. McGuinness nicht ausschlagen konnte, unabhängig davon, ob er diesen Barnaby mögen würde oder nicht. Er war in eine andere Welt eingetaucht, und ihm gefiel diese Welt. Unnötig zu gestehen, dass ihm auch Mrs. McGuinness gefiel. Trevor befürchtete, dass er in der kommenden Nacht erneut unruhig schlafen würde.
Als er wieder zu sich kommt, beugt sich eine Ärztin über ihn. »Willkommen zurück. Wie fühlen Sie sich?«
Trevor erkennt im Liegen, dass er sich noch in der Lobby des Empire State Building befindet. Über ihm thront das riesige Reliefbild des Hauses. Er ist also nicht im Krankenhaus aufgewacht. Gut! Der Ruf der Ärztin holt ihn in die Wirklichkeit zurück.
»Mister! Wie geht es Ihnen?«
Trevor schaut sie mit großen Augen an.
Ein Assistent nimmt ihm den Blutdruck. Der antwortet an seiner Stelle. »Seine Werte sind wieder normal.«
Trevor versucht sich aufzusetzen. »Ich fühle mich gut … Danke.« Seine Worte klingen allerdings wie ein Krächzen. Das erschreckt ihn nicht. Eigentlich ist es an der Tagesordnung. Wenn er viel hustet, dann leiden auch seine Stimmbänder darunter. Einer Ärztin werden solche Symptome bekannt sein. Dennoch legt sich ihre Stirn in Falten.
»Hören Sie: Ich würde Sie gern ins County zur Beobachtung einweisen. Ihr Peak-Flow-Wert war verdammt hoch. Wir mussten Ihnen eine ordentliche Ladung Kortison verpassen.«
Trevor winkt ab. »Ich will nicht unvernünftig erscheinen, aber das war eine Ausnahmesituation. Wenn Sie mir einen neuen Inhalator mit DNCG mitgeben können, werde ich noch hundert Jahre alt.«
Wahrscheinlich hat die Ärztin noch andere Termine, einen neuen Notruf oder sie kennt einfach diejenigen, die nicht mit sich reden lassen. Wortlos dreht sie sich um, greift in ihre Tasche und drückt ihm einen Plastikinhalator der unteren Preisklasse in die Hand. »Mister, Sie wissen, dass DNCG nur entzündungshemmend wirkt?«
Trevor nickt. »Nur bis ich zuhause bin. Da bin ich bestens versorgt.«
Der Assistent nimmt ihm die Manschette vom Arm und verstaut alles in seinem Arztkoffer. Die Ärztin reicht Trevor die Hand und hilft ihm hoch. In diesem Moment erkennt er, dass in dieser Uniform eine Frau steckt, und eine schöne noch dazu. Dennoch lässt er ihre Hand sofort wieder los.
Sie sieht ihn immer noch mit skeptischem Blick an. »Es ist Ihre Entscheidung, aber Sie sollten etwas tun. Es gibt neue Methoden.«
Trevor gelobt Besserung und fingert dabei eine seiner Visitenkarten aus der Jackentasche. »Sie werden mir Ihre nicht geben. Also gebe ich Ihnen meine.«
Ihr Blick verändert sich von skeptisch zu teilnahmslos. »Ich mache keine Hausbesuche.«
Trevor setzt sein Gewinnerlächeln auf und streckt ihr immer noch sein Kärtchen entgegen.
Sie betrachtet ihn betont mitleidig. »Sie haben zu viel Emergency Room gesehen. Geben Sie ihm die Karte.« Damit schaut sie in Richtung ihres Assistenten, dreht sich um und geht.
Ihr Helfer macht zwei Schritte auf ihn zu und nimmt ihm die Karte ab. »Du hattest keine Chance, Mann.« Dann nimmt er seinen Arztkoffer und begibt sich ebenfalls zum Ausgang.
»Ich bin freitags immer im Duplexx …« Trevors Ruf verhallt scheinbar ungehört. Die Ärztin und ihr Helfer haben die Lobby verlassen.
Dafür tritt sofort der Uniformträger wieder in seinen Sichtkreis.
»Wieder obenauf, Mister Man?«
Trevor sieht ihn misstrauisch an. Dazu muss er den Kopf etwas heben, denn der Andere überragt ihn um gut zwanzig Zentimeter.
»Woher kennen Sie meinen Namen?«
»Ich nahm mir die Freiheit, Sie auf einen Allergieausweis zu untersuchen, während ich auf den Rettungswagen wartete. Wissen Sie, Sie sind nicht mein erster Bewusstloser, und aus Erfahrung weiß ich, dass jede Sekunde zählen kann.«
Trevor schaut zu dem Hünen auf und ergreift seine Hand. Er bedankt sich und zückt mit der anderen Hand seine Brieftasche. »Ich weiß nicht, was für Ihre Hilfe angemessen ist …«
Sein Gegenüber macht eine abwehrende Geste. »Nicht doch. Geben Sie mir kein Geld. Tun Sie etwas Gutes für jemanden anderen, und wir sind quitt.«
Trevor lässt seine Brieftasche wieder zurück gleiten. Verwundert sieht er den Uniformierten an. Dann nickt er und lächelt zugleich. »Okay. Sie haben recht. Dennoch: tausend Dank!« Er drückt ihm die Hand erneut und macht sich dann auf den Weg hinaus zur Fifth Avenue. Der Mann bleibt zurück und wendet sich wieder den Aufzügen zu.
Es hat zu schneien begonnen. Nicht sehr stark, aber die Luft hat sich verändert und ist Balsam für Trevors Bronchien. Vorsichtig atmet er ein und langsam wieder aus. Dann geht er die wenigen Meter zur Straße, um nach einem Taxi zu winken. Immer noch muss er an den Sicherheitsmann denken und dass dieser sein monetäres Angebot abgelehnt hat. Was für ein Idiot! Aber Trevor soll es recht sein. Er hätte tatsächlich nicht gewusst, was er ihm hätte geben sollen. Glücklicherweise ist sein Anfall von Dankbarkeit wieder vorüber. Leben gerettet, Job gerettet, Geld …
Trevor greift sofort zur Brieftasche, denn ein böser Verdacht keimt in ihm auf. Hastig sieht er nach seinen Kreditkarten, seinem Bargeld, durchsucht alle Fächer. Aber so unerwartet es für ihn ist, es ist alles da, wo es sein sollte. Verwundert dreht er sich noch einmal zum Eingang um.
Inzwischen hat ein Yellow Cab direkt vor ihm gehalten. Trevor steigt ein und gibt dem Fahrer, einem der vielen Inder in New York, sein Fahrziel bekannt. Er will zurück nach Brooklyn, einfach nur heim. Das Taxi biegt von der 34sten Straße gen Süden auf die Fifth Avenue ab und fährt ihn zurück in seine kleine Festung. Trevor dreht sich noch einmal um und gestattet sich einen Blick zum höchsten Bauwerk der Stadt, dessen Spitze heute und an den folgenden zwei Tagen in Rot und Gold beleuchtet wird. Trevor hatte darüber im Guardian gelesen: Lunares Neujahr oder so. Er weiß nicht wirklich, was das bedeutet, und eigentlich ist es ihm auch egal, aber das Empire State Building sieht wunderschön in diesen Farben aus. Dazu der leichte Schneefall. Der Vollmond ist mit in seinem Blickfeld, und alles zusammen würde ein wunderbares Postkartenmotiv abgeben. Fast hat er vergessen, warum er dort oben gewesen war. Er wendet den Blick von der Skyline ab und schaut auf den Rucksack. Der liegt neben ihm auf dem Rücksitz des Taxis. Trevor lächelt. Der Fahrer ist derweilen an der Ecke 23ste Straße und biegt auf den Broadway ab. Wahrscheinlich will er via Canal Street über die Manhattan Bridge. Trevor ist es recht. Er fühlt sich wieder gut. Nur einen Moment denkt er noch an die Asche seiner Mutter irgendwo weit hinter ihm. Wie auch immer: Es ist getan, aus, vorbei.
