Detective Inspector Driver - Kaltes Blut - Gay Longworth - E-Book
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Detective Inspector Driver - Kaltes Blut E-Book

Gay Longworth

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Beschreibung

Hochspannung aus England: Der abgründige Thriller »Detective Inspector Driver – Kaltes Blut« von Gay Longworth jetzt als eBook bei dotbooks. Die Schattenseiten von Soho: dunkle Orte voller Ratten, Drogen-Deals und verlorener Seelen – hier, in den Kellerräumen einer alten Badeanstalt, wird die mumifizierte Leiche eines Mannes gefunden, der Mund noch zum letzten Schrei aufgerissen. Doch je mehr Nachforschungen Detective Inspector Jessie Driver anstellt, desto mehr Fragezeichen ergeben sich. Die Spuren führen sie bald zu einem viele Jahre zurückliegenden tragischen Ereignis, als ein kleiner Junge in diesem Badehaus ums Leben kam – und zu dem hochbrisanten Kidnapping-Fall eines Mädchens, der momentan ganz London in Atem hält. Gibt es eine Verbindung – oder läuft Jessie Driver Gefahr, sich in einem Sumpf aus Verbrechen zu verlieren? »D.I. Driver begeistert mit messerscharfem Verstand und spannungsgeladener Atmosphäre.« The Times Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Thriller »Detective Inspector Driver – Kaltes Blut« von Gay Longworth ist der zweite Band ihrer Reihe um eine hartgesottene Londoner Polizistin. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 509

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Über dieses Buch:

Ein Tatort, der ein schreckliches Rätsel aufgibt: Aus den schwarzen Fluten der Themse wird die Leiche einer Frau geborgen, Kopf und Gliedmaßen fehlen. Doch wer war die Frau – und wer ist zu solcher Grausamkeit fähig? Die junge Polizistin Jessie Driver weiß nur zu gut, dass die überhebliche Männerriege ihrer Kollegen sie an diesem brisanten Fall scheitern sehen will, aber Aufgeben kam für sie noch nie infrage. Schließlich findet sie heraus, dass es sich bei der Toten um die Ehefrau des internationalen Popstars P. J. Dean handelt: ein Mann, der sein Charisma gezielt einzusetzen weiß – und dahinter Abgründe zu verbergen scheint. Als weitere Morde folgen, beginnt für Jessie Driver ein Wettlauf gegen die Zeit, und nur Dean kann ihr auf der Suche nach der Wahrheit helfen...

Über die Autorin:

Gay Longworth wurde 1970 geboren, studierte in Birmingham und arbeitete zunächst einige Jahre als Brokerin, bevor ihr Wunsch zu schreiben so stark wurde, dass sie ihren Job kündigte, nach Cornwall zog und dort mit der Arbeit an ihrem ersten Thriller um Detective Inspector Driver begann. Heute lebt sie mit ihrer Familie in London.

In ihrer Thriller-Reihe um Detective Inspector Driver erscheint bei dotbooks auch der erste Fall: »Bleiche Knochen«.

***

eBook-Neuausgabe Mai 2022

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2004 unter dem Originaltitel »The Unquiet Dead« bei Harper Collins, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Haut und Knochen« bei Knaur.

Copyright © der englischen Originalausgabe 2004 by Gay Longworth

Published by arrangement with Rachel Mills Literary Ltd. & 42M&P Ltd.

Copyright © der deutschen Erstausgabe by Knaur Taschenbuch.Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.

Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Stefan Hilden, HildenDesign.de, unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock.com

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98690-002-1

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Gay Longworth

Detective Inspector Driver – Kaltes Blut

Thriller

Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet

dotbooks.

Für Alicia und Matt Suminski

Prolog

Jessie ahnte den Aufprall bereits, bevor sie ihn hörte. Es war der Geruch. Der Geruch von heißem, abgeriebenem Stahl, der Geruch von Angst. Oder hatte sie es noch vor dem Geruch gespürt, bevor die Scheinwerferlichter des Zugs aus der Dunkelheit aufgetaucht waren und sie das schwermütige Rattern gehört hatte? Sie befand sich in der U-Bahn-Station Oxford Circus und wartete auf die Bakerloo-Linie, die sie zum 11.15-Uhr-Zug nach Heathrow bringen sollte. Und noch während sie sich zum Ort des Aufpralls begab, wusste sie und sah sie in den Blicken der Wartenden, dass sie diesen Zug nicht mehr erreichen würde, um ihren aus Afrika zurückkehrenden Bruder abzuholen.

Eine junge Frau etwa in Jessies Alter lag mit dem Gesicht nach oben auf den Gleisen. Ihre Augen standen offen, ein dünnes Blutrinnsal sickerte aus dem Mundwinkel. Sie lebte noch. Jessie schickte nach Sanitätern, räumte die Bahnsteigkante von den entsetzten Passanten und wies die U-Bahn-Angestellten an, den Strom abzuschalten und den Bahnsteig zu sperren, bevor sie auf die Schienen hinuntersprang. Und erst als sie unten auf dem müllübersäten Beton stand, sah sie, was vom Bahnsteig aus nicht zu erkennen gewesen war. Die Frau starrte sie an, ihr Unterleib und die Beine allerdings lagen umgedreht auf dem Boden. Sie war vom Zug mitgeschleift und dabei wie ein Hefeteig in sich verdreht worden.

»Alles in Ordnung«, sagte die Frau. »Es ist gut. Es tut nicht weh.«

Einen Augenblick lang stand Jessie wie angewurzelt da. War es ein Wunder oder Teufelswerk, dass die Frau noch am Leben war?

»Die Ärzte kommen gleich«, sagte Jessie schließlich. Aber eigentlich spielte es keine Rolle mehr, niemand konnte ihr noch helfen.

»Schon gut«, sagte die Frau wieder. »Es tut nicht weh.«

»Ich heiße Jessie Driver, ich bin Detective beim CID. Können Sie mir Ihren Namen nennen?«

»Harriet.« Ein Blutbläschen platzte auf ihrer Lippe. Jessie wischte es weg.

»Harriet, ich bin keine Ärztin, aber ich glaube, es sieht nicht gut aus. Gibt es jemanden, den ich für Sie anrufen soll, jemanden, mit dem Sie reden möchten?«

Harriet schloss die Augen.

»Bleiben Sie bei mir«, sagte Jessie. »Die Sanitäter sind schon da.«

Die Sanitäter brauchten nicht lange, um zu bestätigen, was Jessie bereits wusste. Die Frau, die so verunstaltet zu ihren Füßen lag, hatte nicht mehr lange zu leben. Das Rückgrat hatte sich um sich selbst gewickelt und war gebrochen. Deshalb hatte sie keine Schmerzen. Sie spürte überhaupt nichts mehr. Ihr Zwerchfell sowie die inneren Organe waren völlig in sich verdreht.

»Das Einzige, was sie noch am Leben hält«, sagte einer der Sanitäter, »ist der Zug. Sein Gewicht hält den Schaden in Grenzen. Sobald wir ihn wegfahren, kommt es zu einem massiven Blutsturz, in dessen Folge zu Herzversagen. Sie wird sterben. Eigentlich sollte sie schon längst tot sein. Sie ist vor den Zug gesprungen, oder?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Jessie.

Der Sanitäter sah auf die Gleise hinunter. »Gut, sagen Sie ihr, sie soll Frieden mit sich schließen. Sie hat nicht mehr viel Zeit.«

Harriet hatte langes, dunkles Haar und leuchtend blaue Augen, der Blutdruck allerdings nahm stetig zu, so dass die Augäpfel mittlerweile blutunterlaufen waren. Jessie streichelte ihr das Haar, während sie ihr die Worte des Sanitäters mitteilte. Sie wusste nicht, wie die Frau darauf reagieren würde, mit einem Lächeln hatte sie allerdings nicht gerechnet.

»Ich bin ganz ruhig.«

Das ist der Schock, wollte Jessie sagen. Aber alles, was ihr einfiel, war, ebenfalls zu lächeln.

»Tut mir Leid, dass ich Ihnen so viele Unannehmlichkeiten bereite.«

»Kann ich jemanden anrufen – Ihre Eltern vielleicht?«

»Nein.«

Dieser Frau musste etwas Schreckliches zugestoßen sein: Etwas – oder jemand – hatte dafür gesorgt, dass ihr der Sprung von der Bahnsteigkante vor den einfahrenden Zug leichter gefallen war als zurückzutreten.

»Verstehe«, sagte Jessie. »Schon gut, wir müssen niemanden anrufen.«

»Ich dachte, ich hätte mehr Angst«, sagte sie. »Aber ich hab keine Angst mehr.«

Definitiv der Schock, dachte sich Jessie. Sie suchte nach den richtigen Worten.

»Bitte«, sagte die eigentlich schon tote Frau. »Ich brauche Ihre Hilfe.«

»Was immer Sie wollen.«

»In meiner Tasche ... der Brief ...« Sie hielt inne, ihr Atem wurde abgehackter. »Vernichten Sie ihn.«

»Wollen Sie das wirklich?«

»Es war ein Unfall ... ich bin runtergefallen. Bitte. Sagen Sie ... ihnen ... das. Ich bin ... runtergefallen.«

»Ich ...« Jessie setzte sich auf den Fersen auf. Sie kam sich so erbärmlich vor. Sie würde einen Bericht abfassen müssen. Papierkram. Zeugenaussagen aufnehmen.

