Detective Inspector Driver - Bleiche Knochen - Gay Longworth - E-Book
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Detective Inspector Driver - Bleiche Knochen E-Book

Gay Longworth

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Beschreibung

Eine Frau, die allein gegen das Verbrechen steht: »Detective Inspector Driver – Bleiche Knochen« von Gay Longworth jetzt als eBook bei dotbooks. Ein Tatort, der ein schreckliches Rätsel aufgibt: Aus den schwarzen Fluten der Themse wird die Leiche einer Frau geborgen, Kopf und Gliedmaßen fehlen. Doch wer war die Frau – und wer ist zu solcher Grausamkeit fähig? Die junge Polizistin Jessie Driver weiß nur zu gut, dass die überhebliche Männerriege ihrer Kollegen sie an diesem brisanten Fall scheitern sehen will, aber Aufgeben kam für sie noch nie infrage. Schließlich findet sie heraus, dass es sich bei der Toten um die Ehefrau des internationalen Popstars P. J. Dean handelt: ein Mann, der sein Charisma gezielt einzusetzen weiß – und dahinter Abgründe zu verbergen scheint. Als weitere Morde folgen, beginnt für Jessie Driver ein Wettlauf gegen die Zeit, und nur Dean kann ihr auf der Suche nach der Wahrheit helfen … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der England-Thriller »Detective Inspector Driver – Bleiche Knochen« von Gay Longworth ist der fesselnde Auftakt ihrer Reihe um eine hartgesottene Londoner Polizistin. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 567

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Über dieses Buch:

Ein Tatort, der ein schreckliches Rätsel aufgibt: Aus den schwarzen Fluten der Themse wird die Leiche einer Frau geborgen, Kopf und Gliedmaßen fehlen. Doch wer war die Frau – und wer ist zu solcher Grausamkeit fähig? Die junge Polizistin Jessie Driver weiß nur zu gut, dass die überhebliche Männerriege ihrer Kollegen sie an diesem brisanten Fall scheitern sehen will, aber Aufgeben kam für sie noch nie infrage. Schließlich findet sie heraus, dass es sich bei der Toten um die Ehefrau des internationalen Popstars P. J. Dean handelt: ein Mann, der sein Charisma gezielt einzusetzen weiß – und dahinter Abgründe zu verbergen scheint. Als weitere Morde folgen, beginnt für Jessie Driver ein Wettlauf gegen die Zeit, und nur Dean kann ihr auf der Suche nach der Wahrheit helfen …

Über die Autorin:

Gay Longworth wurde 1970 geboren, studierte in Birmingham und arbeitete zunächst einige Jahre als Brokerin, bevor ihr Wunsch zu schreiben so stark wurde, dass sie ihren Job kündigte, nach Cornwall zog und dort mit der Arbeit an ihrem ersten Thriller um Detective Inspector Driver begann. Heute lebt sie mit ihrer Familie in London.

In ihrer Thriller-Reihe um Detective Inspector Driver veröffentlichte sie bei dotboks auch den zweiten Fall »Kaltes Blut«.

***

eBook-Neuausgabe März 2022

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2002 unter dem Originaltitel »Dead Alone« bei St. Martin’s Press, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 2004 unter dem Titel »Bleiche Knochen« bei Knaur.

Copyright © der englischen Originalausgabe 2002 by Gay Longworth

Published by arrangement with Rachel Mills Literary Ltd. & 42M&P Ltd.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2004 by Knaur Taschenbuch.Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.

Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Stefan Hilden, HildenDesign.de, unter Verwendung mehrer Motive von Shutterstock.com

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96655-987-4

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Gay Longworth

Detective Inspector Driver – Bleiche Knochen

Thriller

Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet

dotbooks.

Für meine Mutter

Sie ist einfach nicht zu übertreffen

Heutzutage sieht sich jeder als Star. Zum einen ist das natürlich ein Klischee, zum anderen entspricht es aber voll und ganz der Wahrheit. Die Jugendlichen besitzen heute alles, was einen Star ausmacht – das Aussehen, die Klamotten, das Hairstyling, die Drogen, sie verfügen über persönliche Ausstrahlung, Selbstvertrauen und eine lange Liste an Eroberungen. Das Einzige, was ihnen fehlt – nämlich Talent –, ist genau das, was auch jenen anderen Jugendlichen fehlt, von denen sie sich zwar kaum unterscheiden, die aber von der Öffentlichkeit zum Star ausgerufen worden sind. Noch nie war der Unterschied zwischen Amateuren und Profis im Showbusiness so gering wie jetzt. Und niemals zuvor stellte man mit so viel Feuereifer seinen Exhibitionismus zur Schau. Bleibt also die Frage, was wir mit all diesen schönen Schaumschlägern machen sollen?

Albert Goldman, Disco

Prolog

Jessie Driver hatte die Schenkel um das Bein eines Mannes geschlungen, dessen Namen sie nicht kannte. Sie hing mit dem Kopf nach unten und spürte den Schweiß durch ihr kurzes Stachelhaar laufen. Aus dem Augenwinkel sah sie zwei Männer, die sich die Hand gaben. Der kleine Umschlag eines zusammengefalteten Lotterieloses wechselte dabei den Besitzer. Jessie wurde nach oben gezogen und herumgewirbelt. Es war an der Zeit, den Club zu verlassen. Die Jungs aus dem Viertel drängten die Leute, die zum Tanzen hier waren, mehr und mehr an den Rand. Die Atmosphäre wurde zunehmend aggressiver, sie konnte sich nicht mehr entspannen. Sie strich mit der Hand über den glatten Bizeps ihres Tänzers, drückte widerstrebend seine Hand und ging. Ihre Wohnungsgenossin Maggie Hall kritzelte an der Theke Autogramme. Alles Männer, ging es Jessie durch die Kopf.

»Mein Gott, du bist ja klatschnass«, sagte Maggie und musterte Jessie angewidert.

»Von Grund auf gereinigt.« Jessie beugte sich vor. »Können wir gehen?«

Maggie nickte, schickte ihren Fans, die sie noch im selben Augenblick wieder vergessen haben würde, ein ebenso strahlendes wie bedauerndes Lächeln hinterher und verzog sich mit Jessie zur Garderobe. Maggie, TV-Moderatorin, hatte sich in dem knallharten Gewerbe mit skrupellosem Ehrgeiz nach oben geboxt, ihr Name war mittlerweile in jedem Haushalt bekannt. Natürlich war es Maggie, mittlerweile auch schon dreißig Jahre alt, nicht schnell genug gegangen. Manchmal wurde Jessie gefragt, ob Maggie sich verändert habe. Die Antwort lautete Nein. Sie war schon immer ehrgeizig gewesen.

Draußen auf dem Motorrad-Parkplatz glaubte Jessie einen Lieferwagen fehlzünden zu hören. Es knallte zweimal kurz hintereinander. Sie fuhr herum. Kurz schien die gesamte Welt stillzustehen. Dann begannen die Leute zu kreischen. Ein Mann lief über die Straße und sprang in einen wartenden Wagen. Aus der schmalen Tür und den beiden Notausgängen strömten die Menschen auf die Straße. Jessie warf Maggie ihren Helm zu.

»Nein, Jessie!«, rief Maggie. Jessie hörte sie nicht mehr. Sie rannte direkt in die herausflutende Menge, die erschreckten Gesichter, duckte sich, wich aus, schob sich mit der Schulter voran durch die Masse, die die schmale Treppe heraufströmte. Unten lag ein junger Mann am Boden. Er war angeschossen worden. Zwei Schusswunden. Zwei Mädchen standen neben ihm, heulten und sprangen hysterisch auf und ab. Sie warf einem ihr Handy zu.

»Ruf die Polizei und den Notarzt«, blaffte Jessie. Ihr scharfer Tonfall ließ die Mädchen ebenso schnell verstummen, wie die Schüsse sie zum Kreischen gebracht hatten. »Und stellt doch mal die Musik ab!«

Nur der am Boden Liegende gab noch Geräusche von sich. Er war noch am Leben, blutete aber heftig.

»Wie heißt du?«, fragte Jessie.

»Carl«, wimmerte er.

»Carl«, sagte sie. »Der Krankenwagen ist unterwegs. Ich werde jetzt versuchen, die Blutung zu stillen. Pass genau auf, konzentrier dich auf mich.«

Jessie riss ihm die Hose und das T-Shirt auf und untersuchte die verschmorten, blutüberströmten Einschusslöcher.

»Vielleicht solltest du dich um einen anderen Job umtun«, sagte Jessie. »Wer auf fremdem Gebiet dealt, legt es doch nur drauf an, umgebracht zu werden.« Sie lächelte. »Und das wäre doch schade. Bei so einem hübschen Jungen wie dir.« Ein Geschoss war in seinem rechten Oberschenkel stecken geblieben, das andere hatte den linken Schenkel durchschlagen. Jessie nahm an, dass er von der Wucht des ersten Geschosses herumgeschleudert worden war, worauf das zweite das andere Bein traf. Der Junge hätte auf der Stelle tot sein können, wenn der Täter etwas besser gezielt hätte.

»Also, Carl, es scheint dein Glückstag zu sein«, sagte Jessie. Wie in Trance blinzelte der Junge sie an. Die Mädchen kamen aus Neugier einen Schritt näher. Jessie zog zwei extragroße Tampons aus ihrer Handtasche, riss mit den Zähnen die Plastikhülle ab und führte einen vorsichtig in die Wunde am Bein des Jungen ein. Der Tampon sog sich sofort mit Blut voll. Carl biss die Zähne zusammen und zitterte. Jessie führte den zweiten Tampon in die Wunde an der Schenkelinnenseite ein.