»Danke, Ma! Hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre dir gefolgt.«
Als der Mann mit dem schwarzen Stock die Halle betritt, wird es sofort still. Er ist an die fünfzig Jahre alt, hat graumeliertes Haar und einen aufrechten Gang. Das linke Bein zieht er geringfügig nach. Trotz seiner offensichtlichen Behinderung entspricht seine ganze Erscheinung eher der eines Herrschers denn der eines Dieners. Aber Alfred van Houten ist heute lediglich Dienstleistender. Seine Auftraggeber schätzen seine Menschenkenntnis und seinen Blick für Talente.
Die Bewerber, die an diesem Morgen zu Dutzenden in dem alten Lagerhaus in der Bronx erschienen sind, wissen das freilich nicht. Es gab keine Anzeige in der Zeitung, keinen Aushang in einem der vielen Arbeitsämter der Stadt. Es existieren Jobs, die ausschließlich von teuren Agenturen vermittelt werden. Wer seinen Namen in den Datenbanken dieser Agenturen hat, ist für das Besondere auserkoren: Spezialisten, Menschen für außergewöhnliche Aufgaben. Van Houten ließ gezielt einen Namen im Zusammenhang mit den gesuchten Jobs in den Agenturen verbreiten: McGuinness. Kaum ein Name – außer vielleicht der von Donald Trump – hat diesen Klang in New York City. So konnte Alfred sicher sein, dass sich die Besten bewerben würden. Und nun stehen sie mit ihm in dieser Halle in der Bronx und scheuen nicht einmal die Kälte. Minus zehn Grad draußen, nur unwesentlich wärmer im Innern.
Alfred van Houten stellt sich auf eine Holzkiste und schaut auf die Schar der Anwesenden hinunter. Es sind ungeduldige Gesichter. Das ist bereits der erste Test, denn es gibt immer einige, denen es nicht gefällt aufsehen zu müssen. Sie werden als Erste das Schweigen brechen. Van Houten lässt seinen Blick langsam kreisen und wartet.
»Na, alter Mann. Wird das heute noch was?«
Der ‚alte Mann’ tut nichts dergleichen. Von links hinten gibt es eine weitere Unmutsbekundung. Auch die rechte Seite wacht lautstark auf. Zwei schwarzhäutige Riesen stacheln sich gegenseitig an. Es mag an der Kälte liegen oder an der Wahl des Treffpunkts. Die meisten Anwesenden werden düstere Fabrikhallen wie diese noch nie von innen gesehen haben. Doch auch das ist Teil des Tests.
Van Houten hebt seinen Stock und unterbricht die beiden Hünen. »Sie können gehen!« Damit wandert der Stock in Richtung des ersten Unruhestifters. »Ebenso Sie … und Sie dahinten. Danke für Ihr Interesse.«
Seine Stimme ist dabei stark, seine Aussprache deutlich, seine Betonung teilnahmslos. Alfred van Houten weiß zu demotivieren.
Die, die bis zu diesem Moment die Ruhe bewahrt haben, schauen sich nach denen um, die wie geprügelte Hunde die Halle verlassen. Alfred kennt sein Geschäft. Er würde wissen, wann sich die Mehrheit gegen ihn wendet, wann er das Weite suchen müsste. Aber hier wird es nicht soweit kommen. Das kann er bereits jetzt absehen. Heute wird er sein Spiel spielen, seine Tests durchführen, und an deren Ende wird er fünf tüchtige und loyale Mitstreiter gefunden haben.
Einem nach dem anderen stellt er Fragen, fordert ihre Papiere ein, sieht sie in aller Ruhe durch und legt sie auf drei unterschiedliche Stapel auf einer zweiten, größeren Holzkiste neben ihm. Den Cleveren unter den Bewerbern wird ziemlich schnell aufgehen, dass der kleinste der drei Stapel auch der verheißungsvollste ist. Alfred van Houten lässt sich Zeit. Obwohl er weiß, dass der Job, für den er Leute sucht, auch körperlich einiges abverlangen wird, schließt er weibliche Bewerber nicht von vornherein aus. Seine Erfahrung hat ihn gelehrt, Willen und Ausdauer nicht mit Kraft zu verwechseln.