»Tun Sie ihnen nicht weh ...« Sie murmelte etwas. »Ich bin gefallen ... die Wahrheit ... ich bin ganz ruhig ... glücklich. Tun Sie ihnen nicht ... Es tut nicht mehr weh. Ich werde an einem besseren Ort sein, dort ist es sicherer. Und warm ...«

»Harriet, das kann ich nicht tun.«

»Ich werde es wieder ausbügeln, für sie«, sagte sie plötzlich wieder mit klarer Stimme. »Mir ist vergeben worden, sie müssen sich selbst vergeben.« Ihr Blick flackerte, aber sie hielt die Augen geöffnet. Jessie drehte sich um. Keine zwei Meter entfernt sah sie die Handtasche liegen, unbeschädigt. Ihr schauderte. Unbekannte würden vor ihrem unbekannten Grab stehen. Sie sah sich um. Keinem war in dem Chaos die Tasche aufgefallen. Der Wunsch einer sterbenden Frau. Wer konnte denn bezeugen, dass sie freiwillig gesprungen war? Würde es wirklich eine Rolle spielen? Für die Londoner U-Bahn schon – lieber einen Selbstmord als einen Unfall. Ein Unfall hatte rechtliche Konsequenzen, er zog Untersuchungen über Sicherheitsvorkehrungen nach sich. Sie wollten dafür nicht geradestehen müssen.

»Es ist gut«, sagte Harriet wieder, leiser diesmal. »Es tut nicht mehr weh.« Jessie drückte ihr die Hand.

»Detective Inspector«, erklang von oben eine laute Stimme. Jessie sah auf. »Jetzt nicht ...«

»Sie können loslassen. Sie ist tot«, sagte er.

Jessie sah zu Harriet. »Aber sie hat doch eben noch ...« Ihr Blick war starr, auf ihren Lippen lag der Anflug eines Lächelns. Wäre sie in diesem Bruchteil einer Sekunde nicht vom Tod, sondern von einer Kamera überrascht worden, wäre es ein schönes Foto geworden. Fragend sah der Sanitäter zu Jessie.

»Tut mir Leid.« Jessie zog ihre Jacke aus und legte sie der jungen Frau, die Harriet hieß und soeben neben ihr gestorben war, über den Kopf.

»Es ist jetzt alles gut«, sagte Jessie leise. »Es ist vorbei.« Tod bedeutete Leere, Nichts, und das Nichts konnte ihr jetzt nicht mehr wehtun. Unter den Schmerzen würden nun jene zu leiden haben, die zurückblieben. So funktionierte das. Das war die wahre Bedeutung vom Leben nach dem Tod.

Ein Beamter der Bahnpolizei kam mit ihrer Lederjacke und einem Becher Kaffee auf sie zu.

»Hat die junge Frau Ihnen gesagt, was geschehen ist?«

»Nicht wirklich«, sagte Jessie. »Ich glaube, sie stand unter Schock.«

»Sie hat Ihnen nicht gesagt, warum sie gesprungen ist?«

»Sie sind sich also sicher, dass sie gesprungen ist?«, fragte Jessie und starrte auf die konzentrischen Ringe der Kaffeeoberfläche.

»Nein. Wir haben uns ihre Sachen angesehen, aber keinen Abschiedsbrief oder Ähnliches gefunden. Vielleicht gibt’s noch einen in ihrer Wohnung, aber das wäre sehr ungewöhnlich. Was hat sie Ihnen gesagt?«

Es ist gut. Es tut nicht mehr weh.

»Detective?«

»Bitte?«

»Was hat sie Ihnen gesagt?«

Jessie gab ihm den Schaumstoffbecher zurück und vergrub die Hände tief in den Taschen ihrer Lederhose. »Danke, aber in der Fastenzeit trinke ich keinen Kaffee.«

»Fastenzeit? Geht es Ihnen nicht gut, Detective Inspector?« Jessie sah zu dem aufgebockten Zug. Die Leiche war abtransportiert. Das Äußere. Die Hülle. Sie spürte das feste weiße Papier, auf dem die letzten Worte einer gequälten jungen Frau standen. Aber nicht ihr letzter Wille. Schließlich sah sie wieder zum Polizisten, dessen Stift über den Notizblock schwebte.

»Sie hat gesagt, sie ist runtergefallen.« Der Wind aus einer der Tunnelröhren zerrte an Jessies Hosenbein, ein anderer Zug auf einem anderen Gleis fuhr in eine andere Richtung davon.

Kapitel 1

Jessie bog in ihre Straße ein und sah schon von weitem zwischen den Säulen, die den Eingang zu ihrer Wohnung flankierten, die charakteristischen Wüstenstiefel.

»Bill!«, rief sie und rannte los. Die Stiefel verschwanden, und gleich darauf erschien ein großes, blondes, verdrecktes Etwas, das lächelnd durch das Eisentor auf den Bürgersteig trat. »Tut mir furchtbar Leid«, sagte sie und umarmte ihren Bruder.

»Sag’s mir nicht. Irgendwas ist dazwischengekommen«, begrüßte er sie.

»Sorry. Hast du lange am Flughafen gewartet? Ich hätte dir eine Nachricht schicken oder die Flughafenpolizei informieren sollen ...«

»Jessie, beruhige dich, ist doch nicht weiter schlimm.«

»Ich wollte dich abholen.«

»Du wirst es nicht glauben, aber ich hab im Ankunftsbereich noch nicht mal nach dir Ausschau gehalten«, sagte Bill lachend.

»An deiner Stelle wäre ich stinksauer. Ich hab mir extra den ganzen Morgen freigenommen.«

Jessie steckte den Schlüssel ins Schloss.

»Maggie ist also nicht da?«

»Nein, die wohnt nicht mehr hier. Warum? Bist du ausgehungert?«

»Ja, kann man so sagen.«

Sie schleppten Bills alten Seesack und eine Plastiktüte mit zollfreien Zigarettenstangen die Treppe hinauf. »Gab’s diesmal keine tolle französische Ärztin, mit der du dir die Zeit vertreiben konntest?«

»Mein Kollege war ein dicker Schotte namens Rob, den mochte ich zwar sehr, aber ich brachte es einfach nicht über mich, mit ihm zu vögeln.«

»Schwestern?«

»Alles Nonnen.«

Jessie verzog das Gesicht. »Du Armer. Na ja, wenn’s ein paar leichte Porno-Fantasien sein sollen – Maggie hat jetzt eine Late-Night-Show, wenn du willst, geb ich dir ihre Nummer. Allerdings fürchte ich, dass du ihr nicht mehr berühmt oder reich genug bist. Aber vielleicht gefällt ihr ja der Anblick deines Rezeptblocks.«

»Miststück!«

»Das hab ich alles von Maggie gelernt.« Jessie öffnete die Tür, und ihr Blick fiel auf ihrer beider Bild im Flurspiegel.

»Du bist so braun«, sagte sie, fast angewidert von ihrer eigenen blassen Hautfarbe.

Bill strich sich durch die Haare. »Selbst der Äquator hat so seine Vorteile.«

»Neben dir sehe ich aus wie ein Gespenst.«

Bill stellte den Seesack ab und deutete auf Jessies Haar. »Du siehst aus, als wäre dir ein Gespenst begegnet.«

Jessie versuchte, ihre Haare platt zu streichen. »Spar dir deine Kommentare! Ich lass es rauswachsen, im Moment ist es einfach in einem komischen Zwischenzustand.«

»Na, wenn du meinst.«

Jessie ging mit Bill in ein kleines italienisches Kellerlokal, das ihr älterer Bruder Colin mit Wein belieferte. Neben kostenlosen Getränken und aufmerksamem Service heimste Jessie stets auch überschwängliche Komplimente in stakkatohaftem Italienisch ein, was nach einem üblen Tag im CID eine wahre Wohltat war. An diesem Tag war es nicht anders, nachdem die Kellner herausgefunden hatten, dass Bill, eins neunzig groß und mit der Statur eines Ruderers gesegnet, zur Familie gehörte und kein eifersüchtiger Liebhaber war.

»Also, erzähl«, sagte Bill, nachdem er schnell ein halbes Glas Rotwein hinuntergestürzt hatte.

»Nein, du zuerst.«

»Aids. Tod. Aids. Armut. Aids. Hungersnöte, dazwischen immer wieder außergewöhnlich tapfere Menschen. Noch mehr Aids. Du bist dran.«

»Hast du meinen Brief nicht bekommen?«

»Mit der Post der Ärzte ohne Grenzen stimmt irgendwas nicht – alles bleibt in Paris hängen.«

»Na ja, ich hatte meinen ersten großen Fall. Hab ein paar ganz gute Entscheidungen getroffen und den Typen geschnappt, leider unterliefen mir aber auch ein paar nicht ganz so gute Entscheidungen. Und nun rate mal, was mehr im Gedächtnis haften blieb.«

»Haben diese nicht ganz so guten Entscheidungen zufällig mit einem bekannten Sänger zu tun, der zufällig mit dem ersten Opfer verheiratet war?«

Jessie runzelte die Stirn.

»Sogar in der Wildnis des Sudan fällt einem hin und wieder ein Klatschblatt in den Hände.«

Jessie ließ den Kopf sinken und stöhnte. »Ich will gar nicht daran denken, es ist einfach zu peinlich.«

»Dann bist du mit ihm also nicht zusammen?«

Ein Kellner brachte warmes Brot und Olivenöl, wovon sich Bill für einen Moment ablenken ließ. Jessie sah ihm beim Essen zu. P.J. Dean war wie ein alles platt walzender Wirbelwind, er hatte sie herumgeschleudert und aus der Bahn geworfen. Und er hatte allen Ernstes geglaubt, sie hätten eine Beziehung – ein Popstar mit einer Polizistin! Was einfach nicht gut gehen konnte. Deshalb war sie zu dem Entschluss gekommen, dass es für alle Beteiligten besser wäre, sich zu trennen. Davon war sie nach wie vor überzeugt, meistens jedenfalls.

»Also, bist du mit ihm noch zusammen?«, fragte Bill und riss eine weitere Brotscheibe auseinander.

