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Ob Nietzsche oder Heidegger, ohne den Einfluss der Klassiker der deutschen Philosophie wäre die Entwicklung der großen französischen Theorien im 20. Jahrhundert kaum vorstellbar. Doch worin besteht das deutsche Denken, und welche Fragen verleihen ihm weiterhin Aktualität? Auf Initiative von Jan Völker treffen sich mit Alain Badiou und Jean-Luc Nancy die beiden wichtigsten französischen Philosophen der Gegenwart zum ersten Mal zu einem gemeinsamen intellektuellen Austausch: In ihrem ebenso konzentrierten wie gedankensprühenden Dialog nehmen die beiden Philosophen die deutsche Denktradition anhand von Kant, Hegel, Heidegger und Adorno unter die Lupe und gleichen ihre Meinung zu den verschiedenen Theoriekonzepten ab. Dabei entspinnt sich nicht nur eine kontroverse Debatte über Aktualität, Relevanz und Überlebtheit der deutschen Denker, sondern auch eine zugängige wie originelle Einführung in die Klassiker der deutschen Philosophie, in deren Verlauf auch die Theorien Badious und Nancys Kontur gewinnen und an deren Ende die Frage nach dem Sinn von Philosophie überhaupt aufscheint.
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Seitenzahl: 105
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Deutsche Philosophie
Fröhliche Wissenschaft 100
Alain Badiou und Jean-Luc Nancy
Ein Dialog
Herausgegeben, aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Jan Völker
Das Gespräch fand am 30.1.2016 im Rahmen einer Konferenz an der Universität der Künste (UdK) in Berlin statt. Herzlicher Dank gilt zunächst Alain Badiou und Jean-Luc Nancy, die sich auf diese umfassende Auseinandersetzung eingelassen haben und bereit waren, den Text anschließend noch einmal zu überarbeiten. Sie waren zudem einverstanden, zwei weitere Fragen – zu Adorno und zur Gegenwart der Philosophie – zusätzlich zu beantworten, die dem hier abgedruckten Text eingefügt wurden. Die Tagung an der UdK wurde von der DFG finanziert, der an dieser Stelle ebenfalls für die Ermöglichung dieses Projekts gedankt sei. Schließlich gilt der Dank Alexander García Düttmann, der wesentlich an der Ermöglichung und Realisierung dieses Gespräches beteiligt war.
Deutsche Philosophie
Nachwort
JAN VÖLKER: Zu Beginn würde ich gerne eine recht allgemeine Frage stellen. Für euch beide spielt die deutsche Philosophie eine große Rolle in euren Werken. Genauso wie die Frage nach der Aktualität der Philosophie, der Aktualität ihrer Einmischung in die Gegenwart. Wie beurteilt ihr den Zustand des philosophischen Verhältnisses zwischen Frankreich und Deutschland?
ALAIN BADIOU: Ich denke, dass die Philosophie in einer diskontinuierlichen Weise existiert. Was es gibt, sind philosophische Momente. Die Idee einer Kontinuität, einer Tradition, ist jedenfalls eine akademische Vorstellung, genauso wie die, dass der Mensch ein philosophierendes Tier sei, dass es überall und immer Philosophie gebe; das ist eher eine Überzeugung des gegenwärtigen Journalismus. Es gibt diskontinuierliche philosophische Momente, und man kann sie in der Geschichte ausfindig machen. Es gab natürlich den großen griechischen Moment der Philosophie. Es gab einen großen arabischen Moment, dem griechischen Moment angefügt. Ich denke, dass es im 17. Jahrhundert ausgehend von Descartes mit Malebranche, Spinoza und Leibniz einen französischen Moment gab – selbst wenn Leibniz Deutscher war und Spinoza ein flämischer Jude. Ende des 17. Jahrhunderts, Anfang des 18. Jahrhunderts hat es einen englischen Moment mit Locke, Hobbes, Hume gegeben. Danach dann gab es einen deutschen Moment, bekannt unter dem Namen »Deutscher Idealismus«, mit Kant, Fichte, Schelling, Hegel. Und mir scheint, dass es im 20. Jahrhundert so etwas wie einen französisch-deutschen Moment gegeben hat. Dieser französisch-deutsche Moment drehte sich um die Phänomenologie. Er hat recht früh begonnen, mit Husserl, dann Heidegger, in Frankreich hatten wir Sartre, der kurz vor dem Krieg nach Berlin gegangen war, und Merleau-Ponty. Heute erleben wir vielleicht – ich gehe hier ein Risiko ein – das Ende des französischen Moments. »The french touch«, wie die Amerikaner sagen, die sehr viel zur akademischen Popularität dieses französischen Moments beigetragen haben – der im Übrigen, wenn man genau hinsieht, vielleicht französischslowenisch ist: Vergessen wir Slavoj Žižek und seine Nachfolger nicht. Dieser Moment hat, wie ich bereits sagte, in der Phänomenologie begonnen, und noch mehr in einem komplexen Bezug auf Heidegger, bei Derrida, Lacoue-Labarthe, Nancy, Ricœur. Er hat sich fortgesetzt, indem er den französischen Strukturalismus durchquert hat, besonders akzentuiert durch Lacan und durch Foucault. Und mit uns haben Sie zwei späte Repräsentanten, zwei Überlebende dieses Versuchs vor sich sitzen.