»Carl«, sagte sie, »hörst du mich noch?«

»Mann«, sagte eines der Mädchen, »sie hat dir gerade einen Tampax ins Bein gesteckt.«

Carl stöhnte und verlor das Bewusstsein.

Beim Anblick der beiden uniformierten Polizisten, die in diesem Augenblick die Treppe herabkamen, sprangen die Mädchen auf.

»Zurücktreten«, brüllte einer der Polizisten.

»Und langsam die Hände hochnehmen«, brüllte der andere. Jessie drehte sich um. »Immer mit der Ruhe. Wo ist der Notarzt?«

»Aus dem Weg«, befahl der Polizist.

Jessie rückte zur Seite.

Sie starrten auf die Schusswunden. »Was zum Teufel soll das?«

»Keine Sorge, sie sind steril. Ich hielt es für das Beste – ich weiß doch, wie lang der Notarzt in dieser Gegend braucht, bis er zu einer Schießerei kommt.«

Die Bullen gingen auf ihren spitzen Kommentar nicht ein. »Und wer sind Sie – Mutter Teresa?«

Jessie zog aus der Gesäßtasche ihrer engen Jeans eine Lederbrieftasche. »Ich bin Detective Inspector Driver von der Kriminaldienststelle West End Central, und wenn Sie wissen wollen, wer diesen Mann angeschossen hat: Er ist eins dreiundsiebzig groß, von mittlerer Statur, gemischter Abstammung, trug ein rotes Poloshirt. Fuhr in einem dunkelblauen Audi 80 weg, Kennzeichen T33 X9R.« Jessie sah zu den Mädchen. »Kommt euch das bekannt vor?«, fragte sie.

Keine der beiden erwiderte etwas darauf.

»Dacht ich’s mir«, sagte Jessie und erhob sich.

Zwei Sanitäter erschienen. Jessie entfernte sich. Die beiden Polizeibeamten glotzten ihr hinterher, als sie die Treppe hochging.

»Sie wissen, wo Sie mich finden können«, sagte sie in Richtung ihrer verdutzten Gesichter.

Einer der Sanitäter sah zu ihr auf. »Danke, dass Sie hier ausgeholfen haben«, sagte er, während er eine Bahre ausklappte.

»War mir ein Vergnügen«, sagte Jessie und verschwand.

Draußen auf der Straße hielt Maggie noch immer die beiden Motorradhelme in der Hand. Sie lächelte.

»Na, Mad Max, endlich fertig mit deiner Samariter-Nummer?«

»Ja, danke, Anne Robinson, das war’s.«

»Wirklich? Keine brennenden Gebäude, die noch zu stürmen sind? Keine Massenkarambolagen, die du aufnehmen musst?«

Jessie schwang ein Bein über den Ledersitz der chromblitzenden schwarzen Virago und ließ den Motor an.

»Fertig?«, fragte sie und schob die Maschine rückwärts aus der Parkbucht.

»Ja.«

»Dann steig auf.«

Maggie lächelte. »Ich liebe es, wenn du das Kommando übernimmst.«

»Kebab?«, fragte Jessie.

»Nein«, sagte Maggie. »Ich muss nach Istanbul, das heißt Bikini und Kameraleute auf engstem Raum, also kein Kebab.«

»Ich hab Hunger«, beschwerte sich Jessie und ließ die Maschine aufheulen.

»Du hast einen Knall. Bring mich jetzt nach Hause, Arnie. Und dröhn dir den Kopf nicht mit Musik zu, das macht mich immer ganz nervös. Du hast eine wertvolle Fracht an Bord.«

Gehorsam schob Jessie den Minidisk-Player wieder in die Tasche und legte den Gang ein. Die Maschine machte einen Satz nach vorn. Jessie fuhr aus der Sackgasse und raste über die Goldhawk Road, als weitere Verstärkung der Polizei eintraf.

Kapitel 1

Die Dienststelle West End Central bestand aus einem altmodischen Yorksteingebäude im Herzen von Mayfair. Jessie war vor kurzem dem dortigen Detective Chief Inspector zugewiesen worden, einer lebenden Legende namens Jones, dem sie an den Lippen hing und alles abkaufte, was er mit seiner sanften Stimme von sich gab. Sein AMIT, sein Area Major Investigating Team, war für den Großteil der Londoner City zuständig und hatte, da es in London im Jahr zu etwa zweihundert Morden kam, immer ziemlich zu tun.

Ihr gefiel der neue Posten. Und ihr gefiel es, wieder in London zu sein. Vier Jahre hatte sie in der Provinz zugebracht, hatte eine Prüfung nach der anderen abgelegt, um die notwendigen Qualifikationen zu erwerben, und nun war sie der jüngste Detective Inspector im Team. Ihre Brüder, die Eltern und Freunde waren stolz auf sie, andere allerdings hatten so ihre Probleme damit, ihre Leistung anzuerkennen. Sie hängte ihre Lederjacke über die Stuhllehne und setzte sich an den Schreibtisch. Eine große Schachtel Tampax war mitten auf ihre Schreibunterlage platziert worden. Es war klar, worauf damit angespielt wurde. Sie legte das Kinn auf die verschränkten Hände und starrte die Packung an. Sie hätte es witzig finden können, wirklich – wenn die Tamponpackung ein anderer hinterlassen hätte als ausgerechnet Mark Ward. Er hatte den gleichen Dienstrang wie sie, konnte sie aber auf den Tod nicht ausstehen.

Vor ihrer offenen Tür draußen im Gang schlenderte eine kleine, kurvenreiche junge Frau auf und ab. Die Person kam ihr entfernt bekannt vor. Sie wackelte vorbei, drehte sich um und seufzte theatralisch. Babyspeck auf High Heels.

»Kann ich Ihnen helfen?«, erkundigte sich Jessie höflich.

Das Mädchen blieb in der Tür stehen, versuchte Jessies Stellung einzuschätzen und kam zu dem Schluss, dass es sich wohl um eine Sekretärin handeln musste. »Ich warte auf Mr. Ward. Er ist ein Freund meines Vaters. Können Sie in seinem Terminkalender nachsehen, er sollte eigentlich bereits hier sein.«

»Weshalb wollen Sie ihn sprechen?«

»Jemand will mich umbringen.«

»Aha.« Jessie nickte auf mitfühlende Art und Weise, wie sie hoffte. »Ihr Name ...?«

»Jami«, kreischte sie. »Mit einem ›i‹. Jami Talbot. Ich bin Sängerin. Ein Mann schickt mir dauernd diese Briefe.«

»Woher wissen Sie, dass es ein Mann ist?«

»Das ist doch immer so.«

Jessie nahm gerade ihre »Todesdrohungen« auf, als Mark Ward erschien. Der Achtundvierzigjährige ließ den Blick nach unten schweifen, magisch angezogen von den ausladend zur Schau gestellten Brüsten. Jessie konnte regelrecht hören, wie ihm der Speichel im Mund zusammenlief, als er das Wort ergriff.

»Tut mir Leid, dass ich Sie habe warten lassen. Es muss Ihnen ja ganz schrecklich zumute sein.« Er entriss Jessie die Briefe und ließ ihr einen warnenden Blick zukommen, bevor er das Mädchen wegführte. Jessie ließ einige Minuten verstreichen, bevor sie ihnen über den Gang hinweg, diesen großen Graben, in sein Büro folgte.

»Ich dachte, Sie wollen vielleicht einen DNS-Abstrich machen«, sagte Jessie und lehnte sich in den Raum hinein. »Der Verfasser dieser Drohbriefe ist möglicherweise bereits im Besitz von einigen persönlichen Gegenständen, die Jami gehören.«

»Wir brauchen Ihre Hilfe nicht, danke«, sagte Mark mürrisch.

»Nein, das klingt doch gut. Die Öffentlichkeit will doch wissen, was Sie alles so unternehmen, um mich zu beschützen«, kam es von Jami.

»Wir können diesen Abstrich auch mit dem Speichel auf dem Briefumschlag vergleichen«, sagte Jessie. Die junge Künstlerin lächelte, bis ihr die Bedeutung von Jessies Worten aufging. »Dann wissen wir nämlich, wenn wir die Person gefunden haben, die für diese Briefe verantwortlich ist«, fuhr sie fort.

»Entschuldigung, Driver«, kam es wütend von Mark. »Aber für den Fall bin ich zuständig.«

»O, tut mir Leid. Wollte ja nur helfen. Ich hab auch schon alles Nötige mitgebracht.« Sie zeigte Jami die weiße, in eine graue Plastikhülle eingeschweißte Spatel. »Wir kratzen nur ein wenig an der Wangeninnenseite, das ist alles.«

»Ich ...« Jami sah sich nach einem Fluchtweg um. »Ich kann keine fremden Gegenstände in meinem Mund haben. Sie könnten meine Stimmbänder beschädigen. Ich bin Sängerin!«

»Sie sind völlig steril«, versicherte Jessie ihr und trat einen großen Schritt auf die in sich zusammensackende junge Frau zu.

Jami erhob sich, trat den Rückzug an und beschleunigte merklich, als sie die Tür erreichte. »Darüber muss ich erst mit meinem Manager reden. Ich komme dann wieder.« Ihre fünfzehn Zentimeter hohen Absätze klapperten wie Kastagnetten, als sie sich davonmachte.

Mit einem breiten Lächeln drehte sich Jessie zu Mark um.