»Ich versuche, mich nicht mehr mit ihm zu treffen.«

»Was soll das heißen, Jess?«

»Es heißt, dass ich es versuche.«

Bruder und Schwester sahen sich tief in die Augen. Bill senkte als Erster den Blick.

»Und wie läuft’s in der Arbeit?«

»Gut. Mit Detective Inspector Mark Ward geht es jetzt besser. Wir scheinen endlich eine gemeinsame Grundlage gefunden zu haben.« Diese gemeinsame Grundlage befand sich in einer Krypta auf dem Woolwich-Friedhof, in der sie beide mit angesehen hatten, wie ein Mann verblutet war. Aber diese Geschichte wollte sie ihrem Bruder noch nicht erzählen. »Mein Boss geht in Rente. Seine Stelle übernimmt eine Frau. Obwohl ich Jones bewundere und sehr, sehr schätze, muss ich zugeben, dass es mal ganz nett ist, eine Frau um sich zu haben. Und noch dazu eine, die im Dienstrang über mir steht.«

»Du meinst, das nimmt den Druck von dir?«

»Mehr als das. Ich werde jemanden an meiner Seite haben, der versteht, wie es ist, wenn man von einem Haufen Arschlöchern umgeben ist.«

»Jessie, du benimmst dich wie eine alte Meckerziege, was soll das? Kaum läuft’s nicht so, wie du’s gern hättest, schon schneidest du dir die Haare ab. Werde bitte keine von diesen verknöcherten Männerhasserinnen, wie man sie aus dem letzten Jahrhundert kennt.«

»Ich hab dir doch gesagt, ich lass sie rauswachsen.« Jessie schenkte sich Wein nach. Sie hatten die Flasche bereits zur Hälfte geleert und noch nicht mal einen Blick auf die Speisekarte geworfen. »Ich hasse Männer nicht, aber es ist nicht leicht, sie sind alle solche Arschlöcher ... na ja, einige zumindest. Wenn sie mehr so wären wie meine Brüder ...«

»Von denen zumindest einer eine Phobie gegen feste Beziehungen schiebt, dem es gefällt, in einem Drecksloch Gott zu spielen, von Menschen als Held verehrt zu werden, die gar keine andere Wahl haben, und gelegentlich aufwühlende Fantasien über Nonnen hegt? Das hoffe ich doch nicht.«

»Eine bestimmte Nonne?«

»Eine ganze Nonnenschar.«

Jessie nickte. »Ich glaube, wir sollten bestellen.«

Bill schenkte nach und lächelte verschwörerisch. »Du musst überhaupt nicht zurück zur Arbeit, oder?«

»Doch.«

»Aber ich hab dich acht Monate lang nicht gesehen. Ich werde nicht lange hier sein, und was hast du davon, die jüngste DI in ganz England zu sein, wenn du dich nicht hin und wieder abseilen kannst?«

Jessie dachte darüber nach. Er hatte Recht, es stand nicht viel an für sie, sie hatte Unmengen an Überstunden angehäuft und war unzählige Male für DI Mark Ward eingesprungen, wenn er sich im Pub rumtrieb. »Ich könnte Mark anrufen und ihn bitten, dass er mir den Rücken freihält ...«

»Wunderbar. Mehr Wein also.«

Am darauffolgenden Morgen ging Jessie zu Fuß zur Arbeit. Sie wagte sich nicht auf ihre Maschine, weil sie fürchtete, noch immer über der Promillegrenze zu liegen. Bill und sie hatten dann doch noch etwas zu essen bestellt, aber erst, nachdem die zweite Flasche schon fast geleert war. Sie hatten sich bis nach Mitternacht unterhalten und dabei kaum an der Oberfläche gekratzt. Bill arbeitete mittlerweile seit sechs Jahren für Ärzte ohne Grenzen, an Orten, an die sich nur die wenigsten hinwagten. Er hatte Menschen sterben sehen an Krankheiten, Hunger, Massaker und in einem solchen Ausmaß, dass es ihm geradezu absurd erschien, irgendwo in England eine hübsche Hausarzt-Praxis aufzumachen, wo er sich tagaus, tagein nur noch um kleine Wehwehchen zu kümmern hatte. Er war bekannt dafür, kranke Kinder durch Gegenden zu fahren, die von skrupellosen Aufständischen kontrolliert wurden, um sie sicher in einem internationalen Krankenhaus abzuliefern. Immer wieder setzte er sein Leben aufs Spiel, obwohl er wusste, dass er angesichts der immensen Probleme in Afrika nur sehr wenig ausrichten würde. Ihm gegenüber kam Jessie die eigene Arbeit geradezu lächerlich und unbedeutend vor. Sie investierte Monate ihrer Arbeitszeit und gewaltige Summen an Steuergeldern, um jemanden vor Gericht zu bringen, und selbst dann war nicht sicher, ob er auch wirklich verurteilt wurde oder ob die Haftstrafe überhaupt die richtige Antwort darauf war. In der Zwischenzeit kamen Tausende ums Leben, und die Schuldigen dafür – korrupte Staatsmänner, multinationale Unternehmen, die »erste« Welt – wurden niemals zur Verantwortung gezogen. Wenn es auf dieser Welt wirklich Gut und Böse gab, wusste sie, dann gehörte ihr Bruder eindeutig zu den Guten. Auch wenn er gewisse Fantasien über Nonnen hegte.

Jessie gab den in dieser Woche gültigen Sicherheitscode am Eingang zur Dienststelle ein und betrat das Gebäude. PC Niaz Ahmet wartete bereits auf sie. Seitdem Jessie ihn während des P.J. Dean-Falls zum West End Central CID hatte versetzen lassen, hatte sie ihn selten ohne heiteren Gesichtsausdruck gesehen. An diesem Tag wirkte er besorgt. Sehr besorgt.

»Was ist los, Niaz?«

»Eine Sechzehnjährige ist verschwunden. Ihre Mutter hat angerufen und nach Ihnen persönlich gefragt.«

»Nach mir? Ich hab mit Vermisstenfällen nichts zu tun, es sei denn ...« Sie biss sich auf die Zunge. »Wie lange wird sie schon vermisst?«

»Seit achtzehn Stunden.«

»Das reicht noch nicht.«

»Es handelt sich um Anna Maria Klein. Die Tochter von Sarah Klein.«

»Der Theaterschauspielerin?«

Niaz nickte und fügte dann hinzu: »Und engen Freundin von P.J. Dean.«

»Mein Gott.« Jessie senkte den Kopf. »Nicht schon wieder. Jeder durchgeknallte Star mit irgendwelchen Sicherheitsproblemen will mich persönlich sprechen, ich hab die Schnauze voll. Die sind doch alle verrückt.«

Niaz schüttelte den Kopf. »Hier scheint es sich um etwas Ernsteres zu handeln. Das Mädchen wollte sich mit Freunden auf einen Kaffee in Soho treffen und kam nicht mehr nach Hause. Sie hat nicht angerufen, sie hat auch sonst nichts mitgenommen.«

»Gab es Streit?«

»Nein.«

»Probleme mit dem Freund?«

»Na ja, soweit jedenfalls die Mutter weiß, nicht.« Niaz und Jessie erreichten ihr Stockwerk. »Sie wollen mir doch nicht sagen, dass Ms. Klein hier ist?«

Niaz senkte die halbmondförmigen Augenlider.

»Großer Gott!«, rief Jessie aus. »So früh am Morgen, dem bin ich nicht gewachsen.«

»Wieder einen Kater?«, fragte Niaz.

»Sagen Sie das nicht so! Zur Strafe dürfen Sie mir aus der Kantine einen großen Kaffee holen.«

»Ich dachte, Sie wollten in der Fastenzeit darauf verzichten?«

»Wollte ich. Dann fiel mir ein, dass ich mit der Fastenzeit nichts am Hut habe. Gott sei Dank. Sagen Sie ihnen, ich will ihn stark und süß und mit viel Milch. Und dass ich später zahle.«

»Das haben Sie gestern auch schon gesagt.«

Von Jessie kam nicht mehr als ein Grummeln.

»Ja, Ma’am.«

Jessie strich sich eine widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr, wappnete sich innerlich und drückte die Doppeltür auf, die zur Kriminaldienststelle führte. Am Anschlagbrett hatte jemand einen neuen Zettel aufgehängt: EINE ANDERE FRAU BEKOMMST DU IMMER. HIER ABER BEKOMMST DU NUR EINE CHANCE. Jessie stürmte daran vorbei. Sie hatte schon Schlimmeres gesehen. Und es würde auch nicht das Letzte sein.

Sie warf einen heimlichen Blick durch das Fenster in der Tür zu ihrem Büro und sah zwei aufgetakelte, stark geschminkte Frauen mittleren Alters vor ihrem Schreibtisch sitzen. Alternde Schauspielerinnen waren ein erbärmlicher Anblick, noch dazu an einem Morgen wie diesem, an dem Jessie kaum aus den Augen schauen konnte. Die beiden Frauen unterhielten sich angeregt. Eine von ihnen war Jessie fremd, die andere aber erkannte sie sofort als Sarah Klein. Sie hatte sie im Lauf der Jahre in zahlreichen Fernsehserien und Theateraufführungen gesehen. Die in letzter Zeit allerdings immer weniger geworden waren.

Mit einem Blick musterte sie Ms. Kleins Aufmachung, während sie die Tür aufstieß – Stäbchen-BH, laufmaschenfreie Strümpfe, dazu passende Schuhe, Handtasche, mehrfach aufgetragenen Lippenstift. Sie fragte sich, wie lange sie diesen Morgen zum Ankleiden gebraucht hatte. Zu lange jedenfalls, beschloss Jessie, wenn man in Betracht zog, dass die eigene Tochter vermisst wurde.