Worin bestand also dieser französische Moment, der als ein französisch-deutscher Moment geboren wurde und sich langsam in einen französischen verwandelt hat, bis hin zu dem Punkt, Frankreich in Amerika zu repräsentieren? Er bestand, glaube ich, in dem Versuch, die Philosophie in dem einzurichten, was ich einen »neuen Ort« nennen würde. Es ging darum, sie nicht akademisch zu begrenzen, sie in einer sehr lebendigen Weise zu ihrem Äußeren in Bezug zu setzen, sie durch die Literatur zu nähren, durch die Malerei, durch das Kino, die Mathematik, die Psychoanalyse, und auch darum, den Vitalismus von Nietzsche und Bergson wiederzubeleben, wie Deleuze es machte. Auf diese Weise begehrten all diese Philosophen auch, die Philosophie mit einer erneuerten kritischen Haltung zu versehen, was einen engen Bezug zur Politik mit sich brachte. Es gab natürlich verschiedene Tendenzen. Es gab die Dekonstruktion, mit Derrida. Es gab die Postmodernen, mit Lyotard. Es gab die Schule von Strasbourg, mit Lacoue-Labarthe und Nancy. Und dann gab es einzelne Unternehmen, wie meins, ein Unternehmen, das ich gerne als neoklassisch verstehe. Die philosophische Beziehung zwischen Frankreich und Deutschland hat also eine Periode vielfältigen Austauschs und einer großen Nähe durchlaufen, zwischen den Dreißiger- und den Sechzigerjahren, vielleicht auch ein bisschen darüber hinaus, in jedem Fall während einer sehr langen Sequenz, die auch den Zweiten Weltkrieg überdauerte, und das ist eine bemerkenswerte Tatsache.
Wo befinden wir uns jetzt? Vermutlich am Ende dieser Periode. Und wir wissen nicht, wohin wir gehen. Die Ungewissheit in Bezug auf das Schicksal der Philosophie im Allgemeinen ist groß, insbesondere auch was die französischdeutsche Beziehung in diesem Feld angeht.
Eigentlich scheint mir, dass die Situation der Philosophie heute, gespiegelt in der Frage nach dem französisch-deutschen Verhältnis, von Ihnen abhängen wird. Damit meine ich, in Anbetracht des Ortes, an dem wir sprechen: von Ihnen, den jungen Deutschen, aber natürlich auch von den jungen, an der Philosophie interessierten Franzosen.
Ich möchte daran erinnern, dass ich persönlich seit Langem ein Befürworter der Fusion von Frankreich und Deutschland bin. Ich bin kein großer Befürworter Europas. Was ist dieses Europa, ohne Russland, ohne die Türkei, verkrampft in ein defensives und wenig kreatives Verhältnis zu seiner vergangenen imperialen Größe? Nein, was ich mir wünsche, ist die Fusion von Frankreich und Deutschland. Ein einziges Land, ein einzelner föderaler Staat, zwei herrschende Sprachen, das wäre vollkommen möglich. Frankreich ist ein zu altes Land, erdrückt von seiner Geschichte, so verwelkt wie prätentiös, ohne Grund dazu zu haben. Und Deutschland ist ein Land voller Ungewissheit. Es weiß nicht, was es ist, es sucht sich verzweifelt, und das seit jeher. Wenn wir Frankreich und Deutschland zusammenführen, werden wir dem alten Frankreich ein Ende machen, und wir werden Deutschland eine wahre Jugend geben. Was wird in diesem Zusammenhang aus der Philosophie? Nun, sie wird wirklich französischdeutsch werden. Und das wird vielleicht ihre glorreichste Epoche werden. Das ist mein Mythos der Gegenwart.