»Was zum Teufel soll das?«

»Kommen Sie schon, Sie haben doch nicht im Ernst ...«

»Verziehen Sie sich, Driver. Tun Sie uns allen einen Gefallen und schieben Sie Ihren Knackarsch zurück ins Klassenzimmer. Überlassen Sie die richtige Arbeit richtigen Polizisten. Und sparen Sie sich Ihre Kommentare und stopfen Sie Ihre Mösenutensilien nicht in Dinge, die Sie nichts angehen oder bei denen Sie nicht gefragt sind.«

Ah, dachte Jessie, darauf hatte er also hingearbeitet. Nicht übel, sehr erfinderisch, Mösenutensilien, ein Hauch von Poesie. Sie strahlte ihn an. »Sagen Sie mir, Mark, machen Sie an sich genauso oft rum, wie Sie sich über andere amüsieren?«

Mark hob den Telefonhörer ab. »Ich muss die Pressestelle anrufen und denen sagen, dass sie ihren Fototermin nicht bekommen werden.«

»Ihren Fototermin. Klar.«

Er zog die Augenbrauen hoch. »Ja, genau, ihren Fototermin.« Er hielt dramatisch inne. »Stellen Sie sich vor, Driver, es gibt nach wie vor Dinge, die Sie nicht wissen.«

Als Jessie Marks Büro verließ, lief sie ihrem Boss, DCI Jones, direkt in die Arme. Er war ein unprätentiöser Mann mit grauen Augen, die farblich zu seinen Anzügen passten. Soweit Jessie es beurteilen konnte, war sein einziger Fehler, dass er glaubte, sie und Mark Ward könnten voneinander lernen. Ward war seit fast dreißig Jahren bei der Polizei, hatte sich von einem kleinen Streifenbeamten hochgearbeitet, bis er vor zwölf Jahren zum Detective befördert worden war. Er hatte Menschen aus brennenden Autos, Flüssen und Gräben gezogen, die zerfetzten Überreste der Opfer von Bombenanschlägen von Häuserwänden gekratzt, zerstückelte Körper von Eisenbahnschienen aufgelesen – ein Bulle, der schwer soff, der immer seinen Notizblock mit sich führte und dessen Zeit ganz allmählich ablief. Sie war dreiunddreißig, hatte den gleichen Dienstrang, und ihre gesamte Erfahrung beschränkte sich auf angelerntes Wissen. Sie waren zwei höchst unterschiedliche Spezies, die das gleiche Ökosystem beanspruchten. Es konnte nicht gut gehen.

»Jessie! Wunderbar. Ich möchte, dass Sie mit mir kommen«, sagte Jones.

»Ich muss zur Pressestelle.«

»Doch nicht zu den alten Knalltüten, die meinen, sich in alles einmischen zu müssen.«

»Ich habe ein ...«

»Das hier ist wichtig. Sie können die Akte unterwegs lesen.« Plötzlich verkrampfte er sich.

»Alles in Ordnung, Sir?«

»Nur das Alter. Wir sehen uns unten.«

Als sie ihre Jacke von der Stuhllehne nahm, erschien erneut Mark in der Tür.

»Na, wieder mal geschafft, sich einer unangenehmen Sache zu entziehen?«

Sie machte sich noch nicht mal die Mühe, ihn anzusehen. »Verpissen Sie sich, Mark.«

»Ich dachte, man hat Ihnen beigebracht, sich etwas gewählter auszudrücken.«

Jessie zog den Reißverschluss der Jacke zu und warf sich in Positur.

»Tut mir Leid, dass ich Ihrem Voyeurismus einen Strich durch die Rechnung gemacht habe. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie Frauen sonst nicht näher kommen, hätte ich es bleiben lassen.«

Mark sah von seinem Bürofenster aus Jones und Jessie den Parkplatz überqueren. Als sie durch das Tor fuhren, rief er den Dienst habenden Detective an.

»Wer ist für die nächsten Schichten eingeteilt?«

»Ich schieb eine Doppelschicht«, kam es als Antwort. »Ich werde heiraten, ich brauch die Überstunden.«

»Den nächsten Toten geben Sie DI Driver. Je schlimmer, desto besser. Ich werde der kleinen Überfliegerin eine kleine Lektion in guter Polizeiarbeit verpassen.«

»Ja, Sir.«

»Wenn Sie Ihre Schicht übergeben, setzen Sie Ihren Nachfolger darüber in Kenntnis.«

»Ja, Sir.«

»Ich werde für Ihre Hochzeit eine Büchse rumgehen lassen.«

»Danke, Sir. Kann ich gut gebrauchen.«

»Und es bleibt unter uns.«

»Natürlich.«

Mark legte den Hörer auf und hoffte inständig auf einen Rentner, aus dem schon die Fliegen krochen.

***

Jessie stand neben Jones, der zweimal hart gegen die Tür klopfte. Die Wohnung lag im dritten Stock eines Wohnblocks in einer Sozialbausiedlung tief im Herzen von Bethnal Green. Man konnte auf den verlotterten Innenhof blicken. Die unmittelbare Umgebung: so arm, wie die nächsten Nachbarn reich waren. Frauen in dicken Mänteln schoben ihre Kinderwägen, an den Straßenecken standen Männer in Gruppen zusammen, gelangweilte Kids kickten einen schlaffen Fußball gegen eine Hauswand. Jessie spürte die enttäuschten Hoffnungen, die hier überall die Atmosphäre prägten. Sie hörten das unverwechselbare Kratzen einer Kette, dann spähte ein großes braunes Auge zu ihnen heraus. Jones hielt seinen Ausweis hoch. Clare Mills öffnete die Tür. Sie war eine dünne Person, groß und vorzeitig gealtert. Zwischen den Augenbrauen war ihr eine tiefe Furche eingegraben. Eine permanente Sorgenfalte. Ihr hellbraunes Haar war kurz geschnitten, wurde allmählich dünn, Jessie erkannte bereits erste graue Strähnen. Die Frau sah aus, als hätte sie sich das gesamte Leben lang Sorgen machen müssen, was sie laut Jones’ Erzählung offensichtlich auch getan hatte.

Vierundzwanzig Jahre zuvor war ein unbeteiligter Passant bei einem Raubüberfall erschossen worden. Es hatte sich dabei um Clares Vater gehandelt, Trevor Mills. Er war auf dem Heimweg nach einem Bewerbungsgespräch, in der Hand hielt er eine braune Papiertüte. Süßigkeiten für die Kinder – er hatte den Job bekommen. Der Querschläger war von einem Mann namens Raymond Giles abgegeben worden, einem zu seiner Zeit berüchtigten Gangster. Die Polizei hatte zunächst angenommen, Giles sei nach Spanien geflohen, nach einem anonymen Hinweis wurde er jedoch in einem Hotel im Southend aufgegriffen. Raymond Giles wurde schließlich wegen Totschlags zu sechzehn Jahren verurteilt. Eine hohe Strafe. Die Staatsanwaltschaft konnte ihm zwar keinen Vorsatz nachweisen, der Richter allerdings kannte Typen wie Giles. Anderen Schaden zuzufügen war für ihn nichts Besonderes, es lag ihm wohl irgendwie im Blut, und seine Verhaftung war für alle Betroffenen eine große Sache.

Für Clare Mills jedoch markierte sie den Beginn eines Albtraums. In ihren großen braunen Augen lag ein argwöhnischer Blick, ununterbrochen blinzelte sie nervös. Die aufgerissene Haut um ihre Fingernägel war bis zu den Knöcheln hin abgebissen. Jessie folgte Clare in die überraschend helle, leuchtend gelbe Küche, sie versuchte das Eis zu brechen, während Clare Tee zubereitete. »Ich schlafe nicht viel«, lautete deren Antwort auf die meisten Fragen. Was kaum überraschen konnte, dachte Jessie, als sie in das kleine Wohnzimmer zurückkehrten. Der Tag, an dem Clare gesehen hatte, wie ihr Vater zu Grabe getragen wurde, war auch der Tag, an dem ihre Mutter Selbstmord beging. Sie war acht Jahre alt gewesen, als sie ihre Mutter hinten im Kleiderschrank hängen sah; die von den Tränen verschmierte Mascara auf den Wangen war noch kaum getrocknet. Doch auch das war noch nicht das Schlimmste, was Clare Mills widerfahren sollte.

Jessie unternahm einen neuen Anlauf. Wie schaffte sie es, so viele Schichten zu arbeiten und sich dann auch noch um die ältere Frau nebenan zu kümmern? Wann fand sie Zeit zum Zeichnen und Malen? Die Antwort war immer die gleiche: »Ich schlafe nicht viel.«

Das änderte sich erst, als sie auf Frank zu sprechen kamen. »Mein kleiner Bruder. Fünf Jahre jünger als ich. Ihr Wunschkind, sagten Mum und Dad immer. Sie waren so glücklich. Das waren sie. Er war ein wunderbares Kind, einfach wunderbar. Ich habe jeden Tag mit ihm gespielt, jeden Tag, bis ...« Clare wandte sich von ihnen ab und starrte aus dem rechteckigen Fenster. Am Tag nach dem Tod ihrer Mutter sollte ein Wagen kommen, der die Kinder ins Pflegeheim brachte. Nur dass zwei Wagen kamen. Einer nahm Clare mit sich fort, der andere Frank. Es war das letzte Mal, dass sie ihn gesehen hatte.

Clares Eingaben blieben jahrelang ungehört. Bis sie sich an das Tor des Woolwich-Friedhofs kettete, wo ihre Mutter begraben lag. Für die öffentlichen Stellen begann damit ein PR-Albtraum. Die Suche nach Frank fiel schließlich in die Zuständigkeit des AMIT, so wurde Jones der Fall übergeben. Er hatte das Gespräch eröffnet, entschuldigte sich, versuchte die richtigen Worte zu finden.