»Guten Morgen«, unterbrach sie die beiden.

»Jessie Driver!«, rief Sarah Klein und erhob sich. »P.J. hat gesagt, Sie ...«

Jessie streckte ihr die Hand entgegen. »Detective Inspector Driver«, schnitt sie ihr das Wort ab. Sie wollte ohne Umschweife auf den Punkt kommen, ohne spröde zu klingen.

»Sie müssen Sarah Klein sein.«

»Ja, natürlich. P.J. hat gesagt, Sie ...«

Jessie fiel ihr erneut ins Wort, während sie an ihrem Schreibtisch Platz nahm. Sie wollte seinen Namen kein drittes Mal hören.

»Bitte, konzentrieren wir uns auf das eigentliche Problem. Mein Kollege sagt, Sie glauben, dass Ihre Tochter verschwunden ist.«

»Ich weiß, dass sie verschwunden ist! Verschonen Sie mich mit diesem Polizistenquark. Ich habe mich direkt an Sie gewandt, damit ich dieses Prozedere nicht über mich ergehen lassen muss.«

»Das Prozedere ist da, weil sich die meisten Vermisstenfälle Gott sei Dank als simple Missverständnisse herausstellen.«

»Sie ist verschwunden, lassen Sie sich das gesagt sein. Sie hat ihr Handy abgeschaltet – das macht sie sonst nie, sie lässt es sogar im Kino an!«

Wie rücksichtsvoll, dachte sich Jessie.

»P.J. ist ein guter Freund von mir. Rufen Sie ihn an, wenn Sie mir nicht glauben.«

»Ms. Klein, es geht hier nicht darum, ob ich Ihnen glaube. Es geht hier darum, dass wir uns um die Sache in angemessener Weise kümmern. Was hat sie gesagt, als sie sich von Ihnen verabschiedet hat?«

»Bye, Mami, ich liebe dich.« Sarah Klein sprach es mit entrückter, leicht kindlicher Stimme. »Ich erinnere mich genau daran, weil es mir so seltsam vorkam.«

»Weil sie Ihnen gesagt hat, dass sie Sie liebt?«

»Nein«, erwiderte sie. »Sondern weil sie so was sonst nicht sagt, wenn sie nur mal kurz auf einen Kaffee weggeht. Sie hat mir auch gesagt, wann sie wieder zurücksein wollte. Normalerweise ist sie in solchen Dingen sehr vage, ständig fällt ihr was Neues ein, aber gestern meinte sie, sie wäre um fünf wieder zu Hause, weil sie etwas im Fernsehen sehen wollte.«

»Ihr fällt also ständig was Neues ein, sagen Sie?«

»Ja, aber ...« Ms. Klein runzelte die Stirn. Jessie starrte auf die perfekt geschwungenen Augenbrauen der Schauspielerin, die gegen die Wirkung des gespritzten Botox ankämpften. »Sie hätte angerufen. Sie ruft immer an – vielleicht nicht sofort, aber sie würde nie über Nacht wegbleiben, ohne mir vorher Bescheid zu sagen. Und selbst dann hätte sie sich mittlerweile längst gemeldet.«

»Es ist erst zehn Uhr morgens. Könnte es nicht sein, dass sie mit Freunden weg war, jemanden kennen gelernt hat und ...« Wie dies zartfühlend ausdrücken? »... noch immer dort ist?«

»Nie und nimmer.« Die Schauspielerin schlug mit beiden Händen auf die Armlehnen. »Anna Maria würde nie, nie ausgehen, ohne vorher nach Hause zu kommen und sich umzuziehen.«

Es klopfte an der Tür, gleich darauf kam Niaz mit einer dampfenden Tasse Kaffee herein. Jessie sog den Geruch ein. Niemals hatte Kantinenkaffee so gut gerochen. Aber sie kam weder dazu, ihn zu kosten, noch Niaz zu danken, denn plötzlich platzte Mark Ward ins Büro und stieß gegen Niaz, worauf dieser den Kaffee verschüttete. Ihr Kollege fluchte verhalten.

»Tut mir Leid«, sagte er und wollte sich rückwärts wieder entfernen. »Wusste nicht, dass Sie Besuch haben.«

Sarah Klein erhob sich. Die königliche Hoheit erhebt sich also, ging Jessie durch den Kopf, was sie bei Frauen und ausländisch aussehenden Mitbürgern nicht tat. »Macht nichts«, sagte sie und streckte die Hand aus. »Sarah Klein.«

Ward wirkte verwirrt.

»Was ist, Mark?«

»Keine Sorge, das hat Zeit«, sagte er, warf Jessie einen letzten hektischen Blick zu und ergriff die Flucht.

Jessie erhob sich. »Niaz, bleiben Sie bitte bei Ms. Klein. Nehmen Sie die Aussage auf, wir brauchen eine detaillierte Beschreibung von Anna Marias Kleidung, ihre Handynummer, die Namen ihrer Freunde und wo und wann sie sie treffen wollte. Und dann, Ms. Klein, schlage ich vor, dass Sie nach Hause gehen und warten. Bis heute Abend wird Anna Maria hoffentlich wieder aufgetaucht sein. Falls nicht, haben wir alles, um die notwendigen Schritte einzuleiten.«

»Das reicht nicht«, rief Sarah Klein aus.

»Mit den vorliegenden Informationen können wir uns die Aufnahmen der Überwachungskameras ansehen. Es sollte leicht möglich sein, ihren Weg zurückzuverfolgen, vorausgesetzt, Sie können uns die Informationen liefern.«

»Und dann schalten Sie die Presse ein?«

»Vielleicht«, sagte Jessie neugierig. »Warum?«

»Das ist der schnellste Weg, um größtmögliche Aufmerksamkeit zu erreichen – wenn es darum geht, wer sie gesehen hat und so. Ich selbst hasse die Presse ja, aber für Anna Maria tue ich alles.«

Was war mit diesen Leuten nur los? »Fangen wir mit dem an, worum ich Sie gebeten habe. Und dann sehen wir weiter.«

»Sie hat blonde Haare und trug ein Kleid von Dolce und Gabbana ...«

»Bitte«, sagte Jessie, während sie Niaz die tropfende Tasse aus der Hand nahm. »Erzählen Sie das Constable Ahmet.«

Sarah Klein sah kurz zu Niaz, aber sie war eine zu gute Schauspielerin, um sich ihre Enttäuschung anmerken zu lassen.

Wie Jessie vermutet hatte, wartete Mark Ward im Gang auf sie. Sie schloss hinter sich die Tür, neigte den Kopf und rollte mit den Augen, als würde sie gerade erwürgt werden. »Ich wette um fünf Pfund, dass die Tochter einfach nur abgehauen ist«, flüsterte sie. »Alles in Ordnung?«

»Weiß nicht – wie ist es gelaufen?«

»Wie soll es schon laufen, wenn man am Morgen als Erstes mit zwei abgehalfterten Schauspielerinnen zu tun hat?«

»Scheiße«, sagte Ward.

»Sagen Sie mir nicht, dass sie in einem Stück auftritt, das keiner sehen will. Sie glauben ja gar nicht, wie weit diese Leute gehen, nur damit sich an der Theaterkasse ein paar Leute mehr anstellen.«

»Aber genau das ...« Ward hielt inne, aber Jessie hatte den Luftzug bereits gespürt. Die Tür zu ihrem Büro war geöffnet worden. Sie drehte sich um. Sarah Kleins Klon beäugte sie mit einer ganz und gar zermürbenden Miene. Ganz klar, sie hatte alles gehört, was Jessie gesagt hatte. Jessie blieb nichts anderes übrig, sie versuchte es zu überspielen. Doch bevor sie sich auch nur zu einem Lächeln durchringen oder höfliche Platitüden von sich geben konnte, ergriff die wütende Frau das Wort.

»Das war nicht sehr beeindruckend.«

»Tut mir Leid, wenn Sie dieser Meinung sind, aber meiner Erfahrung nach ...«

Ward trat mit der Ferse gegen Jessies Absatz. Sie ignorierte die Warnung. Sie hatte genug von der Arroganz dieser Halbberühmtheiten, die stillschweigend annahmen, sie seien wichtiger als alle anderen und hätten deshalb eine Sonderbehandlung verdient.

»... sind in solchen Fällen ...«

»Wie wollen Sie diesen Fall beurteilen, wenn Sie noch nicht mal die richtigen Fragen stellen?«

»Wenn Sie noch was hinzuzufügen haben, dann, bitte, nur zu.«

Ward schob sie zur Seite und trat vor. »Driver, wahrscheinlich haben Sie noch nicht die Bekanntschaft ...«

»Nun mal halblang«, protestierte Jessie.

»Ich glaube, er versucht Ihnen zu sagen, dass Sie mal halblang machen sollten. Danke, Mark, aber ich denke, wir können das schon allein regeln.«

Jessie sah von ihrem Kollegen zu der stark geschminkten Frau und wieder zurück.

»Was regeln?«, fragte sie.

»Das genügt, Mark. Danke«, sagte sie im Befehlston. Und zu Jessies Verwunderung nickte Ward und zog ab. Unter Jessies Füßen tat sich ein kleines Loch auf, in das sie sehnsüchtig hineinstarrte – aber der Boden war fest und ließ ihr keinen Ausweg.

»DCI Moore«, sagte Jessie und streckte ihr die Hand entgegen. »Wir sind uns wohl noch nicht vorgestellt worden.«

»Nein. Scheint, dass Sie gestern Nachmittag bei meiner Einführung nicht anwesend waren. DI Ward sagte, Sie seien ...« Sie musterte Jessie von Kopf bis Fuß. »... indisponiert gewesen.«

»Scheiße« war alles, was Jessie dazu einfiel. Scheiße. Scheiße. Scheiße.

»Ich wäre nicht da, wo ich jetzt bin, wenn ich nicht den Unterschied zwischen ›indisponiert‹ und einem Kater erkennen könnte. Und Sie, DI Driver, haben einen Kater. Ich kann ihn förmlich riechen.«

Jessie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Eine Reihe weiterer Flüche füllte die Leere in ihrem Schädel, der voll mit fabelhaften Entschuldigungen hätte sein sollen.

»Ich gestehe Ihnen zu, dass man im Zweifel für den Angeklagten zu sein hat, und gehe also davon aus, dass Ihre Vorstellung dort drinnen Ergebnis Ihrer ...« Wieder hielt sie kurz inne. »... Indisponiertheit war. Wäre ich jedoch Ms. Kleins Anwältin – und genau das hätte ich sein können, wie Sie wissen –, hätte ich ihr zu einer offiziellen Beschwerde geraten. Behandeln Sie Verbrechensopfer nie wieder auf diese Art und Weise.«

Es würde ihr wohl nicht sonderlich helfen, wenn sie jetzt den Rückzug antrat. »Ich entschuldige mich«, sagte Jessie daher.

»Ich werde den Fall sofort von Niaz übernehmen.«

»Wer ist dieser Niaz überhaupt? Was hat ein Constable in Uniform hier im CID verloren?«

»Er wurde von Putney zum CID überstellt. Er erweist sich als äußerst vielversprechend, und ich hoffe, dass er die Prüfungen ablegt.«

»›Äußerst vielversprechend‹, wer beurteilt das?«

Jessie erwiderte darauf nichts. Sie würde es nicht zulassen, dass DCI Moore Niaz ebenfalls niederbügelte. Moore drehte sich auf ihren hohen Absätzen um und stöckelte davon. In Jessies Kopf drehte sich alles. Welche verdammte Einführung? Wo war Jones? Er sollte doch noch eine ganze Woche hier sein. Und warum hatte Ward sie nicht gewarnt? Sie stieß Wards Tür auf. Er riss die Hände nach oben, als bedrohte sie ihn mit einer Waffe.

»Sie ist gestern eine Stunde nach Ihrem Anruf aufgetaucht.«

»Warum haben Sie nicht zurückgerufen und mir gesagt, dass ich kommen soll?«

»Hab ich versucht, aber Ihr Handy war ausgeschaltet.«

Vage konnte sich Jessie daran erinnern, noch einige Nachrichten abgehört zu haben, als sie und Bill am Abend nach Hause gekommen waren. Aber da hatten sie schon seit zehn Stunden gebechert, und sie hatte sich in einem ziemlich miserablen Zustand befunden.

»Ich fühl mich beschissen.«

»Sie sehen auch beschissen aus. Ich wollte es Ihnen sofort sagen, aber ich wusste doch nicht, dass sie sich in Ihrem Büro versteckt.«

»Was hatte sie dort überhaupt verloren?«

»Weiß ich nicht. Aber vielleicht haben Sie beide ja ein gemeinsames Hobby.«

Verkatert und etwas begriffsstutzig runzelte Jessie die Stirn.

»Star-Fucking«, sagte Ward beschwingt.

»Ich werde das nicht mit einer Erwiderung würdigen«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen.

»Weil Ihnen dazu nichts mehr einfällt.«

»Was soll das, ist das heute der Tag, an dem alle über mich herfallen? Und was zum Teufel soll ›indisponiert‹ heißen?«

»Weiß ich nicht.«

»Sie haben dieser aufgetakelten alten Schachtel gesagt, ich sei indisponiert.«

Plötzlich riss Ward die Augen auf und schien am ganzen Leib anzuschwellen. Jessie wagte nicht, sich umzudrehen.

»Mark«, erklang die kühle Stimme von DCI Moore hinter Jessies linker Schulter. »Ich wollte Sie nur bitten, mich durch das Gebäude zu führen. Jones wird es auch heute nicht schaffen, ins Büro zu kommen.«

»Ja, Ma’am«, stieß Mark hervor, nachdem er eben noch den Atem angehalten hatte.

»Danke.« Jessie hörte, wie sich das Klacken der Absätze entfernte. Sie musste sich vorher auf Zehenspitzen angeschlichen haben. Dann verstummte das Klacken. Jessie machte sich auf das Kommende gefasst. »Übrigens, Driver, Sie sollten mal was wegen Ihrer Haare unternehmen.« Widerstrebend drehte sich Jessie um. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie zu einer Salzsäule erstarrte. »Auch wenn Sie keine Uniform tragen, repräsentieren Sie doch die Polizei. Und was noch wichtiger ist, damit werfen Sie auch kein gutes Licht auf Ihre Vorgesetzten, das heißt also, Sie sollten etwas mehr tun, als morgens aus dem Bett zu fallen und darauf zu hoffen, dass schon alles gut gehen wird.«

Hinter ihr schloss sich die Tür. Sie drehte sich zu Ward um.

»Ich bin am Arsch.«

Er zuckte mit den Schultern.

Sie hätte ihn umbringen können.

Bill und Jessie saßen auf ihrem Sofa, hatten die Füße auf dem Beistelltisch und Teetassen in der Hand. Weder ihr Kater noch der Tag hatten sich irgendwie zum Besseren gewendet. Bill hatte so getan, als könnte er sie trösten, nachdem sie schließlich zur Tür hereingefallen war, aber sie wusste, dass er im Grunde nichts davon verstand. Er gehörte nicht zu diesen Typen, den Fitnessstudio-Machos, mit denen Jessie Tag für Tag zu tun hatte.

»Also, was hast du den ganzen Tag getrieben, während ich mich nach Strich und Faden hab fertig machen lassen?«

»Schweinefraß gegessen und Videos geglotzt. Malcolm X, ein ausgezeichneter Film. Ich bin nie dazu gekommen ...«

Sie nahm die Fernbedienung zur Hand und stellte lauter.

»Schhh, das ist es.«

»Nun zu unserem Hauptthema«, sagte der Moderator. »Anna Maria Klein, einziges Kind der Schauspielerin Sarah Klein, wird vermisst. Das Mädchen war zum letzten Mal im Londoner Rotlichtbezirk gesehen worden ...«

»Das wird ihr gar nicht gefallen«, unterbrach Jessie.

»... wo sie sich mit Freunden in einem Coffee Shop verabredet hatte. Amanda Hornby ist jetzt dort. Amanda, was können Sie uns berichten?«

»Scharfes Teil«, sagte Bill. Jessie verpasste ihm einen Schlag.

»Guten Abend. Nun, von der Polizei ist im Moment sehr wenig zu erfahren. Anna Maria wurde heute Morgen von ihrer Mutter bei der Polizeidienststelle West End Central als vermisst gemeldet. Nachdem man der aufgelösten Mutter gesagt hat, dass man zunächst abwarten wolle, wurde sie dann am späten Nachmittag endlich ernst genommen.«

»Warum dieser Sinneswandel?«

»Sarah Klein hat anscheinend den gesamten Tag damit verbracht, die Freunde ihrer Tochter anzurufen. Es dauerte wohl etwas, bis sie jene erreichte, mit denen sich Anna Maria verabredet hatte. Die Freunde bestätigten, dass Anna Maria nie in diesem Coffee Shop hinter mir eingetroffen ist.«

»Was sie sehr beunruhigte?«

»Zunächst nicht. Denn ihren Aussagen zufolge warf Anna Maria ständig Pläne über den Haufen.«

»Siehst du? Völlig durchgeknallt«, sagte Jessie.

»Aber in Fällen wie diesen hängt doch alles vom schnellen Handeln ab«, wandte der Moderator ein.

»Das ist richtig. Jede Sekunde zählt, und es muss gesagt werden, dass viele Stunden verloren wurden, bis die Ermittlungen zu Anna Maria überhaupt aufgenommen wurden. Auf die Teenagerin kommt nun eine zweite Nacht zu, die sie nicht zu Hause verbringen kann, und ihrer Mutter bleibt nur die Hoffnung, sie sicher und wohlbehalten wieder zu sehen. Amanda Hornby, Soho, in London für Channel Five News.«

Jessie schüttelte den Kopf.

»Klingt ernst«, sagte Bill.

»Warte erst die Aufzeichnungen der Überwachungskameras ab, und dann sag mir, ob sie deiner Meinung nach wirklich entführt wurde. Die werden am Ende der Sendung gebracht, damit die Zuschauer vor der Kiste kleben bleiben.«

»Der Zynismus steht dir nicht, Jessie.«

»Das hat nichts mit Zynismus zu tun«, sagte sie und sah zu ihrem Bruder. »Sondern mit Intuition. Und wenn ich falsch liege, wird Moore meine Eingeweide als Strumpfhalter verwenden.«

Der Nachrichtenmoderator quasselte bis zur nächsten Werbepause weiter. Nach der Werbung wurden, wie von Jessie vorhergesagt, Videoausschnitte der Überwachungskameras gezeigt. Jessie hatte die Filme aller öffentlichen Kameras in Soho überprüft, die den Coffee Shop und die verschiedenen Straßen in der Umgegend abdeckten, sowie jene in der Nähe des Hauses, in der die Schauspielerin wohnte. Wären darauf verdächtige Vorgänge zu erkennen gewesen, hätte sie sich als Nächstes Zugang zu den nichtöffentlichen Kameras verschafft, die an den örtlichen Geschäften, Tankstellen und Bürogebäuden installiert waren. Jessie glaubte nicht, dass es dazu kommen würde. Um fünf Uhr nachmittags, nachdem sie Stunden damit verbracht hatte, die Aufzeichnungen Bild für Bild durchzugehen, entdeckte sie Anna Maria. Sie verließ am Anfang der Carnaby Street das Taxi, das sie am Haus ihrer Mutter abgeholt hatte. Daraufhin schlängelte sie sich durch das Gewühl zur Ecke Poland Street und Broadwick Street. Und dort, genau unter der Linse einer Überwachungskamera, hatte Anna Maria einige Zeit gewartet, bis sie sich in Richtung Marshall Street in Bewegung setzte, wo sie, außerhalb des Überwachungsbereichs der Kamera, einfach verschwand.

Bill und Jessie betrachteten die Tochter der Schauspielerin, die inmitten der hektischen Menschenmenge stand, sich kaum rührte und vor allem durch ihren pelzbesetzten Dolce- und-Gabbana-Mantel und ihre hochhackigen Stiefeln auffiel.

»Offensichtlich wartet sie auf jemanden. Vielleicht hat sie bei dem Treffen mit ihren Freunden was missverstanden«, sagte Bill.

»Wenn sie wirklich auf jemanden wartet, dann würde sie sich umsehen, einen Blick auf die Uhr werfen, zu ihrem Handy greifen und ihre Freunde anrufen. Aber nichts davon geschieht, sie steht einfach nur da. Und schau dir ihre Tasche an.«

»Ziemlich groß«, sagte Bill.

»Genau!«

»Aber das ist jetzt so Mode.«

»Bill, du warst monatelang fort, woher willst du wissen, was jetzt Mode ist?«

Bill grinste. »Hab ich dir nicht von der Stewardess auf dem Rückflug erzählt?«

»Du hast mit einer Stewardess Modetipps ausgetauscht?«

»So was Ähnliches.«

»Erinnere mich daran, dass ich dich meinen Freundinnen nicht zu nahe kommen lasse.«

»Dir wird gar nichts anderes übrig bleiben, wenn du dir wegen dieses Falls die Nächte um die Ohren schlägst.«

»Bill, es gibt keinen Fall, es sei denn, wir klagen sie wegen Vortäuschung einer Straftat an. Und hier mein letztes Indiz.«

Sie reichte ihm die Ausgabe des Evening Standard des vergangenen Tages. »Zeig mir eine Sendung um fünf Uhr, wegen der eine Sechzehnjährige sich von ihren Freunden verabschiedet und nach Hause geht. Es gibt keine. Anna Maria Klein treibt hier ihr Spiel mit uns, und ich vermute, dass ihre Mutter im Hintergrund die Fäden zieht.«

»Ich weiß nicht, Jess, in den Fernsehnachrichten macht sie einen sehr besorgten Eindruck.«

»Sie ist Schauspielerin. Es ist ihr Job, andere von sich zu überzeugen.«

Kapitel 2

Jessie stand früh auf, um sich die Haare zu waschen. Entschlossen, die Sache mit DCI Moore wieder in Ordnung zu bringen, kleidete sie sich entsprechend den Vorstellungen ihrer neuen Chefin. Aber kein Kleid – damit wäre es nicht nur extrem schwierig, Verbrecher zu jagen, sondern sie würde sich weiß Gott wie viele bissige Kommentare einfangen. Also entschied sie sich für ihren schwarzen Hosenanzug und hoffte, dass sie damit den Geschmack ihrer Chefin traf. Anscheinend war es ihr wichtig, dass Jessie gut aussah – nun, im Hosenanzug würde sie gut aussehen, auch wenn sie es sich selbst einreden musste. DCI Moore war offensichtlich eine harte Nuss. Zugegeben, man musste hart sein, wenn man in diesem Spiel erfolgreich sein wollte. Also würde Jessie nach ihrer Pfeife tanzen. Über den persönlichen Animositäten stand schließlich die Befehlshierarchie.

Sie steckte sich mit Spangen die Haare nach hinten und trug nur so viel Make-up auf, damit Frauen es bemerkten, Männer davon aber nichts mitbekamen. Sollte Anna Maria nach wie vor nicht aufgetaucht sein, war zu erwarten, dass Jessie an diesem Tag noch vor die Kameras treten musste. Als sie sich jedoch im Flurspiegel betrachtete, hätte sie sich am liebsten alles wieder vom Leib gerissen. Diese Art der Kleidung widersprach ihren selbst auferlegten Überlebensregeln. Die oberste davon lautete: Tarnung. Was man nicht sah, konnte man nicht angreifen.

Bill kam in Boxershorts aus seinem Zimmer, lächelte sie verpennt an und ging auf die Toilette. Sie beneidete ihn um seine Fitness. Je höher sie in der Polizei aufstieg, umso mehr Zeit verbrachte sie am Schreibtisch. Sie nahm sich vor, am Ende des Tages von der Arbeit nach Hause zu laufen, und ging in ihr zweites Zimmer, um die Joggingsachen zu holen.

»Mein Gott, Bill, du solltest hin und wieder mal ein Fenster öffnen«, schrie sie. »Es stinkt!«

»Tut mir Leid«, rief er, während Wasser durch die Toilette rauschte. »Wenn du noch einen Moment Zeit hast, lad ich dich zum Frühstück ein.«

Jessie sah auf ihre Uhr, während Bill ins Zimmer trat.

»Komm schon, nur was Schnelles um die Ecke. Es ist noch früh.«

»Ich dachte, du wolltest ausschlafen?«

»Ich bin ausgeschlafen. Ich bin es gewohnt, um fünf aufzustehen.«

»Also, gut – aber wirklich nur kurz.«

Jessie ging durch den ausgestorbenen Flur der Kriminaldienststelle und fühlte sich alles andere als wohl. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und lauschte den Verkehrsgeräuschen von der Straße. Keine Türen wurden aufgerissen und geschlossen, keine Funkgeräte krächzten, keine Telefone klingelten. Also stand sie wieder auf und ging zu dem vor kurzem ausgeräumten Büro von Jones. Einige Kollegen kamen gerade heraus. Vielleicht war sie ja paranoid, aber sie schienen sich wissende Blicke zugeworfen zu haben.

»Was ist los, Fry?«, fragte sie einen der vorbeischlendernden Detective Constables.

»Da fragen Sie lieber die neue Chefin«, murmelte er, bevor er den anderen zurief, dass sie sich in der Kantine treffen wollten. Als Jessie zur Tür kam, sah sie Ward am Schreibtisch des ehemaligen DCI sitzen. Er sah aus dem Fenster, durch das man einen herrlichen Blick über Mayfair zum Hyde Park hatte. Abends fiel das Licht der untergehenden Sonne herein, was aber bislang nur selten der Fall gewesen war, denn Jones hatte immer die Rollläden nach unten gezogen. Moore schien in dieser Beziehung andere Vorstellungen zu haben.

»Hallo, Mark, sind Sie endlich befördert worden?«

»Nein«, erklang eine mittlerweile vertraute Stimme. DCI Moore betrat durch das Seitenzimmer der Sekretärin das Büro.

»Guten Morgen, Ma’am. Hab ich was verpasst?«

»Ja«, sagte sie.

Okay, die Frau war also eine harte Nuss und nahm kein Blatt vor den Mund. Alles wunderbare Qualitäten in einer führenden Position, sagte Jessie sich. »Was ist los?«, fragte sie.

»Meinen Sie nicht auch, dass es unter den gegebenen Umständen klug gewesen wäre, frühzeitig zur Arbeit zu erscheinen?«

Es war erst halb neun, allerdings hielt Jessie es nicht unbedingt für besonders »klug«, darüber eine Diskussion vom Zaun zu brechen.

»Tut mir Leid.«

»Wir hatten bislang zweimal miteinander zu tun, Driver, und zweimal mussten Sie sich daraufhin entschuldigen. Soll das zum Dauerzustand werden?«

»Nein«, sagte Jessie. Sie straffte sich.

»Gut. DI Ward hat im Klein-Fall einige recht interessante Dinge zu Tage befördert. Mark, auch wenn Sie dafür Ihre Zeit opfern müssen, würden Sie DI Driver bitte wiederholen, was Sie heute Morgen den anderen bereits erzählt haben?«

Er versuchte sich zurückhaltend zu geben, er versuchte sogar Mitgefühl zu zeigen, aber nichts davon konnte verbergen, dass er sich ein wenig aufplusterte. Er genoss die Situation mehr, als es recht und billig gewesen wäre.

Jessie sah alles wieder den Bach runtergehen, was sie in den vergangenen Monaten an Kollegialität aufgebaut hatten. Sie zweifelte, ob er wirklich so hartnäckig versucht hatte, sie zu erreichen, wie er behauptete. Auch wenn ihr Handy keinen Empfang hatte, sie besaß noch einen Pager, und den hatte er nicht angepiept.

»Anna Maria Klein ist vorbestraft«, sagte Ward.

»In ihrem Alter?«

»In ihrem Alter kommt eine richterliche Weisung einer Vorstrafe gleich«, erwiderte Ward indigniert.

»Ich finde es bedauerlich, dass Sie sich das nicht schon gestern angesehen haben«, sagte Moore.

Jessie wollte sich nicht noch mal entschuldigen. »Weswegen?«, fragte sie Ward.

»Drogenbesitz.«

»Dope?«

»Das macht die Sache nicht weniger verwerflich«, sagte Moore. »Wer mit fünfzehn Drogen kauft, gibt Anlass zu ernster Sorge.«

»Das will ich gar nicht bestreiten, aber man sollte die Umstände nicht außer Acht lassen. Einmal Stoff zu kaufen, weil man vor seinen Freunden angeben und ihnen zeigen will, wie ›in‹ man ist, lässt sich doch nicht mit einem Überfall auf einen Rentner vergleichen, damit man seine Cracksucht finanzieren kann.«

»Kennen Sie Dufour’s Place?«, fragte Moore, ohne auf Jessies Anmerkung einzugehen.

»Ja, eine Sackgasse hinter der Marshall Street, sie führt nirgendwohin.«

»Sie mag nirgendwohin führen, Driver, aber dort steht, wie Mark uns heute Morgen erklärt hat, ein historisches Gebäude.«

Jessie sah zu Ward. Sie erhoffte sich von ihm Unterstützung, musste aber enttäuscht feststellen, dass er sich sehr eifrig mit den Papieren auf seinen Knien beschäftigte. Sie wartete. Er blickte nicht auf.

»Ich nehme an, Sie sprechen von den Marshall Street Baths. Wurde, glaube ich, in den zwanziger Jahren als öffentliche Badeanstalt errichtet und bis Ende der Neunziger als Schwimmbad genutzt. Bis es vom Gesundheitsamt geschlossen wurde. Seitdem überlegt die City of Westminster, was damit geschehen soll. Das Gebäude steht unter Denkmalschutz ...«

»Und wird von Dealern und Drogensüchtigen genutzt«, fiel Ward Jessie ins Wort.

»Ich dachte, die Drogenpolizei hätte das Problem in den Griff bekommen?«

»Drogenprobleme lassen sich nicht so schnell aus der Welt schaffen«, sagte Moore und setzte sich auf die Kante von Jones’ altem Schreibtisch.

»Normalerweise kümmert sich ein Hausmeister namens ...« Ward sah in seinen Notizen nach. »... Don Firth um das Bad und sieht nach dem Rechten. Aber er ist seit drei Wochen krank gemeldet.«

»Uns liegen verlässliche Informationen vor, dass die Junkies zurück sind«, sagte DCI Moore.

Die Vertraulichkeiten zwischen Moore und Ward wurden für Jessies Geschmack ein wenig zu plump. »Also, Mark, was ist Ihre Meinung dazu?«

»Anna Maria hat eine Verabredung mit ihrem neuen Dealer. Der taucht nicht auf, also geht sie zu den Marshall Street Baths, wo sie, wie sie weiß, was kaufen kann.«

»Das ganze Gebäude ist doch abgesperrt«, warf Jessie ein.

»Wenn Junkies und Dealer reinkommen, schaffen das andere auch.«

Was Jessie glatt abgestritten hätte – nicht mit derart hohen Absätzen.

»Wir befürchten, dass ihr in diesem Gebäude etwas zugestoßen ist«, sagte Moore.

»Verstehe«, antwortete Jessie. »Was soll ich jetzt tun?«, fragte sie. Sie kannte die Antwort. Sie hatte es bereits in ihren wissenden Blicken gesehen.

»Nichts. Der Fall gehört DI Ward. Es handelt sich um eine sehr sensible Angelegenheit, bei der man im Rampenlicht der Öffentlichkeit steht, wahrscheinlich ist es besser, wenn Mark den Fall übernimmt, bis das Debakel des letzten Jahres vergessen ist.« Jessie versuchte sich nichts anmerken zu lassen. »Sie sind nicht zufrieden? Gestern schienen Sie an dem Fall nicht sonderlich interessiert gewesen zu sein.«

Sie war nicht zufrieden. Nicht interessiert zu sein und ausgeschlossen zu werden waren zwei verschiedene Dinge. Sie hatte es sich mit Moore verschissen, musste sie sich eingestehen, was sie ganz allein auf ihre eigene Kappe nahm. Trotzdem konnte sie nicht verstehen, warum sich Ward voller Verve vordrängelte. Nur für den Fall, dass sie selbst doch paranoid sein sollte, versuchte sie es mit einem letzten Lackmustest – mit Vernunftgründen.

»Ma’am, nichts, überhaupt nichts in Anna Marias Verhalten deutet darauf hin, dass sie auf jemanden gewartet hat«, sagte sie. »Die armseligen Typen in den Marshall Street Baths fallen über niemanden her. Die sind dort, weil sie ein bisschen Kohle aufgetrieben haben, um sich Stoff zu besorgen, und jetzt nur darauf aus sind, sich einen Schuss zu setzen, der sie dann sowieso außer Gefecht setzt.«

»Das trifft nicht auf die Dealer zu«, widersprach Ward.

»Und Anna Maria musste sofort aufgefallen sein.«

»Genau. Man kauft nicht im Kunstpelzmantel und mit fünfzehn Zentimeter hohen Absätzen am helllichten Tag Drogen.«

»Sie haben nicht gesehen, was sie getragen hat, als sie das letzte Mal geschnappt wurde«, warf Moore ein.

Jessie wusste, wenn sie auf verlorenem Posten stand. »Was haben Sie jetzt vor?«

»Wir werden die Marshall Street Baths durchsuchen«, sagte Moore. »So schnell wie möglich.«

»Und Sie glauben wirklich, sie dort zu finden?«

Ward und Moore tauschten Blicke aus. »Wir können nur hoffen, dass es nicht zu spät und sie noch am Leben ist.«

Sie hatten den Test nicht bestanden. Jessie war nicht paranoid.

Tausend Argumente und Gegenargumente schossen Jessie durch den Kopf, als sie in ihr Büro zurückging. Wir befürchten, dass ihr etwas zugestoßen ist? Wir können nur hoffen, dass sie noch am Leben ist? Wir? Moore war noch keine vierundzwanzig Stunden im Dienst, und schon waren sie beim ›wir‹.

Wo zum Teufel steckte Jones? Er hätte sie nie und nimmer so in die Wüste geschickt, er hätte ihr was Aufmunterndes gesagt, ihr eine Warnung zukommen lassen – dass DCI Moore zu jenen Frauen gehörte, die hinter sich die Leiter hochzogen. Klar, natürlich bekam Ward den Fall, wenn Jessie Moores provokant übereinander geschlagene Beine auf dem Schreibtisch nicht bewunderte. Leuchtete ein, dachte sich Jessie, während sie unbewusst die Spangen löste und ihr die Fransen ins Gesicht fielen. Sie wäre bereit gewesen, nach Moores Pfeife zu tanzen, aber doch nicht, wenn sie die Einzige war, die das tat. Jessie ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen, sie fühlte sich leer und ein wenig verunsichert. Jones hatte es geschafft, dass die Unterschiede zwischen ihr und Ward produktiv umgesetzt wurden. Unter seiner Führung waren Ward und Driver ein ziemlich gut austariertes Team geworden. Nicht guter Bulle, schlechter Bulle, sondern alter Bulle, neuer Bulle. Wenn Moore und Ward nun zusammen unter einer Decke steckten, würde das, was sich bislang so gut ergänzt hatte, wieder gegeneinander arbeiten. Ein entsetzlicher Gedanke. Ward und Moore zusammen unter einer Decke, im wahrsten Sinne des Wortes.

»Wenn das geschieht, lass ich mich versetzen«, sagte sie laut.

»Wenn was geschieht?«

Jessie sah auf. Ward hatte mit dem Fuß die Tür aufgedrückt. In den Händen hielt er einen Karton mit Akten.

»Ha, danke für Ihre Unterstützung vorhin.«

»Was hätte ich denn machen sollen? Zu Ihnen aufs Schafott klettern?«

»Nein. Sie hätten sich einfach wie ein vernunftbegabtes Wesen benehmen und Ihre Nase aus Moores Arsch ziehen können.«

»Mein Gott, Sie machen sich Sorgen, weil Sie nicht mehr der Liebling des Lehrers sind.«

»Mark, hören Sie sich mal selbst zu?«

»Sie lassen sich versetzen, wenn was geschieht?«

Sie versuchte die Spannung durch ein Lächeln abzubauen.

»Kein Grund zur Aufregung, ich gehe nirgendwohin.«

Aber Ward wollte nicht, dass die Spannung nachließ.

»Wenn was geschieht?«

»Wenn Sie die Leiche von Anna Maria in den Marshall Street Baths finden«, erwiderte sie kühl.

»Sind Sie bereit, das als offizielle Wette laufen zu lassen?«

»Was ist los mit Ihnen? Seit Tagen benehmen Sie sich einfach beschissen«, sagte Jessie.

»Man muss dafür kein Einstein sein. Wenn wir ihre Leiche in der Badeanstalt finden, lassen Sie Ihren Arsch versetzen.«

»Und wenn nicht?«

»Schlagen Sie was vor«, sagte er selbstsicher.

Erst jetzt dämmerte Jessie, was Ward mit dem Karton voller Akten vorhatte. Es waren seine Akten, aus seinem Büro. Seinem alten Büro: der gleichen Besenkammer wie ihr Zimmer, das direkt auf der anderen Gangseite lag.

»Ich bekomme Ihr Büro.« Er sah über die Schulter zurück und lächelte. »Nein, Mark. Ihr neues Büro. Oben.«

»Wer hat es Ihnen erzählt?«

Jessie lächelte traurig. Hatte er wirklich eine so geringe Meinung von ihr als Polizistin? Die Tatsache, dass sie ihn in Anwesenheit der neuen DCI an Jones’ Schreibtisch hatte sitzen sehen, die Tatsache, dass er jetzt Umzugkartons schleppte – all diese Indizien reichten offensichtlich noch nicht aus. »Nur so eine Eingebung«, sagte sie. »Okay, abgemacht: meine Versetzung gegen Ihr Büro.« Jessie erhob sich.

»Sie schlagen ein?«, fragte Ward.

»Sie meinen es ernst, Mark?«

Ward stellte den Karton auf Jessies Schreibtisch ab.

»Ja«, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen. Etwas geistesabwesend schlug Jessie ein. Er lachte. »Ach, und übrigens, Jessie, es geht hier nicht um die Versetzung aus dem CID, sondern um eine Versetzung aus dem West End Central. Dann bin ich Sie ein für allemal los und muss mir Ihretwegen nicht mehr die Haare raufen.«

»Mark, Sie haben keine Haare mehr.«

Ward starrte sie finster an. Sie zuckte mit den Schultern.