JEAN-LUC NANCY: Da ist zunächst ein Paradox. Wir sprechen von der Philosophie zwischen Frankreich und Deutschland oder von einer französisch-deutschen, wie Alain sie gerade prophezeit hat, – und wir sind Franzosen. Das ist doch merkwürdig! Aber vielleicht nicht ganz so merkwürdig, wie es scheint, denn ich denke, dass uns beide etwas sehr Feines verbindet, kaum sichtbar, das als ein französisches Selbst markiert ist, und das dennoch wie eine Differenz zwischen »eher Frankreich« auf der einen Seite und »eher Deutschland« auf der anderen Seite funktioniert. Ich weiß nicht, ob du damit einverstanden bist, aber …
BADIOU: Ich also zu französisch, du zu deutsch?
NANCY: Zu sehr … Warum nicht?*1 Ich weiß nicht. Jedenfalls glaube ich, dass ich deinem historischen Durchgang sehr gut folgen kann – aber ich würde etwas hinzufügen und zugleich seine Ausrichtung leicht verändern. Zum Beispiel in Bezug auf deine Bemerkung, dass die Verbindung trotz des Krieges fortgeführt wurde. Ich hätte die Tendenz zu denken, dass es nicht trotz des Krieges war, sondern wegen des Krieges. Das heißt, dass sich Frankreich zwischen den beiden Kriegen tatsächlich sehr stark philosophisch eingedeutscht hat. Die Einführung Hegels in Frankreich durch Kojève, die Nähen im Denken Batailles zu Heidegger – sie sind kaum bekannt, aber sie existieren – und viele solcher Momente. Ich glaube, es ist überhaupt kein Zufall, dass sich diese Art von Überkreuzung, die wesentlich von einem Import der deutschen Philosophie nach Frankreich gekennzeichnet ist, welche bis dahin merkwürdigerweise in Frankreich unbekannt war, zur gleichen Zeit hergestellt hat, zu der der Krieg ausgebrochen ist, der Erste Weltkrieg, der doch die erste große Erschütterung, der Beginn des Endes von Europa war. Es war nicht so, dass es keine Möglichkeiten der Kommunikation gegeben hätte, aber letztlich wurden kaum Gedanken ausgetauscht. Danach führte der Zweite Weltkrieg zunächst zur Emigration einer gewissen Zahl von Philosophen aus Deutschland, und zur gleichen Zeit, kurz nach und sogar während des Krieges, zur Innervation des französischen Denkens durch die deutsche Philosophie. Nun denke ich aber, dass man diese Phänomene in der Geschichte der Philosophie, an die du erinnert hast, noch etwas weiter zurückverfolgen kann. So lässt sich hinzufügen, dass vom deutschen Idealismus, vom großen deutschen Idealismus – übrigens auch von der Romantik, von der ersten deutschen Romantik – oft gesagt wurde, dass sie im Gegensatz zu Frankreich standen, weil man in Frankreich die Revolution machte und in Deutschland nicht, da es hier keinen Grund gab, sie zu machen – eben weil Deutschland noch nicht Deutschland war. Aber angefangen mit Kant über Hölderlin bis zumindest Hegel beinhaltete das Selbstverständnis der Philosophen auf verschiedene und bemerkenswerte Weise den Mangel einer Revolution, die Erwartung einer anderen Revolution oder die Durchführung einer nicht politischen, sondern spekulativen Revolution. Über dieses Phänomen ist sehr oft gesprochen worden. Und ich denke, es berührt tatsächlich etwas im Denken. Es ist, als hätte Deutschland, gerade weil es noch nicht vereinigt war, während das in Frankreich schon lange der Fall war – so lange sogar, dass es, da bin ich vollkommen einverstanden, heute schwach ist und darunter leidet, weil es zu alt ist – im Denken entwickelt, was es als Staat noch nicht realisiert hatte, nehmen Sie nur Fichte und Hegel. Aber andererseits