»... und was immer auch passiert, wir werden herausfinden, was mit Frank geschehen ist, und wir werden die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen ...«

»Es gibt nur einen, und den haben Sie wieder laufen lassen«, stieß Clare hervor. »Der Mann, der Dad erschossen hat. Dieser Verbrecher, dieser Drecksack, der sich jetzt wieder herumtreibt ...«

Jones beugte sich vor. »Er hat lange im Gefängnis zugebracht, Clare. Er hat seine Zeit abgesessen. Wir sollten uns lieber auf Frank und diejenigen konzentrieren, die sich um ihn hätten kümmern sollen. Und auf Sie.«

»Mum und Dad hätten sich um uns kümmern sollen.«

»Clare ...«, bat Jones.

Clare wandte sich an Jessie. »Meine Mutter hat drei Wochen am Krankenhausbett meines Vaters gesessen. Sie hat nicht geschlafen, nichts gegessen, nur dagesessen und darauf gewartet, dass er aufwacht. Er hat gekämpft, ich hab die Berichte gesehen, ich hab mich mit einer der Schwestern von damals unterhalten, sie erinnerte sich an meine Mutter, die am Bett saß und für ihn betete. Mum wollte nicht gehen, sie wollte auch niemanden reinlassen, bis auf ihre Freundin Irene. Sie erinnerte sich, wie Dad um sein Leben kämpfte. Ein paar Mal kam er zu Bewusstsein und sagte Mum, dass er sie liebt, und uns, aber er konnte den Kampf nicht gewinnen. Ein Querschläger? Sagen Sie mir, wie kann es sein, dass ein Querschläger jemanden mitten ins Herz trifft?«

»Wir können die Gesetze nicht ändern«, sagte Jones. »Er hat neun Jahre hinter Gittern verbracht. Das ist eine lange Zeit.«

Also, dachte Jessie, der Mann, der Clares Leben ruiniert hatte, war wieder auf freiem Fuß. Jessie war fest davon überzeugt, dass jemand seine Schuld gegenüber der Gesellschaft abbüßen konnte. Die Haft war wie ein Reinigungsprozess, eine Steinplatte, die nun wieder frisch poliert und sauber war. Sie versuchte ihre Kollegen dazu zu bringen, nicht jedes Mal, wenn eine Leiche auftauchte, sofort zur Verbrecherdatei zu greifen. In Clare Mills’ weit aufgerissenen Augen aber sah sie, dass sie dieses Verbrechen niemals loswerden würde. Ihre Strafe lautete auf lebenslänglich.

»Für drei Morde war es nicht lang genug.« Sie zitterte. »Nein, es waren vier Morde.«

Clare hatte keine weiteren Familienangehörigen mehr. Die Eltern ihres Vaters waren bereits vor ihrer Geburt gestorben. Clares Mutter Veronica hatte mit ihrer Familie vor ihrem Tod jahrelang kein Wort mehr gewechselt. Clare hatte sie niemals kennen gelernt, ihre Mutter hatte von ihnen nie erzählt. Alles, was Clare wusste, stammte von Veronicas bester Freundin Irene. Einer Friseurin, die den Stadtteil niemals verlassen hatte.

»Sie haben meinen Namen geändert. Die Leute, bei denen ich in Pflege war. Pflege! Dass ich nicht lache! Ich war nicht Samantha Griffin, ich war Clare. Das hab ich ihnen immer wieder gesagt, ›ich bin Clare‹.« Sie hielt inne. »Ich wurde bestraft, weil ich gelogen habe.« Clare schloss kurz die Augen. Ihre Nervosität fraß sie auf.

Jessie und Jones tauschten wissende Blicke aus. Die Siebziger waren, was die Kinder- und Jugendfürsorge anbelangte, nicht die besten Zeiten gewesen. »Wir fangen mit seinem Geburtsdatum und dem Tag an, an dem er zu den Pflegeeltern gegeben wurde. Ich weiß nicht, wer Ihnen bislang bei dieser Sache unter die Arme gegriffen hat, aber Sie wurden ständig in die Irre geleitet. Was mir wirklich Leid tut. Sie haben mein Wort«, sagte Jones, »wir werden ihn finden.«

Clare schien sich wieder in sich selbst zurückzuziehen. »Tot oder lebendig?«

Jones nickte. »Tot oder lebendig.«

Der Timer des Videogeräts schaltete sich selbstständig an, um eine Sendung aufzuzeichnen. Clare starrte mit aufgerissenen Augen auf den leeren Bildschirm. »Tagsüber bin ich normalerweise nicht hier«, sagte sie und klang wieder weit entrückt. »Es gibt ein paar Sendungen, die ich nicht verpassen möchte.«

Jessie überlegte, welche Nachmittagsprogramme ihre Aufmerksamkeit beanspruchen konnten. Kilroy. Oprah. Trisha. Vanessa. Ricki. Springer. Man konnte es sich aussuchen. Irgendwas. »Es überrascht mich, dass Sie überhaupt Zeit zum Fernsehen haben«, sagte sie.

Clare biss an ihrem Zeigefinger herum. »Ich schlafe nicht viel.«

***

»Pull, pull, pull. Position drei, mach schon!« Die Bootsspitze schnitt durch das tiefe kalte Wasser und teilte den Nebel. »Position drei, hörst du nicht?« Skulls krachten gegeneinander. Ein langer, lauter Pfiff ertönte. Das Boot wurde von der Strömung erfasst und begann abzutreiben. Das schlammbraune Wasser schlug schwer gegen den Fiberglasrumpf. Kaltes Spritzwasser bedeckte die nackten, vor Anstrengung geröteten Oberschenkel der Mädchen. »Was um alles in der Welt ist da los?«

»Ich meinte, ich hätte was am Ufer gesehen. Tut mir Leid, es sah aus wie ...« Das Mädchen hielt inne, die anderen Ruderinnen spähten in die Richtung, in die es zeigte. »... Knochen.«

»O Gott«, sagte die Steuerfrau. »Was für eine billige Entschuldigung! Ist ja lächerlich – los, an die Skulls.«

»Nein, ich schwör’s. Wir sollten lieber umdrehen.«

Sie wendeten das Boot und steuerten den schlammigen Uferstreifen an. Die Strömung zog sie nach draußen, sie mussten dagegen anrudern, um das Boot ruhig zu halten. Alle fünf Mädchen starrten über das Wasser. Nebelschwaden lasteten auf dem Fluss und weigerten sich zu verschwinden.

»Dort!«, schrie das Mädchen.

Etwas lag auf der schwarzen, schleimigen Oberfläche. Seltsam gestreckte Finger ragten aus dem Schlamm wie die Überreste eines hölzernen Wracks.

»Das ist nur Holz«, sagte die Steuerfrau.

»Weißes Holz?«

»Ja, los, hauen wir ab.«

Das Mädchen im Heck des Bootes war dem Ufer am nächsten. »Ich glaube, ich kann Beckenknochen und Beine erkennen.«

Die Mädchen ruderten vom Ufer weg. Sie wollten nicht mehr näher ran. Sie wollten es nicht genauer sehen.

»Was sollen wir machen?«, fragte das Mädchen im Heck. Seine Stimme zitterte ein wenig.

»Rudern. Wir werden vom Bootshaus die Polizei anrufen. Merkt euch die Stelle, damit wir ihnen sagen können, wo es ist.«

»Genau unterhalb des Naturerholungsgebiets. Wir sollten uns lieber beeilen, bevor das Gelände geöffnet wird.«

»O Scheiße. Okay, okay ... ähm, pull, pull – verdammt, ihr wisst schon, was ihr zu tun habt ...«

***

Im Schlamm des Themseufers war eine völlig verweste Leiche gefunden worden, nur das Skelett war noch erhalten. Kein Schädel. Keine Hände, keine Füße. Wahrscheinlich ein vergessener Selbstmord. Ein Constable war am Fundort. Ein Detective Inspector von der Kriminaldienststelle reichte dafür völlig aus. Perfekt. Als Jessie, wie immer früh im Dienst, fragte, was anstünde, musste er nur der Anweisung entsprechen.

»Kopflose Leiche auf einem Treidelpfad«, sagte der Dienst habende Polizist und überkreuzte dabei die Finger. Ihr in Leder gehüllter Hintern hatte noch nicht einmal den Stuhl berührt.

***

Jessie parkte ihr Motorrad in der Ferry Road im Südwesten Londons. Hier, verborgen zwischen einem künstlich angelegten Naturerholungsgebiet und einer Grundschule, lag ein kaum bekannter Pfad zur Themse. Als die Teerstraße in Schlamm und Regenpfützen überging und die Gebäude von Brombeersträuchern und Bäumen abgelöst wurden, drängte sich ihr der Eindruck auf, als würde sie in der Zeit zurückschreiten und sich im London eines Dickens befinden. Sie rechnete mit dem Schlimmsten. Eine junge Frau, auf dem von dichtem Wald umgebenen, unbeleuchteten, verlassenen Pfad angegriffen, vergewaltigt, erwürgt und liegen gelassen. Enthauptet.

Sie marschierte durch die Pfützen, weit unter ihr lag das wirbelnde Wasser der Themse. Vor sich sah sie DC Fry, der aus einem Starbucks-Becher Kaffee schlürfte. Er plauderte mit fünf Frauen in Trainingsklamotten. Jessie nahm an, dass er mit dem Rücken zur Leiche stand. Den Blick auf die Mädchen gerichtet.

»Guten Morgen«, sagte sie laut.

Fry drehte sich um und sah zu Jessie.

»Morgen, Ma’am. Was machen Sie denn hier?«

Ein weiterer Constable, den sie nicht kannte, ging vorbei. Jessie nahm Fry zur Seite. »Wo ist die Leiche auf dem Treidelpfad?«

»Es gibt noch ’ne Leiche?«, fragte er sichtlich aufgeschreckt. Knochen in der Themse waren nichts Besonderes, kaum jemand ließ sich von ihnen aus der Ruhe bringen.