»Ihr Name?«
»Cindy Bernett, Sir!« Die Antwort kommt sicher und betont aus dem Mund der jungen Frau. Ihre Jacke hat sie abgelegt und trägt lediglich ein Neckholder als Oberteil. Ihre mittellangen, blonden Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihre Schultern und Arme zeigen Anzeichen von Muskelaufbau. Es ist nicht zu viel, um den weiblichen Reiz zu verlieren, gleichzeitig aber genug, um Sportlichkeit zu beweisen. Ihre Bewerbungsmappe weist sie als Allroundtalent aus. Sie war bereits Feuerwehrfrau, Rettungsschwimmerin und Fallschirmtrainerin. Außerdem hat sie einen Motorradführerschein. Ideale Voraussetzungen für die Aufgabe, die sie erwarten wird. Ihre Unterlagen landen ohne Überlegung auf dem kleinen Stapel. Es entlockt ihr ein Lächeln. Sie tritt in die Gruppe zurück und zieht ihre Jacke wieder über.
»Der Nächste!«
Van Houten hat bereits an die dreißig Bewerber kategorisiert. Zwei Stunden sind vergangen, und ausnahmslos alle Wartenden scheinen zu frieren. Zwei der Stapel nehmen stetig zu. Der mittlere Haufen bleibt flach. Nur drei sind bislang in der engeren Wahl, zwei Männer und eine Frau. Außer Miss Bernett sind das Norman Doherty, ein ehemaliger G. I., sowie Raymond Fitch, ein Alleskönner, der zuvor als Holzfäller und Pilot gearbeitet hat. Ein erlesener Kreis, denkt Alfred van Houten. Noch zwei Personen, dann ist sein Team komplett.
»Mein Name ist Sharon Quaid.«
»Sie waren aktive Turnerin?«
»Nationalmannschaft, Sir!«
Van Houten mustert sie von oben bis unten. Bei Turnerinnen hat er sich immer kleine Mädchen vorgestellt. Dies hier ist eine Frau. Mit allem Drum und Dran. »Begeistern Sie mich mit einer Probe Ihres Könnens.« Van Houten steht immer noch auf der Kiste, die sich fast in der Mitte des Raumes befindet.
Sharon tritt ungefähr zwanzig Schritte zurück. Ansatzlos macht sie vier, fünf lange Schritte auf ihn zu, beginnt dann mit Flick-Flacks und hebt zwei Meter vor ihm ab, um im hohen Bogen über ihn zu springen und sanft hinter ihm zu landen. Das sorgt sogar für verhaltenen Applaus vonseiten der Mitbewerber.
Alfred war mit seinen Augen ihrem Können gefolgt. Auch er klatscht langsam in die Hände. »Beeindruckend! In Ihren Unterlagen steht, dass Sie danach zum Personenschutz gegangen sind. Hat unser Land nicht etwas Besseres für verdiente Sportler zu bieten?«
»Da reicht es leider nur für die Freak-Show hinter den Mikrofonen. Das wollte ich mir ersparen.«
Van Houten nickt. In seinen Ohren war das genau die richtige Antwort. Er nimmt ihre Mappe und legt sie auf den mittleren Stapel. In einem Anflug von Risikobereitschaft bricht er die Auswahl ab, obwohl er noch eine Person benötigt. Er vertraut auf seinen Instinkt, dass er die fünfte Person dennoch finden wird.
»Danke, ich brauchte vier Personen … ich habe vier! Miss Quaid, Miss Bernett, Mister Fitch und Mister Doherty bleiben bitte noch hier. Der Rest von Ihnen kann gehen. Ich danke Ihnen!«
Mit leisem Gemurmel trollt sich die Masse. Fast alle fügen sich in ihr Schicksal. Nur ein Mann bleibt außer den Genannten in der Halle stehen.
Alfred schaut auf. »Mister?«
Ohne ein Wort zieht der Angesprochene ein Messer, holt aus und wirft es ungefähr in die Richtung von Alfred.