»Was denn? Sie haben damit angefangen. Vergessen Sie das nicht.«

Ward hatte Beamte im Umkreis des Gebäudes, auf dem Dach und im obersten Deck des Parkhauses an der Poland Street postiert. Das Drogeneinsatzkommando hatte ein Team geschickt, das sich nun zu Wards Männern vor der mit einer Kette abgesperrten Doppeltür der alten Badeanstalt gesellte. Alle trugen Schutzausrüstung. Die Handfesseln schimmerten vor den schwarzen Splitterschutzwesten, die Funkgeräte knarrten vor Anspannung. Ein SOKO-Team wartete bei seinem Bus. Die Straße war abgeriegelt, was die Aufmerksamkeit der Büroangestellten in den umliegenden Gebäuden auf sich zog. Alle warteten auf den Startschuss.

Jessie saß im Überwachungsraum und sah sich alles live auf Video an. Sie war eingewiesen und wäre sofort einsatzbereit gewesen. Ein leicht vornüber gebeugter Mann mit dickem Schnauzer suchte an einem großen Ring einen Schlüssel aus, steckte ihn in das Vorhängeschloss an der Kette, drehte ihn herum und zog an. Die Kette glitt wie eine Boa constrictor, die sich von einem Baum fallen ließ, zu Boden. Die Polizisten gingen in Zweiertrupps vor. Die Videokamera folgte ihnen. Der erste Raum war das Foyer mit einem Kiosk aus Holz und Glas. Eine der Türen hing schief an den verrosteten Angeln. Der Boden war mit rautenförmigen Kacheln belegt, die ein graphisches Muster bildeten, wie es sonst in den Eingängen zu eleganten viktorianischen Häusern zu sehen war. Pfefferminzgrün. Kobaltblau. Gebranntes Sienna. Schwarz und Weiß. Die einst majestätisch wirkenden Fenster waren von einer Dreck- und Staubschicht überzogen und wurden von dickem Maschendraht geschützt. Die Kamera stellte sich automatisch auf die sich verschlechternden Lichtverhältnisse ein. Sie waren durch das Portal einer Zeitmaschine getreten und befanden sich nun in einer längst untergegangenen Epoche. In einer viktorianischen Badeanstalt, in die die schmutzstarrende Bevölkerung in Massen strömte. Das Team drang weiter ins Gebäude vor.

Das Bild wurde unscharf, dann kam ein neuer Ausschnitt ins Blickfeld.

»Mein Gott ...«, hörte Jessie Fry murmeln, »ist irgendwie gespenstisch.« Jessie sah auf den Bildschirm. Das Becken war riesig, eine mit Marmorfliesen belegte Vertiefung im Boden. Die Schwimmbahnen waren ordentlich mit schwarzen Kacheln markiert. Das große Becken war nun leer, nur an der tiefsten Stelle im hinteren Bereich stand eine schleimig grüne Brühe. Die hohe, von einer Glaskuppel überspannte Decke war mit Moos und Ablagerungen gesprenkelt. Beide Seiten des leeren Beckens wurden von Zuschauertribünen flankiert. Das gesamte Gebäude sah aus, als würde es schlafen, als wartete es nur darauf, dass die Menschen zurückkehrten. Als wartete es aufs Leben.

Männer in Watstiefeln begannen in einer Linie durch das Becken zu schreiten. Als sie den dunkelgrünen Tümpel erreichten, blieben sie kurz stehen. Jemand zählte bis drei, und alle traten einen Schritt vor. Jessie verzog das Gesicht, als sie sah, wie die Stiefel immer tiefer ins Wasser eintauchten, während sie mit Stangen darin herumstocherten. Dann ein Schrei. Jessies Herzschlag beschleunigte sich. Die Reihe hielt an. Jemand zog ein durchtränktes, vergammeltes Stück Stoff hoch. Eine Decke. Allgemeine Aufregung war zu spüren. Jeder Polizist wusste, dass Leichen gern in Decken eingewickelt wurden. Die Reihe setzte sich wieder in Bewegung, aber sie erreichte das Beckenende, ohne etwas zu finden. Ward befahl ihnen, umzudrehen und die Suche zu wiederholen. Wieder nichts. Jessie sah zu, als die Kamera ihnen zum zweiten, kleineren Becken folgte, das sich in einem wesentlich schlechteren Zustand befand. Sie hörte das tropfende Wasser, noch bevor die Kamera zur Geräuschquelle schwenkte. Wasser lief von der Decke über die linke Wand nach unten. Das Gebäude musste schon seit geraumer Zeit undicht sein, denn die gekachelte Wand war von einer dicken, grünen Schleimschicht überzogen. Auch in diesem Becken hatte sich im tiefen Bereich Wasser angesammelt. Die Männer in den Watstiefeln sprangen hinunter und marschierten zum Wasser. Die Suche begann von neuem.

Unterdessen musste das Drogeneinsatzkommando fündig geworden sein, denn Menschen – oder Wesen, die Menschen ähnelten – wurden nach draußen gezerrt oder getragen. Dort warteten bereits Sanitäter und Sozialarbeiter. Sie nahmen sich der traurigen, ausgemergelten Gestalten an, die mit ihrer milchig-weißen, von offenen Stellen und Ausschlägen überzogenen Haut etwas Geisterhaftes an sich hatten. Die Kamera ließ ihr prüfendes Auge über sie schweifen und suchte nach Anna Maria, ohne sie zu finden. Jessie, fast einen Kilometer weit entfernt, lief ein Schauer über den Rücken. Nur wenige der Junkies hatten noch so viel Energie, um selbst zu gehen. Keiner von ihnen wäre jemals zu der gewaltigen Kraftanstrengung in der Lage gewesen, einen anderen Menschen zu töten.

Das Team durchsuchte nun, Stockwerk für Stockwerk, die oberen Gebäudebereiche. Es drang in einen kleinen runden Raum mit einer Glaskuppel ein, der für einige Zeit im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Eines der Glassegmente war zersplittert, der mittlerweile gleichmäßig niedergehende Regen sprühte herein. Einige Junkies waren in ihrer Verzweiflung über das Dach und durch die Glaskuppel geflohen. Aber nicht Anna Maria. Dessen war sich Jessie sicher. Darauf folgte ein langer Raum, in dem viele der Obdachlosen sich zusammengekauert hatten. Der Linoleumboden war mit menschlichen Fäkalien übersät. Was die Kamera jedoch heranzoomte, waren die Ausscheidungen von Ratten. Den Geruch, der dort herrschte, wollte Jessie sich gar nicht erst vorstellen. Moore hatte in einer Hinsicht Recht gehabt: Drogenprobleme ließen sich nicht so schnell aus der Welt schaffen.

Im Einsatzteam ging man mittlerweile davon aus, dass die Durchsuchung abgeschlossen war. Sie waren ganz oben gewesen und hatten nichts gefunden. Keiner der Junkies hatte so viel Energie aufgebracht, um die Treppenstufen hinaufzusteigen, alle hatten sich einfach dort auf dem Boden niedergelassen, wo sie das Gebäude betreten hatten. Plaudernd marschierten die Polizisten hinab ins Foyer, dann jedoch verstummten sie, als sie in den Kesselraum gerufen wurden, zum Herz der Badeanstalt. Jessie war noch nicht aus dem Schneider.

Als die Person, die die Kamera hielt, den Kesselraum betrat, begann Jessie sich zu entspannen. Es war, als kehrte man in die Moderne zurück. Hell strahlten die elektrischen Lichter, die Wassertanks waren neu und mit glänzend rotem Schutzlack überzogen, die Abflussrinnen sahen aus wie ziehharmonikaartig aufgefaltete Silberfolie, während das Leitungsgewirr an die Schokoladenfabrik von Willy Wonka erinnerte. Es war sofort ersichtlich, dass sich niemand an den Wassertanks zu schaffen gemacht hatte. Es handelte sich um einen geschlossenen Wasserkreislauf, keine Schraube, keine Niete war entfernt worden, seitdem die Anlage installiert worden war. Niemand hatte mit dem brühend-heißen Wasser irgendwelche Beweise vernichtet.

Jessie stellte sich bereits den Ausblick von ihrem neuen Büro vor. Ein schöner Sonnenuntergang hatte für sie durchaus etwas Religiöses. Sie glaubte an den Kosmos, an die Gesamtheit der Welt, an das, was sie sehen und spüren konnte. Das Meer, die Luft, die Sterne, den Mond, die Sonne. Und mitzuerleben, wie sie unterging, erfüllte sie mit innerer Ruhe. Sie fühlte sich eins mit der Weite des Universums und spürte gleichzeitig, wie unendlich klein sie selbst war. Es war eines ihrer Heilmittel gegen einen schlechten Tag im CID. Hatte sie erst mal das Büro im oberen Stockwerk, könnte sie sich den Umweg zum hochgelegenen Abschnitt des Westway sparen, von dem aus sie den riesigen, roten Sonnenball sehen konnte, wenn er unter die Skyline von Westlondon fiel. Dann würde sie jeden Tag, ganz für sich allein, dieses Schauspiel genießen können.

»Es gibt noch einen Kesselraum«, kam eine Stimme über Funk. »Den ursprünglichen von 1930. Wird seit 1953 nicht mehr benutzt, aber man kann noch runter.« Jessie riss sich aus ihren Träumereien. Es war der Mann mit dem Schnauzer. Der Mann mit dem Schlüsselbund. Er musste der Hausmeister sein, dachte Jessie, auferstanden vom Krankenbett, um sich dieses blödsinnige Spektakel nicht entgehen zu lassen. »Liegt einen Stock tiefer. Ich geh da nur runter, wenn’s gar nicht anders geht.«