»Was meinen Sie mit ›noch eine‹? Wo ist die erste?«

Er zeigte zum Rand der Mauer. »Vorsicht, es ist rutschig«, sagte Fry. Jessie trat vom Pfad weg, schlug sich durch einige Meter Unterholz und Brombeerbüsche und trat dann auf die Steinmauer. Sie war von einem Algenfilm überzogen, so glatt wie Schmierseife. Sie spürte, wie ihre Sohlen wegschlitterten, hielt sich an einem Zweig fest und sah nach unten. Es waren etwa sechs Meter bis zum Schlick – eine steile, leicht abgeschrägte Wand aus grünlichem Stein. Am Fuß der Mauer erstreckte sich das Ufer. Ein tückischer Abschnitt. Die Ebbe hatte eingesetzt und einen breiten, tiefen und gefährlichen Schlickstreifen zurückgelassen. Möwen liefen auf ihren mit Schwimmhäuten versehenen Füßen kreuz und quer darüber und suchten nach Leckerbissen, Blutegeln, Würmern, winzigen Weichtieren, die sie verspeisen konnten. Nach dem Aussehen der von Algen überzogenen Ufermauer musste das Wasser bei Flut häufig bis zu der Stelle hochsteigen, auf der sie nun stand. Sie sah wieder zum schimmernden Schlick. Ein halb versenkter Brustkorb ragte daraus hervor. War das die kopflose Leiche auf dem Treidelpfad?

»Ist es das?«, rief sie zu Fry. Er nickte. Der Dienst habende Polizist hatte übertrieben. Stark übertrieben. »Was sind das für Mädchen?«

»Ruderer. Sie haben das Skelett entdeckt und die Polizei benachrichtigt.«

»Und der Constable?«

»War als Erster hier, ein Bobby aus dem hier zuständigen Revier.«

»Wie heißt er?«, fragte Jessie und spürte, wie sie ungeduldig wurde.

Fry zuckte mit den Schultern. »Also, gibt es jetzt noch’ne andere Leiche?«

»Nein«, sagte sie. »Man hat mich ...« – dieser Dreckskerl – »falsch informiert.« Sie richtete den Blick wieder zum Fluss, dann nach unten. »Also, Fry, was haben wir hier?«

DC Fry kam zu ihr auf die Ufermauer. »Es wundert einen, dass da nicht mehr reinfallen. Das Zeug ist hochgefährlich«, sagte er und strich mit dem Fuß über den schleimigen Bewuchs.

»Würde es Ihnen was ausmachen, die Sache etwas ernster zu nehmen?«

»Warten wir denn nicht einfach nur auf den Leichenbestatter, der das Ding da rauszieht?«

»Waren Sie schon unten?«

»Machen Sie Witze? Haben Sie den Schlick gesehen?« Fry gähnte.

»Sie waren also nicht unten?«

Er reichte ihr ein kleines Fernglas. »Ich kann von hier aus sehen, dass es sich um ein völlig abgenagtes Skelett handelt, muss schon seit Jahren dort unten liegen. Ein Blick in unsere Karteien, und man wird wahrscheinlich feststellen, dass es sich um irgendeinen besoffenen Idioten handelt, der vor zehn Jahren an Silvester von einem Schiff gefallen ist und dem die Schraube den Kopf weggerissen hat.«

Jessie betrachtete das perfekt geformte Skelett, dessen grauweiße Knochen die gleiche Farbe wie der Himmel aufwiesen. »Möglich«, sagte sie. Sie strich mit dem Fernglas über das Ufer, das Wasser und zur gegenüberliegenden Seite. Zwischen acht hohen Lärchen hatte ein Radfahrer angehalten. Daneben stand irgendein Lagerhaus. Ansonsten rührte sich nichts. Rechts von ihr war die Spitze der kleinen Insel Richmond Eyot zu sehen. Die Flusswindung verhinderte einen ausgedehnten Blick über das Ufer zu ihren Füßen. Sie würde runter müssen. Sie richtete den Blick wieder zum gegenüberliegenden Ufer. Der Radfahrer entfernte sich bereits wieder. Sie setzte das Fernglas ab und wandte sich an Fry.

»Vielleicht aber auch nicht.«

»Es gibt für Sie hier nichts zu tun, Ma’am. Fahren Sie zur Dienststelle zurück. Ich kümmere mich um alles.«

»Nein.« Wenn Mark sie schon unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hier rausschickte, würde sie auch alle anderen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in Bewegung setzen. »Gut, haben Sie Gummistiefel dabei?«

»Nein.«

Sie besah sich DC Frys feine Lederschühchen. »Was für eine Schande.«

»Ach, kommen Sie schon ...«

Sie nahm Fry den Kaffee aus der Hand. »Riegeln Sie das Gelände um die Leiche herum ab. Der Constable soll ein Auge darauf werfen. Ich will, dass alle erfasst werden, die hier rein- und rausmarschieren. Rufen Sie die Spurensicherung und einen Rechtsmediziner, falls Sie einen auftreiben können. Ich will, dass sie die Leiche am Tatort in Augenschein nehmen. Danach kommen Sie mit mir und machen sich Notizen. Und sagen Sie den Leuten von der Spurensicherung, sie sollen eine Videokamera mitbringen. Die Flut wird bald einsetzen, wir haben nicht viel Zeit.«

Frys Falte zwischen den Augenbrauen vertiefte sich. »Dafür wollen Sie die Kavallerie aufschrecken?«

»Es handelt sich um einen verdächtigen Todesfall, also wird er entsprechend behandelt.« Er sah aus, als hielte er das Ganze für einen schlechten Scherz. Sie starrte ihn finster an. »Was stehen Sie hier noch rum?«

»Wie zum Teufel soll ich da runterkommen? Das sind gut und gern zehn Meter.«

»Männer – tun sich immer schwer, wenn es darum geht, Längen einzuschätzen. Immer müssen sie übertreiben.«

Fry war wütend, aber Jessie war seine Vorgesetzte. Zweifellos würde er später seinem Zorn Luft verschaffen und allen auf die Nase binden, was für eine Schlampe sie doch sei.

»Etwa hundert Meter weiter führen Stufen nach unten.«

Fry spähte hinüber. An manchen Stellen schlug das Wasser noch bis zur Ufermauer.

»Passen Sie auf das ablaufende Wasser auf. Wir wollen Sie doch nicht verlieren, falls Sie von der Strömung weggesogen werden.«

»Das kann nicht Ihr Ernst sein!«

Jessie kniff gegen den grellen Schein der tief stehenden Sonne die Augen zusammen. »Es ist mir todernst.«

Fry stürmte davon. Mark Ward, der Dreckskerl. Nun, da hatte er sich die Falsche ausgesucht, wenn er einen Krieg vom Zaun brechen wollte. Er würde es noch bedauern, dass er nicht einfach einen Wasserkübel über die Tür gehängt und es dabei hatte bewenden lassen. Jessie alarmierte telefonisch die Wasserpolizei, die Polizeitaucher und die Hubschrauberstaffel, dann ging sie zum Constable, der als Erster am Tatort gewesen war. »Hallo, ich bin Detective Inspector Driver, West End Central.«

»Police Constable Niaz Ahmet.« Er war ein schlaksiger Kerl mit schweren Händen, die er wie Paddel an der Seite baumeln ließ. Sein schmaler Kopf saß auf einem langen Hals, seine Augen aber strahlten; ein sehr wacher Blick.

»Waren irgendwelche Spuren zu sehen, als Sie hier ankamen? Reifenabdrücke, Fußstapfen?«

»Ein unbestimmte Anzahl von Fußspuren auf dem Pfad. Der Schlick aber war so glatt wie jetzt auch. Bis auf die Stellen, wo das Wasser vom Ufer abfließt. Da kräuselte sich der Untergrund.« Jessie war bereits von ihm eingenommen. »Aber definitiv keine Fuß- oder Reifenspuren.«

»Irgendwas, was wie ein Schädel aussah?«, fragte sie.

»Nichts, was ich hätte erkennen können. Aber wie Detective Constable Fry war ich nicht unten. Ich wollte den Tatort unberührt lassen.«

Jessie blies in die Hände und rieb sie gegeneinander. »Irgendwas anderes?«

»Nein. Ein paar Betonbrocken, eine zerschlagene Flasche, ein Stück Rohrleitung, das Rad einer Sackkarre, eine tote Qualle. Aber keine Fußspuren. Ich habe darauf geachtet.«

»Kommen Sie mit. Ich möchte Sie bitten, die Aussagen der Mädchen aufzunehmen. Sowie aller anderen, die noch auftauchen.«

»Ja, Ma’am.«

Sie schritt über den Fußpfad zu den Ruderinnen, die, über Becher mit kaltem Kaffee gebeugt, erwartungsvoll dünne Wolken ausatmeten. Auf ihren marineblauen Trainingsanzügen prangten goldene Lettern: CLRC. Jessie stellte sich vor und begann mit ihren üblichen Fragen.

Jessie stieg auf die mit Raureif bedeckte Grasböschung an der gegenüberliegenden Seite des Pfads und spähte über das Eisengeländer. Das so genannte Naturerholungsgebiet sah aus wie eine voll gelaufene Kalkgrube oder wie ein ungenutzter Speichersee. Die rechteckige Wasserfläche war von einem steilen Ufer umgeben. Ein trostloser Ort, der nichts von dem bot, was der Name suggerierte. Sie drehte sich um, ging über den Pfad zurück, um Fry zu folgen. Wie die Ufermauer waren die Steinstufen mit Algen überwachsen. Der Schleim des Flusses. Fluchend und schimpfend kämpfte sich Fry durch den Schlick. Beinahe wog es die Demütigung wieder auf, ihn wie ein Girlie mit Jimmy-Choo-Tretern an den Füßen durch den Morast staksen zu sehen. Jessie machte einen Schritt auf dem glitschigen Untergrund. Der leichteste Druck auf dem Absatz, und sie würde vollends wegschlittern. Es gab nichts zum Festhalten, noch dazu war die Treppe sehr steil. Wenn die menschlichen Überreste zum Fluss gebracht worden waren, dann ganz sicher nicht über diesen Weg. Über ihr breiteten sich die niedrig hängenden Äste einer Baumkrone aus. Der Weg oben war nicht beleuchtet, auf einer Strecke von fast einem halben Kilometer gab es keine Wohngebäude, weder auf dieser noch auf der gegenüberliegenden Uferseite. Für das Londoner Stadtgebiet war es eine ungewöhnlich einsame Stelle. Perfekt. Auffallend perfekt.

Unten entdeckte sie in der Mauer den Eingang zu einem unterirdischen Tunnel. Aus dem schwarzen Schlund strömte kein Abwasser, davor aber lag fächerförmig angeschwemmter Schlick. Hieß das, dass der Tunnel noch in Gebrauch war, oder stammte die Schlickablagerung von der Flut? Jessie zog eine dünne schwarze Taschenlampe aus ihrem Rucksack und richtete sie in die Dunkelheit. Aufgescheuchte Tauben flatterten rasch an ihr vorbei. Rechts erkannte sie einen etwas erhöhten Fußweg aus Steinplatten. Sie stieg die glitschige Stufe hinauf, duckte sich unter dem Bogen des Tunnelgewölbes, abgestandene, modrige Luft schlug ihr entgegen. Sie begann bergauf zu gehen, weg vom Tageslicht. Neben ihr, auf dem Schlick- und Kieselboden des Kanals, lagen die angestrandeten Dinge, die der Fluss wieder ausgespien hatte. Ein Einkaufswagen. Ein verrosteter Fahrradrahmen. Zwei extra dicke Plastiktüten. Unter einer Holzplanke etwas, was nach Kleidung aussah. Jessie sprang von dem über einen Meter hohen Absatz und landete auf festem Untergrund. Es war ein Damenmantel. Sie streifte einen Plastikhandschuh über, zerrte ihn vorsichtig frei und starrte dann in die vor ihr liegende, nicht enden wollende Finsternis. Wohin mochte dieser steile, trockene Gang führen?

»Ma’am«, schrie Fry. Am Tunneleingang konnte sie die Silhouette seiner unteren Körperhälfte erkennen. Er klang besorgt. »Ma’am, was treiben Sie dort drin?«

Sie ging zurück. Je näher sie dem Ausgang kam, umso weicher wurde der Boden. Wortlos reichte sie Fry den Mantel. Sie suchte sich im Schlamm einen erhöhten Grat und stapfte über das abfallende Ufer zum Skelett. Der Boden wurde mit jedem Schritt weicher. Dann stand sie über dem Skelett. Und versank langsam im Schlick. Dachte nach. Was sie oben bereits irritiert hatte, als sie die Gebeine mit dem Fernglas betrachtet hatte, irritierte sie hier unten noch mehr. Sie sah zurück zur bogenförmigen, klaffenden Tunnelöffnung, die sie wie ein einäugiges Ungeheuer anstarrte. Als schliefe es. Aber es war gefährlich. Ihr Blick kehrte zum Skelett zurück. Es sah nicht so aus, wie es zu erwarten gewesen wäre, wenn der Fluss es wieder freigegeben hätte. Leichen, die aus der Themse gezogen wurden, waren das Schlimmste, das man sich vorstellen konnte. Wie beim Laub, das im Winter noch an den Bäumen hing, bildete die Haut einen transparenten Film über den aufgeblähten Adern. Die vom Flusswasser aufgedunsenen Leichen barsten bei der ersten Berührung und gaben ihren Inhalt frei wie Fischernetze, die geöffnet wurden. Irgendetwas an diesem weißen Brustkorb, der wie eine Riesenkrabbe aus dem braunschwarzen Schlick ragte, gab ihr das Gefühl, dass nicht der Fluss diese Leiche auf dem Gewissen hatte. Es waren menschliche Hände gewesen, die sie hier abgelegt hatten. Die Natur arbeitete nicht so säuberlich.

Schließlich traf die Spurensicherung ein. Ohne die geringste Eile schlenderte die Truppe über den morastigen Uferstreifen, sie lachten und rissen Witze. Sie allesamt waren Schichtarbeiter. Ihr Leben bestand nicht darin, von neun bis fünf Uhr im Büro zu sitzen; Leichen hatten eben die Angewohnheit, zu den unmöglichsten Zeiten aufzutauchen. Als sie das saubere Knochengerippe sahen, für das sie aufgescheucht worden waren, wirkten sie verwirrt.

»Ich will, dass alles innerhalb dieses Bereichs aufgesammelt wird. Alles wird gefilmt, fotografiert, in Beutel gepackt. Ich habe mit der Flusspolizei telefoniert. Niedrigwasser ist in fünfzig Minuten. Dann setzt die Flut wieder ein. Nehmt Proben vom Schlick, vom Wasser, messt die Luft- und Wassertemperatur.«

Sie sahen sie genauso an wie zuvor DC Fry. Was? Dafür?

Sie fühlte sich in Gegenwart der Männer unsicher. Sie wussten mehr über den Tod und dessen Begleitumstände, als sie jemals erfahren würde. Sie versuchte selbstsicher zu klingen. »Kopf, Hände und Beine fehlen. Haltet die Augen offen«, sagte sie.

»Die sind beim Verwesungsprozess abgefallen. Der Kopf ist wahrscheinlich schon in Calais.«

»Genau«, sagte Jessie. »Warum ist also der Rest dieser armen Seele nicht auch schon in Calais? Die Flut ist viel zu stark. Das Skelett hätte längst auseinander brechen müssen, statt hier sauber im Schlamm zu stecken.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte einer von ihnen, der sofort einlenkte.

»Das weiß ich noch nicht. Aber Knochen sind nicht sauber und weiß, wenn sie jahrelang im Schlamm gelegen haben und von Milliarden Mikroorganismen besiedelt worden sind. Nur weil wir hier ein Skelett vor uns haben, heißt das noch lange nicht, dass es sich um olle Kamellen handelt.«

Sie ließ sie im Schlick stehen.

»Sie wird hier an der Nase herumgeführt«, sagte einer.

»Scheint mir aber, als wüsste sie, wovon sie spricht«, sagte ein anderer.

»Glaub mir«, erwiderte der Erste, »ich hab’s von einem aus ihrem Team gehört. Sie soll ein wenig zurechtgestutzt werden.«

DC Fry sah zum Himmel hoch. »Meine Fresse, Sie haben die Hubschrauberstaffel in Bewegung gesetzt!«

Jessie sah nicht nach oben.

»Sie filmen das Ufer und die umliegende Gegend. Auf meine Anordnung.« War sie verrückt geworden? Sie hätte sich nie darauf einlassen sollen. Jones würde durch die Decke gehen.

»Ma’am, das sind nicht unsere Jungs, das ist die Presse.« PC Ahmet zeigte noch im Gehen nach oben; seine lange Gestalt ragte schier in den Himmel.

»Was?« Sie blickte hoch. Ein Hubschrauber schwebte über ihnen. Sie spürte regelrecht das auf sie gerichtete Teleobjektiv.

»Die sind wie Haie, die wittern das Blut«, kam es trocken vom Constable.

»Deckt das Skelett ab«, schrie sie den Leuten von der Spurensicherung zu. »Mein Gott, woher wussten die so schnell Bescheid?«, fragte sie. »Der Leichenfund wurde mir doch erst vor einer Stunde gemeldet.«

»Die haben die bessere technische Ausrüstung, außerdem hören sie ständig unsere Scrambler ab.«

Der junge Constable verblüffte sie schon wieder.

»Richtig«, sagte Jessie und kramte in ihrem Gedächtnis nach der richtigen Vorgehensweise. »Fry, kümmern Sie sich darum, dass dieses Ding verschwindet, rufen Sie Heathrow an, sie sollen dafür sorgen, dass er die Überfluggenehmigung entzogen bekommt.«

»Mit welcher Begründung?«

»Mit der Begründung, dass der Rotor die Aufnahme des Mordfalls beeinträchtigt!«

»Bei allem Respekt, Ma’am, Sie wissen doch noch gar nicht, ob es sich um einen Mord handelt ...«

»Und Sie wissen nicht, ob es nicht doch einer ist.« Sie blickte Fry unverwandt in die Augen und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Es sei denn, es gibt etwas, was Sie mir verschweigen?«

Er schüttelte den Kopf. Sie roch die Lunte, konnte im Moment aber nichts dagegen tun.

Jessie sah dem Hubschrauber hinterher, der sich an die Grenze der Sperrzone zurückzog. Die Flut stieg. Man hatte ihr einen Rechtsmediziner verweigert. Mittlerweile war bekannt geworden, welchen Zirkus sie am Themseufer veranstaltete. Mark trieb sich wahrscheinlich irgendwo herum und sah genüsslich zu, wie sie sich hier um Kopf und Kragen brachte. Jones war nirgends zu finden.

»Ma’am, die Pathologin ist da«, sagte DC Fry. Ihr widerwilliger Schatten.

Eine intelligent aussehende Frau mit kastanienbraunem Haar streckte ihr die Hand entgegen. Sie sah für den Job fast zu zierlich aus, ihr Handschlag aber war fest, ihre Stiefel waren schlammverkrustet und zeugten von früheren schaurigen Ausflügen. »Sally Grimes«, sagte die Pathologin.

Jessie wandte sich an DC Fry. »Ich will, dass die Ruderinnen FAPs ausfüllen.«

Fry machte einen richtiggehend bestürzten Eindruck bei dem Gedanken an den Papierkram, den er bereits auf sich zukommen sah, aber er hielt den Mund. Die beiden Frauen gingen hinaus zum Skelett. Der Wasserspiegel stieg. »FAPs?«, fragte Sally Grimes.

»Formulare für die Angaben zur Person«, sagte Jessie und schlüpfte geduckt unter die Plane. »Damit erhalten wir einen kurzen Abriss über die Personen, mit denen füttern wir dann die HOLMES-Datenbank in der Dienststelle.«

»Ich weiß, was sie sind. Ich frag mich nur, warum Sie die brauchen.«

»Weil ich nicht die geringste Ahnung habe, wer sie sind oder was sie hier verloren haben, und irgendwo muss ich ja anfangen.«

»Wasserleichen werden meistens nur eingesammelt und mit den als vermisst gemeldeten Personen abgeglichen.«

Jessie musterte die blasshäutige Frau. »Man sagte mir, Sie seien keine Rechtsmedizinerin.«

»Bin ich auch nicht. Trotzdem. Also, was haben wir hier Ihrer Meinung nach?«

»Keine Ahnung, um ehrlich zu sein. Ich habe den Verdacht, dass ich hier von einem Kollegen, der meint, er müsse mir mal eins auf den Deckel geben, hinters Licht geführt werde. Und ich meine, ich könnte es ihm heimzahlen, indem ich mich strikt an die Vorschriften halte und mich als die studierte Polizistin aufführe, für die sie mich alle halten.«

Der Polizeihubschrauber flog ein weiteres Mal vorüber, sein Schatten glitt über die milchig-weiße Plane. Es wurde heiß unter dem Plastik.

»Was Sie mit dem größten Vergnügen tun«, sagte Sally.

Jessie zuckte mit den Schultern. Sie wollte nicht zugeben, dass es falsch gewesen war, den Polizeihubschrauber zu alarmieren. Noch nicht.

»Also haben sie mich geschickt und keinen Rechtsmediziner, weil sie die Sache hier nicht ernst nehmen«, antwortete Sally.

»Wie gesagt, ich bin reingelegt worden. Trotzdem, irgendwas an diesem Skelett stört mich.«

Sally lächelte konspirativ. »Gut, dann wollen wir mal sehen, ob wir nicht was finden können, damit Ihren Kollegen das Lächeln vergeht. Was stört Sie?«

»Der Geruch.«

»Er ist sehr aromatisch, da stimme ich Ihnen zu.«

»Ich meine nicht den Gestank vom Fluss. Da ist noch etwas. Ist mir erst aufgefallen, als die Plane aufgezogen wurde. Er erinnert mich an ein Bleichmittel.«

Sally ließ sich im Schlick auf die Knie und roch an den Gebeinen. Jessie nahm sich vor, der Frau einen Drink auszugeben. Die Pathologin schnupperte an zwei weiteren Stellen am Skelett, nickte stumm für sich und erhob sich. Sie holte eine Spatel aus ihrer Tasche und strich damit über das freiliegende Schlüsselbein, mit einer zweiten fuhr sie über das Wadenbein. »Ich werde nichts anrühren, bevor ich das nicht ins Labor geschickt habe.«

»Was ist?«

»Das Skelett ist zu sauber und zu unversehrt, es kann nicht seit Jahren hier herumgelegen haben. Außerdem kann die betreffende Person nicht vor kurzem gestorben sein, sonst wäre der Verwesungsprozess nicht so weit fortgeschritten. Es sei denn, jemand hätte es mit einer Reinigungslösung bearbeitet. Wie weit würde Ihr Kollege gehen, um Sie zum Narren zu halten?«

Jessie wusste darauf keine Antwort. Dazu war sie noch nicht lange genug dabei. »Er mag mich nicht.«

»Würde er sich ein frisch präpariertes Laborskelett besorgen, es hier ablegen und Sie rufen lassen, damit Sie gefeuert werden?«

Jessie blieb vor Panik der Mund offen. »Ein Laborskelett?« Sally nickte. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Knochen behandelt wurden.« Sie traten vor das Zelt. Sally streckte den Rücken durch. Jessie war zu verwirrt, um etwas zu sagen. »Die Leichenbestatter sind hier. Sie sollen die Überreste ins Krankenhaus bringen. Wir warten dann auf das Ergebnis dieser Abstriche, mal sehen, was dabei herauskommt. Wenn Ihr Kollege sich das von einer medizinischen Fakultät geliehen hat, kriegen wir ihn dran. Wenn nicht, werden wir es morgen gerichtsmedizinisch untersuchen und herausfinden, womit wir es hier zu tun haben. Okay?«

Nein, es war nicht okay. Sie war Mark Ward voll in die Falle getappt.

»Sagen Sie den Leichenbestattern, sie sollen Schutzkleidung tragen«, sagte Sally.

Jessie hob den Kopf. »Warum Schutzkleidung?«

»Der Geruch kann von einem mit Formaldehyd versetzten Reinigungsmittel stammen, vielleicht aber auch von Schlimmerem. Wir wissen es nicht, und es muss nicht sein, dass wir irgendein Risiko eingehen. Plastikhandschuhe schützen vor Viren und Bakterien, aber nicht vor Säuren.«

»Säuren?«

»Möglich. Säuren werden noch immer eingesetzt, um Leute verschwinden zu lassen. Dass der Schädel fehlt, heißt, dass die betreffende Person nicht anhand ihres Gebisses identifiziert werden kann. Aus den Knochen lassen sich keinerlei Rückschlüsse ableiten.« Sie berührte Jessie am Arm. »Jedenfalls glaube ich, dass Sie richtig gehandelt haben. Hätten Sie es den Leichenbestattern überlassen, das Skelett ohne vorherige Untersuchung abzutransportieren, hätte sich jemand dabei durchaus Verletzungen zuziehen können.«

»Meinen Sie wirklich?«

»Ja. Irgendetwas stimmt hier nicht. Lassen Sie sich nicht kirre machen, Detective. Wer immer diese Tote war, sie kam nicht durch einen Unfall hierher.«

»Es war also eine Frau?«

»Ja. Aber das ist schon alles, was wir wissen.«

Die beiden Frauen stapften mühsam das Ufer hoch. Der Schlamm sog an ihren Stiefeln. Jessie sah zum abgesteckten Areal zurück. Das anschwellende Wasser leckte bereits an den beiden Stangen, die am weitesten draußen standen.

»Wir ziehen ab?«, fragte Fry hoffnungsfroh.

»Nachdem Sie sich vergewissert haben, dass alles eingesammelt und alles fotografiert wurde. Sie sind für die Beweismittel verantwortlich, also enttäuschen Sie mich nicht.«

»Kommen Sie schon, Ma’am. Sie wollen das doch nicht wirklich durchziehen?«

»Was durchziehen, Fry?«

Er antwortete ihr nicht. Nicht direkt. »Es ist nur ... ich dachte, Sie hätten da so eine besondere Sache mit DCI Jones.«

Es hatte keinen Sinn, darauf einzugehen. Jessie ließ ihn mit seinem affektierten Grinsen stehen. Sie vergaß immer wieder, wie sehr Fry Mark Ward aus der Hand fraß.

PC Ahmet nahm noch immer die Aussagen der Ruderinnen auf. »Können Sie hier bleiben und ein Auge auf den Tatort haben, bis er völlig unter Wasser liegt, und dann wieder zurückkommen, wenn die Ebbe einsetzt?«, fragte Jessie.

»Fangen dann zum angemessenen Zeitpunkt auch die Überstunden an?«

»Natürlich.«

»Dann gehe ich auf Ihre Bitte ein.«

»Danke. Hier ist meine Karte – falls irgendwas Seltsames vorfällt und jemand auftaucht und Fragen stellt, dann notieren Sie die Einzelheiten, füllen ein FAP aus und rufen Sie mich an. Nur mich. Verstanden?«

»Ja, Ma’am.«

»Danke, PC Ahmet. Sie sind toll.«

***

Clare Mills stand am Grab ihres Vaters und lauschte auf das Schnauben der vorbeifahrenden Busse. Autos hupten, Motorräder röhrten, Jungs fluchten lauthals. Keine sehr friedliche Ruhestätte, dieses Whitechapel. Sie kniete sich nieder und wischte trockenes Laub weg. Hier liegt Trevor Mills. Liebender Ehemann und Vater. Geb. 13. Mai 1933. Gest. 27. April 1978. R.I.P. Als Clare zum ersten Mal das Grab gesehen hatte, war sie wütend gewesen, dass nicht »ermordet« darauf stand. »Gestorben« implizierte, dass er selbst an seinem Tod auf die eine oder andere Weise beteiligt gewesen war. Dass er ein schwaches Herz, schlechte Gene gehabt, sein Gemüse nicht gegessen hatte, bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen oder ertrunken war. Clare beobachtete einen Betrunkenen, der gegen einen einst majestätischen Grabstein urinierte. Der Kopf des Engels fehlte. Vandalismus war ein großer Gleichmacher.

Sie sah wieder zum kleinen, flachen rechteckigen Stein, unter dem die Gebeine ihres Vaters lagen. »Gute Neuigkeiten, Dad«, sagte sie leise zu sich. »Die Polizei nimmt uns endlich ernst. Ich werde Frank finden.« Ihre Mutter lag auf dem Woolwich-Friedhof. Auch so eine Katastrophe in einem Leben, das von den Fehlern anderer überschattet war. Selbst im Tod konnten sie nicht zusammensein. Clare hatte immer ein schlechtes Gewissen, dass sie ihren Vater häufiger besuchte als ihre Mutter. Schuldgefühle überkamen sie regelmäßig, wenn sie Woolwich betrat und die frischen gelben Rosen erblickte, die Irene pflichtgetreu abgelegt hatte. Irene war Mutters beste Freundin gewesen. Irenes Familie hatte Veronica aufgenommen, als deren Mutter sich aus dem Staub gemacht hatte. In gewissem Sinn war Irene auch Clares einzige wirkliche Freundin. Irene sprach nie davon, dass sie die Blumen ablegte. Clare wusste, dass es für sie noch immer mit Schmerz verbunden war, darüber zu reden. Irene vermisste ihre Freundin so sehr, wie Clare ihre Mutter vermisste – durch diese Gemeinsamkeit waren sie miteinander verbunden. Sie bildete ihre Basis. Irene hatte ihr bei der Suche nach Frank immer beigestanden. Hatte ihr wertvolle Hinweise gegeben und sie in den Arm genommen, wenn wieder nichts dabei herausgekommen war.

Ein Mann stand neben der Bank hinter ihr. Sie sah auf ihre Uhr. Mal wieder Zeit zum Aufbruch. Sie musste zur Arbeit. Stumm deutete sie einen Kuss an und wandte sich ab. Zwei Männer tauchten hinter einem von Efeu überwucherten Baum auf. Einer rollte eine dicke Decke zusammen, der andere fummelte an seinem Reißverschluss. Manchmal wurde ihr schlecht, wenn sie daran dachte, was auf dem Friedhof alles vor sich ging, aber sie hatte noch niemanden gesehen, der es in der Nähe vom Grab ihres Vaters getrieben hatte. Die Krypten waren am schlimmsten dran. Unerlaubter Sex: auch so ein Gleichmacher im Leben. Richter oder Maurer, sie sahen alle gleich aus, wenn sie die Hosen runterließen.

Clare nahm den Bus zur Arbeit, zog sich ihren Overall für die Morgenschicht an und begann mit dem Kehren. Sie mochte den Herbst. Das rote Laub brachte etwas Abwechslung in die Bierdosen und Zigarettenstummel.

Kapitel 2

Im Hof der Polizeidienststelle spülte Jessie sich den Schlamm von den Stiefeln, sie betrachtete das dreckige Wasser, das sich mit dem im Abfluss aufquellenden Seifenschaum vermischte. Über ihr lag das Fenster des Duschraums, aus dem die Gespräche der sich waschenden, von Dampf und dem Geruch teurer Seifen umhüllten Männer in den Hof getragen wurden. Jessie wünschte sich, sie würde rauchen; sie brauchte mehr Zeit, um nachzudenken, wie sie mit Mark verfahren sollte. Die Männer unterhielten sich über Fußball. Irgendwas über Transfergesetze. Dann hörte sie etwas, was sie aufhorchen ließ.

»Das war krass, oder?«

»Dieser Drecksjob war schon schlimm genug, aber als uns dann auch noch diese verrottete Qualle entgegenkam.«

»Innereien sind eine Sache, aber bei Quallen läuft’s mir immer kalt über den Rücken.«

Jessie sprintete los.

»Meinst du, das gehört zum Spielchen?«

»Wie, als so eine Art Metapher auf einen stinkenden Fisch?« Sie lachten.

»Verdammte Scheiße, Ma’am!«

»Welche Qualle?«, wollte Jessie wissen.

Die Jungs von der Spurensicherung schlitterten auf den nassen Kacheln umher, inständig darum bemüht, ihre Scham zu verbergen.

»Großer Gott ...«

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht ...«

»Das ist die Umkleidekabine für Männer!«

»Welche Qualle, verdammt noch mal?«

Ein ganz kecker Kerl legte die Hände an die Hüften. Jessie wich seinem Blick nicht aus.

»Die eine Qualle, die aus dem Skeletttorso gefallen ist.« Er lächelte herausfordernd.

»Haben Sie sie mitgebracht?«

»Nie und nimmer.«

Jessie drehte sich um und wollte schon gehen. Es war ihr deutlich anzumerken, wie sauer sie war.

»Das war doch nur stinkender, fischiger Glibber. Das war nichts.«

»Eine Qualle vielleicht, aber nicht zwei, nicht in der Themse.« Sie eilte in die Asservatenkammer, wo DC Fry den morgendlichen Fang begutachtete und beschriftete. »Wo ist die Qualle?«

»Was?« Er blickte auf.

»Ich habe Sie gebeten, alles im Umkreis der Leiche aufzusammeln. Es gab eine Qualle. Wo ist sie?«

»Ich hab doch nicht gedacht, dass Sie die auch meinen. Sie war tot, glitschig und war noch nicht mal in der Nähe von diesem Ding.«

»Wenn ich ›alles‹ sage, meine ich ›alles‹.«

»Tut mir Leid.«

»Und die Qualle, die aus dem Skelett gefallen ist?« Sein Gesicht war ein einziges großes Fragezeichen. »Sie sind nicht geblieben, bis die anderen fertig waren, wie ich es Ihnen gesagt habe?«

Er blickte sich nervös im Raum um.

»Scheiße!« Sie sah auf ihre Uhr. »Die Flut dürfte schon zurück sein. Eine zweite Chance haben wir nicht.«

»Tut mir Leid.«

Sie ignorierte seinen Tonfall. Wenn er es nicht ertragen konnte, von jemandem, der genauso alt war wie er, kritisiert zu werden, sollte er sich keine Fehler erlauben.

Jessie zog hohe Wasserstiefel an und streifte lange Gummihandschuhe über. Die Flut hatte eingesetzt, Wasser schlug über die Stelle, an der das Skelett gefunden worden war. Kleinere Teile des vom Fluss mitgespülten Treibguts bewegten sich im Rhythmus der Wellen: ein Kondom, eine kleine Plastikflasche, die Plastiktüte kürzlich verschlungener Käse-Zwiebel-Chips. Eine Stange war in den Schlick gerammt worden, um den Tatort zu markieren. Sie wollte es nicht riskieren, über die Stufen nach unten zu steigen und dann hundert Meter durch das Wasser zu waten. Es war bereits bei Ebbe schwierig genug gewesen. Jetzt fürchtete sie, in eine Unterströmung zu geraten, von den Beinen gerissen und in den Fluss hinausgezogen zu werden.

Als sie das Seil aus dem Rucksack holte, war sie froh um die Zeit, die sie mit ihren Brüdern an Bergwänden verbracht hatte. Sie schlang das Seil um einen Baumstamm, band einen Laufknoten, zog daran und warf, zufrieden mit dem festen Sitz, das Seil über die Ufermauer. Wasserstiefel gaben keine besonders guten Bergschuhe ab, ihr gesamtes Gewicht lastete auf den Armen, als sie sich abseilte. Unten versank sie in dem einige Zentimeter hohen Wasser, das genauso schnell abfloss, wie es kurz darauf zurückschwappte. Sie hatte nicht gewusst, wie stark die Strömung in der Themse war. Jedes Mal, wenn sie zurücksah, schien das Wasser die Mauer wieder höher hinaufgestiegen zu sein.

Jessie watete durch den Schlamm, sank bei jedem Schritt tiefer ein, bis sie die Stange erreicht hatte. Bei jeder abfließenden Welle tastete sie mit der flachen Hand die Stelle ab, an der ihrer Meinung nach das Gerippe gelegen haben musste. Es hatte keinen Sinn. Durch die dicken Handschuhe fühlte sich alles gleich an. Widerstrebend schälte sie einen der Handschuhe vom Arm und beugte sich wieder vor. Die schimmernde oberste Schlickschicht war wie dicker, rotziger Schleim. Sie zog die Hand zurück und wartete, bis das Wasser wieder weggesogen wurde. Dann grub sie mit den Fingern tiefer, bis sie auf das darunterliegende, festere Flussbett stieß. Mit einer Hand allerdings war es zwecklos, das Wasser kehrte zu schnell zurück. Sie zog auch den zweiten Handschuh aus und begann zu graben, trat in das Loch, das von der Suche nach dem Schädel übriggeblieben war – nichts.

Sie richtete sich auf und sah sich um. Weitere Kondome, Chipstüten und Coladosen. Weiter unten am Ufer glaubte sie etwas im Wasser gesehen zu haben. Sie stapfte so schnell wie möglich zu der Stelle. Es wurde gefährlich tief. Viele Angler ertranken in seichtem Wasser, nachdem sie von den mit Wasser voll gelaufenen Stiefeln nach unten gezogen wurden. Sie spürte das kalte Wasser, das gegen ihre Beine schlug. Dann sah sie es wieder. Eine halb aufgelöste Qualle, die mit dem übrigen Treibgut hin und her schwappte. Sie streckte die Hände nach dem glitschigen Klumpen aus, widerstand dem Drang, sie wieder zurückzuziehen, bildete mit den Fingern eine Kuhle und hielt das Ding fest, während die anströmende Welle zwischen ihren Unterarmen hindurchspülte. Das Wasser stand ihr mittlerweile über den Knien, der Schlick hatte sie nach unten gesogen. Ein Stiefel steckte fest. Jessie sah zum Ufer. Selbst wenn jemand oben auf dem Weg gewesen wäre, hätte er sie nur entdeckt, wenn er sich auf die Mauer gestellt hätte. Was sie hier trieb, lockte kaum Zuschauer an. Sollte sie in die Tiefe gezogen werden, würden die anderen es erst erfahren, wenn sie zwei Wochen später, von Flusswasser und Methan aufgebläht, an die Oberfläche trieb.