war die Französische Revolution tatsächlich auch eine philosophische Operation. Eine ganze Gedankenwelt trat hier in die Realität, kam zur Praxis, während man sich in Deutschland, zumindest zum Teil, unvermögend vor der Hypothese einer Revolution sah oder aber sie mit einer gewissen Distanz betrachtete. Ich denke an Kant, der seinen üblichen Spaziergang plötzlich erheblich verlängert, um die Post mit Nachrichten von der Französischen Revolution zu erhalten, der aber zur gleichen Zeit dennoch erklärt, dass man nicht das Recht habe, den Souverän zu töten. In all dem liegt möglicherweise etwas Wichtiges, weil es zeigt, dass die französisch-deutsche Beziehung seit Langem eine philosophische Beziehung gewesen ist. Man müsste auch England hinzunehmen, wie du richtig anmerkst, aber dann würde es sehr kompliziert, weil das, was sich in England zuträgt, auch eine Rolle in dem politisch-ökonomischen Prozess spielt, in dessen Innerem sich diese philosophische Verschiebung vollzieht.
Ich möchte hier keine tiefergehende Analyse beginnen, das wäre ein anderer Gegenstand, aber ich habe mich vor unserem Zusammentreffen tatsächlich gefragt, welche Züge ich von der deutschen Seite behalten könnte? Was ist diese deutsche Philosophie, die in Frankreich so anregend wirkte? Ich würde sagen, dass es vielleicht etwas gibt, das tatsächlich mit der deutschen Philosophie erscheint und nur mit ihr erscheint, das bereits bei Kant leicht durchscheint, aber danach mehr und mehr bei Hegel, Schelling, Hölderlin und schließlich Heidegger sichtbar wird. Und zwar eine Beschäftigung damit, dass das Sagen der Philosophie, ihre Äußerung, der Modus ihrer Äußerung, selbst ihre Stimme, wenn man so will, im Gesagten präsent sein soll. Anhand des Paares von »Sagen« und »Gesagtem« kann man, ohne daraus notwendigerweise eine Referenz auf Levinas herzustellen, konstatieren, dass sich die französische Philosophie seit Descartes und den Ideologen, die die Philosophen der Revolutionsepoche sind, eher im Modus eines Diskurses und einer in gewisser Weise neutralen Äußerungsform vollzog, dass sie auf Objekte zielte, während Deutschland sofort die Sprache in das Denken eingeführt hat. Leibniz war der Erste, der erklärte, dass Deutsch zwar die beste Sprache zum Philosophieren sei, dass es ihr aber noch an Reife fehlte. Kein Franzose hat je etwas Ähnliches gesagt. Und danach, am anderen Ende, haben wir das, was Heidegger die Privilegien der deutschen Sprache nennen konnte. Ich würde also sagen, dass das Deutsche in dem französisch-deutschen Paar – du hast es auf eine andere Art gesagt, die das, was ich zu sagen versuche, durchaus berührt – eher ein Sagen im Gesagten ist, das heißt auch, dass es ein philosophischer Diskurs ist, der schon an sich selbst eine Handlung darstellt, der schon an sich selbst etwas Eigenes ist. Dieser Diskurs ist sicherlich nicht einfach die Praxis überhaupt, aber er ist selbst auch eine Praxis. In diesem Sinne gibt es einen, den du nicht genannt hast, das ist Marx! Das hast du absichtlich gemacht! Marx ist übrigens vielleicht der erste fast französisch-englisch-deutsche Philosoph. Aber gerade bei Marx gibt es einen großen Diskurs, der Objekte behandelt, aber in dem es auch eine Stimme gibt, die spricht, die will, die gehört werden will. Die eine Ansprache erklingen lassen möchte, eine Sensibilität.
BADIOU: Marx ist so wenig deutsch! Vielleicht ist er auch nicht unbedingt ein Philosoph. Lassen wir Marx beiseite.
VÖLKER: